Der Gottmensch; Kapitel 674 / Maria Valtorta /
DIE KLAGE DER JUNGFRAU
»Jesus! Jesus! Wo bist du? Hörst du mich noch? Hörst du deine arme Mutter, die deinen heiligen, gepriesenen Namen ruft, nachdem sie ihn so viele Stunden nur im Herzen genannt hat? Deinen heiligen Namen, der meine Liebe war, die Liebe meiner Lippen; meiner Lippen, die Honigsüße verspürten beim Nennen deines Namens; meiner Lippen, die nun, wenn sie ihn nennen, nur die Bitterkeit zu trinken scheinen, die auf deinen Lippen zurückgeblieben ist. Die Bitterkeit der furchtbaren Mischung . . . Dein Name, die Liebe meines Herzens, das vor Freude schwoll, wenn es ihn aussprach, so wie es sich weitete, um dir sein Blut zu geben, um dich zu empfangen und dich mit ihm zu bekleiden, als du vom Himmel zu mir kamst, so klein, so winzig, daß du im Blütenkelch der wilden Minze Platz gefunden hättest.
Du, der du so groß bist, du, der Mächtige, hast dich für das Heil
der Welt gedemütigt und bist Mensch geworden. Dein Name, der Schmerz meines Herzens, nun, da sie dich den Liebkosungen deiner Mutter entrissen haben, um dich den Händen der Henker auszuliefern, die dich bis zum Tod gemartert haben. Mein Herz ist zermalmt von diesem deinen Namen, den ich so lange in mir verschließen mußte und der immer lauter schrie, je größer dein Schmerz wurde, bis es zermalmt war wie unter dem Tritt eines Riesen. O ja, mein Schmerz ist riesengroß und zermalmt und zerreißt mich, und es gibt nichts, was ihn lindern könnte. Wem soll ich deinen Namen sagen? Nichts antwortet meinem Schrei. Selbst wenn ich so laut schreien würde, daß der Stein, der dein Grab verschließt, zerspringt, du würdest mich nicht hören, denn du bist tot. Hörst du deine Mutter nicht mehr? Wie oft hat sie dich, mein Sohn, in diesen vierunddreißig Jahren gerufen! Seit ich wußte, daß ich Mutter sein und daß der Name meines Kindes Jesus sein würde. Du warst noch nicht geboren, da streichelte ich meinen Leib, in dem du heranwuchsest, und rief dich leise: „Jesus“, und es schien mir, als würdest du dich bewegen, um mich „Mama“ zu nennen! Für mich hattest du schon eine Stimme, ich erträumte sie mir, deine Stimme. Ich hörte deine Stimme schon, bevor sie war.
Und als ich sie dann vernahm, zart wie die Stimme eines neugeborenen Lämmchens und zitternd in der Kälte der Geburtsnacht, da lernte ich die höchste Freude kennen . . . Und ich glaubte, den Abgrund des Schmerzes kennengelernt zu haben, da ich die Tränen meines Kindes sah, das fror und sich nicht wohlfühlte, das seine ersten Erlösertränen weinte, und ich hatte weder Feuer noch Wiege und konnte nicht an deiner Statt leiden, Jesus. Ich hatte nur meine Brust, um dich zu wärmen und zu betten, und meine Liebe, um dich anzubeten, mein heiliges Kind. Ich glaubte, den Abgrund des Schmerzes kennengelernt zu haben . . . Aber es war erst das Morgengrauen, der Beginn dieses Schmerzes. Nun ist es Mittag. Nun habe ich die Tiefe des Abgrunds erreicht, nach einem Abstieg von vierunddreißig Jahren. So vieles hat mich hinabgestoßen und mich heute niedergestreckt in dieser furchtbaren Tiefe deines Kreuzes.
Als du klein warst, da habe ich dich gewiegt und gesungen: „Jesus! Jesus!“ Gibt es eine schönere und heiligere Harmonie als diesen Namen, der die Engel des Himmels lächeln macht? Dein Name war für mich schöner als der süße Gesang der Engel in der Nacht deiner Geburt. Ich sah durch ihn in den Himmel . . . den ganzen Himmel sah ich in diesem Namen. Und nun, da du tot bist und mich nicht hörst und mir nicht mehr antwortest, als ob du nie gewesen wärest, sehe ich die Hölle, wenn ich ihn ausspreche. Die ganze Hölle. Nun weiß ich, was es heißt, verdammt zu sein. Nicht mehr sagen zu können: „Jesus“! Schrecklich! Schrecklich! Schrecklich! . . .
