Der heilige Josef von
Copertino
(1603-1663)
Als einfältiger
Charismatiker, als merkwürdiger Heiliger, ein seltsamer
Vogel wird er von Walter Nigg bezeichnet.
Wenn er nicht gelebt hätte:
erfinden könnte ihn niemand, er ist außergewöhnlich
unter den Außergewöhnlichen.
„Es gibt keinen Heiligen der mehr
als er, die Menschen in Verwirrung bringt.“
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Joseph Desa stammt aus dem
Dorf Copertino bei Brindisi, Italien. Sein Vater war
Zimmermann der kurz vor seiner Geburt starb. Die Mutter
wurde von der Geburt in einem Stall überrascht, sodaß
Joseph sein Leben gleich dem göttlichen Zimmermannssohn
begann. Seine Kindheit war hart und ärmlich, er war
schwächlich und nervös. Von den Kindern wurde er
verspottet und gemieden, er stand in der Ecke mit leerem
Blick und halbgeöffnetem Mund, was ihm den
Schimpfnamen „bocca aperta“ „Offenes Maul“
einbrachte.
In dieser trostlosen Jugendzeit kam Joseph zu einem
Schuhmacher in die Lehre. Für die einfachsten Arbeiten
war er untauglich und sie überstiegen sein Können, der
Meister entließ ihn.
Er versuchte es bei den Franziskanern, dann bei den
Kapuzinern wo er auch sehr tollpatschig und ungeschickt war. Außerdem bekam er seltsame Anfälle
von Geistesabwesenheit. An den unpassendsten Orten fiel
er auf die Knie und schien alles um sich herum völlig
zu vergessen.
Nach acht Monaten war die Geduld der Kapuziner zu Ende
sie fanden ihn für das Klosterleben ungeeignet. Der
Bruder seiner Mutter war Franziskaner, mit seiner Hilfe
gelang es Joseph mit 18 Jahren im Franziskanerkloster zu Grotella wenigstens
das Kleid des dritten Ordens zu vermitteln. Er wurde
gedemütigt, man übertrug ihm stets sie niedrigsten
Arbeiten, er bemühte sich und kam seinen Pflichten
genauer nach, er fastete streng ernährte sich manchmal
nur von der Hl. Eucharistie, trug einen Bußgürtel und
geißelte sich. Wenn er vom Novizenmeister getadelt
wurde erwiderte er flehentlich: „ Traget Geduld mit
mir, so werdet ihr größere Verdienste dabei
erlangen“.
Mit dem Studium sollte er es
versuchen, es wollte nicht vorwärtsgehen, denn er war
In geistiger Beziehung noch ungeschickter, es kostete
ihn äußerste Mühe Lesen und Schreiben zu können.
Ebenso fand er sich in der Heiligen Schrift nur mühsam
zurecht, er verstand nur notdürftig die
göttlichen Bücher und sollte doch zur Prüfung der
Priesteramtskandidaten antreten. Joseph hatte Glück er
wurde über seine Lieblingsstelle befragt: „Selig der
Leib, der dich getragen“
( Lk 11.27 )
Zum Erstaunen aller legte der Einfältige los, er wußte
so viel darüber zu sagen, dass er fast kein
Ende finden konnte. Er bestand somit auf wunderbare
Weise auch die zweite Prüfung und wurde Priester.
Nachher erlebte er schreckbarste Anfechtungen des
Teufels und tödliche Herzensangst er beklagte sich oft
„Bei Gott über Gott“.
Joseph der Unbrauchbare wurde ein von Charismen überschütteter
Mensch. Die Verzückungen ereigneten sich so oft, dass
beinahe sein ganzes Leben eine Kette davon war. Er
konnte über 35 Jahre nicht mit den Brüdern in den Chor
und in den Speisesaal wegen seiner Ekstasen, da diese
die öffentlichen Verrichtungen störten. Nicht immer
lag Joseph in der Ekstase starr da, es kam auch vor dass
er seltsam zu singen und sogar zu tanzen begann, eine übermächtige
Freude erfüllte ihn. Gut bezeugt sind in der Geschichte
Levitationen, die immer ein maßloses Staunen
hervorrufen. Mit Joseph aber geschah noch viel Ungewöhnlicheres:
er begann mit einer tanzenden Gebärde, stieß dann
einen vogelartigen Schrei aus und flog durch die Luft!
Aus der Mitte der Kirche flog er bis zum Hochaltar, der
über 50 Schuh entfernt war umfasste dort das
Tabernakulum, und hielt sich ungefähr eine
Viertelstunde lang in der Luft. Den erstaunten
Zuschauern blieb der Mund offen.
Mindestens 70 ekstatische Flüge
wurden von vielen Menschen bezeugt.
Gegen seinen Willen wurde er
zur Berühmtheit, er geriet in den Ruf eines Wundertäters,
ein Sturm legte sich nach seinem Gebet, nach einer Dürre
regnete es, er roch die Sünde förmlich, und konnte den
Menschen gute seelsorgliche Ratschläge geben.
Auch der Großadmiral von
Kastilien hatte eine Unterredung mit ihm in Assisi und
er sagte nachher: „Ich habe einen zweiten heiligen
Franziskus gesehen und gesprochen.“
Im August des Jahres 1663
bekam er Wechselfieber, am 18 September 1663 wurde sein
Haupt mit einem hellen Glanz umgeben und er starb
friedlich als großer heiliger Franziskaner.
Ausführliche
Abhandlung des heiligen Josef von Copertino
Mit
kirchlicher Druckerlaubnis
Copyright by
Johannes‑Verlag Leutesdorf, Germany
ISBN
3‑7794‑1251‑9
Gottes Kraft in menschlicher Schwäche
... das Törichte an Gott ist weiser als die Menschen, und
das Schwache an Gott ist stärker als die Menschen. ...
das Törichte in der Welt hat Gott erwählt, um die Weisen
zuschanden zu machen, und das Schwache in der Welt hat
Gott erwählt, um das Starke zuschanden zu machen. Und
das Niedrige in der Welt und das Verachtete hat Gott
erwählt: das, was nichts ist, um das, was etwas ist, zu
vernichten, damit kein Mensch sich rühmen kann vor Gott.
1 Kor 1, 25. 27‑29
Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil du all das
den Weisen und Klugen verborgen, den Unmündigen aber
geoffenbart hast. Mt 11, 25
1. Ein Mensch beklagt
sich über Gott
“Ich beklagte mich oft über Gott” — so steht es in einem Brief des
inzwischen älter gewordenen Josef von Copertino an einen
Freund. Ein Ausspruch, der nachdenklich machen kann,
zumal bei einem, den die Kirche als Heiligen verehrt.
Wenn uns jemand das gestehen würde, hätten wir
wahrscheinlich eine ganze Reihe guter Ratschläge,
psychologische oder aszetische, bereit, wenn nicht
strenge Zurechtweisung. Hat denn ein Mensch überhaupt
das Recht, sich über Gott zu beklagen? Oder: Nimmt da
nicht jemand sich zu wichtig? Ist da einer nicht sehr
wehleidig?
Der etwa sechsundzwanzigjährige Minorit, noch am Anfang seines
geistlichen Strebens, hatte versucht, sich aus
Mittelmäßigkeit und Bequemlichkeit freizukämpfen. Alles,
was ihm in seinem bisherigen Leben widerfahren war, wird
in seiner Erinnerung wieder lebendig, in der ganzen
Schärfe unverdienten Leidens.
Der arme
Pechvogel
Da sind die
Lebensumstände und Familienverhältnisse, in die er
hineingeboren wurde — schlechte Startbedingungen, würden
wir sagen. Der Vater Felice Desa ist bis über beide
Ohren verschuldet. Die Herzöge Pinelli im italienischen
Copertino/Apulien hatten den Fuhrmann als Burgwart
eingestellt; aber er ruiniert seine Existenz, indem er
in geradezu naiver Gutmütigkeit Schuldscheine für alle
möglichen Bittsteller unterschreibt, ohne ihre
Vertrauenswürdigkeit zu prüfen. Er muß fliehen, um nicht
ins Gefängnis geworfen zu werden, und stirbt. Seine
hochschwangere Frau weicht vor der Schmach der Pfändung
ihrer Habseligkeiten in einen Viehstall aus. Dort wird
Giuseppe‑Maria geboren, seine Taufe in Copertino ist am
17. Juni 1603 beurkundet.
Franceschina war dieses Kind eine Last — kein Wunder. Allzugroße Strenge,
ja Härte verhindern, daß der Heranwachsende mütterliche
Wärme und Geborgenheit erfährt. Es ist auch nicht viel
Liebenswürdiges an ihm. Kränklich, schwächlich,
zeitweilig von brandigen Geschwüren befallen,
“verbrachte er seine Kindheit zwischen Leben und Tod,
gleichsam halb verfaulend”4.
Die Quelle5 betont die Selbstlosigkeit und den starkmütigen
Glauben Franceschinas, sie habe sich “allezeit bestrebt,
ein gutes Beispiel zu geben” und sei Angehörige des
franziskanischen Dritten Ordens gewesen. Sie sorgt trotz
ihrer Armut dafür, daß Giuseppe eingeschult wurde,
obwohl in dieser Zeit nur gutgestellte Eltern sich das
leisten konnten. In der Schule aber kommt der
Schwächling nicht mit und wird von seinen Kameraden
ständig gehänselt. Als er eines Tages beim Klang der
Orgel hingerissen lauscht und mit halbgeöffnetem Mund
gedankenverloren dasteht, geben sie ihm den Spottnamen
“bocca aperta”, also “offenes Maul”, im Sinne von
“blöder Tölpel”. — “Trostlose Anfänge! “6
Wer konnte auch erkennen, daß diese auffällige Geistesabwesenheit, in der
er ganz versunken ist und unempfindlich gegenüber allem,
was sich um ihn herum abspielt, nichts anderes ist als
ein erster Anfang des völligen “Außer‑sich‑Seins”, das
sich sehr früh — er ist kaum acht Jahre alt — zu
mystischen Ekstasen steigern wird? “Mystisch” — heißt
das nicht “geheimnisvoll”? Den Mitmenschen muß es
mindestens rätselhaft vorkommen. Er kann es sich ja auch
selbst nicht erklären.
Nach reichlich drei Jahren ist für ihn die Schulzeit zu Ende: ein
bösartiges Geschwür an der Hüfte fesselt ihn für fünf
Jahre – fünf Jahre! — ans Bett. Der unerträglich üble
Geruch isoliert ihn von den Mitmenschen — ein im Stich
gelassenes schwerkrankes Kind. Einziger Trost ist seine
Mutter, die ihm vom heiligen Franz von Assisi erzählt,
um ihn abzulenken und zur Geduld zu mahnen. Auf sein
Betteln hin bringt sie ihn auch zur Kirche vor den
Tabernakel.
Ein Einsiedler, der früher einmal Arzt am Institut für unheilbar Kranke
war, versucht ihn zu operieren, ohne Erfolg. Da bringt
ihn seine Mutter zur Wallfahrtskirche Santa Maria delle
Grazie in Galatone. Man salbt den Kranken mit dem Öl der
Lampe, die vor dem Gnadenbild brannte — und er steht
auf, vollständig geheilt.
Vierzehn Jahre ist er inzwischen alt, er muß sich nach einer Arbeit
umsehen, geht bei einem Schuhmacher in die Lehre. Doch
er ist nicht imstande, auch nur die einfachste
Flickarbeit zu lernen. Zur Ungeschicklichkeit kommt eine
eigenartige Lernunfähigkeit. Statt den Pechfaden durch
das Leder zu ziehen, sitzt er untätig auf seinem
Stühlchen und schaut verträumt den Fliegen nach. Der
Meister gibt es auf und schickt ihn weg.
Enttäuschungen und Hindernisse
Was ist zu tun? Er ist unfähig zu einer normalen Lebensführung oder
Tätigkeit, ohne jeden praktischen Verstand. Was bleibt
anderes übrig, als es in einem Kloster zu versuchen,
zumal er doch offenbar fromm ist? Er kommt auch selbst
auf diesen Gedanken, als er einem Bettelmönch begegnet.
Das entspräche seinen religiösen Neigungen. Doch die
Franziskaner‑Konventualen weisen ihn ab, trotz der
Fürsprache einiger einflußreicher und gelehrter
Verwandten. Welcher Orden nimmt auch einen solchen
Kandidaten auf?
Er versucht es ein weiteres Mal im Kloster zu Casole, doch hier schiebt
man die Aufnahme ohne Angabe von Gründen immer wieder
auf.
