Zweite Schau
DAS MYSTERIUM DES BÖSEN
DANN SAH ICH eine unzählige Menge lebendiger Lichter in strahlender Herrlichkeit. Wie des Feuers blitzende Glut flammten sie auf und prangten dann in ruhigem, heiterem Glanze.
Doch alsbald erschien ein breiter, tiefer See. Sein Schlund öffnete sich wie ein Brunnen. Feurigen, stinkenden Rauch atmete er aus.
Ein entsetzlich finsterer Nebel entstieg ihm und dehnte sich langgestreckt, bis er etwas wie eine Ader berührte, die voll des Trugs zu sein schien.
Durch diese drang er in ein lichtdurchstrahltes Land und wehte eine blendendweiße Wolke an, die von eines schünen Mannes Gestalt ausgegangen war. Viele, viele Sterne trug sie in sich.
Und der Nebel verjagte die Wolke mitsamt der Mannsgestalt aus dem lichten Lande.
Da lagerte sich der Lichtglanz gleich einem Wall um das Land.
Zugleich gerieten die Elemente der Erde, die zuvor in tiefer Ruh verharrten, in Aufruhr, und offenbarten furchtbar ihre erschreckende Macht.
Dritte Schau
DER KOSMOS
DANACH SAH ICH ein riesenhaftes Gebilde, und schattenhaft. Wie ein Ei spitzte es sich oben zu, wurde in der Mitte breiter und nach unten zu wieder schmäler.
Seine äußerste Schicht ringsum war lichtes Feuer.
Darunter lagerte eine finstere Haut. In dem lichten Feuer schwebte ein rötlich funkelnder Feuerball, so groß, daß das ganze Gebilde von ihm sein Licht empfing.
Drei Leuchten brannten der Reihe nach über ihm. Sie gaben ihm Halt durch ihre Glut, damit er nicht versinke.
Zuweilen hob sich der Feuerball empor, und viel Feuer sprühte ihm entgegen, so daß seine Flammen weiter hinausloderten. Zuweilen neigte er sich nach unten. Doch kam ihm von daher viel Kälte entgegen, und rasch zog er seine Flammen wieder zurück.
Von der lichten Feuerzone, die rings das Gebilde umgab, ging ein Wind mit seinen Wirbeln aus.
Auch aus der finsteren Haut, die darunter lagerte, brach ein Wind und blies mit seinen Wirbeln da und dorthin durch das Gebilde. In dieser Haut glühte ein solch schauer lich düsteres Feuer, daß ich es nicht anzuschauen vermochte. Es wütete so stark, daß die ganze Haut davon erschüttert ward, denn es war voll von Getöse, Sturmgebrause und spitzigen Steinen, groß und klein.
Wenn es zu toben begann, dann gerieten auch das lichte Feuer, die Winde und die Luft in Aufruhr. Sie entsandten ihre Blitze, die dem Getöse zuvorkamen, denn das Feuer verspürte sogleich in sich die erste Regung des Getöses.
Unter der finsteren Haut flutete der reinste Äther. Er hatte keine Haut unter sich, doch erblickte ich in ihm eine sehr große, weißglänzende Feuerkugel.
Deutlich sichtbar standen über ihr zwei Leuchten, die sie hielten, auf daß sie die ihr vorgezeichnete Bahn nicht überschreite.
Und eine Menge kleinerer Lichtkugeln waren durch den Äther verstreut. In sie entleerte sich zuweilen die Feuerkugel. Dabei verlor sie ihren hellen Schein.
Doch alsbald kehrte sie unter den früher erwähnten rotfunkelnden Feuerball zurück und entzündete an ihm aufs neue ihre Flammen, um sie dann wieder unter die Kugeln auszustrahlen.
Auch von dem Äther brach ein Wind aus und durchjagte das ganze Gebilde.
Unterhalb des Äthers sah ich dunstige Luft und darunter eine weiße Haut. Der Dunst flutete hin und her und versorgte das ganze Gebilde mit Feuchtigkeit. Manchmal ballte er sich plötzlich zusammen. Dann entströmten ihm heftig rauschende Platzregen. Dann wieder dehnte er sich gelinde aus und träufelte wohltuendes, sanft herabfallendes Naß. Auch in ihm nahm ein Wind seinen Ursprung und wehte mit seinen Wirbeln überallhin durch das Gebilde.