Wie lange wird diese Hölle für deine Mutter dauern? Du hast
gesagt: „In drei Tagen werde ich diesen Tempel wieder aufrichten.“
Den ganzen Tag schon wiederhole ich mir diese Worte, damit ich nicht tot umfalle; um bereit zu sein, dich bei deiner Rückkehr zu begrüßen und dir wieder dienen zu können . . . Aber wie werde ich drei Tage lang deinen Tod ertragen können? Drei Tage lang tot, du mein Leben?
Wie ist es möglich, daß du, der du alles weißt, weil du die unendliche Weisheit bist, nichts von der Verzweiflung deiner Mutter weißt? Kannst du es dir nicht vorstellen, wenn du dich erinnerst, wie ich dich in Jerusalem verlor und du mich sahst, wie ich die dich umgebende Menge teilte mit dem Gesicht einer Schiffbrüchigen, die nach endlosem Kampf mit den Wellen und dem Tod den Strand erreicht, mit dem Gesicht einer erschöpften, ausgebluteten, gealterten, zerschmetterten Gefolterten? Und damals konnte ich dich nur verloren glauben. Ich konnte mich der Hoffnung hingeben, daß es nur das war. Heute nicht. Heute nicht. Ich weiß, daß du tot bist. Es gibt keine Hoffnung. Ich habe gesehen, wie man dich umgebracht hat. Hier ist der Beweis. Selbst wenn der Schmerz mein Gedächtnis trüben würde, hier ist dein Blut auf meinem Schleier, das mir sagt:
„Er ist tot. Er hat kein Blut mehr! Dies ist der letzte Tropfen aus seinem Herzen!“ Aus seinem Herzen! Aus dem Herzen meines Kindes. Meines Sohnes! Meines Jesus! Oh, Gott! Barmherziger Gott, erinnere mich nicht daran, daß sie ihm das Herz durchbohrt haben . . .
Jesus, ich kann nicht allein hier bleiben, während du allein dort
bist. Ich, die ich nie die Wege der Welt und die Menschenmengen geliebt habe, und du weißt es, bin dir immer häufiger gefolgt, seit du Nazaret verlassen hast, um nicht fern von dir leben zu müssen. Ich habe Neugier und Spott ertragen, und ich zähle die Mühen nicht auf, denn sie wurden bei deinem Anblick zu nichts. Ich wollte nur dort leben, wo du warst. Und nun bin ich hier allein. Und du bist dort allein. Warum haben sie mich nicht in deinem Grab gelassen?
Ich hätte mich neben dein kaltes Bett gesetzt, eine deiner Hände in meinen Händen, um dich fühlen zu lassen, daß ich in deiner Nähe bin . . . Nein, um zu fühlen, daß du in meiner Nähe bist. Du fühlst nichts mehr. Du bist tot!
Wie viele Nächte habe ich an deiner Wiege verbracht, betend, liebend, von deinem Anblick beseligt. Willst du, daß ich dir sage, wie du geschlafen hast und deine Fäustchen wie zwei Blütenknospen neben dem heiligen Gesichtlein lagen? Soll ich dir sagen, wie du im Schlaf gelächelt, dich gewiß an die Milch deiner Mama erinnert und schlafend den Mund bewegt und gesaugt hast? Soll ich dir sagen, wie du dann erwacht bist, die Äuglein geöffnet und gelacht hast, als du mich über dich geneigt sahst, wie du die Händchen in ungeduldiger Freude ausgestreckt hast, um in die Arme genommen zu werden, und mit einem leisen Jauchzen, mit dem Triller einer
Mönchsgrasmücke deine Mahlzeit verlangt hast? Oh, wie selig war ich, wenn du an meiner Brust lagst und ich die Wärme deiner Wange und die Liebkosungen deiner kleinen Händchen fühlte!