Ein neuer Versuch hat Erfolg: Er meldet sich mit zwei Gefährten beim
Kapuzinerprovinzial, der die Postulanten im August 1620
— Josef ist also siebzehn Jahre alt — zur Probezeit und
ins Noviziat in Martina franca aufnimmt. Aber sein
Aufenthalt “war nicht von allzu langer Dauer. Josef war
so blöde, daß er nicht einmal weißes von schwarzem Brot
unterscheiden konnte und, tolpatschig wie er war, die
Töpfe verkehrt auf das Feuer setzte. Im Refektorium fiel
ihm ein ganzer Stapel Teller aus den Händen, und auch
sonst zerbrach er in seiner Ungeschicktheit fortwährend
Klostergeschirr. Es nützte nichts, wenn man ihm, zur
Demütigung und damit er fortan besser aufpasse, Teile
der zerbrochenen Teller an seiner Kutte befestigte. In
der Erfüllung seiner Pflichten war er unzuverlässig, er
benahm sich linkisch und plump und brachte die Mönche
zur Verzweiflung. Josef war und blieb ein unfähiger
Laienbruder; die Schilderung ist nicht übertrieben. Es
wäre wohl passender, wenn sich von einem Heiligen
erzählen ließe, er sei schon früh ein wundersam begabter
Jüngling gewesen ...”7
Anfälle von rätselhafter Geistesabwesenheit geben seiner Frömmigkeit ein
seltsam stupides Aussehen. “Nach einer Prüfungszeit von
acht Monaten war die Geduld der Kapuziner zu Ende.”8
Sie schicken ihn fort. Josef empfindet es, als reiße man
ihm mit dem Ordenskleid die Haut samt dem Fleisch von
den Knochen.
Er sucht Zuflucht bei einem Bruder seines Vaters, Pater Francesco Desa,
der in Avetrana Fastenpredigten hielt. Auf dem Weg zu
ihm — zwei Tage ist er unterwegs — wird er überfallen
und bedroht, Hunde zerfetzen die wenigen Kleider, die
ihm geblieben waren. Völlig erschöpft und abgerissen,
kommt er zu seinem Onkel und findet bei ihm nur
verständnislose Vorwürfe und verächtliche Abweisung —
und ist außerstande, sich dazu auch nur zu äußern. Auch
in Copertino erwarten ihn Gelächter und Spott, dazu noch
die Gläubiger seines Vaters; sie drohen ihm mit dem
Schuldgefängnis. Trotz aller Bemühungen seiner Mutter
weist ihn die gesamte Verwandtschaft ab, ist er doch aus
dem Kloster weggejagt worden. Ausweglose Situation!
Schließlich versteckt er sich in Grottella, einem
kleinen Marienwallfahrtsort in der Nähe. Dort baut
gerade ein Bruder seiner Mutter, der Minorit Giandonato
Caputo, ein kleines Kloster auf. Der Bruder Sakristan
erbarmt sich des Hilflosen und weist ihm einen
Unterschlupf auf dem Dachboden des Kirchleins an.
Sechs Monate hält Josef diese entbehrungsreiche Gefangenschaft aus. Dabei
verhält er sich so geduldig und bescheiden, daß seine
nähere Umgebung schließlich nachdenklich wird. So konnte
es ja auch nicht weitergehen. Sein geistlicher Onkel
nimmt ihn als Klosterknecht auf, gewährt ihm das Kleid
des Dritten Ordens und entzieht ihn damit der weltlichen
Gerichtsbarkeit. Jetzt endlich kann er sich unter den
Gutwilligen im Minoritenkonvent bewähren, mit kleinen
Dienstleistungen im Stall und in der Sorge um einen
Esel. Sie nehmen den Zweiundzwanzigjährigen als
Laienbruder auf. Und als herauskommt, daß sich Bruder
Josef nächtelang heimlich darum bemüht, seine
mangelhafte Schulbildung aufzubessern, entschließt sich
auch Pater Francesco Desa, ihn zu fördern. Er läßt ihn
zum Studium zu — gewiß, ein Gelehrter wie seine
geistlichen Onkel würde er kaum werden, aber zum
schlichten priesterlichen Dienst in dem kleinen
Wallfahrtsort würde es wohl ausreichen. Zwar werden
große Bedenken in der Gemeinschaft laut, aber der andere
Onkel, Pater Giandonato Caputo, kann am 19. Juni 1625 in
Altamura die Oberenversammlung doch überzeugen. Frater
Josef wird — mit besonderer Dispens — der Obhut eines
anderen Verwandten seiner Mutter anvertraut und
vollendet schließlich das Ordens‑Noviziat in Grottella.
Das Studium, besonders der lateinischen Sprache, bereitet ihm große
Schwierigkeiten. Die Eigenart seiner Lernbehinderung
wird deutlich: Er ist zwar ganz “in der Welt Gottes zu
Hause”9, kann aber mit irdischen Begriffen,
mit denen wir die Welt Gottes zu “be‑greifen” versuchen,
nicht viel anfangen, trotz aller Bemühungen.
Auswendiglernen ist ihm schier unmöglich. Doch unter der
offensichtlich verständnisvollen und geduldigen
Anleitung durch seine beiden Onkel erreicht er endlich
die notwendigen Voraussetzungen für die Zulassung zur
endgültigen Aufnahme in den Orden der
Franziskanerminoriten, er legt die feierlichen
Ordensgelübde der Armut, der keuschen Ehelosigkeit und
des Gehorsams ab. Man kann sich denken, welche Freude
Frater Josef empfinden mußte — das hätte er kaum zu
hoffen gewagt!
Kampf und
Gnade
Doch vor der Zulassung zur Priesterweihe sind noch das Studium der
Theologie zu bewältigen und mehrere Examen zu bestehen.
Frater Josef geht den für ihn schweren Weg unter
Anleitung durch seine Onkel weiter und empfängt am 3.
Januar 1627, sechs Monate nach der feierlichen Profeß,
in der Privatkapelle des Bischofs von Nardä die niederen
Weihen, Vorstufen zum Priestertum, im Februar die
Subdiakonatsweihe.
Die Zulassung zur Diakonatsweihe war wieder von einem, diesmal
entscheidenden Examen abhängig. Josef hatte große Angst
davor — wie wird er diese strenge Prüfung bestehen, ohne
ausreichende Schulbildung, mit seinen mangelnden
Lateinkenntnissen? Und er sollte, wie damals üblich,
irgendeinen Abschnitt des Evangeliums, nach Wahl des
examinierenden Bischofs, lateinisch vorlesen und singen
und dann erklären. In seinen Examensnöten wendet er sich
an die Gottesmutter Maria, vor ihrem Gnadenbild in
Grottella, und kommt auf den Gedanken, eines der
kürzesten Sonntagsevangelien auswendig zu lernen —
mühselig genug: “... eine Frau aus der Menge rief Jesus
zu: Selig die Frau, deren Leib dich getragen und deren
Brust dich genährt hat. Er aber erwiderte: Selig sind
vielmehr die, die das Wort Gottes hören und befolgen” (Lk
11, 27 f). Und bei der Prüfung sucht der Bischof genau
diesen Text für ihn aus ...
Noch ein letztes Hindernis ist zu überwinden, das Examen vor der
Priesterweihe, das vor einer Kommission abgelegt werden
mußte. Neue Ängste überfallen Josef, und mit Recht; denn
“er wußte, daß er in Literatur sehr schwach war”,
schreibt einer seiner Freunde, und wir können
hinzufügen: auch sonst. Dazu kommt die Nachricht, daß
der zuständige Bischof von Lecce, ein Freund seines
Onkels, verreist sei und durch den “sehr gestrengen”
Bischof von Castro, Giambattista Deti, vertreten werden
sollte. Josef verbringt die Nacht in Poggiardo schlaflos
und nimmt seine Zuflucht wieder zum Gebet.
Das Examen am nächsten Tag nimmt einen unverhofften Verlauf. Die ersten
Diakone überraschen durch so gute Prüfungsergebnisse,
daß der Bischof darauf verzichtet, den Rest der
Prüflinge, unter ihnen Josef von Copertino, dem Examen
zu unterziehen, und er gewährt allen die Zulassung zur
Priesterweihe. Am Tag danach, dem 18. Mai 1628, empfängt
Josef mit allen anderen die Priesterweihe. Er verdankt
sie, so erfährt er es, als besondere Gnade Gottes und
der Fürsprache Mariens.
Heiligkeit des Lebens — darauf kommt es an, gerade auch beim Priester.
“Ohne sie sind alle übrigen Vorzüge wenig nütze. Mit ihr
kann man Wunderbares wirken, auch wenn die übrigen
Qualitäten in geringem Maß vorhanden sind”, schreibt
Papst Pius Xl. in seiner Enzyklika über das katholische
Priestertum (vom 20. Dezember 1935) — unter
ausdrücklichem Hinweis auf Josef von Copertino.
Aber noch steht unser Heiliger am Anfang seines geistlichen Weges und
priesterlichen Wirkens. Eingedenk des “geringes Maßes”
geistiger Qualitäten, versucht Pater Josef sich in
seinem Kloster dort nützlich zu machen, wo irgendeine
Arbeit anfällt: in Garten oder Stall, in der Kirche oder
auf der Baustelle ... Die unscheinbarsten
Dienstleistungen und Putzarbeiten waren ihm gerade
recht. Er pflegt wieder den Maulesel und sammelt mit
bloßen Händen, ungeschickt, wie er ist, den Kehricht in
der Kirche. Er ist der Bescheidenste, der Letzte in der
Gemeinschaft, nicht einmal zum Betteln kann man ihn nach
den ersten Erfahrungen hinausschicken; brachte er doch
bei seiner Unbeholfenheit und Vergeßlichkeit — oder soll
man sagen: Gedankenverlorenheit — nichts mit nach Hause.
Ihm selbst war seine Unwissenheit schmerzlich bewußt, die manche
Mitbrüder mit Trägheit erklärten. Also widmete er sich
abends, ja ganze Nächte, mit vermehrtem Eifer dem
Studium, mußte er doch in der Verwaltung des
Bußsakramentes seiner priesterlichen Verantwortung
gerecht werden. Und immer wieder geht er ins stille
Gebet und nimmt sich in strenge Zucht bis zur Züchtigung
des eigenen Leibes.
Geistliche Formung und “Abtötung”, wie es in der Sprache der alten
klösterlichen Askese so anschaulich heißt, muß sein
Bemühen um das nötige Wissen unterstützen — ja, es wird
ihm wichtiger als alles andere. Um so mehr bemerkt er
nicht nur die Mängel seiner Bildung, sondern zunehmend
auch jeden äußeren Mangel. Es ist wie ein
unüberwindbarer Nachholbedarf, der ihm, aus den
ärmlichsten Verhältnissen kommend und in äußersten
Entbehrungen erfahren, immer deutlicher macht, wie sehr
ihn Anhänglichkeit an die angenehmen Dinge des Lebens,
geradezu ein Hunger nach ihnen zu fesseln droht. Die
gutgemeinten Geschenke seiner begüterten Verwandten, wie
feine Wäsche, eine Uhr, schöne Bilder, ein neuer
Ordenshabit, werden ihm auf einmal zur Versuchung. Es
treibt ihn, sich jeden Wunsch selbst zu erfüllen, und er
vergißt darüber alles Vertrauen auf die gütige Vorsehung
Gottes und das Gelübde klösterlicher Armut. So wird er
zum Gespött seiner Mitbrüder. — Weiß er denn, was er
will?
Er stellt sich dem entscheidenden Kampf zwischen Mittelmäßigkeit und
rückhaltloser Hingabe, zwischen Bequemlichkeit und
Streben nach geistlicher Reifung. Walter Nigg bemerkt
dazu, “daß auch Josef nicht von selbst oder von Natur
aus, sondern nur durch den Engpaß einer unerbittlichen
Askese hindurch zum Heiligen aufstieg”10. Um
in dieser Bewährungsprobe zu bestehen — die Quellen
sprechen ausdrücklich von “Anfechtungen des Satans”
—,verzichtet er auf alle Annehmlichkeiten, züchtigt sich
bis aufs Blut und unterzieht sich der schmerzlichen
“Losschälung von allem Irdischen” (wieder ein solch
anschauliches Wort), so radikal, daß er schließlich sich
selbst ganz vernachlässigt. Sein Habit zerfällt in
Fetzen, sein Äußeres ist bald das eines verwahrlosten
Landstreichers — und er fühlt auch manchmal eine
brennende Scham darüber.
Dazu überfallen ihn Zweifel und Trostlosigkeit. Das ganze Elend seines
Lebens wird ihm bewußt, die Wunden, die ihm das Leben,
und die Verletzungen, die ihm Mitmenschen geschlagen
haben, schmerzen erneut in der Erinnerung mit solch
zermürbender Gewalt, daß er sich dessen nicht erwehren
kann. Was soll er auch tun? Zu nichts ist er nütze,
niemandem kann er sich verständlich machen, auch seinen
Mitbrüdern nicht, und Zeit seines Lebens wird er seiner
Gemeinschaft eine schwer erträgliche Last bleiben. Zwar
hatten ihn von Kindheit an auch immer Zeichen und die
innere Erfahrung der liebenden Nähe Gottes begleitet und
gestärkt — jetzt aber schlägt das ganze Elend seines
Lebens über ihm zusammen; er befindet sich vollends in
einem Zustand der äußersten Trostlosigkeit und
schrecklicher Dürre, ganz und gar von Gott verlassen.
“Ich
beklagte mich bei Gott”
Im Rückblick auf diese zwei schrecklichen Jahre wird er später einem
Freund schreiben:
“Ich beklagte mich oft bei Gott über Gott. Für ihn hatte ich alles
verlassen, und er, statt mich zu trösten, überlieferte
mich einer tödlichen Herzensangst. Als ich eines Tages
wieder einmal weinte und seufzte — wenn ich nur daran
denke, ist es mir, als sollte ich sterben —,klopfte ein
Mönch an meine Tür. Ich antwortete nicht, und er trat
ein. ‚Bruder Josef.... was fehlt dir? Ich bin gekommen,
um dir zu dienen. Sieh, hier ist ein Leibrock. Ich
glaube, du hast keinen.' Wirklich bestand mein Leibrock
fast nur aus Fetzen. Ich zog den Rock an, den der
Unbekannte gebracht hatte, und alle meine Verzweiflung
war augenblicklich verschwunden.”11
Josef hatte sich über Gott beklagt, ja, aber — bei Gott.