Inmitten all dieser Elemente schwebte eine gewaltige Sandkugel, so von ihnen ringsum gehalten, daß sie nach jeder Seite vor dem Herabfallen gesichert war. Doch wenn zuweilen die Elemente und die Winde einander schüttelten, brachten sie durch ihre Wucht auch die Kugel ein wenig ins Schwanken.
Darauf sah ich zwischen Norden und Osten einen riesigen Berg. Seine Nordseite lag im Finstern, während die dem Osten zugekehrte Fläche in hellem Licht strahlte, so jedoch, dass weder das Licht der Finsternis, noch die Fnsternis das Licht berühren konnte.
Vierte Schau
WISSE DIE WEGE
UND DASS SAH ICH: einen übergroßen, hellen Glanz, der wie in zahllosen Augen flammte und seine vier Winkel nach den vier Himmelsgegenden richtete. Er deutete auf ein Geheimnis des erhabenen Schöpfers, das mir jetzt in einem großen Mysterium kundwurde.
Inmitten dieses Glanzes erschien ein anderer Glanz, gleich dem Morgenrot in Purpurblitzen leuchtend.
Nun schaute ich auf die Erde und sah Menschen, die Milch in Tongefäßen trugen. Daraus bereiteten sie Käse. Ein Teil der Milch war fett. Daraus wurden kräftige Käse. Andere Milch war dünn, daraus gerannen fade Käse. Ein letzter Teil der Milch war mit Fäulnis gemischt, die daraus gebildeten Käse waren bitter.
Gleichzeitig sah ich eine Frau, die die volle Gestalt eines Menschen in ihrem Schoße trug. Und siehe, nach der geheimen Verfügung des himmlischen Schöpfers regte sich diese Gestalt in Lebensbewegung, und eine Feuerkugel, die nicht die Umrisse des menschlichen Körpers hatte, nahm das Herz der Gestalt in Besitz, berührte ihr Gehirn und ergoß sich durch alle ihre Glieder.
Nachdem nun die also belebte Menschengestalt aus dem Schoße der Frau hervorgegangen war, wechselte sie je nach den Bewegungen, die die feurige Kugel ihr hervorbrachte, ihre Farbe.
Weiter sah ich, wie auf eine solche Feuerkugel, die in einem Menschenleibe weilte, viele Stürme eindrangen und sie bis zur Erde niederbeugten. Sie aber raffte ihre Kräfte zusammen, richtete sich männlich auf und widerstand ihnen starkmütig.
Tief aufseufzend klagte sie:
"Ich Pilgrim! Wo bin ich? Im Todesschatten. Auf welchem Wege ziehe ich dahin? Auf dem Wege des Irrtums. Welchen Trost habe ich? Den Trost der Heimatfernen.
Ich sollte ein Zelt haben, mit fünf Quadersteinen geschmückt, lichter als die Sonne und die Sterne. Denn nicht diese Sonne, die untergeht, und nicht diese Sterne, die untergehen, sollten in ihm leuchten, sondern die Herrlichkeit der Engel. Ein Topas sollte sein Fundament, von lauter Edelstein seine Mauern sein.
Seine Treppen müßten aus Kristall gefügt, sein Boden mit Gold belegt sein. Denn ich bin berufen, die Genossin der Engel zu sein, weil ich der lebendige Hauch bin, den Gott in den trockenen Lehm entsandte. Deshalb sollte ich Gott kennen und Ihn spüren.
Aber ach! Seitdem mein Zelt erkannte, daß es mit seinen Augen alle Welt erschauen könne, richtete es seine Kräfte nach Norden.
Wehe! Wehe! Darum bin ich gefangen, der Augen und der Freude der Erkenntnis beraubt. Mein Gewand ist zerrissen. Aus meinem Erbe bin ich vertrieben. In die Fremde wurde ich entführt, an einen Ort, der aller Schönheit und Ehre bar. Der schmählichsten Knechtschaft bin ich ausgeliefert.
Meine Bedränger, die mich gefangennahmen, trieben mich mit Faustschlägen zu den Trebern der Schweine, um meinen Hunger zu stillen.
