21. Vom Ursprung und Wesen des Glaubens war bereits die Rede. Der Glaube treibt jedoch viele Sprosse, namentlich die Kirche, das Dogma, den religiösen Kult und unsere heiligen Schriften. Auch darüber müssen wir die modernistische Lehre kennen. Beginnen wir mit dem Dogma. Es wurde bereits aufgezeigt, wie es entsteht und was es eigentlich ist. Seine Entstehung verdankt es einer Art Antrieb oder Notwendigkeit, die den Glaubenden zur Verarbeitung seiner Gedanken veranlaßt, um das eigene sowie auch das fremde Bewußtsein zu klären. Die ganze Arbeit besteht darin, die ursprüngliche Verstandesformel zu feilen und zu glätten. Allerdings nicht deshalb, um sie in sich logisch zu entwickeln, sondern um sie den Gegebenheiten anzupassen. Diese Entwicklung nennen sie dann mit einem sehr dunklen Ausdruck vital, also lebendig. Dadurch erreicht man langsam, wie bereits erwähnt, die sekundären Formeln. Wenn diese dann organisch zu einem Lehrgebäude vereinigt und als dem allgemeinen Bewußtsein entsprechend vom öffentlichen Lehramt bestätigt sind, dann heißen sie Dogma. Davon sind die Erörterungen der Theologen wohl zu unterscheiden. Diese haben zwar am Leben des Dogmas keinen Anteil, können aber dazu dienen, die Religion mit der Wissenschaft in Einklang zu bringen und Widersprüche zwischen beiden zu heben sowie diese auch andererseits nach außen zu beleuchten und zu verteidigen. Allenfalls können sie auch dienlich sein, um für ein künftiges Dogma den Stoff vorzubereiten. Über den religiösen Kult wäre nicht viel zu bemerken, wenn unter diesem Namen nicht auch die Sakramente enthalten wären. Darüber findet man bei den Modernisten die größten Irrtümer. Der Kultus soll aus einem doppelten Antrieb, einer doppelten Nötigung entstehen. In diesem System muß alles aus inneren Antrieben und Notwendigkeiten heraus erwachsen. Die eine drängt dazu, daß die Religion sinnlich umkleidet in Erscheinung tritt. Die andere trägt dazu bei, daß sie bekannt gemacht wird. Beides ist ohne wahrnehmbare Form und ohne heilige Handlungen, also durch die Sakramente, unmöglich. Die Sakramente dürfen jedoch nur Symbole oder Zeichen sein, ohne deshalb der Wirkung zu entbehren. Ein kleines Beispiel, um die Art ihres Wirkens zu zeigen. Es wird auf gewisse Schlagwörter hingewiesen, die „ziehen“, wie man zu sagen pflegt, da sie für die Propaganda und ihre gewaltigen und aufregenden Ideen eine große Zugkraft besitzen. In der Weise, wie sich die Schlagwörter zu den Ideen verhalten, so verhalten sich auch die Sakramente zum religiösen Gefühl, das ist alles. Viel deutlicher würde man sagen, die Sakramente sind nur eingesetzt, um den Glauben zu nähren. Dies wurde jedoch durch das Konzil von Trient verurteilt. Sess. VII, De Sacramentis in genere, can. 5: Wenn jemand behauptet, die Sakramente wären nur eingesetzt, um den Glauben zu nähren, der sei im Banne.
22. Auch vom Ursprung und vom Wesen der heiligen Schriften war bereits die Rede. Nach den modernistischen Anschauungen könnte man sie sehr gut als eine Sammlung von außergewöhnlichen und besonderen Erfahrungen definieren, welche zwar nicht jeder alle Tage durchmacht, jedoch in allen Religionen vorkommen. Auf diese Weise sprechen die Modernisten von unserer Heiligen Schrift, vom Alten und vom Neuen Testament. Sie sind jedoch so klug und fügen hinzu, daß auch eine gegenwärtige Erfahrung ihren Gegenstand aus der Vergangenheit oder aus der Zukunft entnehmen kann, je nachdem der Glaubende das Vergangene in der Erinnerung, oder das Zukünftige durch Vorausnahme als gegenwärtig erlebt. Dadurch wird deutlich, daß auch Historiker und Apokalyptiker zu den heiligen Schriften gerechnet werden können. So redet allerdings Gott in diesen Büchern durch den Gläubigen. Nach der modernistischen Theologie jedoch nur durch die Immanenz und die vitale Permanenz. An dieser Stelle drängt sich die Frage nach der Inspiration auf. Antwort: Sie unterscheidet sich höchstens durch ihre Stärke von dem allgemeinen Antrieb, welcher den Gläubigen drängt, seinen Glauben in Wort und Schrift auszusprechen. Ähnliches finden wir bei der poetischen Inspiration. Dadurch konnte der Dichter sagen: Es wohnt ein Gott in uns. Von seinem Hauch wird die Begeisterung wach. Gerade so ist der Ursprung der Schriftinspiration in Gott zu suchen. Nach den Modernisten findet man nichts in der Heiligen Schrift, was nicht auf diese Weise inspiriert wäre. Wenn man diese Meinung hört, sollte man sie für orthodoxer halten, als bei so manchen neueren Autoren, die zum Beispiel sogenannte stillschweigende Zitationen annehmen, und darauf die Inspiration beschränken. Diese Worte sind allerdings nur Trug und Schein. Bei der Beurteilung der Bibel nach den Prinzipien des Agnostizismus kann natürlich von Einschränkungen der Inspiration die Rede sein, da es sich doch um ein reines Menschenwerk handelt, von Menschen für Menschen geschrieben, auch wenn es der Theologe im Sinne der Immanenz göttlich nennen mag. So bleibt der Modernist bei einer allgemeinen Inspiration der Heiligen Schrift. Von einer Inspiration im katholischen Sinne läßt er allerdings nichts übrig.
23. Mehr ist über die Phantasien der modernistischen Schule in bezug auf die Kirche zu sagen. Zunächst wird ihre Entstehung auf eine doppelte Nötigung zurückgeführt. Zum einen auf den Drang, der sich in jedem Gläubigen regt, vor allem dann, wenn er eine ursprüngliche und besondere Erfahrung gemacht hat, um seinen Glauben anderen mitzuteilen. Zum anderen, wenn der Glaube das Gemeingut mehrer geworden und das Bedürfnis der Kollektivität entstanden ist, um sich zu einer Gemeinschaft zusammenzuschließen und die gemeinsamen Güter zu schützen, zu vermehren und zu verbreiten. Die Kirche ist also die Frucht des Kollektivbewußtseins oder der Verbindung des Bewußtseins der einzelnen, welche durch die vitale Permanenz von einem ersten Glaubenden abhängen. Für den Katholiken ist dieser natürlich Christus. Ferner benötigt jede Gemeinschaft eine Leitung durch eine Autorität, welche alle Mitglieder dem gemeinschaftlichen Ziel entgegenführt und die verbindenden Momente sorgsam pflegt. Bei einer religiösen Vereinigung sind das die Lehre und der Kultus. Daher gibt es in der katholischen Kirche eine dreifache Autorität: Die disziplinäre, die dogmatische und die kultische. Das Wesen dieser Autorität ergibt sich aus ihrem Ursprung. Aus ihrem Wesen bestimmen sich Rechte und Pflichten. Zu früheren Zeiten herrschte der Irrtum, daß die Autorität von außen, und zwar direkt von Gott, in die Kirche eingeführt wurde. Deshalb konnte man sie auch für autokratisch halten. Diese Ansicht ist nun überwunden. Wie die Kirche aus dem Kollektivbewußtsein hervorgeht, geht auch die Autorität vital aus der Kirche hervor. Sowohl die Autorität, als auch die Kirche entspringen also aus dem religiösen Bewußtsein und müssen sich deshalb demselben unterordnen. Entzieht sie sich ihm, wird sie zur Tyrannei. Wir leben jedoch in einer Zeit, in der das Freiheitsgefühl seinen Höhepunkt erreicht hat. Im Staatswesen hat das öffentliche Bewußtsein das Volksregiment eingeführt. Das Bewußtsein und das Leben sind im Menschen einheitlich. Wenn also kein Krieg im innersten menschlichen Bewußtsein entzündet und geschürt werden soll, muß die kirchliche Autorität demokratische Formen annehmen. Dies muß um so mehr geschehen, da sonst ihr Untergang besiegelt ist. Es wäre ein Wahnsinn, wenn man bei der heutigen Entwicklung des Freiheitssinnes an reaktionäre Maßnahmen denken würde. Ein gewaltsames Zurückdrängen und Einengen würde zu einer Explosion führen, welche die Kirche und die Religion vernichtet. Die Modernisten erwägen das wohl. Darum richtet sich ihr Streben danach, Mittel und Wege zu finden, um die kirchliche Autorität mit der Freiheit der Gläubigen auszusöhnen.