2.
Außergewöhnliche Ereignisse
Der erste
ekstatische Flug
Von diesem
geheimnisvollen Boten hatte niemand etwas gesehen, für
Josef war es der Durchbruch in seinem geistlichen Leben.
Innerer Friede, vollständige Befreiung von den alten
Anhänglichkeiten, tiefe Übereinstimmung mit seinem
radikal armen, bedürfnislosen Leben und seiner
Ordensgemeinschaft, klaglose Auslieferung des ganzen
Lebens in das Geheimnis Gott hinein machen ihn für das
Einströmen der Gnade Gottes. offen. Äußerlich bleibt
alles, wie es war. Aber allmählich wird das Besondere,
außergewöhnlich Gnadenhafte deutlich, das in und an ihm
am Werk ist. Seine Uninteressiertheit, ja eigenartige
Unfähigkeit und Verschlossenheit für die praktischen
Dinge des Alltags erweist sich immer mehr als
Voraussetzung übernatürlicher Vorkommnisse, seine
merkwürdige Zerstreutheit als die Außenseite einer
eigenartigen Versunkenheit ins Göttliche. Stundenlang
ist er wie entrückt, sein Zeitgefühl setzt immer wieder
aus, manchmal wird er seiner Sinne beraubt in seiner
Klosterzelle, in einsamen Winkeln oder in der kleinen
Kapelle nahe dem Kloster gefunden. Bei der gemeinsamen
geistlichen Lesung stößt er auf einmal einen
markerschütternden Schrei aus. Zögernd und noch
widerstrebend beginnen einige Mitbrüder zu verstehen.
Am 4. Oktober 1630, dem Fest des Ordensvaters Franziskus von Assisi, wird
das erste Mal vor aller Augen sichtbar, auf welchen
außergewöhnlichen Weg Josef gerufen ist. In Copertino
findet an diesem Festtag eine feierliche Prozession
statt, bei der, wie in jedem Jahr, auch unser Pater
Josef seinen Dienst zu versehen hatte. Plötzlich erhebt
er sich vom Erdboden, völlig “außer sich”, und schwebt
über den Köpfen der erschrockenen, gaffenden und
schreienden Menge dahin. (In seiner Kindheit hatten sie
ihm den Spottnamen “das offene Maul” gegeben, jetzt
bleibt ihnen selbst vor fassungslosem Staunen der Mund
offen stehen, bemerkt Nigg dazu.12 ) Langsam
gleitet er wieder zu Boden, läuft sofort in großer Scham
davon und versteckt sich. Die Erkenntnis geht ihm auf,
daß er auch das Letzte um Christi willen loslassen muß,
ohne Rücksicht auf sich selbst und die Wirkungen auf
seine Umwelt.
Mit noch größerer Konsequenz unterzieht er sich der Zucht des
klösterlichen Alltags und seiner niedrigen, unbeholfenen
Dienstleistungen, verzichtet darüber hinaus auf Fleisch,
Brot und Wein, begnügt sich mit Kräutern und etwas Obst,
verstärkt seine Bußübungen bis zu Selbstgeißelung und
dornigem Bußgürtel. Ausdrücklich wird erwähnt, daß er
sich in der Eucharistiefeier täglich neue Kraft und
Ermutigung holte.
Geheimnisvolle Entrückungen
Von jenem 4.
Oktober 1630 an vollzieht sich eine unaufhaltsame
Veränderung, wie “von innen her”. Manchmal genügt ein
geistliches Gespräch oder auch nur das Aussprechen der
Namen “Jesus” oder “Maria”, daß Josef in Verzückung
gerät oder wie tot zu Boden fällt. Erst wenn ihn die
Ekstase freigibt, kann er sich wieder erheben — oder
wenn der Vorgesetzte ihn im Gehorsam ruft.
“Das Schweben während der heiligen Messe wurde ein tägliches Ereignis.
Auch untertags konnte es geschehen, daß er, wenn sein
Geist erglühte, auf einen Altar erhoben wurde oder auf
einen Baum oder zu einem Heiligenbild hin.”13
Man kann sich die Wirkung in der Öffentlichkeit vorstellen. Ein immer
größerer Zustrom Neugieriger setzte ein, “das Heiligtum
der Grottella gleicht einem lärmerfüllten Meereshafen.
Bei jeder Ekstase, bei jeder Erhebung seines Leibes,
hallte die Kirche wider von der Erregung der Gläubigen.
Die einen weinten, die anderen schrien, wieder andere
bekannten ihre Sünden. Manche drängten sich an den
Altar, faßten den Heiligen an, betrachteten ihn von
allen Seiten, bewegten seine Arme, prüften mit Feuer und
spitzen Nadeln seine Unempfindlichkeit, bis der
Vorgesetzte des Klosters kam und die Ruhe wieder
herstellte. Mit einem tiefen Seufzer kehrte der
Zelebrant dann zu sich zurück und setzte die heilige
Messe fort, ganz beschämt und bestürzt, in aufrichtigem
Bedauern über das, was vorgefallen war. Er hätte lieber
ganz im Verborgenen zelebriert oder überhaupt nicht,
fühlte sich aber durch den Gehorsam gebunden, und jene
übernatürliche Macht war stärker als das Gefühl seiner
Demut und sein Verlangen nach der Einsamkeit. “14
Er kennt nicht einmal die Ausdrücke “Ekstase” oder “Elevation”, hat keine
Ahnung von den Schriften der großen Mystiker der Kirche.
Über das Kommen und Gehen seiner Entrückungen hat er
nicht die geringste Macht, kann sie weder herbeiführen
noch verhindern. Zuweilen hört man vor Eintreten der
Ekstase einen Schrei oder ein lautes Seufzen, als
entweiche der Atem seinem Mund. Manchmal beginnt er mit
einer tanzenden Gebärde und einem vogelartigen Schrei,
er erhebt sich, schwebt durch den Raum, zum Beispiel in
der Mitte der Kirche bis zur Kanzel oder zum Hochaltar,
verharrt dort eine Viertelstunde lang schwebend mit
ausgestreckten Armen oder in kniender Haltung und
gleitet wieder sanft zu Boden.
Er macht
kein Wesens daraus, es ist ihm wie eine große Last —
oder wie ein Schlaf. Niemandem erzählt er, was er
schaut. Alles spielt sich in der geheimnisvollen.
Beziehung zwischen Gott und ihm ab. Wahrscheinlich
erfährt er in diesen Entrückungen ganzheitlich die
geheimnisvolle “unio mystica”, eine Vereinigung mit
Gott, wie sie dem Menschen in dieser Welt sonst nicht
zugänglich ist.
Nicht immer liegt er während der Ekstasen starr da: “Es kam auch vor, daß
er seltsam zu singen oder sogar zu tanzen begann. Eine
Beschwingtheit ergriff den Ungeschickten, eine
übermächtige Freude erfüllte ihn, und er fing an zu
hüpfen oder machte mit den Knien tanzende Gebärden. Man
hat seine merkwürdigen Bewegungen mehrfach beobachtet”15
— ein heiliger “Gebetstanz”.
“Was berichtet werden kann, sind nur äußere Wahrnehmungen, der innere
Vorgang bleibt aller Erfahrung entzogen und läßt alle
Vorstellungen weit hinter sich, jede Ausschmückung würde
ihm abträglich sein”16, psychologische oder
parapsychologische Erklärungsversuche scheitern.
Josef von Copertino widerfahren solche Vorkommnisse sehr oft, man kann
sagen, daß “sein ganzes Leben eine Kette von Ekstasen”17
und solchem Schweben wird. Diese spektakulären
Ereignisse sind besonders gut beglaubigt, spielen sie
sich doch in aller Öffentlichkeit ab. Dabei handelt es
sich nicht nur um ein “Ruhen im Geist” oder ein Schweben
über dem Boden an einer Stelle (“Levitation” oder
“Elevation”), wie es in der Geschichte der Mystik18
mehrfach bezeugt ist, sondern um ein zielgerichtetes
Fliegen, einen Körperflug. Das löst bei Augenzeugen
Erregung, Angstgefühle, Faszination aus und zwingt zur
Auseinandersetzung mit dem Erlebten, damals, in der Zeit
der beginnenden Aufklärung, und heute, in Wohlstand und
technischem Perfektionismus. Es ist wie eine drängende
Erinnerung an die übernatürliche Welt und eine
nachhaltige Warnung, Sinn und Ziel unseres Lebens, die
unsere sichtbare Welt überschreiten, nicht zu vergessen.
Walter Nigg macht in diesem Zusammenhang auch auf die Klage eines
Bedrängten und seine Sehnsucht nach Gott im Alten
Testament aufmerksam: “Wenn ich eine Taube wäre, flöge
ich zu dir” (Ps 55, 7) und auf die Frage des modernen
Menschen nach “Schwerkraft und Gnade” (bei Simone Weil19)
sowie das tiefe Verlangen des religiösen Menschen, sich
über die Niederungen und alle Last dieses Daseins zu
erheben und der Erdenschwere aller Ichverhaftetheit zu
entkommen — wie es in einem Negro‑Spiritual heißt: “Alle
Kinder Gottes bekommen Flügel.” Und wir könnten die
hintergründige Frage hinzufügen: “Warum können Engel
fliegen?” und die Antwort: “Sie nehmen sich leicht!”
Fragen
Man stelle sich vor, wie sehr diese außergewöhnlichen Ereignisse in die
Gemeinschaft des Minoritenkonvents eingreifen mußten und
sie störten, bis zur Gottesdienstordnung hin. Pater
Josef konnte nicht mehr zum Chorgebet oder zur
gemeinsamen Mahlzeit der Brüder zugelassen werden, auch
nicht zu öffentlichen Gottesdiensten und Prozessionen.
Nicht einmal die öffentliche Feier der heiligen Messe
konnte man ihm gestatten, das hätte die Zeiteinteilung
völlig durcheinandergebracht. Kein Zweifel, er bringt
seine Mitbrüder ungewollt so manches Mal schier zur
Verzweiflung.
Fragen
werden laut, Zweifel: Wirkt hier Gott, um die Menschen
aufzurütteln oder doch nachdenklich zu machen? Oder ist
es dämonisches Blendwerk? Ist dieser Mitbruder gar vom
Teufel besessen? Es kommt zu Auseinandersetzungen um
ihn, und es scheint auch der Widersacher tatsächlich
nicht zu ruhen, um ihn anzugreifen, die Gnadenwirkungen
zu durchkreuzen und Verwirrung zu stiften. Innere
Anfechtungen und äußere Widerwärtigkeiten, Lärm und
Quälereien aller Art treten auf — man kann sich das
durch naturhafte Ursachen nicht erklären. Einige Male
findet man Pater Josef, halb erschlagen, die Kleider
zerrissen, unter einem Bretterhaufen. Man holt zu seinem
Schutz einen Mitbruder, Ludovico, nach Copertino, der
auch nachts bei ihm bleiben muß.
Josefs geistlicher Kampf geht weiter. In allem fragt er nach Gottes
Willen, in diesen geheimnisvollen Vorgängen weiß er sich
geborgen in Gottes Schutz. Er erkennt, daß alles dem
Heil dienen soll, und bezeugt es vor den Pilgern.
Innerlich frei und ohne Ängste, kann er nun zu den
Leuten sprechen und berät sie mit schlichten Worten:
“Kinder, vertraut auf Gott; denn Gott allein ist es, der euch helfen
kann. Kinder, liebet Gott und seid gut und brav! Gott
wird für euch sorgen.” – “... nehmt eure Zuflucht zu
meiner Mutter, die die Himmelsmutter ist, und seid nicht
mehr ängstlich; denn meine liebe Mutter hilft euch in
allen Bedrängnissen.”20
1631 erhält Pater Josef die Erlaubnis, endlich auch nach Assisi an das
Grab des Ordensvaters und nach Loreto zu pilgern, aber
er muß wegen einer ausbrechenden Pest wieder umkehren.
Seine Sehnsucht wird sich später unter ganz anderen
Umständen erfüllen.
Vertrauter Umgang mit Tieren
Bei allem Andrang geht der Minorit seinen geistlichen Weg unbeirrt
weiter. Er eifert seinem Ordensvater nach, besonders in
der Betrachtung der Liebe Gottes, in ihrer
Selbstentäußerung in der Krippe und am Kreuz, in der
Armut und im demütigen Dienst an allen Geschöpfen. Viele
Einzelheiten erinnern an Berichte aus dem Leben des
heiligen Franziskus und scheinen liebevoll den
poetischen “Fioretti” (einer Blütenlese franziskanischer
Legenden) nachgezeichnet zu sein: Wie er als Hirt mit
Kindern aus Copertino dem Kinde von Betlehem mit
Pfeifen, Flöten und Pauken aufspielt, vor ihm singt und
voll Freude tanzt. Wie er vertrauten Umgang mit Tieren
pflegt. Wie sich ein Häslein bei ihm vor den Jägern
rettet. Wie er besonders den Lämmern zugetan ist. Einmal
— Ort und Name des Besitzers werden ausdrücklich genannt
— erweckt er eine Schafherde nach einem Blitzschlag bei
schwerem Gewitter wieder zum Leben.