Sie führten mich an einen trostlosen Ort und gaben mir bittere, in Honig getauchte Kräuter zur Speise.
Danach legten sie mich auf die Kelter und quälten mich mit vielen Qualen. Sie zogen mir die Kleider aus und schlugen mich wund.
Sehr böse und giftige Schlangen, wie Skorpione, Nattern und ähnliche, hetzten sie auf mich, so daß diese auf mich loszischten und mich ganz mit ihrem Gift bespritzten.
Als ich nun vollständig entkräftet und niedergeschlagen dalag, spotteten sie meiner und sagten: „Wo ist nun deine Ehre?“
Ach, da erzitterte ich und erbebte und sprach mit tiefem Schmerzensseufzen schweigend zu mir selber: „Oh, wo bin ich? Ach, wie bin ich an diesen Ort gekommen? Wen soll ich in dieser Gefangenschaft mir zum Tröster suchen? Wie kann ich diese Ketten brechen? Welches Auge kann meine Wunden sehen? Welche Nase kann ihren furchtbaren Geruch ertragen? Welche Hand wird mit Öl ihre Qualen lindern? Ach, wer hat Mitleid mit meinem Schmerz? Der Himmel höre mein Rufen, und die Erde erzittere ob meiner Klage, und alles, was lebt, neige sich barmherzig meiner Gefangenschaft zu, denn das bitterste Leid drückt mich darnieder. Ich bin ein Fremdling
ohne Trost und Hilfe. Oh, wer wird mich trösten? Denn selbst meine Mutter hat mich verlassen, weil ich vom Wege des Heiles abgeirrt bin. Wer wird mir helfen außer Gott? Wenn ich dein gedenke, O Mutter Sion, in der ich wohnen sollte, so schaue ich auf die Knechtschaft, in der ich schmachte! Ich erinnere mich deiner Harmonien und - blicke auf meine Wunden. Ich sinne nach über die Freude und den Jubel deiner Herrlichkeit und -verabscheue das Gift, von dem ich durchseucht bin. Oh, wohin soll ich mich wenden, wohin fliehen? Mein Schmerz ist unermeßlich. Denn wenn ich unter diesen Bösen verharre, so werde ich die Genossin derer sein, mit denen ich im Lande Babylon schändlichen Umgang gepflogen.
Wo bist du, O meine Mutter Sion? Weh mir, daß ich Unglückselige von dir gewichen bin! Denn wenn ich dich nicht kennte, so trüge ich leichter meinen Schmerz.
Doch von nun ab will ich meine bösen Genossen fliehen. Denn das unglückselige Babylon hat mich auf eine Bleiwaage gelegt und mit schweren Balken mich belastet, so daß ich kaum zu atmen vermag. Aber wenn ich meine Tränen und Seufzer zu dir, O meine Mutter, ergieße, so entsendet das unheilvolle Babylon ein solches Getöse rauschender Wasser, daß du meine Stimme nicht hörst.
So will ich denn mit vieler Sorgfalt schmale Pfade suchen, auf denen ich meinen schlimmen Genossen und meiner unglückseligen Gefangenschaft entrinnen kann.“
Nachdem ich so gesprochen, entschlüpfte ich auf einen engen Weg, wo ich mich in einem schmalen, dem Norden abgekehrten Spalt verbarg, und weinte bitterlich, weil ich meine Mutter verloren hatte. Ich übersann die ganze Größe meines Schmerzes und betrachtete all meine Wunden und weinte und weinte und vergoß so viele Tränen, daß all meine brennenden und eiternden Wunden davon benetzt wurden.
Siehe, da wehte wie sanftes Säuseln ein gar süßer Duft auf mich herab, von meiner Mutter mir zugesandt. Oh, wie ich da seufzte und weinte, als ich diesen kleinen Trost verspürte. Ein solches Freudengeheul stieß ich aus, daß sogar der Berg, in dessen Spalt ich mich verborgen hatte, davon erschüttert wurde.
Und ich sprach: „O Mutter, Mutter Sion! Was soll denn aus mir werden? Wo ist nun deine edle Tochter? Wie lange, wie lange bin ich fern von deiner mütterlichen Zärtlichkeit, die du mich in vielen Freuden so liebreich nährtest!"
Durch diese Tränen wurde ich so beglückt, daß es mir war, als sähe ich meine Mutter.