24. Nicht nur im eigenen Haus sind Elemente vorhanden, mit denen sich die Kirche friedlich vertragen muß, sondern diese existieren auch außerhalb. Die Kirche ist nicht alleine auf der Welt. Es existieren noch andere Gemeinschaften, mit denen sie Beziehungen und Verkehr nicht vermeiden kann. Daher sind auch die Rechte und Pflichten der Kirche gegenüber den weltlichen Gemeinschaften zu bestimmen, und zwar aus dem Wesen der Kirche selbst, natürlich wie es uns die Modernisten definieren. Dabei werden die gleichen Regeln angewendet, welche uns bereits bei der Behandlung von Glauben und Wissen begegnet sind. Wenn es sich dort um den Gegenstand handelt, geht es nun um den Zweck. Wie wir an dortiger Stelle den Glauben und das Wissen auf Grund ihres Gegenstandes trennen mußten, sind auch Staat und Kirche durch den eigentümlichen Zweck getrennt, den sie verfolgen, und zwar den weltlichen und den geistlichen. Zu früherer Zeit durfte man das Weltliche dem Geistlichen unterordnen. Man konnte von gemischten Fragen reden, an denen die Kirche als Herrin und Königin beteiligt war. Man war der Ansicht, daß die Kirche von Gott, dem Urheber der übernatürlichen Ordnung, unmittelbar gegründet ist. Davon wollen allerdings Philosophie und Geschichte nichts mehr wissen. Trennung von Kirche und Staat, Scheidung zwischen Katholik und Staatsbürger – diese Vorgehensweise ist notwendig geworden. Da jeder Katholik zugleich Staatsbürger ist, hat er das Recht und die Pflicht, nach bestem Wissen das Wohl des Staates zu erstreben, ohne Rücksicht auf die kirchliche Autorität und ihre Wünsche, Räte und Vorschriften, sogar ohne Rücksicht auf ihre Mahnungen. Diesem Mißbrauch der kirchlichen Gewalt sollte man sich mit aller Entschiedenheit widersetzen, wenn sie dem Bürger unter irgendeinem Vorwand sein Verhalten vorschreiben will. Die Quelle aller dieser Aufstellungen, Ehrwürde Brüder, ist die Lehre, welche Unser Vorgänger, Papst Pius VI., in der apostolischen Konstitution „Auctorem fidei“ bereits feierlich verurteilt hat. Prop. 2. Der Satz: Die Autorität ist der Kirche von Gott gegeben, um sie den Hirten mitzuteilen, die ihre Diener für das Heil der Seelen sind, so verstanden, als ob die Autorität des kirchlichen Amtes und der kirchlichen Regierung von der Gemeinschaft der Gläubigen auf die Hirten übertragen wird, ist häretisch.“ Prop. 3. Ferner der Satz: Der römische Papst ist das ministerielle Haupt, in dem Sinn verstanden, als ob der römische Papst nicht von Christus in der Person des hl. Petrus die Amtsgewalt erhalten hat, sondern von der Kirche, die er als Nachfolger Petri, als wahrer Statthalter Christi und Haupt der ganzen Kirche in der ganzen Kirche besitzt, ist häretisch. Rundschreiben vom 8. September 1907.
25. Die modernistische Schule begnügt sich nicht nur damit, Kirche und Staat zu trennen. Der Glaube steht nach seinen phänomenalen Elementen unter der Wissenschaft. In der gleichen Weise muß nach ihr in weltlichen Dingen die Kirche unter dem Staat stehen. Vielleicht wird dies noch nicht offen ausgedrückt, jedoch gibt es an dem Schluß kein Vorbeikommen. Hat in den weltlichen Dingen der Staat alleine zu bestimmen, so müssen – falls der Gläubige mit der inneren Betätigung seiner Religion nicht zufrieden ist und damit auch nach außen hervortreten will, zum Beispiel bei der Spendung und beim Empfang der Sakramente – diese Akte notwendigerweise unter die Staatsgewalt fallen. Wo bleibt in diesem Fall die kirchliche Autorität? Sie vermag sich nur durch äußere Akte zu betätigen und ist damit in ihrer ganzen Ausdehnung dem Staat unterstellt. Unter dem Eindruck dieser Logik wollen daher auch manche liberale Protestanten jeden äußeren Kult und auch jeden äußeren religiösen Verband abgeschafft wissen. Nach ihrer Aussage versuchen sie die individuelle Religion einzuführen. Wenn die Modernisten noch nicht offen so weit gehen, verlangen sie dennoch von der Kirche, daß sie sich freiwillig ihren Bestrebungen annähert und sich den bürgerlichen Formen anpaßt. Das genügt über die Disziplinargewalt.
Schlimmer und gefährlicher sind jedoch die Ansichten über die dogmatische Gewalt oder Lehrgewalt. Über das Lehramt der Kirche liest man folgende Erörterungen: Eine religiöse Gemeinschaft kann unmöglich zu einer rechten Einheit gelangen, wenn das Bewußtsein der Mitglieder und die dazu angewendete Formel nicht einheitlich sind. Diese doppelte Einheit erfordert jedoch einen gewissen Gemeingeist, um die Formel zu finden und zu prägen, welche dem Gemeinbewußtsein am besten entspricht. Diese Gemeinschaft muß eine ausreichende Autorität besitzen, um die Gemeinschaft auf seine Formel zu verpflichten. Die Vereinigung, oder besser ausgedrückt, die „Verschmelzung“ dieses Geistes, welcher die Formel findet, und die Macht, diese vorzuschreiben, bezeichnen die Modernisten als das Wesen des kirchlichen Lehramtes. Das Lehramt wächst demnach schließlich aus dem Bewußtsein eines jeden einzelnen und hat auch seine offizielle Stellung zu Nutz und Frommen des Bewußtseins der einzelnen erhalten. Darum ist es notwendigerweise vom Bewußtsein der einzelnen abhängig und auf gemeinverständliche Formeln angewiesen. Es wäre also ein reiner Mißbrauch der anvertrauten Gewalt, die als Hilfe gedacht ist, wenn das Bewußtsein der einzelnen gehindert werden sollte, die Anregungen, welche sie verspüren, frei auszusprechen, oder wenn die Kritik daran gehindert werden sollte, das Dogma den notwendigen Entwicklungen entgegenzuführen. Auch in der Anwendung der Gewalt sind Schonung und Mäßigung nötig. Ein Buch, ohne Wissen des Verfassers zu zensieren und zu verbieten sowie keine Erklärungen anzuhören und sich auf keine Diskussion einzulassen, schmeckt gewiß stark nach Tyrannei. Auch hier muß ein Mittelweg gefunden werden, um die Rechte der Autorität und der Freiheit zu wahren. Bis dahin muß der Katholik zwar öffentlich gegenüber der Autorität seine größte Achtung bezeigen, soll aber deshalb nicht aufhören, seinem eigenen Genius zu folgen. Im allgemeinen wird von der Kirche gefordert, auf jeglichen äußeren Prunk, der als zu großartig ins Auge fällt, zu verzichten, da sich die Aufgabe der Kirchengewalt nur auf das Geistliche bezieht. Dabei wird natürlich vergessen, daß es die Religion zwar mit der Seele zu tun hat, sich jedoch nicht alleine auf die Seele beschränken läßt, und daß die Ehre, welche man der Autorität erweist, auf Christus zurückfällt, der sie eingesetzt hat.