Doch es ist nicht nur Poesie — ein ganz neues, das franziskanische
Naturverständnis wird deutlich. Die Freundschaft mit
Tieren und mit allen Geschöpfen erwächst aus einer
tiefen Übereinstimmung mit dem Schöpfer:
“... es steht eine religiöse Wahrheit dahinter; denn im geheimnisvollen
Berührtwerden der Tiere kündet sich das Seufzen der
stummen Kreatur an, die auf das Offenbarwerden der Söhne
Gottes wartet.”
Dem in getreuem Gehorsam zu Gott stehenden Menschen “gehorchen auch
wieder die Tiere” — es ist wie “eine Vorwegnahme des
messianischen Reiches, in welchem der Gottesfrieden auch
das Reich der Kreatur umfaßt”.21
Andere
Gaben
Immer mehr zeigt sich auch eine besondere “innere Nähe” zu den Menschen.
Er durchschaut sie; es ist wie ein “sechster Sinn”, mit
dem er geheimste Gedanken und verborgene Sünden erkennt.
Manchen sagt er es ins Gesicht, wenn sie nicht gut
gebeichtet haben.
Offenbar hat
er auch Kenntnis von Ereignissen und Personen in der
Ferne oder in naher Zukunft. Bei großer Dürre auf der
Salentinischen Halbinsel erbittet er den rettenden
Regen. Er hilft in den verschiedensten Nöten, auch
seinen Brüdern. Auf einem Bettelgang heilt er in San
Pietro in Lama ein schwerkrankes Kind; als die Heilung
sich herumspricht, verläßt er fluchtartig das Dorf. Den
Priester Pomponio Imbeni aus Copertino befreit er unter
Gebet, Handauflegung und Anrufung der Gottesmutter von
eitrigen Geschwüren, Lucrezia Bove von schwerer
Krankheit, das Kind Donato Ruperto von einer
lebensgefährlichen Kopfverletzung. Auch von
Fernheilungen wird — mit genauen Angaben von Name, Ort
und Zeit — berichtet.
“Die Reihe solcher Ereignisse könnte noch fortgesetzt werden, würde aber
über den Rahmen dieses bescheidenen Büchleins
hinausgehen.”22 Ein für den Copertiner
bezeichnendes Beispiel sei aber hier noch erzählt: Einen
von Skrupeln geplagten Menschen warnt er vor der
argwöhnischen Melancholie, muntert ihn auf und gibt ihm
neuen Mut: “Siehe, ich nehme dir alle Skrupel vom Leibe
hinweg, wirke Gutes, habe eine gute Meinung und sei
unverzagt.” Dabei streichelte er ihm liebevoll sein
Haupt.23
Jedenfalls fühlt sich Pater Josef glücklich, Menschen mit seinen
außergewöhnlichen Gaben helfen zu können. Aber er führt
sein Leben strenger klösterlicher Zucht und
Abgeschiedenheit weiter. Doch der Herr ruft ihn nun in
seine Kreuznachfolge.
3. Heuchler
oder Heiliger?
Aufsehen
in der Öffentlichkeit
Die Auseinandersetzungen um Josef von Copertino werden härter. Nicht nur
Gutwillige und Wohlmeinende kommen zu ihm, nicht nur
wirklich Bedrängte und Hilfesuchende. Erste
Schwierigkeiten werden sichtbar: Da vergißt jemand, sein
vor einer Heilungsbitte gegebenes Versprechen
einzulösen, dort hält sich ein Kranker nicht an den Rat
Josefs, zum Arzt zu gehen, andere werden trotz
ärztlicher Behandlung und trotz Josefs Gebet nicht
geheilt.
Einen nachlässigen Priester weist der sonst so liebevolle und demütige
Minorit in aller Öffentlichkeit scharf zurecht. Viele
beginnen ihn wegen ihres sündhaften Lebenswandels zu
fürchten und wagen sich nicht in seine Nähe. Wer ihm
begegnete, mußte ja damit rechnen, daß er ihn bis auf
den Grund seines Herzens durchschaute und vielleicht
sogar “aufdeckte”. Pater Josef kündet ohne Ansehen der
Person Strafen an, die bei Unbußfertigkeit auch
eintreten, und spart nicht mit Vorhaltungen, ehe er für
jemanden betet.
Don Orazio Saluzzo, ein Baron von Lèquile, provoziert ihn und sticht auf
ihn ein, als er ihn zur Rede stellte. Josef sagt ihm den
baldigen Tod voraus, um ihn zur Einsicht zu bringen, und
mahnt ihn, die Sakramente zu empfangen. Der Baron stirbt
versöhnt am 11. September 1634.
Josefs Vorgesetzte greifen ein, mahnen ihren Mitbruder zu seelsorglicher
Klugheit und Mäßigung und verbieten ihm, Mitmenschen so
deutlich die Wahrheit zu sagen. Daraufhin kleidet Josef
seine Mahnungen in bildhafte Sprüche ein, die künftig
für ihn bezeichnend sein werden:
“Meine Kinder, haltet eure Armbrust bereit, sonst kriegt ihr den Vogel
nicht. Gott ist wie der Vogel und ihr müßt euren Blick
auf ihn gerichtet und die Armbrust in Anschlag halten,
sonst bekommt ihr ihn nicht!'
Und wenn er einen Verweis geben mußte, tat er es nun schonender: “Ihr
habt eure Armbrust nicht auf das Ziel gerichtet.” Oder:
“Geh und bring deine Armbrust in Ordnung. Sie hat weder
Pfeil noch Sehne.” — “Die Sehne ist zu schlaff.”24
Unruhe in
der Bevölkerung kommt auf. Wenn der Minorit mit
Hochgestellten zu tun bekommt, fühlen sich Arme
zurückgesetzt und umgekehrt. Mancher Rat von ihm greift
in Erwartungen und vermeintliche Rechte anderer ein,
wenn zum Beispiel Mädchen gegen ihren Willen zur Heirat
bestimmt wurden und Pater Josef um Hilfe baten. Oft muß
er sich durch Flucht vor Aggressionen retten. Seine
Unbescholtenheit und Lauterkeit wird immer offener
angezweifelt. Seine Oberen geraten in nicht geringe
Schwierigkeiten: Schon eine Einschränkung seines Wirkens
außerhalb des Klosters würde auf erregten Widerspruch
stoßen, die Erwartungen der
Bevölkerung, auch Einflußreicher, sind bereits zu groß. Behutsam versucht
man, Josefs Lebensweise zu ändern, er muß seine
Klosterzelle wechseln, seine Askese mildern, darf nicht
mehr auf blankem Boden schlafen wie bisher. Manche
Mitbrüder schämen sich des Sonderlings und wollen ihn
zum “normalen Maß” zurückführen. Einige erwarten einen
finanziellen Ertrag aus seiner Tätigkeit und können
nicht begreifen, daß er Spenden, die ihm Reiche aus
Dankbarkeit angeboten hatten, nicht annimmt. Sogar
Kerzen, die ihm Kaufleute schenken wollten, habe er
abgelehnt. Manchmal kommt er mit zerfetzter Kleidung von
seinen Ausgängen zurück — man hatte sich Stücke von
seinem Ordensgewand oder vom Gürtel abgerissen. Sein
Widerwille gegen Hab und Gut, vor allem in Verbindung
mit seinen außergewöhnlichen Fähigkeiten, findet wenig
Verständnis und sogar Spott. Einmal hatte man ihm ohne
sein Wissen ein Geldstück in der Kapuze versteckt, und
er wurde davon wie unter einer schweren Last
niedergedrückt und vor Beklemmung fast ohnmächtig.
Zu allem holt ihn auch noch die Vergangenheit ein in Form der Schulden
seiner Verwandten. Der Ordensmann wird in häßliche
Händel hineingezogen. Seine Mutter ist in Not geraten
und sucht mehrmals bei ihrem Sohn Hilfe. “Sie, die
strenge Frau .... hatte ihn, wenn sie ihm auf der Straße
begegnete, nie eines Blickes gewürdigt”, sagte sie doch,
sie sei nur seine Pflegemutter gewesen, weil er der
Madonna gehöre. Jetzt muß sie ihn um etwas Brot bitten
und mit leeren Händen weinend wieder nach Hause gehen.
Ihr Sohn erinnert sie: “Ich habe nichts; denn ich bin
selber arm”, und als sie ihm vorhält, sie sei doch seine
Mutter: “Ich habe keine Mutter. Meine Mutter ist die
Himmelsmutter, und diese ist auch deine Mutter. Geh zu
ihr, sie wird dir helfen.” Zu Hause findet sie dann
genug Brot im Backtrog.25
Der für Pater Josef zuständige Ordensprovinzial, Pater Antonio da Santo
Mauro Forte, läßt sich ‑trotz widersprüchlicher
Meinungen unter den Brüdern — durch die Bescheidenheit
und Lauterkeit des Copertiners überzeugen und schickt
ihn sogar durch die ihm unterstehenden Klöster in
Apulien, es sind ungefähr fünfzig. Er hofft, die Brüder
durch die außergewöhnlichen mystischen Erfahrungen und
die überzeugende demütigende Lebenshaltung Josefs zu
größerer Frömmigkeit anzuspornen. Josef fügt sich
widerstrebend im Gehorsam und zieht fast ein Jahr lang
von Konvent zu Konvent. Seine Mitbrüder erfahren die
übernatürliche Atmosphäre, die den Unscheinbaren umgibt,
erleben seine Ekstasen und mystischen Flüge greifbar
mit, die Leute drängen sich, um ihn bei der Feier der
heiligen Messe zu sehen. In der Kathedrale von
Giovinazzo/Bari wiederholt es sich, daß es den Beter vor
ausgesetztem Allerheiligsten wie so oft in die Höhe und
nach vorn reißt. Die Leute geraten in helle Begeisterung
und rufen: “Ein Wunder!”
Anzeige
beim kirchlichen Gericht
Doch im Domkapitel von Matera und beim Adel kommt der Verdacht auf,
dieser Minorit wolle sich mit Hilfe seiner Brüder und
Anhänger nur zur Schau stellen und “den Messias
spielen”. “Echte Heilige gehen nicht unter die Menge, um
sich bewundern zu lassen! — (Ist dieser Satz nicht
richtig?) Sie wissen nichts davon, wie sehr Pater Josef
sich gegen den Auftrag gewehrt hatte und unter ihm
leidet. Und: Verstehen sie wirklich etwas von echter
Heiligkeit? Wenn sie nicht einmal nach den wirklichen
Tatsachen und Motiven fragen!
Der Apostolische Administrator der Diözese, Monsignore Palamolla — der
Bischofssitz Matera war seit zehn Jahren vakant —,läßt
am 26. Mai 1636 eine amtliche Anzeige beim Heiligen
Offizium erstatten, die von der ersten Instanz in Neapel
ordnungsgemäß nach Rom weitergeleitet wird. Dort prüft
die Zentralkommission des kirchlichen Gerichtshofs diese
heikle Angelegenheit. Papst Urban VIII. entscheidet
zunächst, einen neuen Bischof in diese Diözese zu
senden, und gibt ihm den Auftrag, den Prozeß gegen den
auffälligen Minoriten an Ort und Stelle wieder
aufzunehmen. Das geschieht im September 1637.
Pater Josef hatte erst seine “apostolische Reise” unbeirrt im Gehorsam
fortgesetzt, wird aber zunehmend von beängstigenden
Vorahnungen bedrängt. Er erlebt ja, wie er ständig
argwöhnisch beobachtet wird, und muß befürchten, daß
Material gegen ihn gesammelt wird. Die Leute, der Lärm
um ihn werden ihm lästig. Er bittet seine Oberen, ihn
nach Grottella zurückzuschicken, ihm die öffentliche
Eucharistiefeier zu verbieten und ihm die
Zurschaustellung seiner Entrückungen zu ersparen. Doch
sie beschwichtigen ihn — sein Leiden sei von Gott
gewollt.
Josef nimmt Zuflucht zur Madonna und erhält am 2. April 1637 die
Zusicherung, daß er bei der öffentlichen Feier der
heiligen Messe nicht mehr entrückt würde: “Aber bereite
dich auf ein noch schwereres Kreuz vor!” Erst Jahre
später, in seiner Einsamkeit, werden sich die
ekstatischen Zustände wieder einstellen.
Gerade in diesen Wochen wird er immer wieder auf das Geheimnis des
Kreuzes verwiesen. Auf dem Weg von Copertino nach
Grottella hatte er einen Kreuzweg errichtet, der beim
Kloster in eine Art Kalvarienberg mündete. Immer wieder
fühlt er sich zu diesen Kreuzen hingezogen, des öfteren
wird er von überschwenglichen Gefühlen hingerissen. “Ich
sah ein Kind auf dem Kreuz und umarmte es, und mein Herz
entbrannte.” Eine innere Stimme bedeutet ihm jedoch:
“Laß diese toten Kreuze und nimm das lebendige Kreuz auf
dich!” Was für ein “lebendiges Kreuz”? Er weiß keine
Antwort. Wieder sieht er Jesus — als Kind, ein Kreuz auf
seinen Schultern.
