Auszug aus dem Werk "Helden und Heilige" von Hans Hümmeler.
Vorbemerkung: Dieser Text wurde zu einer Zeit abgefasst, als Pius X. noch nicht heilig gesprochen, sondern erst der Seligsprechungsprozess eingeleitet worden war. Umso mehr ist dieser Text ein historisches Zeitdokument und in jedem Fall eine lohnenswerte Lektüre.
"In der Krypta von St. Peter in Rom liegt der Papst begraben, dem der Weltkrieg das Herz brach, und die Inschrift der einfachen schwarzen Marmorplatte verkündet statt weltbewegender Taten nur ein paar bescheidene Alltagstugenden:
Pius X.
arm und doch reich
sanft und demütig von Herzen
ein unbesiegbarer Verteidiger des
katholischen Glaubens
bestrebt, alles in Christo zu erneuern
fromm dahingeschieden am 20. August A. D. 1914.
Der Papst, der nichts anderes sein wollte als ein Priester und Seelsorger mit allen Faserns seines grundgütigen Herzens, hat eine echt priesterliche Grabinschrift gefunden. Vor seinem Ehrenmonument unter den mächtigen Wölbungen des Petersdomes machen nur wenige halt, um die Szenen aus seiner Regierungszeit zu betrachten, wohl aber steigen tägliche Hunderte die runde Treppe zur Krypta hinab, um an seinem Grabe zu beten. Rom hat ihn nie vergessen und glaubt mit eifervoller Treue, daß er ein Heiliger war. Darum führen die Eltern, die er einst am Tage ihrer ersten heiligen Kommunion im Hof des Vatikans segnete, jetzt ihre Kinder zu ihm, daß sie Blumen auf sein Grab legen und ihm danken, der ihnen das Glück und die Gnade gab, schon im zartesten Alter den Heiland der Welt empfangen zu dürfen.
Kein Papst des letzten Jahrhunderts hat so viel Haß auf sich geladen, keiner aber auch so viel Liebe geerntet wie Pius X. Das Wort "Vater der Christenheit" gewann durch ihn einen neuen, tiefen Klang von Herzlichkeit. Weil er sich kraft seines hohepriesterlichen Amtes die Führer des Unglaubens verfeinden musste, weil er um die Verkehrtheit der Welt und die Beleidigungen Gottes trauerte und litt, als sei er selbst daran mitschuldig, wetteiferten die Gläubigen, ihm ihre Liebe, Verehrung und Dankbarkeit bis übers Grab hinaus zu bezeugen. Der kanonische Prozeß seiner Seligsprechung hat begonnen; wann wird der "Glaube der Unmündigen" gerechtfertigt und der Sohn des Volkes auf die Altäre erhoben werden?
"Arm und doch reich" - es gab eine Zeit, wo der kleine Beppi Sarto täglich fünf Kilometer von Riese barfuß nach Castelfranco zur Schule wanderte, ein Stück Brot in der Tasche, die Schuhe über die Schulter gehängt; denn Vater Sartos Einkommen als Briefträger und Gemeindediener zwang zu eiserner Sparsamkeit. Der aufgeweckte, wissenshungrige, immer zum Spaßmachen aufgelegte Junge half sich mit Humor über alle Entbehrungen hinweg, und als er erst mit einem Stipendium in das Seminar zu Padua einziehen konnte, kannte sein rastloser Fleiß keine Grenzen; denn jedes Jahr, das er dem Studienplan abrang, brachte ihn dem Ziel seiner Sehnsucht näher. Endlich, mit dreiundzwanzig Jahren empfing er vor dem herrlichen Madonnenbild des Giogione in der Kirche von Castelfranco die Priesterweihe. Die mageren Jahre waren jedoch keineswegs zu Ende. Als Kaplan eines kränklichen Pfarrers trug er die ganze Last der Seelsorgearbeit bei den rauhen und wenig zugänglichen Viehzüchtern von Tombolo, verschenkte sein spärliches Gehalt, studierte bis spät in die Nacht hinein und blieb mager wie eine Spindel. Als Pfarrer von Calzano opferte er sich in der Cholerazeit auf für Gesunde und Kranke, plünderte den Leinenschrank seiner Schwester aus und mußte schließlich vom Bischof ermahnt werden, seine Kräfte zu schonen. Daß dieser Mann auch als Bischof und Papst keine fremde Not sehen konnte, ohne zu helfen, war nur der selbstverständliche Ausdruck seiner paulinischen Gesinnung: Die Liebe Christi drängt uns.... Er, der allen gab, was er besaß, blieb selber arm bis zum Tode. Hatte er einst dem Bürgermeister von Mantua geschrieben: "Euer neuer Bischof ist arm an allen anderen Dingen, aber reich an Liebe zu seiner Herde", so konnte er in seinem Testament von sich bezeugen: "Arm bin ich geboren, arm habe ich gelebt und arm wünsche ich zu sterben."