26. Ehrwürdige Brüder, damit wir nun die ganze Materie über den Glauben und alles, was aus diesem hervorgeht, abschließen können, müssen wir noch die Darlegungen der Lehren der Modernisten über diese beiden Fragenkomplexe betrachten. Dabei gilt der allgemeine Grundsatz: In einer Religion, die lebt, ist alles veränderlich – darum muß es sich ändern. So kommen sie also auf die Entwicklung, sozusagen die Quintessenz ihrer ganzen Lehre. Dogma, Kirche, religiöser Kult, Bücher, die wir als heilige verehren, sogar der Glaube selbst, müssen – wenn wir sie nicht alle für abgestorben erklären wollen – unter den Gesetzen der Entwicklung stehen. Das ist überhaupt nicht verwunderlich, wenn man im Auge behält, was die Modernisten über diese Punkte im einzelnen lehren. Durch die Aufstellung des Gesetzes der Entwicklung haben sie sich selbst bereits ihrem Wesen nach als Modernisten gekennzeichnet. Sprechen wir zuerst vom Glauben. Nach ihren Ansichten war die Urform des Glaubens roh und bei allen Menschen gleich, da er aus der Natur und dem Leben des Menschen selbst hervorging. Die vitale Entwicklung brachte den Fortschritt, selbstverständlich nicht dadurch, daß neue Formen von außen hinzugetreten sind, sondern indem das religiöse Gefühl immer mehr zum Bewußtsein durchdrang. Der Fortschritt selbst vollzog sich in zweifacher Weise: Negativ – durch Ausscheidung aller äußeren Elemente, die etwas aus der Familie oder aus dem Stamm herzurühren vermögen. Positiv – durch die steigende intellektuelle und moralische Kultur des Menschen, die einen volleren und klareren Gottesbegriff und somit ein reineres religiöses Gefühl bringt.
Der Fortschritt des Glaubens beruht auf denselben Ursachen, die vorhin zur Erklärung seines Ursprungs herangezogen wurden. Hinzu kommen jedoch noch einige außerordentliche Männer – wir nennen sie Propheten, und Christus war der größte von ihnen. In ihrem Leben und in ihren Reden hatten sie etwas Geheimnisvolles an sich, das der Glaube der Gottheit zuschreibt. Darüber hinaus hatten sie sich zu neuen, vorher nie dagewesenen Erfahrungen emporgeschwungen, die dem religiösen Bedürfnis ihrer Zeit entsprachen. Hauptsächlich kann der Fortschritt des Dogmas nur dann stattfinden, wenn es gilt, die Glaubensschwierigkeiten zu überwinden, Feinde zu besiegen und Widersprüche abzuweisen. Dazu kommt noch ein beständiger Trieb, den Inhalt der Glaubensgeheimnisse tiefer zu durchdringen. Um nur ein Beispiel zu nennen – so ist es mit Christus geschehen. Was der Glaube an Ihm in irgendeinem Sinn als Göttliches wahrnahm, ist langsam und allmählich so gewachsen, daß man Ihn schließlich für Gott hielt. Zur Entwicklung des Kultus drängt vor allem die Notwendigkeit, sich den Sitten und Überlieferungen der verschiedenen Völker anzupassen, sowie das Bedürfnis, sich die Macht, welche gewisse Handlungen durch die Gewohnheit erlangt hat, zunutze zu machen. Dies stellt dann für die Kirche einen Antrieb zur Entwicklung dar, um sich mit den geschichtlichen gegebenen Verhältnissen und mit den öffentlich anerkannten weltlichen Regierungsformen abzufinden. Soviel über diese einzelnen Punkte. Bevor wir weitergehen, weisen wir noch nachdrücklich auf die Lehre von den Notwendigkeiten oder Bedürfnissen hin. Diese Lehre muß daher die eigentliche Grundlage abgeben, nicht nur für die obengenannten Ausführungen, sondern auch für die vielgerühmte sogenannte historische Methode.
27. Verweilen wir jedoch noch etwas bei der Entwicklungslehre. Ferner ist dabei zu bemerken, daß zwar die Bedürfnisse und Notwendigkeiten zur Entwicklung drängen, die Entwicklung würde jedoch, wenn sie diesem Antrieb alleine folgen wollte, leicht die Grenzen der Überlieferung überschreiten, sich so von dem ursprünglichen belebenden Prinzip lösen und dann eher zum Ruin als zum Fortschritt führen. Die Meinung des Modernisten erfaßt man daher besser, wenn man die Entwicklung auf den Widerstreit zweier Kräfte zurückführt – die eine Kraft drängt zum Fortschritt, die andere Kraft dämpft konservativ. Das konservative Element ist in der Kirche sehr stark vorhanden und liegt in der Tradition begründet. Ihre Vertreterin ist die religiöse Autorität, sowohl von rechts wegen, denn der Autorität kommt es zu, die Überlieferung zu schützen, als auch tatsächlich, denn die Autorität steht abseits von dem wechselnden Leben und wird von allem, was zum Fortschritt treibt, kaum oder gar nicht berührt. Im Gegensatz dazu wirkt die zum Fortschritt drängende und sich den tiefsten Bedürfnissen anpassende Kraft im Bewußtsein der Laien. Damit sind besonders die Laien gemeint, welche – wie man sagt – mitten im Strudel des Lebens stehen. Hier, ehrwürdige Brüder, wird bereits die verderbliche Ansicht sichtbar, welche das Laientum als Prinzip des Fortschritts in die Kirche einschmuggeln möchte. Aus einem Kompromiß zwischen diesen beiden Kräften, der konservativen und der fortschrittlichen, oder mit anderen Worten ausgedrückt, zwischen der Autorität und dem Bewußtsein der Laienwelt, entstehen Fortschritt und Veränderung. Das Bewußtsein der Laien, zumindest einiger Laien, wirkt auf das Kollektivbewußtsein. Dieses drückt auf die Autorität und zwingt sie, Kompromisse zu schließen und diese dann auch zu halten. Man begreift daher leicht, warum die Modernisten sich so sehr wundern, wenn sie zurechtgewiesen und gestraft werden. Gerade das, was ihnen als Schuld angelastet wird, halten sie für eine strenge Gewissenspflicht. Keiner kennt die Bedürfnisse des religiösen Bewußtseins besser als sie, weil sie davon näher betroffen sind, als die kirchliche Autorität. Alle diese Nöte drängen gerade auf sie ein. Darum fühlen sie die Pflicht, öffentlich zu reden und zu schreiben. Auch wenn die Autorität sie rügen mag, ihre Stütze ist das Pflichtbewußtsein. Ihre innerste Erfahrung sagt ihnen, daß ihnen Lob anstatt Tadel gebührt. Natürlich ist ihnen auch bekannt, daß ohne Kampf kein Fortschritt möglich ist, und daß der Kampf seine Opfer fordert. Sie mögen also selbst die Opfer sein, wie die Propheten und Christus. Auch der Autorität grollen sie nicht, daß sie hart behandelt werden. Gerne geben sie zu, daß die Autorität nur ihr Amt ausübt. Sie bedauern nur, daß sie kein Gehör finden, weil so der Lauf des Geistes aufgehalten wird. Die Stunde, das zaudern aufzugeben, wird schon schlagen. Man kann zwar die Gesetze der Entwicklung aufhalten, durchbrechen kann man sie nicht. So ziehen sie den begangenen Weg weiter, trotz aller Zurückweisungen und Verurteilungen. Eine gekünstelte Ergebenheit muß ihre unglaubliche Verwegenheit decken. Sie beugen sich zwar dem Schein nach, Hand und Herz sind jedoch um so entschlossener bei dem begonnen Werk. Wissentlich und willentlich entscheiden sie sich für diesen Weg. Auf der einen Seite glauben sie, daß die Autorität zwar aufgerüttelt, jedoch nicht vernichtet werden muß. Auf der anderen Seite sind sie der Ansicht, ihr Platz wäre innerhalb der Kirche und würde dort auch bleiben, um allmählich das allgemeine Bewußtsein umzustimmen. Dabei ist es ihnen allerdings entgangen, wie hierin das Geständnis liegt, daß das allgemeine Bewußtsein nicht mit ihnen übereinstimmt und sie also kein Recht haben, sich als Interpreten desselben aufzuspielen.Nach Ansicht der Modernisten und dank ihrer Tätigkeit darf es also, ehrwürdige Brüder, nichts Unveränderliches in der Kirche geben. Allerdings wurde diese Ansicht bereits von anderen vor ihnen vertreten. Von diesen hat Unser Vorgänger Pius IX. geschrieben: Diese Widersacher der göttlichen Offenbarung wissen den menschlichen Fortschritt nicht genug zu preisen und möchten ihn in gotteslästerlicher Verwegenheit auch in die katholische Religion einführen, als ob die Religion nicht Gottes-, sondern Menschenwerk wäre, eine Erfindung der Philosophie, die mit menschlichen Mitteln zur Vollkommenheit geführt werden könnte11. Besonders die Lehre der Modernisten über Offenbarung und Dogma ist nichts Neues. Pius IX. hat diese bereits im Syllabus verurteilt und formuliert sie so: Die göttliche Offenbarung ist unvollkommen und deshalb eines beständigen und unbeschränkten Fortschritts fähig, wie er dem Fortschritt der menschlichen Vernunft entspricht12. Noch feierlicher lauten die Worte des Vatikanischen Konzils: Die Glaubenslehre, wie sie Gott geoffenbart hat, ist nicht dem menschlichen Geist als eine Erfindung der Philosophie übergeben, die der Mensch mit seinem Verstand weiter ausbilden soll, sondern als göttlicher Schatz der Braut Christi anvertraut, zur treuen Bewahrung und unfehlbaren Erklärung. Deshalb ist auch für die heiligen Dogmen immer der Sinn festzuhalten, den die heilige Mutter, die Kirche, einmal erklärt hat. Niemals darf man unter dem Schein oder dem Vorwand eines tieferen Verständnisses davon abweichen13. Die Entwicklung unserer Begriffe, auch in Glaubenssachen, wird dadurch keineswegs behindert, sondern unterstützt und gefördert. Das Vatikanische Konzil fährt deshalb fort: Es mögen also im Laufe der Zeiten und Jahrhunderte Verständnis, Wissenschaft und Weisheit wachsen und mächtig fortschreiten, sowohl bei den einzelnen, als auch bei der Gesamtheit, in jedem Menschen und in der ganzen Kirche, aber innerhalb des zuständigen Bereiches, im gleichen Dogma, im gleichen Sinn und in der gleichen Ansicht.