Aber meine Feinde hörten mein Rufen und sprachen: „Wo ist unsere hisherige Genossin, die wir festhielten bei uns und die bis jetzt alles nach unserem Willen tat? Siehe, nun ruft sie die Himmelsbewohner an. Darum wollen wir all unsere Künste aufbieten. Mit solcher Eifersucht und Sorgfalt wollen wir sie bewachen, daß sie uns nicht mehr entfliehen kann, denn vorher hatten wir sie ganz in unserer Gewalt. Tun wir dies, so wird sie uns wieder folgen."
Ich aber verließ heimlich den Spalt, in dem ich mich verborgen hatte, und suchte auf eine Bergeshöhe zu gelangen, wo meine Feinde mich nicht mehr finden könnten.
Da warfen sie mir plötzlich ein Meer mit solchem Tosen entgegen, daß es nach keiner Richtung hin zu durchwaten war. Wohl gab es eine Brücke, aber so klein und schmal, daß ich sie nicht zu betreten wagte. Und am jenseitigen Ufer eine Bergeskette, so schroff und zackig, daß sich auch dort kein Ausweg bot.
Da sprach ich: „Was soll ich Elende tun? Ein wenig habe ich die zarte Liebe meiner Mutter gespürt und meinte, sie wolle mich heimholen zu sich. Aber ach, nun läßt sie mich wieder im Stich. Wohin soll ich mich jetzt wenden? Denn wenn ich in meine frühere Gefangenschaft zurückgerate so werde ich noch mehr als bisher meinen Feinden zum Gespötte sein, weil ich nach meiner Mutter gejammert habe und von ihr verlassen bin, obschon sie mich ein wenig ihre süße Liebe fühlen ließ.
Aber von dem lieblichen Duft, der mir von meiner Mutter zugeströmt war, hatte ich noch so viel Kraft in mir, daß ich mich dem Osten zuwandte und von neuem enge Pfade suchte. Aber diese waren mit Dornen und Disteln und ähnlichen Hindernissen so dicht besetzt, daß ich kaum einige Schritte gehen konnte. Mit der größten Mühe und Anstrengung arbeitete ich mich durch. Doch überfiel mich solche Müdigkeit, daß mir fast der Atem ausging.
Ganz erschöpft kam ich auf der Spitze des Berges an, in dessen Spalt ich mich zuvor verborgen hatte, und wandte mich dem Abstieg zu.
Da züngelten mir plötzlich Nattern, Skorpione, Drachen und anderes Schlangengezücht entgegen. Vor Schrecken stieß ich einen lauten Schrei aus: „O Mutter, wo bist du? Geringer wäre mein Schmerz, wenn ich die Süßigkeit deiner Heimsuchung nicht erfahren hätte, denn nun stürze wieder in die Gefangenschaft zurück, in der ich so lange schmachtete. Wo ist deine Hilfe?“
Da hörte ich die Stimme meiner Mutter: „O Tochter, eile, Flügel sind dir verliehen vom allmächtigen Vater, dem niemand widerstehen kann. Darum fliege schnell über all diese Hindernisse hinweg!'
Das tröstete mich gewaltig. Kraft kam über mich. Ich nahm die Flügel und flog eilig über die Gift-und Mordbrut hinweg.
Jetzt kam ich an ein Zelt, das innen aus gehärtetem Stahl gebaut war. In dieses trat ich ein und verrichtete von nun an die Werke des Lichtes, ich, die ich zuvor die Werke der Finsternis getan. Ich baute in dem Zelte gegen Norden eine Säule von ungefeiltem Eisen und hängte Wedel aus mannigfachen Federn, die sich hin und her bewegten, daran auf.
Auch fand ich Manna und aß es.
Gegen Osten errichtete ich eine Vormauer aus Quadersteinen und zündete ein Feuer darauf an. Myrrhenwein und Most trank dort.
Doch auch gegen Süden baute ich einen Turm aus Quadersteinen, hängte rote Schilde darin auf und legte elfenbeinerne Posaunen in seine Fenster. Inmitten des Turmes goß ich Honig aus, mischte ihn mit anderen Gewürzen und bereitete kostbaren Balsam daraus, so daß ein starker Duft ringsum das Zelt durchströmte. Gegen Westen setzte ich keinen Bau, denn diese Seite ist der Welt zugekehrt.