Du wolltest nie ohne deine Mama sein. Und nun bist du allein! Verzeih mir, Kind, daß ich dich allein gelassen habe; daß ich nicht zum ersten Mal in meinem Leben aufbegehrt habe und bei dir geblieben bin. Dort ist mein Platz. Ich würde mich nicht so untröstlich fühlen, wenn ich an deinem Totenbett wäre, dich wie einst umwickeln und deine Binden wechseln könnte . . . Auch wenn du mich nicht anlächeln und nicht mit mir sprechen könntest, es würde mir scheinen, als wärst du wieder mein Kind. Ich würde dich an mein Herz drücken, damit du die Kälte des Steins, die Härte des Marmors nicht fühlst. Habe ich dich nicht auch heute in meinen Armen gehalten?
Auf dem Schoß einer Mutter ist immer Platz für ihren Sohn, auch
wenn er schon ein Mann ist. Der Sohn ist immer das Kind für seine Mutter, auch wenn er vom Kreuz abgenommen und von Wunden bedeckt ist.
Wie viele, wie viele Wunden! Wie viele Schmerzen! Oh, mein Jesus, mein ganz von Wunden bedeckter Jesus! So verwundet! So getötet! Nein. Nein. Nein, Herr, das kann nicht wahr sein! Ich bin von Sinnen! Jesus tot? Ich fiebere. Jesus kann nicht sterben! Leiden, ja, aber nicht sterben! Er ist das Leben! Er ist der Sohn Gottes. Er ist Gott. Und Gott stirbt nicht. Stirbt nicht? Aber warum hat er dann „Jesus“ geheißen? Was bedeutet „Jesus“? Es bedeutet . . . Oh, es bedeutet „Erlöser“! Er ist tot!
Er ist tot, weil er der Erlöser ist. Er mußte alle erlösen und sich selbst dahingeben . . . Ich fiebere nicht, o nein. Ich bin nicht von Sinnen. Nein. Wäre ich es nur! Ich würde weniger leiden. Er ist tot. Hier ist sein Blut. Hier ist seine Dornenkrone. Hier sind die drei Nägel. Mit diesen, mit diesen haben sie ihn durchbohrt!
Menschen, seht, womit ihr Gott, meinen Sohn, durchbohrt habt!
Und ich muß euch verzeihen. Und ich muß euch lieben. Denn auch er hat verziehen. Denn er verlangt von mir, daß ich euch liebe. Er hat mich zu eurer Mutter gemacht, zur Mutter der Mörder meines Sohnes! Eines seiner letzten Worte im Kampf gegen das Todesröcheln war: „Mutter, siehe da deinen Sohn . . . deine Kinder.“ Selbst wenn ich nicht die Gehorsame wäre, so hätte ich doch heute gehorchen müssen, denn es war der Befehl eines Sterbenden.
Sieh, Jesus, ich verzeihe. Ich liebe sie. Ach! Es zerreißt mir das
Herz bei dieser Verzeihung, bei dieser Liebe! Hörst du, daß ich ihnen verzeihe und sie liebe? Ich bete für sie. Schau, ich bete für sie . . .
Ich schließe die Augen, um diese Marterwerkzeuge nicht zu sehen, damit ich ihnen verzeihen, damit ich sie lieben, damit ich für sie beten kann. Jeder Nagel soll meinen Willen, sie nicht zu lieben, ihnen nicht zu verzeihen und nicht für deine Henker zu beten, kreuzigen. Ich will und muß denken, daß ich an deiner Wiege weile. Auch damals habe ich für die Menschen gebetet. Doch damals war es leicht.
Du lebtest, und ich – obwohl ich wußte, daß die Menschen grausam sind – hätte niemals geglaubt, daß sie so grausam gegen dich sein könnten, der du ihnen so viel Gutes getan hast. Ich betete, da ich überzeugt war, daß dein Wort sie bessern würde. In meinem Herzen sagte ich zu ihnen, wenn ich sie betrachtete: „Ihr seid jetzt böse, krank. Doch bald wird er zu euch sprechen und Satan in euch besiegen. Er wird euch das verlorene Leben zurückgeben.“ Das verlorene Leben! Du, du hast ihretwegen dein Leben verloren, mein Jesus!