28. Nachdem wir nun die Anhänger des Modernismus als Philosophen, Gläubige und Theologen studiert haben, müssen wir nun den Blick darauf richten, sofern sie Historiker, Kritiker, Apologeten und Reformatoren sein wollen.
29. Einigen Modernisten scheint es große Sorge zu bereiten, daß man sie bei ihren geschichtlichen Arbeiten als Philosophen ansehen könnte. Sie erklären sogar, daß sie mit Philosophie nichts zu tun haben. Das ist äußerst schlau. Man könnte sonst glauben, sie wären durch ihre philosophischen Meinungen voreingenommen und deshalb nicht objektiv. Trotzdem bleibt es wahr, daß ihre ganze Geschichte und Kritik nichts als Philosophie ist. Ihre Schlußfolgerungen ergeben sich konsequent aus ihren philosophischen Prinzipien. Um das zu erkennen, muß man nur die Augen aufmachen. Die ersten drei Kanones dieser Historiker zeigen gerade diese Prinzipien, die wir bereits oben bei ihren Philosophen vorgefunden haben – der Agnostizismus, der Satz von der Verklärung der Dinge durch den Glauben und der andere, den wir meinten, als Satz von der Entstellung bezeichnen zu können. Beachten wir die Folgerungen aus den einzelnen Sätzen. Nach dem Agnostizismus hat es die Geschichte, genau wie die Wissenschaft, nur mit Phänomenen zu tun. Gott und jedes Eingreifen Gottes in die menschliche Geschichte gehört also nur in das Gebiet des Glaubens. Dort allein ist sein Bereich. Stößt man nun auf etwas, das aus zwei Elementen zusammengesetzt ist, ein göttliches und ein menschliches, zum Beispiel Christus, die Kirche, die Sakramente und vieles andere, so ist eine reine Trennung in dem Sinne vorzunehmen, daß man das Menschliche der Geschichte und das Göttliche dem Glauben zuteilt. Dem Modernisten ist daher die Unterscheidung zwischen dem Christus der Geschichte und dem Christus des Glaubens ganz geläufig, ebenso zwischen der Kirche der Geschichte und der Kirche des Glaubens, den Sakramenten der Geschichte und den Sakramenten des Glaubens, und in ähnlicher Weise noch vieles andere. Jedoch auch das menschliche Element selbst, das sich der Historiker aneignet, ist – wie es in den Dokumenten auftritt – vom Glauben durch die Verklärung über die historischen Bedingungen hinausgehoben. Deshalb sind die Zusätze, die der Glaube gemacht hat, auszuscheiden und an den Glauben und die Geschichte des Glaubens abzuliefern. Bei Christus zum Beispiel alles, was über die menschlichen Verhältnisse, über die Natur, wie sie die Psychologie darlegt, oder über die Verhältnisse, wie sie Ort und Zeit bestimmen, in welchen er gelebt hat, hinausgeht. Nach dem dritten philosophischen Prinzip müssen auch die Dinge noch gesichtet werden, die an sich nicht über das geschichtliche Gebiet hinausgehen. Darüber lautet jedoch das Urteil, daß es dies nicht nach der sogenannten Logik der Tatsachen geben würde, oder die betreffenden Personen hätten nicht gestimmt. All das ist auch hier zu eliminieren und gleichfalls dem Glauben zu überweisen. Danach darf Christus das nicht gesagt haben, was die Fassungskraft des zuhörenden Volkes überstieg. Alle Allegorien, die in seinen Reden stehen, werden daher aus seiner wirklichen Geschichte gestrichen und dem Glauben zugeteilt. Man möchte wohl das Gesetz kennen, wonach diese Ausscheidung vorgenommen wird. Nach dem Charakter des Menschen, nach seiner bürgerlichen Stellung, nach seiner Erziehung, nach der Gesamtheit der Umstände einer jeden Tatsache – kurz, wenn man genauer hinsieht, nach einer Norm, die schließlich rein subjektiv ist. Man versucht, sich in die Rolle Christi selbst hineinzudenken und sie gleichsam durchzuspielen. Was man selbst unter den gleichen Umständen getan hätte, überträgt man ohne Ausnahme auf Christus. Schließlich behaupten sie a priori und nach philosophischen Prinzipien, die sie wohl annehmen, jedoch gar nicht zu kennen vorgeben, in ihrer sogenannten wirklichen Geschichte, daß Christus nicht Gott ist und auch durchaus nichts Göttliches getan hat. Als Mensch hat er jedoch das getan und gesagt, was sie ihm zu tun und zu sagen erlauben, wenn sie sich in seine Zeiten zurückversetzen.
30. In gleicher Weise wie die Geschichte von der Philosophie, übernimmt die Kritik von der Geschichte ihre Schlußfolgerungen. Der Kritiker teilt seine Quellen nach den Kennzeichen in zwei Gruppen ein, die ihm vom Historiker vorgegeben werden. Was nach der dreifachen Verstümmelung noch standgehalten hat, verweist er an die wirkliche Geschichte. Der Rest geht an die Geschichte des Glaubens oder die innere Geschichte. Diese beiden Arten von Geschichte werden scharf unterschieden. Sehr wichtig dabei ist, daß die Geschichte des Glaubens der wirklichen Geschichte als solche gegenübergestellt wird. Wie bereits bemerkt, gibt es daher einen doppelten Christus – einen wirklichen und einen anderen, der in Wirklichkeit nie existiert hat, sondern dem Glauben angehört. Der eine hat an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit gelebt. Der andere ist nur in den frommen Erwägungen des Glaubens zu finden. Ein solcher ist zum Beispiel Christus, der im Evangelium nach Johannes dargestellt wird. Dieses Evangelium ist nach ihrer Ansicht nichts weiter, als eine fromme Betrachtung.