An einem schwülen Sommertag trifft die Vorladung aus Rom ein: er habe
sich dem Inquisitions‑Gericht in Neapel zu stellen. Der
Obere verheimlicht das Schreiben vor ihm und versucht,
staatliche Instanzen einzuschalten. Doch Pater Josef
tritt ihm unerwartet entgegen und verlangt den Brief,
nimmt ihn in ergebenem Gehorsam an sich und bricht am
21. Oktober mit seinem Beichtvater Pater Diego Galasso
und Fra Ludovico nach Neapel auf.
Die Nachricht davon verbreitet sich wie ein Lauffeuer in der Gegend, die
Meinungen sind geteilt, viele bedauern den Ordensmann
und beklagen seinen Weggang, andere, gerade ihm
Nahestehende, halten sich vorsichtig zurück. Wer weiß,
ob Pater Josef nicht eine strenge Bestrafung durch die
Inquisition zu erwarten hat. Freunde in der Not ...
Auch in
Neapel, im Kloster San Lorenzo, wird der fremde Pater
nicht gerade freundlich empfangen — kein Wunder, die
Umstände seines Besuchs sind ja bekannt. Man sperrt ihn
in eine Zelle ein. Josef verbringt eine unruhige Nacht
in quälenden Gedanken und trostlosem Gebet:
“Werden sie mich verurteilen? Vielleicht halten sie mich sogar für einen
Besessenen — oder kann es sein, daß sie mich als einen
Zauberer ansehen, dann würde ich gefoltert und getötet.”26
Er fleht zur heiligen Katharina von Siena um Fürsprache.
Wir wissen, daß diese Angst vor der Inquisition — abgesehen von allem
anderen — nicht unbegründet war ...
Vor der
Inquisition
Am 25. November steht er vor dem Inquisitions-Gericht. Auf dem Weg
dorthin wird er von einem jugendlichen Mitbruder
getröstet, den aber sein vertrauter Begleiter Fra
Ludovico nicht wahrnahm. War es der heilige Antonius von
Padua?
Viele Zeugen hatten sich bemüht, die Heiligkeit des Ordenspriesters
anzufechten. Nun steht er selbst vor seinem Richter,
Monsignore Antonio Ricciullo, und den Beiräten, wird
unter Eid genommen und muß seine Lebensgeschichte
erzählen. Man prüft seine Lateinkenntnisse — er muß aus
dem Brevier vorlesen — und seine geistige
Zurechnungsfähigkeit, gilt er doch als sehr beschränkt.
Zwei Tage später werden die Ereignisse von Giovinazzo verhandelt. Um sich
selbst durch Augenschein zu überzeugen, befehlen ihm
seine Richter, die heilige Messe in ihrer Anwesenheit zu
feiern. Doch es ereignet sich nichts Auffälliges dabei.
Nur bei der Danksagung danach wird Josef, seiner Sinne
völlig entrückt, über Blumen und Leuchter zum Altar
emporgetragen, gleitet wieder zu Boden und singt und
tanzt auf den Knien, ohne zu wissen, wie ihm geschieht.
Anwesende Nonnen geraten außer sich und schneiden
nachher Stücke aus seinem Ordenshabit als Andenken an
dieses Erlebnis.
Das dritte Verhör ist auf den 1. Dezember angesetzt. Josef sagt
wahrheitsgemäß aus, daß er seinen Oberen in Grottella
flehentlich gebeten habe, ihn nicht in die
Öffentlichkeit zu schicken, und nur im Gehorsam die
Reise durch die Konvente auf sich genommen habe. Über
seine Ekstasen in Giovinazzo befragt, antwortet er:
“Ich kann mich nicht erinnern, was mir dabei zugestoßen ist; denn ich
wurde von Pater Guardian geführt, und es war ein großes
Gedränge, und ich ging ganz ungern in jene Volksmenge
und wußte dabei nicht, wie mir geschah, und der Pater
Guardian sagte Worte zu mir, die mich beschämten.”
Zu den Entrückungen allgemein bekennt er:
“Diese Ereignisse bereiten mir immer ein wahres Unbehagen, sei es, daß
sie über mich kamen, während ich die heilige Messe
zelebrierte, sei es, daß sie mich beim Gebet oder bei
anderen geistlichen Übungen erfaßten .... und ich habe
immer Angst, ich könnte durch sie getäuscht werden und
in Versuchung geraten ... Dieses Fortgerissenwerden
geschieht häufig beim betrachtenden Gebet, und wenn ich
Gott Dank sage. Ich habe daher besonders acht auf mich
und übe das Gebet abgesondert, allein für mich, oder in
der Zelle oder sonst an einem stillen Ort des
Klosters..., damit man mich nicht sehe, wenn jene
Bewegungen über mich kommen.”27
Am 2. Dezember wird der Guardian Pater Josefs verhört. Die Prozeßakten
werden geschlossen und nach Rom gesandt, zur endgültigen
Prüfung und Entscheidung in Anwesenheit des Papstes.
Monate vergehen darüber.
Im Kloster ändert sich die Stimmung, die Mitbrüder versuchen, ihr
anfängliches Verhalten wieder gutzumachen, und behandeln
Pater Josef mit Zuvorkommenheit und Respekt. Prälaten
und Adlige — auch erlauchte Namen werden ausdrücklich
genannt — wollen den kennenlernen, von dem man sich in
ganz Neapel so außergewöhnliche Dinge erzählt, und
bitten, an seiner Messe teilnehmen zu dürfen. Die
Inquisition und die Gefahr einer Wiederaufnahme der
gestrengen Überprüfung werden darüber vergessen. Pater
Josef erträgt es mit Gelassenheit und wartet geduldig
auf den Ausgang des Prozesses.
Am 18. Februar 1639 wird er zum Ordensgeneral der Minoriten in Rom
zitiert. Zugleich erhalten seine Oberen für ihr
Verhalten einen strengen Verweis. Man versucht ihn unter
Vorwänden in Neapel festzuhalten. Er verläßt mit seinen
Begleitern heimlich die Stadt. Aber sie kommen nicht
weit. Man zwingt sie zurückzukehren. In Neapel wird
gerade in ausgelassener Tollheit Karneval gefeiert —
Pater Josef erleidet in prophetischer Schau das Ausmaß
der sittlichen Zügellosigkeit und sieht voraus, daß die
Stadt dafür einmal “bitter büßen” werde.
Er schreibt an den Ordensgeneral und ergreift bei nächster Gelegenheit
wieder die Flucht. Mitte April erreichen sie Rom. Man
kann sich denken, daß Pater Josef nicht gerade gnädig
empfangen wird — ein Mitbruder, der mit der Inquisition
zu tun hat, bereitet den Oberen nichts als Kummer und
Sorgen. Doch der Kardinalprotektor des Ordens tröstet
und ermutigt ihn.
Das Heilige Offizium entscheidet, daß der Ordenspriester vom Volk
getrennt und unter der geistlichen Leitung eines
erfahrenen Beichtvaters weiter geprüft werden soll. So
bleibt, was die Echtheit, seiner mystischen Erfahrungen
angeht, zunächst alles in der Schwebe. Der Orden
versetzt ihn nach Assisi, in den Großkonvent am Grabe
des Ordensvaters. So geht auf diesem Weg sein alter
Wunsch, in unmittelbarer Nähe des heiligen Franziskus zu
leben, in Erfüllung. Ostern reist er in Rom ab, am Fest
seiner Schutzpatronin Katharina von Siena trifft er in
Assisi ein.
Weitere
Prüfungen
Dort wird er natürlich mit gemischten Gefühlen erwartet. Es beginnen
bittere Jahre für ihn. Ein neuer Hausoberer — Pater
Antonio von San Mauro Forte hatte ihn früher sehr
geschätzt — nimmt die Entscheidung der Inquisition, die
Heiligkeit Josefs zu “prüfen”, wörtlich und bedrängt und
quält ihn auf alle mögliche Weise. Als es schließlich
auch Mitbrüdern zu bunt wird und sie darüber nach Rom
berichten, wird Pater Josef der Verantwortung der
römischen Ordensleitung direkt unterstellt. Das konnte
natürlich dem unmittelbaren Vorgesetzten nicht recht
sein. Ausgerechnet in dieser Zeit wird sein vertrauter
Seelenführer nach Todi versetzt; dessen Nachfolger macht
ihm “durch sein eifersüchtiges und zwiespältiges
Benehmen das Leben sauer”28.
Doch Pater
Josef weiß sich in Assisi unter dem Schutz der
Gottesmutter geborgen. In den Zügen der Madonna auf dem
berühmten Bild von Cimabue in der Unterkirche, über dein
Grab des heiligen Franziskus, erkennt er die
Gesichtszüge Mariens vom Gnadenbild der Grottella. Bei
seinem ersten Besuch hatte es ihn sofort emporgehoben
und achtzehn Schritte weit über den Boden zu diesem Bild
hingerissen, daß er es berühren konnte. Trotzdem
überfallen ihn wieder tiefe Einsamkeit, Trostlosigkeit
und Krankheit. Magenkrämpfe und Blutbrechen setzen ihm
zu. Er hat keine Freude mehr an Gebet und geistlicher
Betrachtung. Ekstasen und Entrückungen kommen kaum noch
vor. So ist ihm auch noch diese Freude und Stärkung im
Geist genommen. Er, wahrhaftig in Trostlosigkeiten
erfahren, bekennt: “Ich hätte früher nicht gewußt, was
Traurigkeit ist.” Heimweh nach der Grottella packt ihn,
er gibt der Versuchung nach, sich an einflußreiche
Freunde zu wenden, um eine Rückversetzung nach Copertino
zu erreichen. Doch die werden von unerklärlichem Unglück
getroffen. Seine Oberen geben ihm ausweichende
Antworten, auf ihn wirkt ihr Verhalten wie
Interesselosigkeit.
Nach fünf bitteren Jahren wird er erneut zum Generalminister des Ordens
zitiert. In der Hoffnung, endlich aus der Klosterhaft
befreit zu werden, begibt er sich, wieder in Begleitung
von Fra Ludovico, im Februar 1644 nach Rom. Doch beim
Anblick der Ewigen Stadt wird ihm deutlich, daß seine
Hoffnung enttäuscht werden sollte und er nach Assisi
zurückkehren müßte.
Anlaß zur vorübergehenden Berufung nach Rom war etwas ganz anderes: Der
Fürst Johann, Bruder des Königs von Polen — er kannte
Pater Josef von einem Aufenthalt in Assisi her —,war
inzwischen in den Jesuitenorden eingetreten. Er hatte
darum gebeten, ihn sprechen zu können, um sich vor einer
wichtigen Lebensentscheidung von ihm beraten zu lassen.
Da nun Pater Josef schon in Rom war und es sich schnell
herumsprach, schlossen sich andere Gespräche an, auch
mit Kardinälen. Der Minorit nutzte auch diese
Gelegenheit, die große Wallfahrt zu allen römischen
Basiliken zu unternehmen. Die Karwoche dieses Jahres
verbrachte er im Kloster zu den Zwölf Aposteln in trüben
Vorahnungen. Vor seiner Rückkehr nach Assisi machte man
ihm den Vorschlag, nach Monterotondo zu gehen, wenn er
sich wegen seiner Krankheiten in Assisi nicht
wohlfühlte, aber er kehrt an das Grab des heiligen
Franziskus wieder zurück, dort wolle er lieber als an
einem anderen Ort sein — seine Heimat, das Klösterchen
Grottella, ausgenommen. Er hatte erst “den Willen Gottes
in dieser Sache nicht erkannt”, jetzt sieht er ein, “daß
Gott nur einen Strich durch die Rechnung gemacht hat”.29
4.
Mystische Erfahrungen
Außergewöhnliche Gaben
In Assisi erwartet man ihn diesmal mit großer Freude. Statthalter und
Magistrat hatten sich beim Generalminister für ihn
verwandt. Am 10. April 1644 wird er zum Ehrenbürger der
Stadt ernannt. Tage danach erklären die Brüder des Sacro
Convento ihn, den man bisher nur als Häftling hatte
aufnehmen müssen, zum Mitglied ihrer Hausgemeinschaft.
Nun wird er immer mehr zum geschätzten Berater und
Tröster in allen Lebenslagen, vor allem bei Kümmernissen
und Leiden — er, der selbst der Geistlichen Leitung
durch einen erfahrenen Beichtvater unterstellt worden
war.
Ein Zeuge wird später aussagen: “Es gab niemanden in der Stadt, der in
seiner Not nicht bei ihm Zuflucht suchte und um seine
Fürsprache bat.” Auch der Bischof Baglinioni Malatesta
holte sich öfter bei ihm Rat. Auf seine Fürbitte hin
bleibt Assisi von den Schäden eines Krieges bewahrt.
Sein Ruf verbreitet sich — ohne sein Zutun, ja gegen
seinen Willen — in den Dörfern und Städten des ganzen
Landes und darüber hinaus, zumal Assisi ja von vielen
Pilgern aus ganz Europa aufgesucht wird. Nun wird, wie
ausdrücklich vermerkt ist, die Stadt des heiligen
Franziskus auch durch ihn zur “Stadt auf dem Berge”,
sein Leben zu einem “Licht auf dem Leuchter”.