Hätte ich damals, als du noch in den Windeln lagst, den Schrecken dieses Tages sehen können, wäre meine süße Milch vor Schmerz zu Gift geworden! Simeon hat es gesagt: „Deine Seele wird ein Schwert durchdringen.“ Ein Schwert? Eine Unzahl von Schwertern! Wie viele Wunden haben sie dir geschlagen, Sohn? Wie viele Seufzer hast du ausgestoßen? Wie viele Krämpfe hast du erlitten? Wie viele Blutstropfen hast du vergossen? Sieh, jeder ist ein Schwert für mich. Es sind eine Unzahl von Schwertern. An dir ist kein Flecken Haut, das
nicht verwundet ist. An mir ist keine Stelle, die nicht durchbohrt ist. Sie durchbohren mein Fleisch und dringen bis ins Herz.
Als ich deine Geburt erwartete, bereitete ich die Binden und Windeln vor und spann das weichste Leinen der Erde. Ich achtete nicht auf den Preis, um das glatteste Garn zu erhalten. Wie schön warst du in den Windeln deiner Mutter! Alle sagten zu mir: „Frau, dein Kind ist schön!“ Du warst schön. Aus dem weißen Linnen schaute dein rosiges Gesichtlein hervor. Du hattest zwei Äuglein blauer als der Himmel, und dein Köpfchen war von einem goldenen Flaum bedeckt, so leicht und blond waren deine Haare. Sie dufteten nach frisch aufgesprungenen Mandelblüten. Alle glaubten, ich würde dich parfümieren. Nein. Mein Kleinod hatte nur den Duft der von seiner Mutter gewaschenen Windeln, die ihr Herz und ihre Lippen geküßt hatten.
Niemals wurde ich müde, für dich zu arbeiten.
Und nun? Nun kann ich nichts mehr für dich tun. Seit drei Jahren
bist du von zu Hause fort. Aber immer noch warst du der einzige
Inhalt meiner Tage. Ich dachte an dich, an deine Kleider, an deine Nahrung. Ich rührte das Mehl und bereitete Brot, pflegte die Bienen, um Honig für dich zu haben, und wachte über die Bäume, damit sie dir Obst gaben. Wie hast du dich über die Dinge gefreut, die deine Mutter dir brachte! Keine Speise einer reichen Tafel und kein Gewand aus kostbarem Tuch war dir so lieb, wie die von den Händen deiner Mutter gewebten, genähten, gepflegten und geernteten Dinge. Wenn ich dich besuchte, schautest du sofort auf meine Hände wie damals, als du klein warst und Josef und ich dir unsere armen Geschenke gaben, um dir zu zeigen, daß du unser König warst. Du bist nie naschhaft gewesen, mein Kind, aber du hast die Liebe gesucht; sie war deine Nahrung, und in unserer Fürsorge hast du sie
gefunden. Auch jetzt hast du sie gefunden und gesucht, mein armer Sohn, der du von der Welt so wenig geliebt wirst!
Nun ist alles vorbei. Alles vollbracht. Deine Mama kann nichts
mehr für dich tun. Du brauchst nichts mehr . . . Nun bist du allein . . .
Und auch ich bin allein . . . Oh, glücklicher Josef, der du diesen Tag nicht erleben mußtest. Hätte doch auch ich ihn nicht mehr erleben müssen! Aber dann hättest du nicht einmal den Trost gehabt, deine arme Mutter zu sehen. Du wärest am Kreuz allein gewesen, so wie du nun im Grab allein bist. Allein mit deinen Wunden.
Oh! Gott! Gott, wie viele Wunden hat dein Sohn, mein Sohn! Wie
konnte ich sie ansehen, ohne darüber zu sterben, ich, die ich zu Tode erschrak, wenn er sich als Kind verletzte?
Einmal bist du im Garten von Nazaret gefallen und hast dich an
der Stirn verletzt. Nur einige Blutstropfen. Aber ich, die ich schon
schwach wurde, als ich bei deiner Beschneidung ein wenig Blut sah – und Josef mußte mich stützen, da ich wie eine Sterbende zitterte – hatte Angst, daß diese kleine Wunde dich töten könnte, und mehr mit Tränen als mit Wasser und Öl habe ich sie behandelt. Und ich habe mich erst zufrieden gegeben, als kein Blut mehr kam. Ein andermal, als du zu arbeiten lerntest, hast du dich mit der Säge verletzt. Eine kleine Wunde nur. Aber mir war, als hätte mich die Säge in zwei geteilt. Und ich hatte keine Ruhe, bis nach sechs Tagen deine Hand wieder geheilt war.