31. Der Einfluß der Philosophie auf die Geschichte hört an dieser Stelle jedoch durchaus noch nicht auf. Wenn die Quellen in der angegebenen Weise in zwei Gruppen unterteilt sind, so erscheint wiederum der Philosoph mit seinem Lehrsatz von der vitalen Immanenz. Dabei verlangt er, alles, was die Kirchengeschichte berichtet, soll durch vitale Emanation erklärt werden. Für jede Art vitaler Emanation ist jedoch die Ursache oder die Bedingung irgendeine Notwendigkeit oder ein Bedürfnis. Daher muß man sich die Tatsache später als jene Notwendigkeit denken, und sie ist später historisch notwendig. Was tut nun der Historiker? Er geht nochmals seine Quellen durch, sowohl die, welche in der Heiligen Schrift enthalten sind, als auch jene, welche er aus einer anderen Richtung herbeigeschafft hat. Nach ihnen erstellt er eine Liste der einzelnen Bedürfnisse, die sich auf das Dogma, den religiösen Kult oder auf sonst etwas beziehen, wie sie sich jeweils nacheinander in der Kirche geltend gemacht haben. Wenn die Liste fertiggestellt ist, übergibt er sie dem Kritiker. Dieser greift dann nach den Quellen, welche für die Geschichte des Glaubens bestimmt wurden und ordnet sie nach den einzelnen Zeiträumen, so daß sie der gegebenen Liste entsprechen. Dabei vergegenwärtigt er sich immer den Grundsatz, daß das Bedürfnis der Tatsache, und diese der Erzählung vorangeht. Es kann daher zuweilen vorkommen, daß einzelne Teile der Bibel, wie zum Beispiel Briefe, selbst eine Tatsache sind, die ein Bedürfnis geschaffen haben. Wie dem aber auch sei, es bleibt das Gesetz bestehen, daß sich das Alter einer Quelle nicht auf eine andere Weise bestimmen läßt, als aus dem Alter des Bedürfnisses, welches sich in der Kirche geregt hat. Außerdem muß zwischen dem Anfang einer Tatsache und ihrer Entwicklung unterschieden werden. Was an einem Tage entstehen kann, das kann nur im Laufe der Zeit wachsen. Der Kritiker muß daher die bereits nach Zeiträumen geordneten Quellen nochmals in zwei Gruppen aufteilen, um zwischen dem Ursprung und dem zur Entwicklung gehörenden Gegenstand zu unterscheiden. Diese erhalten dann wieder ihren Platz nach der Zeitfolge.
32. Hierauf kommt der Philosoph von neuem an die Reihe. Er trägt dem Historiker auf, seine Studien so einzurichten, wie es die Vorschriften und Gesetze der Entwicklung verlangen. Der Historiker macht sich also nochmals an die Untersuchung der Quellen. Mit Sorgfalt durchforscht er alle Umstände und Verhältnisse, in denen sich die Kirche in den verschiedenen Zeiten befunden hat, sowie die Wirkung ihres Konservatismus, die inneren und äußeren Bedürfnisse, die zum Fortschritt drängen, die Hindernisse, die sich entgegenstellen – mit einem Wort, er durchforscht alles, was in irgendeiner Weise dazu beitragen könnte, um festzustellen, wie sich die Gesetze der Entwicklung bewährt haben. Jetzt endlich entwirft er sozusagen die äußeren Umrisse der Entwicklungsgeschichte. Der Kritiker steht ihm dabei zur Seite und richtet die übrigen Quellen her. Nun geht es an die Redaktion und bald ist die Geschichte fertig. Wem, so fragen wir jetzt, ist diese Geschichte zuzuschreiben? Dem Historiker oder dem Kritiker? Keinem von beiden, sondern dem Philosophen. Alles wird a priori entschieden, und zwar nach einem Apriorismus, der voller Häresien steckt. Es kann einem um diese Leute leid tun, von dem der Apostel sagen würde: Eitel sind sie geworden in ihren Gedanken … denn da sie sich für Weise ausgaben, wurden sie zu Toren14. Wenn sie aber dann der Kirche vorhalten, sie würde die Quellen durcheinander werfen und diese so herrichten, daß sie ihr dienlich sind, fordern sie doch den Unwillen heraus. Dadurch dichten sie der Kirche an, was ihr Gewissen ihnen selbst laut vorwirft.
33. Aus der Verteilung und Anordnung der Quellen nach den verschiedenen Zeiträumen ergibt sich von selbst, daß man die heiligen Schriften nicht denjenigen zuschreiben darf, deren Namen sie tragen. Die Modernisten behaupten deshalb durchweg ganz unbedenklich, daß diese Schriften, besonders der Pentateuch und die drei ersten Evangelien, allmählich aus einem kurzen ursprünglichen Bericht entstanden sind, durch Zusätze, erklärende theologische oder allegorische Glossen oder auch durch einfache Bindeglieder zwischen den verschiedenen Teilen. Kurz und eindeutig ausgedrückt bedeutet dies, daß für die Heilige Schrift eine vitale Entwicklung anzunehmen ist, entstanden aus der Entwicklung des Glaubens und mit ihr gleichen Schritt haltend. Die Spuren dieser Entwicklung erscheinen ihnen so deutlich, daß man fast deren Geschichte schreiben könnte. Sie wird sogar wirklich geschrieben, und zwar mit einer solchen Sicherheit, daß man glauben könnte, die Schreiber hätten die Männer mit ihren eigenen Augen bei der Arbeit gesehen, welche zu den verschiedenen Zeiten ihre Zusätze zu den biblischen Büchern gemacht haben sollen. Zur Bestätigung ihrer Ergebnisse wird dann die Textkritik zu Hilfe gerufen. Es wird versucht, Beweise zu finden, daß dieses oder jenes Diktum oder Faktum nicht am rechten Platz steht, und noch mehr Beweise dieser Art. Man könnte zu der Annahme geneigt sein, daß für sie gewisse Typen von Erzählungen und Reden von vorneherein feststehen, nach denen sich mit aller Sicherheit nachweisen läßt, was am rechten Platz steht und was nicht. Wer möchte sich auf diese Art etwas von ihnen beweisen lassen? Hört man jedoch ihre Reden über ihre biblizistischen Studien, die es ihnen ermöglichten, alle diese Unstimmigkeiten in der Heiligen Schrift herauszuheben, möchte man glauben, daß vor ihnen kaum ein Mensch die Bibel studiert und es niemals eine Unzahl von Gelehrten gegeben hat, die sich nach allen Richtungen durchgearbeitet haben – Gelehrte, mit denen sie sich an Geist, Gelehrsamkeit und Heiligkeit des Lebens nicht im entferntesten messen können. Diese großen Gelehrten haben die heiligen Schriften niemals auch nur in irgendeinem Punkte getadelt. Im Gegenteil, je tiefer sie in dieselben eindrangen, um so wärmeren Dank haben sie Gott dem Herrn dargebracht, daß er sich gewürdigt hat, so zu den Menschen zu reden. Leider standen unseren Gelehrten bei ihrem Bibelstudium nicht dieselben Hilfsmittel zur Seite, wie sie die Modernisten heute benutzen! Das bedeutet, sie begaben sich nicht in die Gefolgschaft einer Philosophie, die mit der Leugnung Gottes beginnt. Sie stellten sich auch nicht selbst als Maßstab für ihre Urteile auf. Die Methode der Modernisten in historischen Fragen ist hiermit eindeutig. An erster Stelle steht die Philosophie, ihr folgt die Geschichte und daran schließen sich sowohl die innere Kritik, als auch die Textkritik an. Da das oberste Prinzip den untergeordneten seinen eigenen Geist mitteilt, kann offenbar diese Kritik keine reine Kritik mehr sein, sondern verdient in vollem Maß den Namen einer agnostischen, immanentistischen, evolutionistischen Kritik. Wer sie unterschreibt oder anwendet, unterschreibt auch die Irrtümer, die in ihr enthalten sind, und stellt sich damit der katholischen Lehre entgegen. Danach erscheint es sehr verwunderlich, wie eine solche Kritik in der heutigen Zeit bei Katholiken so viel Achtung genießen kann. Dafür gibt es einen doppelten Grund. Zunächst finden wir die innige Verbindung, in der die Historiker und Kritiker dieser Art über alle Schranken der Nationalität und Religion hinweg miteinander stehen. Dann finden wir die Aufdringlichkeit, mit der sie einstimmig alles als einen Fortschritt der Wissenschaft ausposaunen, was irgendeiner von ihnen an die Öffentlichkeit bringt. Kritisiert einer alleine eine derartig ungeheuerliche Neuerung, dann sieht er sich einer geschlossenen Schar gegenüber. Leugnet er sie, dann ist er ein Ignorant. Nimmt er sie an und tritt dafür ein, kann er sich ihrer Anerkennung sicher sein. Viele werden getäuscht, die sich bei genauerem Hinsehen entsetzt abwenden würden. Die übermächtige Vorherrschaft des Irrtums und der vorschnelle Beifall oberflächlicher Geister haben jedoch sozusagen eine verdorbene Atmosphäre geschaffen, die überall eindringt und die Seuche verbreitet.