Die Aufmerksamkeit, mit der man ihn jetzt behandelt, kommt ihm unverdient
und übertrieben vor. Aber als Abgeordnete des Magistrats
ihm feierlich ein offizielles Dank‑Diplom der Stadt
Assisi überreichen, trägt es ihn in großer Freude bis an
die Decke empor. Nachher eilt er an das Grab des
Ordensvaters und bittet ihn um Verzeihung, daß er einmal
von Assisi fortwollte.
Er hatte sich in seine Verbannung ergeben, Ruhe und Friede waren wieder
in sein Herz eingekehrt. Neun Jahre sollte er noch in
Assisi bleiben und wirken.
Er verbringt diese Zeit in möglichster Abgeschiedenheit, in äußerster
Armut und Bedürfnislosigkeit, fastend und dem
beschaulichen Gebet hingegeben, in nächtelanger
vertrauter Zwiesprache mit seinem Gott. Am liebsten hält
er sich am Grab des Ordensvaters vor dem Tabernakel auf
oder vor der Marienstatue. Oft reinigt er sein Gewissen
im Bußsakrament. Seine tägliche Meßfeier dauert über
zwei, manchmal bis zu fitinf Stunden, wenn ihn mystische
Erfahrungen entrücken. Dabei ist er bemüht, sich genau
an den Ritus und die Gebete zu halten. Allzu hastige
Priester vergleicht er mit Menschen, die zu heiße Bissen
nicht im Mund behalten können und unzerkaut
herunterschlucken.
Im kontemplativen Gebet, in der Nähe des Tabernakels, in der Feier der
Eucharistie findet er die Erfüllung seiner Sehnsucht,
oft reißt es ihn geradezu in die Höhe, oder er gerät so
außer sich, daß er lacht und weint, zittert und tanzt
wie ein Betrunkener. An seinem äußeren Verhalten, seiner
Haltung und seinen Gebärden kann man ablesen, was ihn
innerlich bewegt, an dem körperlichen Emporgehobenwerden
seinen geistigen Aufstieg zu Gott, an dem Flug nach vorn
sein großes Verlangen nach Vereinigung mit Gott, am
schwebenden Zurückweichen seine Demut und menschliche
Unwürdigkeit vor dem Heiligen. Das “Gleichgewicht”
zwischen der natürlichen Schwerkraft und seinem
geistlichen Aufschwung, zwischen dem normalen
sinnenhaften Leben und religiöser Entrücktheit ist auf
schmalem Grad so “fein eingestellt”, daß es oft nur
eines geringen Anstoßes bedurfte, um ihn ganz “außer
sich” zu bringen.30 Für viele wird er zur
lebendigen, anschaulichen Darstellung des Ergriffenseins
von den Heilsgeheimnissen, des Aufstiegs eines Menschen
zu Gott.
Er wehrt sich gegen alle Neugier anderer, entschuldigt sich immer wieder
wegen seiner Hinfälligkeit mit “Krankheit” und erklärt
seine häufigen Entrückungen als Schlaf. Ja, er bittet
Gott darum, ihn von auffälligen Zuständen zu befreien.
Doch sie werden fast zum Dauerzustand, kommen plötzlich
und unvermittelt über ihn, auch mitten in einem
Gespräch, manchmal schon beim bloßen Gedanken an eine
Glaubenswahrheit oder ein Lied. Von Predigten, die er,
den Blicken anderer entzogen, im kleinen Chorraum hört,
läßt er sich so packen, daß er manchmal laut aufschreit
und buchstäblich “hingerissen” wird.
Ohne daß er es weiß, bemerken andere in seiner Gegenwart einen angenehmen
Wohlgeruch. Als er darauf angesprochen wird, verweist er
ablenkend auf die Blumen in der Nähe.
Die Gabe
der Heilung
Eines Tages beobachtet man, wie er einen Hinkenden heilt. Man wird
aufmerksam auf andere Heilungen. Durch seinen Segen oder
durch eine Berührung mit der Hand vergehen Schmerzen und
Geschwüre. Einen offensichtlich Verwirrten — der Name
des Ritters wird ausdrücklich genannt — packt er, hebt
ihn empor und heilt ihn so während einer seiner
Ekstasen. Sogar von seinen Kleidungsstücken geht
heilende Wirkung aus.
Er versucht, von seiner Person abzulenken, nimmt Öl vom Bild des heiligen
Franziskus und spricht das Segensgebet des Heiligen:
“Der Herr segne und bewahre dich ...” (vgl. Num 6,
22‑24). Durch ein Blatt mit diesem Segen wird ein
sterbendes Kind gesund. Solche Blätter wandern von Hand
zu Hand, werden abgeschrieben und machen seinen Ruf in
ganz Europa bekannt.
Aus vielen Orten kommt die Nachricht auffälliger Heilungen durch diesen
Segen. In Polen erhält ein Blinder sein Augenlicht
wieder. Oft genügt es, daß Hilfesuchende aus der Ferne
zu ihm rufen, er “vernimmt” es und betet für sie.
Seeleute werden aus Seenot gerettet, während er in
Assisi auf den Knien liegt. Der Neffe des Bischofs von
Perugia wird in der Stunde von seiner schweren Lähmung
befreit, in der Boten die Bitte um Gebetshilfe
überbringen und Pater Josef für den Kranken zu beten
beginnt.
Er erscheint einem Schwerkranken am Bett, verspricht ihm Genesung und
verschwindet wieder. Seine Mutter, so wird berichtet,
muß ihn noch in ihrer Sterbestunde gesehen haben und
stirbt getröstet mit den Worten: “O Giuseppe, mein
Sohn!” Die Anwesenden können sehen, wie ein Lichtstrahl
durchs Fenster fällt und die Sterbende ihm zuwinkt.
Die
Prophetengabe
1647 erlebt er die blutige Revolution in Neapel mit, als wäre er selbst
mitten in diesem Aufruhr, rettet aus der Ferne Menschen,
die nach ihm rufen, aus Todesangst, schützt auf
wunderbare Weise aus diesem Bruderzwist Bekannte vor
Mördern. Am 29. Juli 1644 sagt er vor der heiligen
Messe: “Der Papst ist gestorben. Am Sonntag wird das
auch hier in der Stadt bekannt sein” und feiert das
Totengedächtnis für ihn. Erst am folgenden Sonntag
gelangt die Nachricht vom Tod Urbans VIII. nach Assisi.
Immer wieder kündigt er die Heilung eines Kranken an: “Sag ihm, er soll
Vertrauen haben, er wird gesund.” Und es tritt jedes Mal
so ein. Geburt und Tod sagt er voraus und stärkt und
tröstet Leute vor großem Leid, das er kommen sieht —
offenbar werden nicht alle geheilt und vor Leiden
bewahrt.
Er prophezeit zwei Priestern die Ernennung zum Bischof, dem Kardinal
Emilio Altieri von Camerino die Wahl zum Papst, dem
Kardinal Odescalchi schnelle Hilfe in einer Hungersnot
in Ferrara.
Erkenntnis und Weisheit
Die Quellen listen geradezu die vielfältigen Gaben auf, die in Pater
Josef wirksam waren: die Gabe der Herzenskenntnis zum
Beispiel, von der schon die Rede war, jetzt geläutert
durch große seelsorgliche Behutsamkeit, die auf Buße,
Lebensumkehr und Beichte abzielt. Die einen bewahrt er
durch Blicke und mahnende Worte vor schwerer Schuld,
anderen deckt er ihren Seelenzustand auf, daß sie
einsichtig werden. Einen Adligen fragt er mit Blick auf
seinen Pagen: “Woher hast du denn diesen Mohren?” und
bewegt den jungen Diener zum Beichten: “Geh und wasch
dich rein, mein Sohn!” Unzuchtssünden empfindet er als
unerträglichen Gestank und die Menschen als abstoßend:
“Habt ihr mit Tinte gearbeitet und euer Gesicht damit
besudelt? Geht und wascht euch!”
Gelehrte und Wissenschaftler bezeugen, wie Pater Josef mit einer solchen
Klarheit und Tiefe der Erkenntnis und des Wissens über
die Glaubensgeheimnisse sprechen konnte, daß sie darüber
staunten. Aus seiner mangelhaften Ausbildung konnte das
nicht stammen. Pater Bonaventura Clavero, Rektor des
Universitätskollegs zu Potenza und später Bischof, kommt
eigens nach Assisi, um monatelang täglich mit dem
schlichten Franziskaner geistliche Gespräche zu führen,
über schwierige theologische Fragen wie Gnade und
Freiheit, Sünde und Rechtfertigung und die
Verantwortlichkeit menschlichen Handelns. “Seine Worte
waren wie von einem übernatürlichen Licht beleuchtet und
wie von oben her eingegeben.” Kardinal Facchinetti legt
ein ähnliches Zeugnis ab:
“Wenn er von Gott sprach, verband er seine eigenen Erfahrungen mit den
Ergebnissen der Wissenschaft, entzückte durch seine
Einfachheit das Herz und erfüllte mit seiner Lehre den
Geist. Ich hörte ihn über das Thema Natur und Gnade
wunderbar sprechen und mit herrlichen Ausdrücken das
göttliche Wirken der Gnade und die Freiheit des Menschen
darlegen.”31
Der Unwissende und nur schlecht und recht Ausgebildete — er verstand
gerade das gewöhnliche Latein — versteht und beantwortet
auch schwierige Fragen klar und aus tiefer Erkenntnis.
Der Kardinal Brancati, selbst ein bekannter geistlicher
Schriftsteller und vormals Lektor an der Sapienzia in
Rom, erwähnt ihn in seinen Werken und beruft sich in
seinem Buch “Über das Gebet” bei seinen Ausführungen
über die Mystiker auf “seinen Lehrer”Josef von Copertino.
Läuterung
Wie gefährdet solche außerordentlichen Gaben sein können — auch das zeigt
das Leben unseres Mystikers. Es gibt neue
Schwierigkeiten, eine neue Leidensgeschichte beginnt.
Bis April 1646 hatte Pater Josef die heilige Messe
öffentlich feiern können. Die Schar Andächtiger, aber
auch bloß Neugieriger nimmt zu. Die Sensationsgier der
Leute gewinnt immer mehr Oberhand, Schaulustige
vergessen jede Zurückhaltung, Aufdringliche bedrängen
ihn. Ihm kommt es vor, als liege er verschüttet unter
einem Steinhaufen:
“Wenn die Frauen mit mir reden und rechten wollen, müssen sie es so
machen, wie diejenigen, die zum Brunnen gehen, um Wasser
zu holen. Sie holen sich Wasser, lassen aber den Brunnen
dort stehen, wo er ist.”32
Er versucht, jedes Aufsehen zu vermeiden, aber die auffälligen
Vorkommnisse stehen nicht in seiner Verfügung, er kann
sie weder hervorrufen noch verhindern. Schließlich
bittet er seine Oberen um Hilfe.
Innozenz X., seit zwei Jahren Papst, war vorher der gestrenge Sekretär
des Inquisitionsprozesses gegen Pater Josef. Jederzeit
muß mit Wiederaufnahme des Verfahrens gegen ihn
gerechnet werden. Um dem zuvorzukommen, verbieten die
Verantwortlichen ihm, die Eucharistie öffentlich zu
feiern. Er zieht sich in eine abgelegene Hauskapelle
zurück und erfährt eine Fülle von Freude. Zugleich
empfindet er das Unverständnis und Haschen nach
Sensationen in der Öffentlichkeit als kränkend.
Wiederum werden alte Vorwürfe und Anklagen laut und bleiben ihm nicht
verborgen. Man schwätzt über ihn hinter seinem Rücken,
verdächtigt ihn als “Gefangenen des Heiligen Offiziums”,
hält ihn für geistesgestört oder gar vom Teufel
besessen. Gegner feinden ihn an, Freunde lassen ihn im
Stich, andere fühlen sich durch seine Zurückhaltung
beleidigt. Man überwacht eifersüchtig alle Vorkommnisse
und sucht geradezu nach Anlässen zu Kritik und Vorwürfen
gegen ihn. Es kommt sogar soweit, daß sich Leute krank
stellen oder Hilfsbedürftigkeit heucheln, um seine
Heilkraft und Heiligkeit herauszufordern oder
“auszuprobieren”.
Bei alldem erfährt Josef von Copertino immer deutlicher Anfälligkeit und
Verletzlichkeit, sein von Natur aus reizbares, heftiges
Temperament bleibt nicht unberührt davon. Aber schon
deshalb sieht er sich außerstande, sich zu wehren oder
etwas zu seiner Rechtfertigung zu unternehmen. In dieser
inneren Zerrissenheit wird er mißtrauisch und sagt sogar
einem Besucher ganz offen: “Du denkst schlecht von mir.”
