Wikileaks-Info
Autor: Boris Kálnoky| 29.02.2012
Erdogans Bruch mit Israel war lange geplant
Eine geheime E-Mail soll belegen, dass Erdogan bereits 2010 vor hatte, mit Israel zu brechen. Drei Monate später kam es zur Provokation der "Hilfsflotte" für Gaza.
Zwei Sätze werfen ein neues Licht auf die türkische Außenpolitik der vergangenen zwei Jahre. Bisher wird sie, zumindest in der Türkei, aber auch vielerorts im Westen, oft so dargestellt: Wegen der Halsstarrigkeit der EU, die die Türkei nicht aufnehmen möchte, hat sich Ankara der muslimischen Welt zugewandt.
Tayyip Erdogan hat immer beteuert, die Hilfsflotte sei eine private Initiative gewesen, die sie nicht beeinflussen konnten. Im vergangenen Jahr ließ die Regierung dann allerdings doch ihren Einfluss spüren, als sie dazu beitrug, eine Wiederholung der Hilfsflotte zu verhindern
Unabhängig davon hat sich das Verhältnis der Türkei zu Israel verschlechtert, weil Israel im Jahr 2010 brutal gegen die „Hilfsflotte“ der „Mavi Marmara“ vorging und seither eine Entschuldigung dafür verweigert.
Plante Erdogan, mit Israel zu brechen?
Und jetzt die beiden Sätze, die alles ändern. Sie stehen in einer von Wikileaks veröffentlichten internen E-Mail der US-Sicherheitsfirma Stratfor. Deren Chef, George Friedman, traf im Februar 2010 offenbar mit dem einstigen US-Außenminister Henry Kissinger zusammen, nachdem dieser kurz davor den türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan getroffen hatte. Friedman verfasste für sein engeres Team eine Zusammenfassung der aus dem Gespräch gewonnenen Erkenntnisse.
Darin steht, in einer E-Mail vom 20. Februar 2010: „Erdogan hat ihm (Kissinger, die Red.) klargemacht, dass er plant, irgendwann mit Israel zu brechen und sich zur islamischen Welt zu orientieren. Er hat vor, deren Führer zu werden.“ Mehr nicht, aber diese beiden Sätze haben es in sich. Erdogan plante, mit Israel zu brechen?
Der Gazastreifen
Der Gazastreifen ist ein rund 40 Kilometer langes und fünf bis zehn Kilometer breites Gebiet an der südlich von Israel gelegenen Mittelmeerküste. Bis 1967 stand das ehemalige britische Mandatsgebiet unter ägyptischer Verwaltung, bevor es im Sechstagekrieg von Israel besetzt wurde. Erst im Spätsommer 2005 zogen die israelischen Truppen wieder ab.
Seit 1994 bildet der Gazastreifen zusammen mit dem Westjordanland das palästinensische Autonomiegebiet. Obwohl der größte Teil der Fläche von Sand und Dünen eingenommen wird, ist der Gazastreifen mit den Städten Gaza, Chan Junis und Rafah eine der am dichtesten besiedelten Regionen der Welt. Viele der etwa 1,5 Millionen Palästinenser sind Nachkommen von Flüchtlingen, die 1948 aus dem heutigen Israel flohen. Am 25. Januar 2006 gewann die radikalislamische Hamas die Parlamentswahl in den palästinensischen Autonomiegebieten. Daraufhin zerbrach die Einheitsregierung der Hamas und der gemäßigten Fatah. Nach einem gewaltsamen Machtkampf fiel der Gazastreifen an die Hamas und das Westjordanland an die Fatah. Seitdem wurde Israel vom Gazastreifen aus immer wieder mit Raketen beschossen. Im Dezember 2008 startete Israel eine mehrtägige Offensive gegen die Hamas im Gazastreifen, um den Raketenbeschuss zu stoppen. Dabei wurden führende Hamas-Mitglieder getötet und tausende Häuser, aber auch Schulen und Kliniken zerstört. Verhandlungen über einen längerfristigen Waffenstillstand zwischen Israel und der Hamas blieben bislang ohne Erfolg.
Drei Monate später, Ende Mai 2010, kam es zur Provokation der „Hilfsflotte für Gaza“, organisiert von der türkischen fundamentalistisch-muslimischen „Hilfsorganisation“ IHH. Dabei gingen eigens für die Expedition rekrutierte, gewaltbereite Islamisten mit Eisenstangen und Messern gegen die enternden israelischen Kommandos vor – am Ende waren neun Türken tot, von den Israelis erschossen.