Und nun? Und nun? Nun sind deine Hände, deine Füße, deine
Seite geöffnet. Nun ist dein ganzes Fleisch zerfetzt und dein Antlitz zerschlagen. Dieses Antlitz, das ich kaum mit Küssen zu berühren wagte, ist von der Stirne bis zum Nacken eine einzige Wunde. Und niemand hat dir Arznei und Trost gegeben.
Sieh mein Herz, o Gott, das du in meinem Kind getroffen hast!
Sieh es an! Ist es nicht verwundet wie der Körper deines und meines Sohnes? Die Geißeln haben mich wie Hagel getroffen, während er geschlagen wurde. Was bedeutet die Entfernung für die Liebe? Ich habe die Martern meines Sohnes erlitten. Hätte doch nur ich allein sie erlitten! Läge doch ich auf dem Grabtisch! Sieh mich an, o Gott!
Tropft etwa nicht Blut aus meinem Herzen? Da ist die Dornenkrone.
Ich fühle sie. Sie ist ein Reif, der mich drückt und durchbohrt. Hier sind die Löcher der Nägel: drei Schwerter in meinem Herzen.
Oh, diese Schläge! Diese Schläge! Warum ist der Himmel nicht
auf die Erde herabgestürzt bei diesen sakrilegischen Schlägen in das Fleisch Gottes? Und ich durfte nicht schreien! Ich durfte mich nicht auf sie stürzen, um den Mördern die Waffe zu entreißen und damit mein sterbendes Kind zu verteidigen! Ich mußte zuhören, zuhören, und durfte nichts tun! Ein Schlag auf den Nagel, und der Nagel dringt in das lebendige Fleisch. Ein weiterer Schlag, und er dringt noch tiefer ein. Und noch einer und wieder einer, und sie brechen die Knochen und zerreißen die Nerven, und das Fleisch meines Kindes wird durchbohrt und gleichzeitig das Herz seiner Mutter.
Und als sie dich am Kreuz aufgerichtet haben? Wie sehr mußt du da gelitten haben! Heiliger Sohn! Ich sehe immer noch deine Hand aufreißen bei der Erschütterung durch den Fall. Mein Herz ist wie sie zerrissen. Ich bin verwundet, zerschlagen, gegeißelt, getroffen und durchbohrt wie du. Ich war nicht mit dir am Kreuz. Aber schau sie an, deine Mutter! Ist sie anders als du? Nein, es gibt keinen Unterschied in unserem Martyrium. Nur ist deines zu Ende, und meines dauert noch an. Du hörst nicht mehr die verlogenen Anklagen. Ich aber höre sie. Du hörst nicht mehr die schrecklichen Flüche. Ich aber höre sie immer noch. Du spürst nicht mehr die Stiche der Dornen, den Schmerz der Nägel, den Durst und das Fieber. Ich aber fühle überall die brennenden Stiche und sterbe vor Durst im Fieberwahn.
Hätten sie mir wenigstens erlaubt, dir einen Tropfen Wasser zu
geben! Meine Tränen, wenn die Grausamkeit der Menschen dem Schöpfer schon das von ihm geschaffene Wasser verweigerte. Ich habe dir so viel Milch gegeben, denn wir waren arm, mein Sohn, und auf der Flucht nach Ägypten haben wir so viel verloren. Wir mußten uns wieder ein Dach über dem Kopf, Möbel, Kleider und Nahrung beschaffen, und wir wußten nicht, wie lange das Exil dauern würde und was wir bei der Rückkehr in die Heimat vorfinden würden.
Ich habe dir länger als üblich Milch gegeben, um dich nicht den
Mangel an Nahrung spüren zu lassen. Bis wir die kleine Ziege hatten, war ich, o Kind deiner Mutter, deine kleine Ziege . . . Du hast schon so viele Zähnchen gehabt und damit zugebissen . . . Oh, welche Freude, dich bei deinen kindlichen Spielen lachen zu sehen! . . .