Aber während ich so ganz in meiner Arbeit aufging, griffen meine Feinde zu ihren Köchern und beschossen mein Zelt mit
ihren Pfeilen. In meinem Eifer bemerkte ich ihr wahnwitziges Treiben nicht eher, als bis der Eingang des Zeltes ganz mit Pfeilen gespickt war. Doch keiner von ihnen vermochte weder die Tür noch die Stahlwand des Zeltes zu durchbohren. So konnte auch ich von ihnen nicht verletzt werden.
Als sie das sahen, entsandten sie eine wogende Wasserflut, um mich und mein Zelt zu stürzen. Doch auch mit dieser Bosheit erreichten sie nichts.
Kühn lachte ich ihrer und sagte: „Der Meister, der dieses Zelt gebaut hat, war stärker als ihr. Rafft nun eure Pfeile zusammen und steckt sie ein. Sie können euer Siegesgelüste an mir nicht stillen. Wo sind die Wunden, die sie geschlagen haben? Unter bitterem Weh und heißem Mühen habe ich viele Kämpfe gegen euch geführt, da ihr mich dem Tode überliefern wolltet. Ihr habt es nicht vermocht. Denn mit überstarken Waffen gerüstet, habe ich scharfe Schwerter gegen euch gezogen und mich entschlossen verteidigt. Hinweg mit euch, hinweg, mich könnt ihr fürderhin nicht haben.“
Aber ich gebrechliche und ungelehrte Frau sah weiter, wie auf eine andere Kugel viele Stürme eindrangen und sie niederzuringen drohten. Doch wurden sie ihrer nicht mächtig, denn sie leistete tapferen Widerstand und bot ihrem Toben keine Bresche. Dennoch sprach sie klagend:
"Obgleich ich ein armseliges Wesen bin, so obliege mir doch Großes. Ach, wer bin ich! Was klage ich! Ich bin der lebendige Hauch im Menschen, eingesenkt in das Zelt von Mark und Adern, von Gebein und Fleisch. Ich bin es, die diesem Zelte Wachstum gibt und es in all seinen Bewegungen trägt. Aber wehe, meines Zeltes Sinnenverhaftung gebiert Unreinheit, Ausgelassenheit, Leichtfertigkeit und jede Art von Lastern. Ach, wie beklage ich dies Unheil! Denn wenn ich gedeihendes Leben in meinem Zelte spüre, stürzt sofort eine teuflische Einflüsterung auf mich los und umnebelt mich und reißt mich mit im Rausch des Stolzes, so daß ich mir immer wieder vorsage: Wie die sprossende Grüne der Erde will ich wirken! Denn ich weiß, daß ich in meinem Zelte jegliches Werk, gutes wie böses, in meiner Macht habe. Aber meines Zeltes Begierlichkeit hemmt mich, so daß ich meine Werke erst durchschaue, wenn ich die grausame Wunde in mir fühle. O welches Klaggeschrei erhebe ich da! Gott, hast nicht Du mich erschaffen? Gemeine Erde drückt mich nieder! Soll ich fliehen?' Wenn in meinem Zelte die fleischliche Begierde sich regt, flößt sie mir die Lust zum bösen Werke ein, und ich vollbringe es. Aber die Vernunft und das Wissen, die in mir lebendig sind, erinnern mich, daß ich von Gott erschaffen bin, und ich spüre, daß es Furcht war, wenn Adam sich nach seiner Übertretung verbarg. So fliehe ich auch furchtsam das Angesicht meines Gottes, weil ich empfinde, daß die Werke meines Zeltes Ihm zuwider sind. Wiege ich die bleierne Last der Sünde, so verachte ich all die Werke, die in Fleischeslust brennen.
