10. Kapitel: Von der Übung des Willens und dem Endziel, auf das alle unsere inneren und äußeren Handlungen eingestellt sein sollen
Neben der Übung deines Verstandes ist es notwendig, daß du auch deinen Willen in Zucht und Ordnung hältst, damit er seinen Neigungen nicht überlassen bleibt, sondern in allem dem göttlichen Wohlgefallen gleichförmig wird.
Merke dir wohl, daß du dich nicht damit begnügen darfst, nur das zu wollen und auszuführen, was Gott wohlgefällig ist, sondern du mußt das alles wollen und vollbringen wie von Gott geführt und angetrieben und in der reinen und lauteren Absicht, ihm allein zu gefallen.
Hierbei erfahren wir einen noch heftigeren Widerstand vonseiten unserer Natur als bei der vorhin besprochenen Übung des Verstandes. Unsere Natur ist nämlich so veranlagt, daß sie in allem - und bisweilen in guten und geistlichen Dingen noch mehr als in anderen – ihren eigenen Vorteil und Genuß sucht. Sie unterhält sich damit und labt sich begierig, ohne irgendeinen Verdacht zu schöpfen.
So kommt es, daß wir ein gutes Werk, das wir verrichten sollen, mit Feuereifer beginnen, aber nicht, als wären wir angetrieben vom Willen Gottes, auch nicht in der Absicht, ihm allein zu gefallen, sondern wegen der Freude und Genugtuung, die wir finden, wenn wir wollen, was auch Gott will.
Diese Täuschung ist umso verborgener, je besser die gewollte Sache an sich ist. Darum pflegen sich selbst in das Verlangen nach Gott Täuschungen der Eigenliebe einzuschleichen, indem wir oftmals mehr auf unser eigenes Interesse und den erwarteten Vorteil schauen als auf den Willen Gottes, der uns jenes Gut einzig seiner Verherrlichung wegen schenkt. Deswegen verlangt er auch, daß wir all unser Lieben, Wünschen und Verlangen und unsere ganze Bereitwilligkeit ihm allein darbieten.
Um dich aber vor diesem Fallstrick, der dir den Weg zur Vollkommenheit versperren würde, zu bewahren und dich daran zu gewöhnen, alles nur unter Gottes Eingebung und in der reinen Absicht zu wollen und zu vollbringen, um Gott allein die Ehre zu geben und ihm wohlzugefallen, der ja auch der Ursprung und das Ziel all unseres Denkens und Handelns sein will, so gehe folgendermaßen vor:
Bietet sich dir etwas von Gott Gewolltes dar, dann laß deinem Willen nicht eher die Freiheit, es zu begehren, als bis du dein Gemüt zu Gott erhoben und erkannt hast, daß dies sein Wille ist und daß du es nur willst, weil er es wollte, und in der Absicht, ihm allein zu gefallen.
Ist dein Wille also vom göttlichen Willen angetrieben und angezogen, dann laß ihn dasselbe verlangen, aber nur aus dem Grunde, weil Gott es will und weil es ihm so wohlgefällt und ihn ehrt.
Desgleichen, wenn es sich darum handelt, Dinge, die Gott nicht will, zu verwerfen; verwirf sie nicht, bevor du das Auge deines Verstandes auf den göttlichen Willen gerichtet hast, welcher eben will, daß du sie einzig nach seinem Wohlgefallen zurückweisest.
Doch wisse, daß es nicht leicht ist, die Heimtücke unserer schlauen Natur zu durchschauen. Obwohl sie zu jeder Zeit nur sich selbst sucht, spiegelt sie uns vielfach vor, als ob uns als der einzige Beweggrund und Zweck das Wohlgefallen Gottes vor Augen schwebe; was aber keineswegs der Fall ist.
Daher kommt es, daß wir scheinbar wollen oder nicht wollen, um Gott zu gefallen oder nicht zu mißfallen, während wir im Grunde genommen nur in eigenem Interesse etwas begehren oder nicht wünschen.
Das beste und geeignetste Mittel, um diesen Irrtum zu vermeiden, ist die Lauterkeit des Herzens, auf die ja auch der ganze geistliche Kampf hinzielt, der darin besteht, daß wir den alten Menschen aus- und den neuen Menschen anziehen.
Damit du aber in dieser Kunst eine gewisse Fertigkeit erlangst, da du von dir selbst allzu sehr eingenommen bist, so sei zu Beginn deines Handelns stets darauf bedacht, soviel als möglich jede Neigung deines eigenen Ichs zu entfernen und auf diese Weise nichts zu wollen, noch zu vollbringen oder zurückzuweisen, als das, wozu du dich innerlich durch eine reine Liebe zu Gott angetrieben fühlst.