Und einmal kommt ihm eine Art Genugtuung erschreckend zu
Bewußtsein, als er erfährt, daß “der Herr dann und wann
solche strafte, die ihm übel gesinnt waren”.33
Von neuem
kommen schwere Anfechtungen über ihn, seine erzwungene
Einsamkeit macht ihm zu schaffen, Ängste und Zweifel
bedrängen ihn, Schlaflosigkeit bei großer körperlicher
und geistiger Müdigkeit quält ihn zusätzlich. Es drängt
ihn, zu den Kranken und Unwissenden hinauszugehen und
sein Leben, auch als Blutzeuge, wenn es sein könnte, für
das Evangelium einzusetzen. Es wird ihm geradezu
unerträglich, nicht als Priester wirken, keine
Sakramente spenden, nicht predigen zu dürfen. Zu den
festlichen Prozessionen ziehen seine Brüder hinaus, ihn
lassen sie einsam im leeren Kloster zurück, in tiefster
Depression. Einmal bemerkt er zu einem Mitbruder:
“Wenn jemand nach mir fragt, sag ihm, ich bin ein toter Mensch. Die
anderen Ordensleute haben das Glück, die Kirche besuchen
zu dürfen, ins Chor zu gehen und all das zu tun, was die
Ordensregel vorschreibt. Ich dagegen bin unnütz und kann
nichts Brauchbares leisten.”34
Muß er erst im eigenen Leben ganz persönliche Schwäche, Torheit,
Erniedrigung und Ohnmacht erfahren, damit Gott sich in
ihm als der Weise und Starke beweisen kann? Muß auch in
ihm erst alles “vernichtet” werden, damit Gott ihn
erwählen kann, um durch ihn alles “Weise und Starke in
der Welt zuschanden zu machen”? — “Das, was nichts ist,
hat Gott erwählt, um das, was etwas ist, zu vernichten”
(vgl. 1 Kor 1, 28).
Er erkennt die Läuterung und Einübung in das Loslassen eigener, auch
religiöser Wünsche und Vorstellungen — ein weiteres
“Sterben des alten Menschen”, damit der “neue Mensch”
erstehe “nach dem Bilde Gottes, in wahrer Gerechtigkeit
und Heiligkeit” (Eph 4, 29). Und er nennt Gott seinen
“guten Novizenmeister”35, der ihm “seinen
Ruhm auf der sicheren Grundlage der Demut” bereite. Ruhm
auf der Grundlage der Demut!
In seiner äußeren Situation tritt eine gewisse Entlastung ein. Er hat
einflußreiche Freunde. Kardinal Odescalchi, der spätere
Papst Innozenz XI., sucht ihn persönlich auf und tritt
in aller Öffentlichkeit und vor dem kirchlichen Gericht
allem bösen Gerede über ihn entgegen. Dem Volk wird
wieder erlaubt, an der heiligen Messe Josefs
teilzunehmen. Trotz seines anfänglichen Widerstrebens
fügt sich Josef und unterwirft sich in allem den
Weisungen seiner Oberen. Dann und wann widersetzt er
sich ihnen auch, wenn er überzeugt ist, “einer höheren
Weisung folgen zu müssen”.
Auf dem Wege des Gehorsams und der Demut reift er zum vollkommenen Zeugen
der größten aller Gaben, der Liebe.
5. Die
größte aller Gaben
Gaben
ohne Liebe — nichts
Außergewöhnliches erregt naturgemäß Aufsehen. Auffällige Gaben und Taten
interessieren mehr als Alltägliches. “Leuchtende
Charismen” (vgl. 1 Kor, 12. bis 14. Kapitel)
beeindrucken mehr als “schlichte”, die im stillen,
verborgenen, im normalen Alltag wirken. Und doch sind
auch so wunderbare Gaben wie prophetisches Reden,
Erkenntnis aller Geheimnisse, ja eine Glaubenskraft, die
Berge versetzen könnte, nichts ohne die Liebe: “Nichts —
nichts — nichts”, schreibt Paulus den Christen in
Korinth. Und fügt eine ganz nüchterne Beschreibung der
Liebe und ihrer Umsetzung in den grauen Alltag an. Dem
“Nichts” setzt er das “Alles” der Liebe entgegen: der
Liebende hat alles, Geduld, Glaube, Hoffnung,
Stehvermögen — “doch am größten ist die Liebe”, sie ist
der Weg, “der alles übersteigt”. Strebt also nach der
Liebe, ja: jagt der Liebe nach!”
Daraus ergibt sich doch auch, daß gerade außergewöhnliche,
aufsehenerregende Geistesgaben sich dieser
Echtheitsprüfung stellen müssen:
‑ ob sie aus der Liebe kommen,
‑ ob sie durch die Liebe geformt sind und
‑ ob sie die Liebe wirken, die “Frucht des Geistes” (siehe Gal 5, 22 f).
Damit nähern wir uns — bei allen bisher erzählten wunderbaren oder doch
staunenerregenden Vorkommnissen aus dem Leben Josefs von
Copertino seinem eigentlichen Geheimnis.
Hingerissen von Gottes Liebe
Die Berichte aus dem Leben dieses Mystikers (Mysterium, das heißt doch
“Geheimnis”) lassen erkennen, daß seine außergewöhnliche
ekstatische Begabung nichts anderes als die erkennbare
“äußere” Seite einer überstarken “inneren” Ergriffenheit
durch Gottes Liebe und überwältigende Größe ist. Sie ist
es (und nicht eine lebhafte Phantasie oder
parapsychologische Vorgänge), durch die er “hingerissen”
wird und “außer sich” gerät.
Liebe — das ist für ihn nicht ein Wort oder bloßes Gefühl, sondern er
erfährt sie wie einen “Strom, der alles überflutet”, wie
“Flammen, die alles verzehren”. Das “innere Licht”
erfüllt ihn so sehr, daß er “ganz von Sinnen” ist. Nur
die eine Sehnsucht ergreift ihn: die Fülle dessen zu
erfahren, der ihn liebt und von dessen Liebe sein Herz
entbrannt ist.
Das ist das Geheimnis seines Lebens: die Berufung, ein staunen‑, ja
furchterregendes unübersehbares Zeichen der Macht und
Liebe Gottes und ihres Wirkens in der Schwachheit eines
Menschen darzustellen. Es muß sichtbar machen, greifbar
werden lassen, was auch ohne jede menschliche
Voraussetzung geschehen kann, wenn der Geist Gottes
einen Menschen ergreift und ihn ungehindert erfüllt —
und wenn dieser Mensch in seiner Schwachheit sich dem
überläßt. Es ist, als veranschauliche “der eine Geist”
im Leben und Wirken dieses armen Menschen, der, wie er
selbst von sich sagt, “zu nichts nütze” scheint, seine
verschiedenen Gaben zum Nutzen und Heil vieler Menschen.
Freilich wird es nur dann anschaulich, wenn der
Betrachter offen genug ist, dieses innerste Geheimnis
darin zu entdecken, “das Größte, die Liebe”.
Reifung
zur Liebe
Heilige werden nicht heilig durch das, was sie “nach außen darstellen”,
sondern durch das Wirken der Macht und der Liebe Gottes,
also des Heiligen Geistes, zunächst in ihrem Herzen.
“Die Diener Gottes gehen zu leichtsinnig aus sich
heraus”, klagt Josef von Copertino, “das Große im
Menschen liegt in seinem Inneren. Dort liegt sein Wert.
“ Auch Josef Maria Desa mußte das erst “lernen”. Die
zahllosen Prüfungen im Laufe seines Lebens, schmerzhafte
Erfahrungen im menschlichen und im kirchlichen Bereich,
Verkennung und Ungerechtigkeiten läutern ihn und lassen
ihn fortschreitend den großen inneren Reichtum erkennen,
der ihm angeboten ist. Es hat ihn nach eigenem Zeugnis
“so viele Tränen gekostet, daß er diesen Schatz nicht um
tausend Welten eingetauscht hätte”.36 Darum
sind ihm Streben, Askese, Abtötung, Verzicht und
Selbstverleugnung so wichtig, darum und nicht um ihrer
selbst willen. Deshalb ist ihm der Gehorsam “wie ein
Messer, das den Eigenwillen tötet, um ihn Gott zu
weihen”.37
Die Liebe schärft ihm den Blick für seine eigenen Fehler. Er sieht sich
als Wurm oder Lasttier, kommt sich vor wie ein unnützes
Stück Lappen. Es genügt, so meint er, sich selbst nur
aufmerksam zu betrachten, um seine Schwächen zu
erkennen. “Untreue, Trägheit, Eitelkeit, Empfindlichkeit
sind ihm wie Staub in einem Krug Wasser.” In seiner
Liebe weiß er, wie große Gnaden er unverdient von Gott
erhalten hat, und bleibt sich bewußt, daß er sich selbst
oder irgendeiner eigenen Leistung nichts verdankt. Er
ist wie ein Armer königlich beschenkt und bleibt doch
vor Gott und den Mitmenschen der Arme, der er ist. Alle
Verehrung, die ihm andere erweisen, und alle
außergewöhnlichen Fähigkeiten machen ihn deshalb auch
nicht stolz oder überheblich: “Wer die Liebe hat, ist
reich und weiß es nicht.”38
“Die Seele gleicht einer Königin, die Sinne des Leibes ihren Dienerinnen.
Tritt die Seele in das Gemach des Königs ein, dann
bleiben die Sinne draußen, von keiner Regung bewegt. Die
Seele selbst aber ruht völlig im Besitz des Schöpfers.”39
Erfahrungen eines Liebenden
Wir können uns diesem, wie wir es nannten, Geheimnis seines Lebens —
überhaupt dem Leben eines jeden Mystikers — nur behutsam
nähern. Die Zeugnisse für diesen Bereich sind bei Josef
von Copertino so zahlreich, daß sie ein eigenes Buch
füllen. Hier seien nur einige herausgegriffen:
Seine Liebe zu den Tieren und zur Schöpfung insgesamt, von der wir schon
sprachen, ist — wie bei Franz von Assisi — Ausdruck
seiner Liebe zum Schöpfer und nicht Naturschwärmerei.
Die Blumen, die Vögel, das Johanneskäferchen, die
Würmchen, die Natur in ihrer Vielfalt und Schönheit, in
ihrer Lebenskraft und Ordnung sind dem Franziskaner
Abbild und Gleichnis der Schönheit, Macht und Größe
Gottes. Die Menschen sollten das, mahnt Pater Josef,
doch erkennen, sich dessen freuen und Gott dafür danken,
ihm, dem Schöpfer, in Liebe und Lobpreis dienen.
Die Menschen
sollten sich mit dem Gebrauch und Besitz der
geschaffenen Dinge und der Freude an ihnen nicht
begnügen, das wäre so widersinnig, wie wenn einer “sich
die Brille aufsetzte, um bloß die Brille zu sehen
anstatt die Dinge in der Ferne ... Durch die äußeren
Dinge gelangt Gott bis zur Tür unseres Herzens, durch
die inneren jedoch tritt er zu uns ein und bleibt im
Herzen.”40 In den notwendigen Dingen des
täglichen Lebens erfährt er Gottes Fürsorge und seine
Tag für Tag erneuerte Zärtlichkeit.
Josef warnt die Menschen vor “eitlen Sorgen” und dem Streben nach
Reichtum und Wohlleben, Macht und Erfolg; er bedauert
sie wegen der unausweichlichen Enttäuschungen, die sie
sich dadurch einhandeln, und hat Mitleid mit ihnen wegen
ihres “fortwährenden Versagens”. Wie der Kaufmann im
Evangelium gibt er uneingeschränkt alles weg, er
übergibt es Jesus, um den Schatz im Acker, die kostbare
Perle der Liebe zu gewinnen (vgl. Mt 13, 44‑46), und ist
auf der Hut, sein Talent nicht wie der nichtsnutzige
Diener im Gleichnis (vgl. Mt 25, 24‑30) ungenutzt zu
vergraben.
“Wer liebt, der rastet nicht. Er fürchtet, daß er zu wenig liebt. Er
hütet eifersüchtig das Gegenüber seiner Liebe, und je
mehr er liebt, desto mehr fürchtet er, daß er nicht
liebt, und ist unruhig. Aber er wird dadurch nicht
verwirrt und erträgt alles, weil er liebt.”41
Eine solche Unruhe hat ihn ergriffen, und er versteht sie als Wachstum
und Reifung der Liebe, als seinen Weg der Heiligung und
Einigung mit seinem Gott. Sie ruft geradezu körperliche
Schmerzen in der Herzgegend hervor, der Brustkorb weitet
sich, er muß den Arzt befragen.
Liebe und
Leiden
Leiden sind diesem Liebenden wie Stufen zu noch größerer Liebe:
“Aus Liebe zu Gott leiden, ist eine hohe Gunst, deren der Mensch nicht
würdig ist. Der Mensch dankt Gott bloß, wenn dieser ihm
Gutes tut, aber das Leid ist eine höhere Gunst als die
Freude. Jesus hat, um uns zu erkaufen, nicht Gold und
Silber gegeben, sondern Schmerzen, Pein und Tod. Er will
aber auch, daß der Mensch es ihm mit gleicher Münze
zurückzahle ... Wie es Hammerschläge braucht, um das
Bildnis des Fürsten einer Münze aufzuprägen, so gibt
Jesus Christus seinen Aufdruck seinen Dienern durch
Hammerschläge mannigfacher Prüfungen und Bedrängnisse.”42
Josef sieht den Reichtum der Gnadengaben Gottes für den Menschen nach dem
Sündenfall wie in einem Berg tief verborgen. Um diese
Schätze zu heben, braucht es Mühe und Anstrengung und
die Bereitschaft, sich von Gottes Liebe “prägen” zu
lassen, auch wenn Läuterung und Umformung schmerzhaft
sind. So kann Gottes Meisterwerk in uns gelingen: die
Umgestaltung in Christus, den Gekreuzigten und
Auferstandenen.