Du wolltest gehen, denn du warst so stark und gesund. Stundenlang habe ich dich gehalten, ohne daß mein Rücken schmerzte, wenn ich über dich gebeugt war und dich das Laufen lehrte und du bei jedem Schrittchen „Mama! Mama!“ sagtest. Oh, welche Seligkeit, dich diesen Namen singen zu hören.
Auch heute hast du gesagt: „Mama! Mama!“ Doch deine Mutter
konnte dich nur sterben sehen. Nicht einmal deine Füße konnte ich liebkosen! Die Füße? Oh, ich hätte sie nicht berührt, auch wenn meine Hände sie hätten erreichen können, um deine Schmerzen nicht zu vermehren. Wie mußten deine armen Füße leiden, o mein Jesus! Hätte ich doch zu dir hinaufsteigen und mich zwischen deinen Körper und das Kreuz schieben können, damit er nicht in den Krämpfen des Todeskampfes auf das Holz aufschlägt. Ich höre noch deinen Kopf beim letzten Aufbäumen gegen das Kreuz schlagen. Und dieser Klang, dieser Klang läßt mich den Verstand verlieren. Es ist, als hätte ich einen Hammer in meinem Kopf.
Komm zurück, komm zurück, mein lieber Sohn, mein heiliger
Sohn! Ich sterbe. Ich halte diese Trostlosigkeit nicht aus. Zeige mir wieder dein Antlitz. Rufe mich noch einmal. Ich kann mir dich nicht vorstellen ohne Stimme und ohne Blick, eine kalte, leblose Hülle! Oh, Vater, komm du mir zu Hilfe! Jesus, hörst du mich nicht! Ist denn die Passion nicht zu Ende? Ist denn nicht alles vollbracht? Genügen denn diese Nägel, diese Dornen, dieses Blut, diese Tränen nicht?
Braucht es noch mehr, um das Menschengeschlecht zu heilen?
Vater, ich nenne dir die Werkzeuge seiner Schmerzen und meine Tränen. Aber das ist das wenigste. Was ihm bei seinem Sterben einen übermenschlichen Schmerz bereitet hat, war das Verlassensein von dir. Und was mich schreien macht, ist, daß ich mich von dir verlassen fühle. Ich fühle deine Nähe nicht mehr. Wo bist du, heiliger Vater?
Ich war die „Gnadenvolle“. Der Engel hat gesagt: „Gegrüßet seist du Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir. Du bist gebenedeit unter den Frauen.“ Nein. Nein, das ist nicht wahr! Ich bin wie eine von dir wegen ihrer Sünden Verfluchte. Du bist nicht mehr mit mir.
Die Gnade hat sich zurückgezogen, als ob ich eine zweite sündige Eva wäre.
Aber ich bin dir immer treu gewesen. Worin habe ich dir mißfallen? Du konntest mit mir machen, was du wolltest, und ich habe immer gesagt: „Ja, Vater, ich bin bereit.“ Können denn die Engel lügen? Und Hanna, die mir versichert hatte, daß du mir in der Stunde des Leidens einen Engel senden würdest? Ich bin allein. Ich finde keine Gnade mehr in deinen Augen. Ich habe dich, die Gnade, nicht mehr in mir. Ich habe keinen Engel mehr. Lügen also die Heiligen? Worin habe ich dir mißfallen, wenn sie lügen und ich diese Stunde verdient habe?
Und Jesus? Worin hat dein reines, sanftmütiges Lamm gefehlt?
Womit haben wir dich beleidigt, daß wir, außer dem von den Menschen zugefügten Martyrium, auch noch die unbeschreibliche Qual deiner Abkehr von uns ertragen müssen? Ihn, ihn, der dein Sohn war und dich mit einer Stimme rief, die die Erde erschauern machte und sie in mitleidigem Aufschluchzen erbeben ließ, wie konntest du ihn in seiner großen Qual verlassen? Armes Herz Jesu, das dich so sehr geliebt hat! Wo ist das Zeichen der Herzwunde? Hier ist es. Sieh, Vater, dieses Zeichen. Hier ist der Abdruck meiner Hand, die in die Wunde der Lanze eingedrungen ist. Hier, hier . . . Weder die Tränen noch der Kuß der Mutter, deren Augen brennen vom Weinen und deren Lippen wund sind vom Küssen, löschen es. Dieses Zeichen schreit und klagt an. Dieses Zeichen
schreit lauter als das Blut Abels von der Erde zu dir. Und du, der du Kain verflucht und dich an ihm gerächt hast, du bist meinem von seinen Kainen schon so sehr verletzten Abel nicht zu Hilfe gekommen und hast ihnen sogar das letzte Verbrechen erlaubt! Du hast ihm das Herz zerrissen durch deine Abkehr und hast zugelassen, daß ein Mensch es freilegt, damit ich es sehe und auch durch seinen Anblick zermalmt werde. Aber nicht meinetwegen, sondern seinetwegen, seinetwegen rufe ich dich und bitte dich um eine Antwort.