Weh mir Irrenden! Wie kann ich in diesen Gefahren bestehen? Wenn teuflische Eingebung mich anfällt. Ist denn das das Gute, was du nicht weißt, nicht siehst und nicht vollbringen kannst, was soll dann aus mir werden? Und wenn sie fortfährt: „Warum lässest du ab von dem, was du weißt, was du kannst und was in deiner Macht steht?', was soll ich dann tun? Voll Schmerz antworte ich:
,Ich Elende! Schändliche Gifte sind in mich geweht von Adam her, der die Fleischeszelte baute, nachdem er über das göttliche Gebot hinweggeschritten und auf die Erde hinausgestoßen war. Denn das Schmecken, das er durch Ungehorsam im Apfel kostete, senkte unheilvolle Süßigkeit in Blut und Fleisch. Sie ist es, die die Makel der Laster gebiert. Ich fühle sie in mir - diese Lust des Fleisches zur Sünde. Von Schuld berauscht, vernachlässige ich den reinsten Gott. Und doch wollte ich den Gelüsten meines Zeltes nicht folgen. Denn im Anfang erschuf Gott den Adam in Reinheit und Einfalt. Darum ist auch mir die Gottesfurcht eingewurzelt, da ich weiß, daß auch ich rein und einfältig erschaffen bin.'
Doch alsbald erfaßte mich infolge der bösen, lasterhaften Gewohnheit wieder die alte Unruhe. Ach, wie bin ich der Heimat so fern und gehe irre Pfade! Viele Stürme erheben sich in mir und sprechen mit lügenhaften Stimmen: ,Wer bist du? Was tust du? Was sind das für Kämpfe, in denen du dich abmühest? Unglückselige! Du weißt ja nicht, ob dein Werk gut oder böse ist. Wohin wirst du noch geraten? Wer wird dein Verderben aufhalten? Was sind das für Irrlichter, die dich zum Wahnsinn führen? Kannst du denn das vollbringen, was dich erfreut, oder kannst du dem entfliehen, wovor du dich ängstigst? Was wirst du tun? Das eine kennst du, das andere ist dir fremd; denn was dich erfreut, das ist dir nicht erlaubt, und was dich ängstigt, dazu treibt das Gebot Gottes dich an. Und woher weißt du, daß dies alles wirklich so ist? Besser wäre es dir, du wärest nicht.'
Doch wie all diese Stürme so in mir toben, beginne ich einen neuen Weg zu wandeln, der meinem Fleische beschwerlich ist. Ich fange an, die Gerechtigkeit zu üben. Aber dann packt mich wieder der Zweifel, ob das vom Heiligen Geiste sei oder nicht, und ich spreche: ,Es ist unnütz!' Und dann wieder will ich über die Wolken fliegen, das heißt, ich will über das vernünftige Maß hinausgehen und das beginnen, was ich nicht vollenden kann. Aber durch diesen Versuch rufe ich eine übergroße Traurigkeit in mir hervor, so daß ich weder auf dem Berge der Heiligkeit noch in der Ebene des guten Willens irgend etwas zustande bringe, sondern nur die Unruhe des Zweifels, der Hoffnungslosigkeit, der Trauer und gänzlicher Niedergeschlagenheit in mir fühle.
Wenn so die teuflische Einflüsterung mich in Aufruhr bringt, ach, welches Verderben bricht da über mich herein! Alle Übel, die da sind oder sein können in Tadel, Fluch, Ertötung des Leibes und der Seele, in schändlichen Worten wider die Reinheit, Seligkeit und Erhabenheit, die bei Gott zu finden sind, sie alle stürmen auf mich Unselige ein. Und auch noch die Bosheit erhebt sich wider mich, daß alles Glück und alles Gute, das in Gott oder den Menschen ist, mir zur schweren Last wird, mir mehr den Tod als das Leben in Aussicht stellt. Weh mir! Welch unseliger Kampf reißt mich in seinen Strudel, von Mühe zu Mühe, von Schmerz zu Schmerz, und zerreißt mich in stets neuer Spaltung! Alles Glück ist mir geraubt.
Doch woher kommt das Übel solcher Irrtümer? Die alte Schlange ist voll Schlauheit und trügerischer List, voll des mordenden Giftes der Bosheit. Schlau, wie sie ist, flößt sie mir den trotzigen Mut zur Sünde ein. Sie lenkt meine Erkenntnis ab von der Furcht des Herrn, so daß ich mich nicht scheue, das Böse zu tun, da ich mir sage: ,Wer ist denn Gott? Ich weiß nicht, wer Gott ist.' Ihre trügerische List treibt mich zur Verstocktheit, so daß ich hart werde in der Sünde. Das mörderische Gift ihrer Bosheit raubt mir alle geistliche Freude, so daß ich weder am Menschen noch an mehr froh werden kann, und so stürzt sie mich endlich in den Zwiespalt der Verzweiflung, da ich nicht mehr weiß, ob ich gerettet werden kann oder nicht. Oh, was sind das doch für Zelte, die so großen Gefahren durch den Trug des Teufels ausgesetzt sind!