Die IHH gehört zur radikal antisemitischen Islam-Bewegung Milli Görüs, der auch Erdogan, Staatspräsident Abdullah Gül und andere führende Mitglieder der türkischen Regierung und der Regierungspartei AKP entstammen.
Der Einfluss der Türkei
Israel hat immer behauptet, dass der Zwischenfall eine sorgfältig geplante, von der türkischen Regierung gutgeheißene und mit ihr koordinierte politische Provokation darstellte. Das Ziel: Entweder bis zum Gazastreifen vorzustoßen und einen politischen Triumph zu feiern oder einen blutigen Eklat herbeizuführen, um Israel als Bösewicht darzustellen. So oder so wäre das Ergebnis eine dramatische Änderung der politischen Dynamik im Nahen Osten und rund um den Gazakonflikt.
Erdogan und die türkische Regierung haben immer beteuert, sie hätten nichts damit zu tun gehabt – die „Hilfsflotte“ sei eine private Initiative gewesen, die sie nicht beeinflussen konnten. Im vergangenen Jahr ließ die Regierung dann allerdings doch ihren Einfluss spüren, als sie dazu beitrug, eine Wiederholung der Hilfsflotte zu verhindern.
Beziehung zu den USA aufs Spiel setzen?
Jedenfalls macht Friedmans Bericht, wenn er zutrifft, die israelische Darstellung der Ereignisse sehr viel wahrscheinlicher und zum Mittel einer von langer Hand geplanten Hinwendung Erdogans zur islamischen Welt – um, wie zu osmanischen Zeiten, die Türkei zu deren Bannerträger zu machen.
Die E-Mail-Korrespondenz zeigt auch, dass die Stratfor-Mitarbeiter skeptisch sind: Sie können nicht glauben, dass Erdogan so denken könnte, denn wie kann er es riskieren, die Beziehungen zu Israel und zu den USA aufs Spiel zu setzen?
"Mehr Macht für die Türkei"
„Erdogan will mit Israel und den USA brechen? Versucht er das aktiv, gibt es andere denkbare Gebiete (außer im Falle eines israelischen Angriff gegen Iran, die Red.), wo er das tun könnte?“, fragt eine Mitarbeiterin namens Jennifer Richmond. Dass Erdogan mit den USA brechen will, ist aber nicht, was Kissinger gesagt haben soll. Selbst Friedman versteht die Nuance offenbar nicht, denn auch er geht in der Korrespondenz davon aus, dass ein Bruch mit Israel einen Bruch mit den USA bedeutet.
Tatsächlich aber hat Erdogan zwar die Wende zu einer konfrontativen Israel-Politik vollzogen, aber nicht in einem Ausmaß, das die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten gefährden könnte. Im Gegenteil : Washington scheint sich mit der Idee anfreunden zu können, dass eine „berechenbare“, gemäßigte muslimische Kraft wie die Türkei die islamische Welt als führende Macht gestaltet, zumal das am Ende – wie auch jetzt im Syrien-Konflikt – wohl gegen den Iran gerichtet wäre. Friedman gerät in seiner Analyse denn auch zu dem Schluss, „mehr Macht für die Türkei“ sei wohl das voraussehbare Ergebnis der zu erwartenden Entwicklung.
Andere Leckerbissen von Kissinger/Friedman
Im Februar 2010 konnte er noch nicht wissen, wie die türkische Wende gegen Israel konkret aussehen würde. Dass die IHH offenbar zum Instrument Erdogans in dieser Strategie wurde, wirft freilich neue Fragen auf. Vor allem diese: Ist es ein Indiz dafür, dass Erdogan und die AKP doch nicht so weit von jener radikal-islamischen Milli Görüs entfernt sind, der sie einst entsprangen, von der sie sich aber seither nach außen hin distanziert haben?
Die E-Mail und die Korrespondenz dazu offenbaren einen allgemeinen Konsens der Beteiligten (im Februar 2010), dass Israel irgendwann den Iran angreifen wird. Das ist der Rahmen, in dem Erdogans vermutete Wende gegen Israel diskutiert wird. Die E-Mail enthält aber auch andere Leckerbissen aus dem Hause Kissinger/Friedman: In Deutschland, so heißt es da in Bezug auf die Wirtschaftskrise und deren politische Folgen, „trifft eigentlich nur die Deutsch Bank Entscheidungen“. Wohlgemerkt, nicht die Bundesregierung. Und die Japaner „werden tun, was die anderen sagen“.