34. Doch lassen sie uns zur Apologetik übergeben. Auch diese hängt bei den Modernisten in doppelter Weise von der Philosophie ab. Indirekt, weil sie ihren Stoff aus der Geschichte nimmt, die, wie bereits aufgezeigt, nach der Vorschrift der Philosophie geschrieben wurde. Direkt, weil sie daraus ihre Grundsätze und Entscheidungen bezieht. Die modernistische Schule verlangt daher ganz allgemein, daß die neue Apologetik die Streitfragen über Religion durch historische und psychologische Untersuchungen lösen muß. Die modernistischen Apologeten erklären deshalb den Rationalisten gleich zu Beginn, daß sie die Religion nicht aus der Heiligen Schrift oder aus den Geschichtsbüchern verteidigen wollen, wie sie allgemein in der Kirche im Gebrauch sind, gearbeitet nach der alten Methode, sondern aus der wirklichen Geschichte, wie die modernen Regeln, die moderne Methode sie liefern. Daraus spricht jedoch nicht etwa die Absicht, ad hominem zu argumentieren, sondern sie sprechen aus ihrer eigenen Überzeugung heraus, daß nur diese Geschichte die Wahrheit sagen würde. Mit aller Zuversicht behaupten sie ihre Ehrlichkeit beim Schreiben. Sie sind für die Rationalisten keine Unbekannten, da sie bereits mit ihnen unter derselben Fahne gedient und dafür Anerkennung geerntet haben. Auf diese Anerkennung, die ein guter Katholik verachten würde, tun sie sich etwas zugute und halten sie dem Tadel der Kirche entgegen. Greifen wir einen aus ihnen heraus und sehen wir, wie er seine Apologetik anfaßt. Er stellt sich die Aufgabe, einen noch nicht Glaubenden dahin zu bringen, daß er über die katholische Religion zur Erfahrung gelangt, die nach den Modernisten die einzige Grundlage des Glaubens bildet. Es führt ein doppelter Weg dorthin – ein objektiver und ein subjektiver Weg. Der erste Weg findet seine Grundlage im Agnostizismus. Er läuft darauf hinaus, zu zeigen, daß in der Religion, speziell in der katholischen Religion, eine vitale Kraft liegt, die jeden vernünftigen Psychologen und Historiker überzeugt, daß in ihrer Geschichte etwas Unbekanntes verborgen ist. Zu diesem Zweck muß gezeigt werden, daß die katholische Religion in ihrer heutigen Form die gleiche ist, wie sie von Christus gestiftet wurde. Das bedeutet, daß sie nichts anderes darstellt, als die fortschreitende Entfaltung des Keimes, den Christus gepflanzt hat. Zuerst muß also die Beschaffenheit dieses Keimes bestimmt werden. Das soll die folgende Formel leisten: Christus verkündete die Ankunft eines Gottesreiches, welches in naher Zukunft errichtet werden soll. Sich selbst verkündete er als dessen künftigen Messias, also als gottgesandten Stifter und Organisator. Hierauf muß gezeigt werden, wie sich dieser Keim allmählich, stets immanent und permanent in der katholischen Religion nach der Geschichte entwickelt und den jeweiligen Umständen angepaßt hat. Dies geschah dadurch, daß er sich aus denselben alle doktrinären, kultischen und kirchlichen Formen, die ihm dienen konnten, vital aneignete und daneben alle Hindernisse, die sich in den Weg stellten, überwand, die Gegner niederwarf und alle Verfolgungen und Kämpfe überdauerte. Ist das alles aufgezeigt – Hindernisse, Gegner, Verfolgungen, Kämpfe – und ist ebenso ein derartiges Leben, eine solche Fruchtbarkeit der Kirche dargelegt, daß zwar einerseits die Gesetze der Entwicklung in der Geschichte dieser Kirche nicht durchbrochen scheinen, sie jedoch andererseits auch zu einer vollen Erklärung ihrer Geschichte nicht ausreichen, dann tritt das Unbekannte eindeutig hervor. Es drängt sich praktisch von selbst auf. Soweit der Apologet. Eine Tatsache wurde bei dieser Schlußfolgerung jedoch übersehen: Die Bestimmung des ursprünglichen Keimes rührt ganz vom Apriorismus des agnostisch-evolutionistischen Philosophen her. Dieser Keim wird von ihnen daher willkürlich so umschrieben, wie es ihrer Sache dient.
35. Während nun die neuen Apologeten mit solchen Argumenten die katholische Religion zu stützen und zu empfehlen versuchen, geben sie gerne zu, daß sich auch manches darin findet, was Anstoß erregen kann. Mit heimlicher Freude erklären sie sogar, daß sie auch im Dogma Irrtümer und Widersprüche finden. Dabei fügen sie jedoch hinzu, daß sich dies nicht nur entschuldigen läßt, sondern – merkwürdigerweise – würde dies so ganz recht geschehen. Nach ihnen findet sich in ähnlicher Weise auch vieles in der Heiligen Schrift, was wissenschaftliche oder geschichtliche Irrtümer enthält. Aber, sie sagen, es handelt sich dort nicht um Wissenschaft oder Geschichte, sondern um Religion und Moral. Wissenschaft und Geschichte sind dort nur die Hüllen, unter denen sich die religiösen und sittlichen Erfahrungen leichter unter dem Volk verbreiten lassen. Da das Volk es nicht besser wußte, hätte ihm eine höhere Stufe der Wissenschaft und Geschichte nur geschadet anstatt genutzt. Übrigens haben, nach ihrer Meinung, die heiligen Schriften wegen ihrer religiösen Natur ihr Leben notwendig in sich. Auch das Leben hat seine Wahrheit und seine Logik, die sich allerdings von der rationalen Wahrheit und Logik unterscheidet und einer ganz anderen Ordnung angehört – die Wahrheit der Relativität und der Proportion zu dem Milieu, in dem man lebt, und zu dem Zweck, für den man lebt. Schließlich gehen sie soweit, ohne Rückhalt zu behaupten, daß alles, was sich lebendig entwickelt, auch wahr und recht ist. Wir, ehrwürdige Brüder, kennen nur die eine Wahrheit und halten an den heiligen Büchern fest, weil sie auf Eingebung des Heiligen Geistes geschrieben wurden und Gott zum Urheber haben15. Für Uns würde das nichts anderes bedeuten, als Gott selbst aus Rücksicht auf Interesse und Nutzen lügen zu lassen. Dann müssen Wir mit Augustinus sagen: Läßt man einmal bei dieser höchsten Autorität eine kleine politische Lüge zu, dann wird von diesen Büchern kein Stück mehr übrig bleiben, das man nicht, wenn es dem einen oder anderen schwer zu beobachten oder schwer zu glauben scheint, nach derselben schlimmen Regel mit einer Absicht oder Rücksicht des trügerischen Verfassers erklären könnte16. Dann muß es soweit kommen, wie derselbe heilige Lehrer sagt: Jeder wird von ihnen (den heiligen Schriften) glauben, was er will, und nicht glauben, was er nicht will. Unsere Apologeten gehen jedoch unbeirrt ihren Weg. Sie geben weiterhin zu, daß in der Heiligen Schrift an der einen oder anderen Stelle zum Erweis irgendeiner Lehre Erwägungen vorgetragen werden, die jeder vernünftigen Grundlage entbehren, zum Beispiel wenn man sich auf Weissagungen stützt. Auch das verteidigen sie als einen oratorischen Kunstgriff, der durch das Leben gerechtfertigt erscheint. Kann man noch weiter gehen? Sie geben zu und behaupten sogar, daß Christus sich offenbar geirrt hat, als er die Zeit der Ankunft des Gottesreiches angab. Darüber braucht man sich nach ihrer Meinung gar nicht zu wundern, denn auch er stand unter den Gesetzen des Lebens! Sie wimmeln sogar von offenkundigen Widersprüchen. Allein die Logik des Lebens läßt solche zu. Darüber hinaus ist das nicht gegen die symbolische Wahrheit. Bei den Dogmen handelt es sich doch um das Unendliche, das unendlich viele Wahrheiten hat. Schließlich vertiefen sie sich im Eifer, womit sie das alles verteidigen, so daß sie behaupten, man kann das Unendliche nicht besser ehren, als wenn man Widersprechendes von ihm aussagt. Wenn also selbst der Widerspruch erlaubt ist, was ist dann nicht mehr erlaubt?
