Auszug aus dem Werk "Helden und Heilige" von Hans Hümmeler.
"Ein Gregor sandte im Jahre 596 jene vierzig Missionare nach England, die unter Führung des heiligen Abtes Augustin überraschend schnell die heidnischen Angelsachsen zum Christentum bekehrten, und wieder war es ein Gregor, der am 14. Mai 719 den Apostel der Deutschen aussandte, um ein anderes Land und Volk für den Gekreuzigten zu gewinnen. Aus England war Wynfrith, ein nicht mehr ganz junger, kräftiger Mann in der Kutte der Benediktiner, nach Rom gekommen, hatte ein Empfehlungsschreiben des Bischofs Daniel von Winchester mitgebracht und verlangte ungestüm nach einer großen Missionsaufgabe. Sohn eines altadeligen Geschlechts, aufgewachsen im Kloster Nutshalling bei Southampton, gebildet und vor allem in der Heiligen Schrift bewandert, konnte Wynfrith darauf hinweisen, daß er auch auf dem schwierigen Feld der Heidenmission kein Neuling mehr sei. Auf eigenen Antrieb hatte er im Frühjahr 716 den Kanal überquert, um sich in das Bekehrungswerk seines älteren Landsmannes Willibrord einzureihen. Wo er aber bereits Ansätze des christlichen Glaubens zu finden hoffte, hatte der Aufstand des Friesenherzogs Radbod alles wieder vernichtet. Es blieb ihm damals bei der feindseligen Haltung der Eroberer keine andere Wahl, als nach England zurückzukehren.
Seine Mitbrüder hatten ihn dort zum Abt gewählt, aber er hatte sich nicht an das Kloster Nutshalling fesseln lassen. Nun stand er in der ewigen Stadt vor Papst Gregor II. und empfing von ihm die feierliche Missionsvollmacht und einen neuen Namen: Bonifatius. In Thüringen, dem äußersten Vorposten Willibrords, wollte er seine Arbeit beginnen. Wiederum stand er nach einigen Monaten vor einem Mißerfolg. Er hatte erkennen müssen, dass ein Land, das zwar den Glauben angenommen hatte, jedoch heidnischen Sitten anhing, eine nicht minder steinige Wüste sei als die Gebiete, wo Thor und Wodan noch als Götter galten. Da unterstellte er sich demütig der größeren Erfahrung Willibrords und wirkte Seite an Seite mit ihm einige Jahre in Westfriesland, bis er sich stark genug glaubte, allein das Kreuz weiter vorzutragen. Er war vorsichtig genug, nicht sogleich seiner eigentlichen Sehnsucht zu folgen und in das noch unerforschte, heidnische Ostfriesland vorzustoßen, sondern begab sich vorerst nach Hessen, wo er die stark verweltlichten Christengemeinden reformierte und das erste Kloster auf geschenktem Grund und Boden zu Amöneburg gründete.
An Mitarbeitern fehlte es ihm nicht. Daheim und unterwegs hatte er mit Mönchen und Priestern Verbrüderungen des Gebetes geschlossen; seine Landsleute vergaßen ihn nicht, und nach und nach folgten ihm die Besten und Eifrigsten in das fremde Land, ein Wigbert, ein Burchard, die Brüder Willibald und Wunibald, ihre Schwester Walburga, eine Lioba und viele andere. Nur die weltliche Macht hinderte ihn mehr, als sie ihm nützte. Um den Mißhelligkeiten mit Karl Martell auszuweichen, ging Bonifatius im Jahre 722 zum zweiten Male nach Rom. Als Bischof kehrte er zurück und erwirkte nun auch einen Schutzbrief des Frankenherrschers, ohne den er innerhalb der Grenzen des Reiches ohnmächtig gewesen wäre. Dennoch fand er heftigen Widerstand bei den Laienpriestern Thüringens, die sich der kirchlichen Oberhoheit entzogen und ein ungeistliches Leben führten. Ihre Sittenlosigkeit, Unbotmäßigkeit und ihre nachlässige Verwaltung der Sakramente stürzten ihn in tiefe Gewissensnot; aber lieber wollte er in größter Armseligkeit leben und das tägliche Brot mit bäuerlicher Arbeit verdienen, als den Schwierigkeiten weichen. Auch wenn Sachseneinfälle ihn verjagt hatten, er kam wieder, bis er um Erfurt und Gotha feste Stützpunkte des Glaubens geschaffen hatte.