"Sanft und demütig von Herzen" - er kam aus dem Volk und wäre am liebsten Dorfpfarrer inmitten des Volkes geblieben. Als er unvermutet die Nachricht von seiner Ernennung zum Bischof von Mantua erhielt, weinte er wie ein Kind. Zehn Jahre später hielt er im Kardinalspurpur seinen Einzug in das festlich gescmückte Venedig. Wer aber geglaubt hatte, er würde von seinem Palast aus regieren und des Glanz des Kirchenfürsten zur Schau tragen, irrte sich. Gerade die ärmsten Hafenviertel sahen am häufigsten seinen Besuch, und mancher Landpfarrer war nicht wenig bestürzt, wenn plötzlich der Patriarch von Venedig inkognito von seinem hoplerigen Bauernkarren herabstieg, um die Gemeinde zu visitieren. Nur das Kardinalswappen auf dem Deckel der ihm geschenkten Taschenuhr hielt ihn ab, diese Uhr ins Pfandhaus zu tragen. Mit einer Rückfahrkarte reiste er der Billigkeit wegen im Juli 1903 zum Konklave nach Rom; so wenig dachte er an die Möglichkeit, zum Stellvertreter Christi erwählt zu werden. Als dann immer mehr Stimmen sich auf ihn vereinten, flehte er die Kardinäle mit nassen Augen an, sich für einen Würdigeren zu entscheiden. Umsonst; gerade der arme und demütige Sohn eines Briefträgers war von der Vorsehung dazu bestimmt, den luziferischen Stolz eines von seinen technischen Leistungen berauschten Zeitalters zu beschämen. Nach schmerzlichen Seelenkämpfen beugte er sich still unter das Kreuz, das Gott auf seine Schultern legte.
"Ein unbesiegbarer Verteidiger des katholischen Glaubens" - die Aufklärer des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts hatten wohl von dem in der wissenschaftlichen Welt herzlich unbekannten Pius am allerwenigsten einen zielbewussten und tatkräftigen Widerstand erwartet. Aber schon die ersten Dekrete und Rundschreiben des neuen Papstes ließen erkennen, daß er auch um den Preis des Friedens zwischen Staat und Kirche kein Jota von den katholischen Grundsätzen preisgeben würde. Der vernichtende Schlag, den er gegen die Irrlehre des sogenannten Modernismus führte, rief die Freimauerei der Welt, aber auch die Gläubigen aller Länder auf den Plan.
Die große Scheidung der Geister war vollzogen, die Fronten zeichneten sich scharf ab, und der Papst als oberster Lehrer der Christenheit gab das Losungswort Christi: "Wer nicht mit mir ist, der ist wider mich." In Frankreich entbrannte der Kulturkampf, die Kirchengüter wurden beschlagnahmt, aus den Schulen das Kruzifix entfernt, Priester und kirchentreue Beamte verfolgt. In Portugal richtete sich die Revolution von 1911 auch gegen die Kirche, in Mexiko wüteten die Banden des Villa und Carranza gegen alle Bekenner eines tatenfrohen Christentums. Auch in Italien fehlte es nicht an Spannungen zwischen der freimauerischen Regierung und der Kurie, obwohl Pius schon in Mantua und Venedig immer auf ein freundliches Verhältnis zu den Behörden bedacht gewesen war. Er kannte weder Starrsinn noch Schwäche und Furcht, sondern nur die Verantwortung vor Gott. Wie er sein Amt auffasste, hat er selbst gelegentlich einer Privataudienz ausgesprochen: "Wir sind kein Diplomat, aber wir haben die Pflicht, Gottes Gesetz zu verteidigen."