Aber wenn ich durch die Gnade Gottes mich erinnere, daß ich von Gott geschaffen bin, dann antworte ich inmitten all der Bedrängnisse den teuflischen Einflüsterungen: „Ich werde der gebrechlichen Erde nicht weichen, sondern männlich wider sie streiten!“
Wenn mein Zelt die Werke der Ungerechtigkeit vollbringen will, so werde ich Mark, Blut und Fleisch durch die Weisheit der Geduld niedertreten und mich verteidigen wie ein Starker Löwe und wie die Schlange, die sich vor dem Todesschlag in die Höhle verkriecht. Denn ich darf mich weder den Pfeilen des Teufels aussetzen, noch den Willen des Fleisches vollziehen. Wenn der Zorn mein Zelt umlodert, so schaue auf die Güte Gottes, den der Zorn niemals berührt. Dann werde sanfter als die Luft, die durch ihr lindes Wehen die Trockenheit der Erde befeuchtet. Geistliche Freude durchdringt mich, da die Tugenden in mir ihr Leben zu entfalten beginnen. So erfahre ich die Güte Gottes.
Wenn der Haß mich zu schwärzen versucht, so schaue ich auf die Barmherzigkeit und das Leiden des Gottessohnes, und um seinetwillen zügele ich mein Fleisch und empfange durch solch gläubiges Gedenken den Duft der Rosen, die aus Dornen sprießen. Und ich erkenne meinen Erlöser.
Wenn der Stolz in mir den Turm seiner Eitelkeit, der nicht auf Felsengrund gebaut ist, aufrichten will, wenn er jene Höhe in mir erstrebt, die nicht ihresgleichen hat, sondern alle überragen möchte, wer wird mir dann zu Hilfe kommen? Denn dann versucht die alte Schlange mich zu stürzen, die selber in den Tod fiel, weil sie höher sein wollte als alle. Dann spreche ich traurig: ,Wo ist mein König und mein Gott? Was kann ich Gutes ohne Gott? - Nichts.' So schaue ich auf Ihn, der mir das Leben gab, und eile zu der seligsten Jungfrau, die den Stolz der alten Höhle zertrat. Und wenn ich dadurch ein fester Stein im Gottesgebäude geworden bin, vermag mich der reißende Wolf,
der an der Angel der Gottheit erstickte, nicht mehr zu überwinden. Ich erkenne in der Höhe das süßeste Gut, die Demut. Ich empfinde die Lieblichkeit eines unvergänglichen Balsams und freue mich über die Süßigkeit Gottes, die mich gleich dem Wohlgeruch aller Gewürze umflutet. Und so besiege ich auch die übrigen Laster mit dem starken Schilde der Demut."
Darauf sah ich Armselige, wie eine weitere Kugel sich aus den Umrissen ihrer Gestalt zusammenzog, alle Bindungen löste und seufzend auswanderte. Trauernd überließ sie ihren Wohnsitz dem Zerfall und sprach: "Ich ziehe aus meinem Zelte aus. Aber ich Elende, Leidvolle, wohin werde ich gehen? Auf schrecklichen, furchtbaren Pfaden gehe ich zum Gericht. Dort werde ich die Werke, die ich in meinem Zelte getan habe, vorweisen, und dann wird mir nach meinen Werken Vergeltung zuteil. Oh, welche Furcht, welche Angst wird mich da befallen!"
Während sie sich auf diese Weise entlöste, kamen Geister herbei, lichte und finstere, die Genossen ihres Wandels, je nach den Bewegungen, sie sie in ihrem Wohnsitze gemacht hatte. Sie erwarteten das Ende, um sie nach der Auflösung mit sich zu führen. Und ich hörte die Stimme des Lebendigen zu ihnen sagen: "Ihren Werken entsprechend soll sie von Ort zu Ort geführt werden!"