In Hessen konnte er sich eines besseren Erfolges freuen. Seit er bei dem Dorfe Geismar die Donareiche gefällt und aus ihrem Holz die Peterskirche zu Fritzlar erbaut hatte, war der alte Götterglaube erschüttert. Kampflos konnte er die Feste Buraburg nehmen und die Klöster Hersfeld und Fulda gründen. Zum Lohn für seine Mühen und Leistungen wurde er von Gregor III. zum Apostolischen Legaten und Erzbischof ernannt und ordnete als solcher das Kirchenwesen in Bayern neu. Es war der Beginn eines weitreichenden kirchlichen Reform- und Organisationswerkes, das in wenigen Jahren das ganze fränkische Reich in seine Maßnahmen einbezog. Auf seiner dritten Romreise hatte Bonifatius die Tätigkeit größerer Synoden kennengelernt. Er beeilte sich, diese Erfahrungen auch jenseits der Alpen auszuwerten. Im Jahre 740 fand die erste bayerische Synode statt, im Jahre 742 die erste gesamtdeutsche Synode, zu Estinnes und Soissons sprach er vor den Bischöfen des Westens; ein Reichskonzil im Jahre 747 fasste die Beschlüsse gegen die Ehe und den Waffendienst der Priester, gegen Totenopfer und Wahrsagungen zusammen, verpflichtete Klerus und Volk zum geistlichen Gehorsam gegen den zuständigen Bischof und erreichte den Schutz dieser Bestimmungen durch staatliche Gesetze. Jetzt war die Kirchenverfassung des jungen Frankenreiches fest gefügt. Jetzt konnte jene abendländische Kulturgemeinschaft entstehen, die im christlichen Mittelalter ihre schönste Blüte trieb. Zugleich war es Bonifatius gelungen, die Bistümer des Nordens auf engste mit Rom zu verbinden.
Wieviel Kampf, Enttäuschungen und Leiden aber dieses gewaltige Werk gekostet hat, geht aus den zahlreichen Berichten an den Papst und noch mehr aus den vertrauten Briefen an die Freunde hervor. Bonifatius war weder Politiker noch eine Kampfnatur. Oft befielen ihn tiefe Verzagtheit und ein Bangen, ob seine Nachfolger den widerspenstigen Priestern, dem heidnischen Adel und den völkischen Gegensätzen gewachsen sein würden. Auch quälte ihn der Gedanke, daß er durch die Kirchenreform ganz von seinem Ziel und Auftrag der Heidenmission im ostrheinischen Gebiet abgedrängt worden war. Er rieb sich auf in dem wenig fruchtbaren Kampf gegen zahllose Mißbräuche, die den christlichen Namen schändeten. Nicht aus Machtwillen, sondern aus Pflichtbewusstsein sah er sich genötigt, in seinen letzten Lebensjahren immer wieder zu mahnen und zu tadeln.
Selbst die Bischöfe des Frankenreiches, auf deren Gefolgschaft er am meisten gebaut hatte, ließen ihn im Stich, weil sie seine Absichten nicht verstanden oder selbstsüchtig eigene Interessen verfolgten. So mußte er als Greis im Alter von achtzig Jahren im Winter des Jahres 754 nach Utrecht reisen, um in einem Streitfall mit dem Bischof von Köln seine Rechte zu wahren. Vorsorglich hatte er in seinem Bistum Mainz Lullus als Nachfolger eingesetzt; er führte ein Leichentuch mit sich, weil er gewiss war, bald vor Gott erscheinen zu müssen. Bis zum Tode aber wollte er seiner Sendung getreu bleiben und tätig sein; deshalb wanderte er von Utrecht aus zu dem Volk, dem seine erste Mission gegolten hatte, an die friesische Meeresküste. Dort überfielen in der Morgenfrühe des 4. oder 5. Juni 754 Heiden das Zeltlager der Mönche bei Dokkum; mit zweiundfünfzig Begleitern wurde Bonifatius erschlagen. Die Klage um seinen Tod widerhallte von England bis Rom. Jetzt, da er nicht mehr war, erkannte man die ganze Bedeutung dieses Mannes, der sich im Eifer für die Kirche verzehrt hatte."