Du hättest es nicht tun dürfen . . .
Du hättest es nicht tun dürfen . . . Oh, Verzeihung, Vater! Verzeihung, heiliger Vater! Verzeih einer Mutter, die ihr Kind beweint . . .Er ist tot! Mein Sohn ist tot! Mit durchbohrtem Herzen gestorben . . .Oh, Vater, Vater, Erbarmen! Ich liebe dich! Wir haben dich geliebt, und du hast uns so sehr geliebt. Wie konntest du zulassen, daß das Herz unseres Sohnes durchbohrt wurde? Oh, Vater! . . . Habe Mitleid mit einer armen Frau. Ich bin von Sinnen, Vater! Ich gehöre dir, ich bin dein Nichts, und ich wage es, dich zu tadeln! Barmherzigkeit! Du bist gut gewesen. Die Wunde, die einzige Wunde, die ihn nicht geschmerzt hat, ist diese. Deine Abkehr hat ihn noch vor Sonnenuntergang sterben lassen und ihm so weitere Qualen erspart. Du bist gut gewesen. Alles tust du aus Güte und Liebe. Wir sind Geschöpfe, die nichts verstehen.
Du bist gut gewesen. Gut bist du gewesen. Sprich diese Worte, meine Seele, um meinem Leiden den Stachel zu nehmen. Gott ist gut und hat dich immer geliebt, meine Seele. Von der Wiege bis zum heutigen Tag hat er dich immer geliebt. Er hat dir alle Freuden des irdischen Lebens geschenkt. Er hat dir sich selbst geschenkt. Er ist gut gewesen, gut, gut. Danke, Herr. Sei gepriesen für deine unendliche Güte.
Danke, Jesus. Ich danke auch dir. Ich allein habe sie in meinem
Herzen gefühlt, als ich dein geöffnetes Herz gesehen habe. Nun ist deine Lanze in meinem Herzen und bohrt und wühlt. Doch es ist besser so. Du spürst sie nicht. Aber, habe Erbarmen, Jesus. Gib ein Zeichen! Eine Liebkosung, ein Wort für deine arme Mutter mit dem verwundeten Herzen! Ein Zeichen, ein Zeichen, Jesus, wenn du mich bei deiner Rückkehr noch lebend antreffen willst.«
Ein energisches Klopfen an der Tür läßt alle aufschrecken. Der tapfere Hausherr flieht. Maria des Zebedäus möchte, daß ihr Johannes ihm folgt und schiebt ihn in Richtung Hof. Die anderen, außer Maria Magdalena, drängen sich zusammen und jammern. Maria Magdalena geht aufrecht und mutig zur Tür und fragt: »Wer klopft?«
Eine Frauenstimme antwortet: »Ich bin Nike. Ich muß der Mutter
etwas bringen. Öffnet schnell, die Militärstreife ist unterwegs.«
Johannes, der sich von seiner Mutter losgerissen hat und zu Magdalena geeilt ist, macht sich an den vielen Riegeln zu schaffen, die heute abend alle sorgfältig vorgeschoben sind. Er öffnet, und Nike kommt mit einer Dienerin und einem kräftigen Begleiter herein. Die Tür wird wieder geschlossen.
»Ich habe etwas«, sagt Nike weinend, und die Stimme versagt
ihr . . .
»Was? Was?« Alle drängen sich neugierig heran.