Kannst du dir aber im Augenblick bei all deinen Handlungen, namentlich bei den inneren Bewegungen der Seele oder äußeren schnell zu erledigenden Verrichtungen diesen Beweggrund nicht förmlich vergegenwärtigen, so bemühe dich, ihn wenigstens in der guten Absicht zu bewahren, indem du beständig an der aufrichtigen Absicht festhältst, in allem nur Gott allein zu gefallen.
Bei solchen Handlungen aber, die längere Zeit beanspruchen, ist es gut, wenn du nicht nur zu Anfang diese Meinung erweckst, sondern auch, wenn du sie mit Bedacht wiederholt erneuerst und bis zum Schlusse wirksam erhältst. Andernfalls läufst du Gefahr, in eine andere Schlinge unserer natürlichen Selbstsucht zu fallen, welche, mehr zum eigenen Ich als zu Gott hinneigend, unversehens im Verlauf der Zeit gar leicht den Vorsatz und das Ziel verwechselt.
Ein Diener Gottes, der hierin nicht sehr auf der Hut ist, beginnt manchmal ein Werk in der guten Meinung, einzig dem Herrn zu gefallen; aber allmählich empfindet er, fast ohne es gewahr zu werden, eine so große Freude an demselben, daß er, des göttlichen Willens uneingedenk, sich ganz seinen Stimmungen und Gefühlen hingibt und im Geiste an dem Vorteil und der Ehre, die ihm daraus erwachsen, haften bleibt. Und wenn dann Gott dem Werke durch eine Krankheit oder ein anderes Ereignis oder durch ein Geschöpf ein Hindernis in den Weg legt, wird er gleich verwirrt und unruhig und fängt wohl auch an, bald gegen diesen, bald gegen jenen, ja selbst wider Gott zu murren. Das ist ein sicheres Zeichen, daß seine Absicht nicht rein auf Gott allein zielte, sondern einer faulen Wurzel und einem schlechten Boden entsproß.
Wer nur, um Gott zu gefallen und von Gott angetrieben, sich zu etwas entschließt, will das eine nicht mehr als das andere; denn er verlangt es ja nur insofern, wie und wann Gott es will und es ihm genehm ist. Mag er es erlangen oder nicht; er bleibt zufrieden und gelassen, weil er auf jeden Fall sein Ziel erreicht, das kein anderes ist als das Wohlgefallen Gottes.
Deshalb nimm dich zusammen und strebe danach, alle deine Werke stets auf jenes vollkommene Ziel zu richten.
Zuweilen wirst du dich, um den Strafen der Hölle zu entgehen, oder aus der Hoffnung auf den Himmel, zu guten Werken angetrieben fühlen. Aber auch dabei muß deine letzte Absicht der Wille und das Wohlgefallen Gottes sein, weil du seinem Willen gemäß nicht zur Hölle fahren, sondern in sein Reich eingehen sollst.
Niemand ist imstande, die außerordentliche Kraft und Wirkung dieses Beweggrundes voll zu erfassen. Denn auch das unbedeutendste und geringste Werk, das um des Wohlgefallens und der Ehre Gottes willen verrichtet wird, gilt unendlich mehr als viele andere, überaus verdienstvolle und erhabene Werke, denen jener Beweggrund mangelt.
Deshalb ist es Gott wohlgefälliger, wenn ein kleines Geldstück einem Armen, um der göttlichen Majestät zu gefallen, gereicht wird, als wenn jemand aus einem anderen Beweggrund, wäre es auch der himmlischen Freude wegen (was doch eine nicht nur gute, sondern sogar höchst lobenswerte Absicht wäre), sich aller seiner Güter, wie groß diese auch sein mögen, entäußerte.
Diese Übung, alles in der Meinung zu tun, um Gott allein zu gefallen, mag wohl für den Anfang schwierig sein. Allein, sie wird angenehm und leicht, wenn man sich dieselbe zur Gewohnheit macht und mit großer Herzenssehnsucht nach Gott, als dem vollkommensten und höchsten Gut, verlangt und strebt, das um seiner selbst willen verdient, von jeglicher Kreatur umfangen, verehrt und über alles geliebt zu werden.
Je aufmerksamer und eifriger wir bedenken, daß Gott unserer Liebe unendlich würdig ist, desto inniger und häufiger werden auch die erwähnten Akte des Willens sein. Umso schneller und leichter werden wir uns auch die Gewohnheit aneignen, jedes Werk im Aufblick auf Gott und aus Liebe zu ihm zu verrichten, der ja allein aller Ehre würdig ist.
Um sich diese Ausrichtung auf Gott schneller anzueignen, rate ich dir noch zum Schluß, Gott inständig darum zu bitten und oft die unzähligen Wohltaten zu betrachten, die er uns bereits erwiesen hat und uns noch immer aus reiner Liebe und ohne seinen eigenen Vorteil erweist.