"Bestrebt, alles in Christo zu erneuern" - so sehr auch der Kampf mit den kirchenfeindlichen Mächten das Pontifikat des zehntes Pius kennzeichnet, nicht darin liegt seine eigentliche Bedeutung. Die Erfüllung seines Hirtenamtes sah er im Aufbau eines neuen, überzeugten, ins private und öffentliche Leben wirkenden Glaubensmutes. Darum seine bahnbrechenden Erlasse auf fast allen Gebieten der innerkirchlichen Reform, die Neuschöpfung des kanonischen Rechts, die Errichtung des päpstlichen Bibelinstitutes, die Verbesserung des Katechismus und Breviers, die Vorschriften über die Erziehung und wissenschaftliche Bildung der jungen Kleriker, die Vereinfachung der römischen Kurie, die Pflege des gregorianischen Gesangs und der klassiker katholischer Kirchenmusik, die Ermutigung katholischer Politiker und Sozialreformer, die Förderung der Heidenmission in allen Erdteilen. Fruchtbarer noch als diese priesterliche Sorge für das Aufblühen einer neuen katholischen Geisteshaltung, ja von einer unschätzbaren Bedeutung für die kommenden Geschlechter wurden seine Rundschreiben über den täglichen Empfang des heiligen Altarsakramentes und über die frühe Erstkommunion der Kinder. Damit hob der die letzten Nachwehen des finsteren Jansenismus auf und erschloß der Menschheit einen Gnadenstrom, den sie nie ausschöpfen wird. Wenn alle übrigen Verdienste Pius X.' von den Maßnahmen einer späteren Zeit überdeckt sein werden, sein Ehrenname "Papst der Eucharistie" wird bis in die ernste Zukunft die gewaltigste Tat seines Pontifikates festhalten.
"Fromm dahingeschieden am 20. August A. D. 1914" - die unheilvollen Ereignisse, die sich in seiner Regierungszeit jagten, waren nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Das Lächeln in seinem Antlitz war erstorben; geblieben war seine Güte, seine Hilfsbereitschaft, der glühende Eifer seines Priesterherzens. Mit einer bewundernswerten Arbeitskraft und einer Pflichttreue ohnegleichen traf er persönlich Tag für Tag seine Entscheidungen, ohne sich durch die Fülle der andringenden Aufgaben verwirren zu lassen. Gleich lebendig und liebenswürdig, ein Mann von umfassendem Verständnis, empfing er Staatsbesuche und arme Pilger aus seiner Heimat. Wer ihn sehen und sein Wort vernehmen durfte, gewann einen unauslöschlichen Eindruck von ihm. Schon damals nannten seine Landsleute ihn insgeheim den "Santo", den Heiligen, und erhofften alles von seinem Gebet und Segen. Wußten sie, daß der Greis auf dem Thron Petri viele Stunden des Tages und der Nacht kniend um das Wohl der Völker zu seinem Gott rief? Ahnte er selbst, daß der Friede Europas bald vom Lärm der großen Angriffsschlachten zerrissen würde? Seit er den wilden Haß der Hölle an sich erfahren hatte, spiegelte sein Antlitz eine tiefe Trauer um die verirrte Menschheit. Das Blutbad der Völker konnte er nicht überwinden. Als eines der ersten Opfer des Weltkrieges hauchte er sein Leben aus. Wir aber bitten die Kirche, die er einst geleitet, daß sie ihn heiligsprechen möge, solange noch das Geschlecht lebt, über das er seine segnende Hand hielt."