»Auf dem Kalvarienberg . . . Ich habe den Erlöser in diesem Zustand gesehen . . . Ich hatte den Schleier für die Lenden vorbereitet, damit er die Lappen der Henker nicht braucht . . . Aber er war so verschwitzt, mit Blut in den Augen, daß ich ihm den Schleier geben wollte, damit er sich abtrocknen konnte. Und er hat es getan . . . und mir den Schleier zurückgegeben. Ich habe ihn nicht mehr benützt . . . Ich wollte ihn mit seinem Schweiß und seinem Blut als Reliquie aufbewahren. Und als wir kurz darauf die Gehässigkeit der Juden gegen Plautina und die anderen Römerinnen, Lydia und Valeria, sahen, beschlossen wir, zurückzukehren, aus Furcht, daß man uns dieses Tuch wegnehmen könnte. Die Römerinnen sind tapfere Frauen. Sie haben uns in ihre Mitte genommen, mich und die Dienerin, und haben uns beschützt. Obwohl sie eine Verunreinigung für Israel darstellen . . . und es gefährlich ist, Plautina zu berühren.
Aber daran denkt man in ruhigen Zeiten. Heute waren alle in einem Rausch . . . Zu Hause habe ich geweint . . . stundenlang . . . Dann ist das Erdbeben gekommen, und ich bin ohnmächtig geworden . . .
Als ich wieder zu mir kam, wollte ich den Schleier küssen und habe gesehen . . . Oh! . . . Das Antlitz des Erlösers ist darauf! . «
»Laß sehen! Laß sehen!«
»Nein, zuerst die Mutter! Es ist ihr Recht!«
»Sie ist völlig am Ende! Sie wird es nicht ertragen . . . «
»Oh, sagt das nicht. Es wird ihr im Gegenteil ein Trost sein. Benachrichtigt sie!«
Johannes klopft leise an die Tür.
»Wer ist da?«
»Ich, Mutter. Nike ist draußen . . . Sie ist bei Nacht gekommen . .
Sie hat dir ein Andenken . . . ein Geschenk gebracht. Sie hofft, daß es dir ein Trost sein wird.«
»Oh, ein einziges Geschenk könnte mich trösten: das Lächeln seines Gesichtes . . .
»Mutter!« Johannes umarmt sie, aus Furcht, daß sie fallen könnte, und sagt, als würde er ihr den wahren Namen Gottes anvertrauen:
»Das ist es. Sein Lächeln ist auf dem Tuch, mit dem Nike auf dem Kalvarienberg sein Antlitz getrocknet hat.«
»Oh, Vater! Allmächtiger Gott! Heiliger Sohn! Ewige Liebe! Seid
gepriesen! Das Zeichen! Das Zeichen, um das ich euch gebeten habe!
Laß sie, laß sie eintreten!«
Maria muß sich setzen, denn sie kann sich nicht mehr auf den
Beinen halten, und während Johannes den Frauen ein Zeichen gibt, Nike hereinzuschicken, beruhigt sich die Jungfrau wieder.
Nike kommt herein und kniet mit ihrer Dienerin vor Maria nieder.
Johannes steht neben Maria und legt einen Arm um ihre Schultern, wie um sie zu stützen. Nike sagt kein Wort. Sie öffnet das Kästchen, nimmt das Tuch heraus und faltet es auseinander. Und das Antlitz Jesu, das lebendige Antlitz Jesu, das schmerzerfüllte und doch lächelnde Antlitz Jesu sieht die Mutter an und lächelt ihr zu.
Maria schreit in schmerzlicher Liebe auf und streckt die Arme aus.
Ein Echo ertönt aus dem Vorraum, wo sich die Frauen an der Tür versammelt haben. Und alle knien wie die Mutter vor dem Antlitz des Erlösers nieder.
Nike findet keine Worte. Sie läßt das Tuch aus ihren Händen in
die Hände der Mutter gleiten und neigt sich dann, um seinen Saum zu küssen. Schließlich geht sie rückwärts aus dem Raum, ohne abzuwarten, daß Maria aus ihrer Ekstase erwacht.
Sie geht in die Nacht hinaus und ist schon verschwunden, bevor
die anderen dessen gewahr werden. Es bleibt ihnen nichts anderes übrig, als das Tor wie zuvor zu schließen.
Maria ist wieder allein, in ein Gespräch der Seele mit dem Bild
ihres Sohnes vertieft, denn die anderen haben sich alle zurückgezogen.
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