36. Wer noch keinen Glauben hat, der kann nicht nur durch objektive, sondern auch durch subjektive Beweise für den Glauben gewonnen werden. Die modernistischen Apologeten greifen zu diesem Zweck auf die Lehre von der Immanenz zurück. Dabei geben sie sich alle Mühe, den Menschen zu überzeugen, daß in ihm selbst, in den tiefsten Tiefen seiner Natur und seines Lebens, das Verlangen und das Bedürfnis nach einer Art Religion verborgen liegt – nicht nach irgendeiner Religion, sondern gerade nach einer solchen, wie es die katholische Religion darstellt. Diese werden geradezu von der vollkommenen Entwicklung des Lebens postuliert. Wir sehen Uns gezwungen, auch hier wieder Unser tiefes Bedauern auszusprechen, daß so manche Katholiken, welche die Lehre von der Immanenz als Lehre verwerfen, sie dennoch für die Apologetik verwenden. Dabei verfahren sie so unvorsichtig, daß es den Anschein hat, sie hielten eine Erhebung der menschlichen Natur zur übernatürlichen Ordnung nicht nur für möglich und entsprechend, was die katholischen Apologeten unter Einhaltung der nötigen Schranken von jeher bewiesen haben, sondern dieselbe ist ihnen im eigentlichen Sinn eine Forderung der Natur. Um genau zu sein muß man allerdings sagen, daß dieses Bedürfnis nach der katholischen Religion nur von den Modernisten herangezogen wird, die gemäßigter sein wollen. Die anderen, die man als Integralisten bezeichnen könnte, wollen dem noch nicht Glaubenden den Keim, der sich im Bewußtsein Christi fand und von ihm auf die Menschen fortgepflanzt wurde, als in seinem eigenen Inneren verborgen aufzeigen. Ehrwürdige Brüder, man sieht eindeutig, daß die kurz beschriebene apologetische Methode der Modernisten vollkommen mit ihren sonstigen Lehren übereinstimmt. Die Methode und das Lehren sind voll von Irrtümern, nicht zur Erbauung angetan, sondern zur Zerstörung, nicht um andere zu Katholiken zu machen, sondern um die Katholiken selbst in die Häresien zu stürzen, sogar um die gesamte Religion vollständig zu vernichten.
37. Nur wenig kann über den Modernisten als Reformator beigefügt werden. Das bisher Gesagte ist ausreichend, um die schrankenlose und brennende Neuerungssucht dieser Leute aufzuzeigen. Dieselbe richtet sich auf alles, was die Katholiken besitzen. Die Philosophie soll erneuert werden, besonders in den Klerikalseminarien. Die scholastische Philosophie gehört in die Geschichte der Philosophie zu den übrigen überwundenen Systemen. Dafür soll den jungen Leuten die einzig richtige und unserer Zeit entsprechende moderne Philosophie vorgetragen werden. Zur Erneuerung der sogenannten spekulativen Theologie soll die moderne Philosophie als Grundlage dienen. Dagegen wollen sie die positive Theologie hauptsächlich auf die Dogmengeschichte gestützt sehen. Auch die Geschichte soll nach ihrer Methode und nach modernen Regeln geschrieben und gelehrt werden. Die Dogmen und ihre Entwicklung müssen mit der Wissenschaft und der Geschichte versöhnt werden. Innerhalb der Katechese sollen die katechetischen Schriften nur die Dogmen behandeln, die modernisiert sind und der Fassungskraft des Volkes entsprechen. Bei dem religiösen Kult sind die äußeren Observanzen, also die herkömmliche Befolgung der eingeführten Regeln, einzuschränken. Es ist dafür zu sorgen, daß sie nicht noch zunehmen. Andere allerdings, denen der Symbolismus mehr zusagt, sind in diesem Bereich gnädiger. Das kirchliche Regiment soll in jeder Beziehung, besonders nach der disziplinären und dogmatischen Seite, reformiert werden. Es hat sich innerlich und äußerlich ihrem modernen Bewußtsein, das ganz und gar zur Demokratie neigt, anzupassen. Der niedere Klerus und ebenso die Laienwelt müssen deshalb ihren Anteil am Regiment, also am Mitspracherecht, erhalten. Die über alle Maßen zentralisierte Autorität muß dezentralisiert werden. Die römischen Kongregationen für die verschiedenen kirchlichen Bereiche, besonders die Bereiche des heiligen Offiziums und des Index, müssen gleichfalls geändert werden. Dies betrifft auch die Haltung der Kirchenbehörde in politischen und sozialen Fragen. Sie soll sich nicht in bürgerliche Verhältnisse einmischen, sondern sich ihnen anpassen, um sie so mit ihrem Geiste zu durchdringen. Innerhalb der Moral eignet man sich den Grundsatz des Amerikanismus an. Dabei gehen die aktiven Tugenden den passiven voran. Ihre Übung muß vor den anderen gefördert werden. Vom Klerus verlangt man Demut und Armut, wie dies in der Vorzeit herrschte. Dabei soll er in Tat und Gesinnung den modernistischen Ideen folgen. Es gibt sogar solche, die als gelehrige Schüler der Protestanten wünschen, den Zölibat des Priesters aufzuheben. In der Kirche bleibt nichts übrig, das nicht reformiert werden müßte, und zwar nach ihrem Rezept.
38. Ehrwürdige Brüder, vielleicht könnte man glauben, Wir hätten Uns doch zu lange bei der Darlegung der modernistischen Lehre aufgehalten. Dies war jedoch durchaus notwendig. Auf der einen Seite, um Uns nicht, wie schon oft geschehen, von ihnen sagen zu lassen, Wir würden ihre Ansichten nicht kennen. Auf der anderen Seite wollten Wir aufzeigen, daß es sich beim Modernismus nicht um vage und unzusammenhängende Ansichten handelt, sondern um ein einheitliches und geschlossenes System, bei dem sich aus einer einzelnen Annahme notwendigerweise alles andere ergibt. Unsere Auseinandersetzung mußte daher notwendigerweise lehrhaft werden. Barbarismen, also grobe Sprachfehler, ließen sich zuweilen nicht vermeiden, da sie von den Modernisten gebraucht werden. Überblickt man nun das ganze System, so werden Wir es gewiß als eine Zusammenfassung aller Häresien bezeichnen dürfen. Hätte sich jemand zur Aufgabe gestellt, die Quintessenz aller Glaubensirrtümer, die es je gegeben hat, zusammenzutragen, so hätte er es nicht besser machen können, als es die Modernisten getan haben. Sie sind sogar weiter gegangen als alle und haben, wie bereits bemerkt, nicht nur die katholische, sondern die gesamte Religion vollständig vernichtet. Dafür erhielten sie den Beifall der Nationalisten, die selbst erklären: Wenn sie offen und frei reden wollen, hätten sie keine tatkräftigeren Helfer finden können, als die Modernisten.
39. Betrachten wir, ehrwürdige Brüder, nochmals die verderbliche Lehre des Agnostizismus. Für den menschlichen Verstand ist durch diese Lehre jeder Weg zu Gott versperrt. Man glaubt, dafür einen besseren Weg im religiösen Gefühl und in der Aktion gefunden zu haben. Doch das ist selbstverständlich nicht richtig. Das Gefühl reagiert nur auf die Wirkung der Dinge, die der Verstand oder der äußere Sinn dem Geist vermittelt. Läßt man den Verstand beiseite, so wird der Mensch den äußeren Reizen, zu denen er sowieso geneigt ist, nur um so eher folgen. Es ist deshalb verkehrt, da alle Phantasien über das religiöse Gefühl doch den gesunden Menschenverstand nicht irre machen können. Der gesunde Menschenverstand sagt, daß jede Gemütserregung und jedes Eingenommensein keine Hilfe, sondern ein Hindernis bei der Erforschung der Wahrheit darstellt, natürlich der wirklichen Wahrheit. Die subjektive Wahrheit, die Frucht des inneren Gefühls und der Aktion, ist reine Spielerei, die dem Menschen nicht helfen kann. Ihm kommt es vor allem darauf an, ob es außer ihm einen Gott gibt, in dessen Hände er einst fallen wird oder nicht. Man ruft bei dem großen Werk auch die Erfahrung zu Hilfe. Was soll sie über das religiöse Gefühl hinaus bieten? Gar nichts! Sie kann nur das Gefühl lebhafter machen und so eine um so festere Überzeugung von der Wahrheit seines Gegenstandes hervorrufen. Das Gefühl hört jedoch deshalb nicht auf, Gefühl zu sein. Seine Natur läßt sich nicht ändern. Ohne die Leitung des Verstandes bleibt es jeder Täuschung ausgesetzt. Auch die Wirkung der Erfahrung kann es in seiner Eigenart nur stärken und fördern. Ein lebhafteres Gefühl ist darum nur um so mehr Gefühl. Wenn es sich jedoch hier, ehrwürdige Brüder, nur um das religiöse Gefühl und die darauf beruhende Erfahrung handelt, so ist Euch bekannt, welche Vorsicht auf diesem Gebiet notwendig ist und wie viel Wissen benötigt wird, um Vorsicht walten zu lassen. Dies ist Euch aus der Seelenführung bekannt, besonders bei starken Gefühlsmenschen. Ihr kennt dies auch aus Eurer Vertrautheit mit der aszetischen Litteratur, die von den Modernisten allerdings vollständig verachtet wird. Diese zeigt jedoch eine viel solidere Doktrin und eine schärfere Beobachtungsgabe, als die, deren sich die Modernisten rühmen. Es erscheint Uns eine Torheit oder doch eine höchste Unklugheit zu sein, ohne Untersuchungen solche Erfahrungen, wie sie die Modernisten verbreiten, als wahr hinzunehmen. Im Vorbeigehen möchte man fragen: Wenn diese Erfahrungen so wichtig und so zuverlässig sind, warum sollte es dann nicht ebensoviel Gültigkeit besitzen, wie wenn Tausende Katholiken ihre Erfahrung dahingehend aussprechen, daß die Modernisten sich auf einem Irrweg befinden? Soll diese Erfahrung allein falsch und trügerisch sein? Und doch hält der größere Teil der Menschheit daran fest, und wird immer daran festhalten, daß man nur durch das Gefühl und nur durch die Erfahrung, ohne Leitung der Vernunft, nie zur Erkenntnis Gottes gelangen kann. Im Endeffekt bleibt wieder nichts als Atheismus und Religionslosigkeit übrig. Auch von ihrer Lehre über den Symbolismus dürfen sich die Modernisten nichts Besseres versprechen. Wenn alle Verstandeselemente, nach ihrer Meinung, nur Symbole Gottes sind, sollte dann nicht vielleicht auch der Begriff von Gott und einer göttlichen Persönlichkeit ein Symbol sein? Wenn ja, so darf man wohl an der Persönlichkeit Gottes zweifeln. Dem Pantheismus steht dann Tür und Tor offen. Zu demselben Ergebnis, und zwar zum reinsten Pantheismus, führt auch die Lehre von der göttlichen Immanenz. Wir müssen daher fragen, ob eine solche Immanenz zwischen Gott und dem Menschen trennt oder nicht. Wenn ja, welcher Unterschied besteht dann in der katholischen Lehre, und warum darf man dann die Lehre von der äußeren Offenbarung verwerfen? Wenn nein, so ist der Pantheismus da. Nun will aber dies die modernistische Immanenz, die offen zugibt, daß das Bewußtseinsphänomen vom Menschen als Menschen ausgeht. Also kommt man mit Recht zu der Schlußfolgerung, daß Gott und Mensch ein und dasselbe sind – also Pantheismus. Auch die Trennung von Glauben und Wissen, die sie proklamieren, läßt keine andere Schlußfolgerung zu. Den Gegenstand des Wissens sehen sie in der Realität des Erkennbaren, und den des Glaubens in der Realität des Unerkennbaren. Die Unerkennbarkeit rührt daher, daß zwischen dem dargebotenen Gegenstand und dem Verstand keine Proportion besteht. Die fehlende Proportion kann jedoch nie, auch nicht nach der Lehre des Modernismus, ersetzt werden. Das Unerkennbare wird daher sowohl dem Gläubigen, als auch dem Philosophen ewig unerkennbar bleiben. Gibt es also doch eine Religion, so ist ihre Realität unerkennbar. Dann ist jedoch nicht einzusehen, warum die Realität nicht auch eine Weltseele sein könnte, wie dies manche Rationalisten annehmen. Das ist noch nicht genug, um mehr als deutlich zu zeigen, wie alle Wege des Modernismus zum Atheismus und zur Vernichtung der gesamten Religion führen. Der Irrtum des Protestantismus war der erste Schritt, es folgt der Modernismus, um schließlich im Atheismus zu enden.
40. Um den Modernismus noch besser kennenzulernen, und für eine derartig schwere Wunde die am besten geeigneten Heilmittel zu suchen, ist es angebracht, ehrwürdige Brüder, nunmehr auch den Ursachen etwas nachzugehen, welche das Übel verschuldet oder verschlimmert haben. Zweifellos liegt seine nächste und unmittelbare Ursache in einem Irrtum des Verstandes. Zwei entferntere Ursachen erkennen wir in der Neugierde und im Stolz. Wenn der neugierige Wissensdrang nicht weise gemäßigt wird, ist dies alleine schon ausreichend, um alle möglichen Irrtümer zu erklären. Unser Vorgänger, Gregor XVI., schrieb daher mit Recht17: Es ist tief traurig, zu welchen Torheiten sich die menschliche Vernunft verirren kann, wenn man Neuerungen sucht und gegen die Mahnung des Apostels den Sinn höher trägt, als es sich gebührt, wenn man in übermäßigem Selbstvertrauen die Wahrheit außerhalb der katholischen Kirche zu suchen glaubt, während man sie in ihr ohne den geringsten Staub des Irrtums finden kann. Der Stolz hat jedoch in einem weit höheren Grad die Wirkung, den Geist zu verblenden und in den Irrtum zu führen. Dieser ist sozusagen beim Modernismus zu Hause. Von allen Seiten strömt ihm dort Nahrung zu und nimmt ihn in allen möglichen Formen an. Es ist Stolz, wenn sie in einem verwegenen Selbstgefühl die eigene Person als Norm für alles betrachten und als solche ausgeben. Es ist Stolz, wenn sie prunken, als besäßen sie alleine alle Weisheiten, und sich dadurch zu den aufgeblasenen Worten hinreißen lassen: Wir sind nicht wie die anderen Menschen! Um nicht mit anderen auf eine Stufe gestellt zu werden, greifen sie nach allem, was sich neu nennt, und ersinnen die größten Ungereimtheiten. Es ist Stolz, wenn sie jegliche Unterwerfung ablehnen und verlangen, daß sich die Autorität mit der Freiheit abfinden muß. Es ist Stolz, wenn sie an die Reform anderer denken und dabei sich selbst vergessen, wenn sie keinen Stand und kein Amt, auch nicht das höchste, achten. Der Stolz ist mit Gewißheit der kürzeste und sicherste Weg zum Modernismus. Wenn ein katholischer Laie, oder auch wenn ein Priester die christliche Lebensregel vergißt, wonach wir uns selbst verleugnen müssen, um Christus nachfolgen zu können, wenn er den Stolz nicht aus seinem Herzen reißt, dann ist er vor allen anderen für die Annahme der modernistischen Irrtümer bereit. Es muß deshalb, ehrwürdige Brüder, Eure erste Aufgabe sein, diesen stolzen Menschen entgegenzutreten, sie in den unbedeutendsten und unscheinbarsten Ämtern zu beschäftigen, um sie desto tiefer herabzudrücken, je höher sie sich erheben, damit sie in ihrer niedrigen Stellung weniger Schaden anzurichten vermögen. Eure persönliche Aufgabe muß sodann sein, durch die Leiter Eurer Seminarien die Priesterkandidaten sorgfältig zu prüfen. Für den Fall, daß Ihr stolze Menschen darunter findet, müßt Ihr diese unbarmherzig von den heiligen Weihen zurückweisen. Wäre das nur immer mit der nötigen Sorgfalt und Festigkeit geschehen!