“Ihn möchte ich erkennen und die Kraft seiner Auferstehung und die
Gemeinschaft seiner Leiden und so seinem Tode
gleichgestaltet werden ...” (Phil 3, 10: “...sein Tod
soll mich prägen!”).
Unser Mystiker erfährt die Ereignisse des Lebens und Leidens Jesu
lebendig mit, als gegenwärtiges Geschehen. Am
Palmsonntag, während der Verlesung der Passion, fällt er
bei den Worten “Ans Kreuz mit ihm!” wie tot um und ist
selbst dem Tode nahe. Beim Bericht über die Bekehrung
des heiligen Paulus hört er die Worte Jesu “Warum
verfolgst du mich?” und schlägt rückwärts hin, die Arme
in Kreuzform ausgebreitet. Er stellt sich selbst die
Frage: Warum trauere ich so um den Tod Jesu, der doch so
lange zurückliegt? und erhält die Antwort:
“Meine Bereitschaft, für dich zu sterben, besteht immer ... Wenn mich
jemand ... schauen will, werde ich mich ihm so zeigen,
wie er mich sehen will, als Kind, als Gegeißelter, als
Gekreuzigter ... Denn meine Liebe erscheint in der Form,
in der die Menschen sich meiner erinnern und mich
betrachten.”43
“Einer und eine” — das wiederholt er oft: Gott und die Seele, die
Begegnung zweier Liebender. In der Feier der Eucharistie
findet diese Einigung ihren Höhepunkt.
Gottes‑
und Nächstenliebe
Solche Erfahrungen der Gottesliebe befreien den Menschen von sich selbst,
führen ihn aus der Verfangenheit ins eigene Ich heraus
und machen ihn auch zur Nächstenliebe fähig:
“Je mehr man Gott dient, desto mehr wird man sich mit der Liebe
schmücken, und weil diese nicht das Eigene sucht, drängt
sie immer zur Tätigkeit im Dienste des Nächsten. So
haben es viele hervorragende und heilige Menschen
gemacht, die wohl öfter an ihre Todesstunde dachten und
doch Bücher schrieben und Fabriken gebaut haben und
anderes mehr.”44
“Die Liebe zu Gott und die Nächstenliebe bilden das Fundament unseres
Glaubens ...” Wo Liebe das letzte Wort behält und die
Beziehungen der Menschen zueinander prägt, werden
Einheit und Friede geschaffen und erhalten. Umgekehrt
kann man an der Einheit in einer Gemeinschaft ablesen,
“ob Gott dabei ist”.45
Durch die
Liebe wird der Mensch wie von selbst fähig zum Gehorsam,
zur “gegenseitigen Unterordnung”, von der in den
Paulusbriefen manchmal die Rede ist (zum Beispiel in Eph
5, 21). Auch die Demut gelingt durch die Liebe wie von
selbst: ein Mensch, der liebt, ist auch demütig (“zum
Dienen mutig”) und weiß es nicht — er liebt ja. Josef
von Copertino ist wie eine Veranschaulichung dieser
Grunderfahrung echten Tugendstrebens.
Auch im anhaltenden Gebet dient er den Menschen vor Gott. Er tritt für
die Kirche ein, für den Papst und die Bischöfe, für die
Irr‑ und Ungläubigen, wie er ausdrücklich sagt, und es
ist “falsch”, für andere nicht zu beten, wenn sie “einen
anderen Glauben haben” (das sagt er in den Jahren, in
denen in Mitteleuropa der Dreißigjährige Krieg zu Ende
geht). Am meisten setzt er sich vor Gott für die Armen
und Kranken ein:
“Man muß mit dem Nächsten Mitleid haben, schon mit Rücksicht auf das
Leiden Christi. Gott läßt uns die Beschwerden des
Nächsten mitfühlen, damit wir dabei Gelegenheit haben,
das Leiden Christi zu betrachten. ... der aus Liebe zu
Gott Unbill erlitten hat, verdient hohe Achtung und
Verehrung, er ist Gott geweiht.”46
Seine Gaben stehen ganz im Dienst der Mitmenschen, für ihn selbst
unverfügbar. Und je mehr er aus der Öffentlichkeit
zurückgezogen wird, um so verfügbarer wird er gerade mit
der Kraft des kontemplativen Lebens, des immer währenden
geheimnisvollen Einsseins mit Gott in der Liebe “in die
Kirche hinein”.
“Wer die Liebe hat, ist reich” — für die anderen.
Überschwengliche Freude
Bei allem erfährt er so überschwengliche Freude, daß er ganz und gar
außer sich gerät, sie reißt ihn buchstäblich hoch. Immer
wieder gibt er seiner Freude Ausdruck im Singen und
durch schlichte Lieder und einfache Liedverse, gerät ins
Jubilieren und Tanzen, auch hierin seinem Ordensvater
Franziskus ein wenig ähnlich. Er schnitzt sich eine
grobe Hirtenflöte, um die Melodien seiner Freude, wie
sie ihm einfallen, spielen zu können. Seine Brüder
singen mit, lernen sie auf diese Weise und behalten sie
im Gedächtnis. Sie werden ihn bis in den Tod begleiten.
Die Texte erwachsen aus konkreter Betrachtung der Heilsgeheimnisse,
sicher keine Zeugnisse der Dichtkunst oder der
Theologie, sondern schlichte Äußerungen eines liebenden,
begeisterten Herzen. Zwei Beispiele (in der Übersetzung
von Grandi47) seien hier angeführt:
Weihnachtslied
Über Wiesen und Felder
gehe ich suchend dem Herrn entgegen
und wandre und wandre Stunde um Stund
und singe und spiele mit Herz und Mund
inmitten der frohen Hirtenschar:
Es lebe mein Jesus immerdar!
Pfingstlied
Feuer heiliger Liebe, dringe
tief in unsre Herzen ein
und zu reiner Liebe zwinge
sie mit deinem Feuerschein.
Erleichterst alle Last,
schenkst Ruh in aller Hast.
Liebe, bleibe meiner Seele Gast!
6. Der
Vollendung entgegen
Stiller
Dienst an vielen
“Ruhm auf der Grundlage der Demut”, hatte Pater Josef gesagt: was wissen
die Menschen schon von seinem eigentlichen Reichtum, von
der Herrlichkeiten der — ihnen verborgenen, für sie
unverständlichen — Gaben, mit denen Gottes Liebe ihn
überhäuft, aber auch von der Anfälligkeit und
Gefährdetheit dieser Gaben, vom geistlichen Kampf, den
er zu bestehen hat!
Natürlich werden die Krankenheilungen weitererzählt, die Nachrichten von
den außergewöhnlichen, auffälligen Vorkommnissen in
Assisi verbreiten sich über ganz Italien und darüber
hinaus. Viele verehren den Copertiner wie einen
Heiligen. Als er davon hört, vergleicht er sich selbst
mit Stofflumpen, die man von der Straße aufgelesen und
zu Papier verarbeitet hat, um auf sie die Worte der
heiligen Wandlung zu schreiben. Er beharrt auf seinem
“Recht”, in der Stille bleiben zu müssen, und nimmt die
Nachrichten von draußen gelassen und ergeben hin.
Doch es sind nicht nur Nachrichten, die seine Einsamkeit erreichen, auch
Besucher kommen zu ihm, und ihre Zahl nimmt zu.
Jahrelang ist seine Klosterzelle Ziel von Priestern und
Ordensleuten, auch solchen in gehobener,
verantwortlicher Stellung, von Prälaten, Bischöfen und
Kardinälen, von Rittern und Grafen, Fürsten und
Vertretern der verschiedensten Herrscherhäuser und
Adelsgeschlechter. Erlauchte Namen aus Kirche und
Politik werden aufgeführt — es ist eine lange Liste in
den Büchern des Sacro Convento an der Grabeskirche des
heiligen Franz zu Assisi. Aber auch Frauen und Männer
ohne Rang und Namen kommen zu ihm. Für alle hat er
“Worte des Lebens”: Ermutigung und Ermahnung, Warnung
und Tadel, Zuspruch und prophetische Weisung, Heilung in
seelischen und körperlichen Leiden. Er versöhnt Sünder,
gibt Zweifelnden Frieden, berät Hilfesuchende und
bestärkt Fromme in ihrem Glauben. Wollte man alles
aufzählen, man käme an kein Ende.
Am 7. Juni 1646 kommt der Botschafter beim Vatikan, früher Vizekönig von
Neapel, zu ihm. Pater Josef begrüßt ihn als
Marienverehrer in herzlicher Umarmung, fällt dabei in
eine seiner Entrückungen und bleibt vor ihm einige Zeit
reglos liegen. Als sie nach längerem Gespräch in die
Basilika gehen, um die Gemahlin des Botschafters zu
begrüßen, reißt es den Pater empor — er wird im Fluge
zur Statue der Immaculata getragen.
Zahlreich sind Besuche aus Polen. Pater Josef hatte Kasimir Wasa die
Königswürde vorausgesagt. Durch sein Beispiel werden
noch andere polnische Fürsten zu Besuchen in Assisi
angeregt. Genannt werden die Namen Radziwil, Zamoiski
und Lubomierski. Einer der Radziwils, Herzog Sigismund,
stirbt bei seinem Besuch in Assisi.
Der Herzog von Braunschweig‑Lüneburg, Johann Friedrich von Sachsen, wird,
obwohl evangelischen Glaubens, durch andere deutsche und
österreichische Adlige angeregt, mit dem berühmt
gewordenen Mönch in Assisi zu sprechen. Diese Gespräche
im Jahr 1651 werden für ihn der Anstoß seiner Konversion
zum katholischen Glauben.
Andere schreiben an Pater Josef, zum Beispiel die Infantin Maria von
Savoyen und eine ganze Reihe von Bischöfen, auch aus dem
Ausland, wie der Bischof von Krakau und der Bischof der
unierten orthodoxen Kirche von Kiew. Unter den
Kardinälen hat der Copertiner Vertraute, Kardinal
Benedetto Odescalchi ist uns schon begegnet. Der wird im
Jahre 1676 unter dem Namen Innozenz XI. Papst, und zwar
der bedeutendste seines Jahrhunderts.48 Er
stirbt 1689. Reformstrenge, Standhaftigkeit gegenüber
dem Absolutismus König Ludwigs XIV. von Frankreich und
“makellose Ehrenhaftigkeit” zeichnen ihn aus — wirkt in
ihm der Geist des schlichten Franziskaners weiter, den
er als Kardinal seinerzeit in Assisi besucht hatte?
Jedenfalls ist es gut, auf diesen großen Papst
hinzuweisen, ehe nun von einem seiner Vorgänger,
Innozenz X. (1644‑1655), die Rede sein muß.
Erneute Verbannung
Am Morgen des 23. Juli 1653 findet der stille Dienst des Franziskaner‑Minoriten
in Assisi ein jähes Ende. Pater Josef wird nach der
heiligen Messe ins Sprechzimmer gerufen. Man kann sich
seinen Schrecken vorstellen: Statt eines Ratsuchenden
wie sonst erwartet ihn der General‑Inquisitor von
Umbrien mit Sekretär und vier Polizeisoldaten und
eröffnet ihm den Gerichtsbeschluß des Heiligen Offiziums,
ihn von seinem Orden zu trennen und in einem abgelegenen
Kapuzinerklösterchen zu internieren — “ad tempus”, wie
es heißt, “für einige Zeit”. Wie vom Donner gerührt,
steht der Gemaßregelte da, geistesabwesend, außerstande,
auch nur ein Wort zu sagen. Als ihn sein Oberer an das
Gelübde des Gehorsams erinnert, wirft er sich vor dem
Inquisitor zu Boden und läßt sich wie ein Sträfling ohne
Widerspruch abführen. Grandi übersetzt aus dem Werk
Pariscianis:
“Er trug nichts am Leibe als seinen Ordenshabit. An den Füßen hatte er
bloß die Sandalen, die er nur im Hause zu tragen
pflegte. Hut, Brille, Schuhe und Brevier lagen in seiner
Zelle, und er hatte sie zum letzten Mal gesehen. Mit
einer stummen Geste bat er den Kustos, der ihn ebenfalls
stumm ansah, um seinen Segen. Noch ein letzter Blick auf
die untere Basilika, wo der Leib des heiligen Franziskus
ruht, der ihn durch vierzehn Jahre und drei Monate
getröstet und gestärkt hatte, und der Wagen setzte sich
in Bewegung, einem unbekannten Ziel entgegen. Man fuhr
in nördliche Richtung ...
Nach einer eintägigen Rast im Dominikanerkloster von Città di Castello
näherte sich das Gefährt der Bergkette des Apennin. Dort
traten Maultiere und eine Sänfte an die Stelle des
Wagens. In der Nacht vom 25. zum 26. Juli schliefen sie
in Belforte am Flusse Isauro, im Palast des Statthalters
Bernardino Bernardi. Dort lag ein kleines Mädchen an
Fieber schwer krank darnieder. Durch das Gebet und die
Anweisungen Pater Josefs wurde es geheilt. Die Nachricht
davon brachte das Dorf in Aufruhr.”49
Einen
anderen Kranken segnet der wie ein Verbrecher abgeführte
Ordensmann, ohne ein Wort zu sagen, und der Kranke
erhebt sich gesund. Seine Bewacher wundern sich über
seine unerschütterliche Geduld und Güte. Endlich gelangt
man ans Ziel der Reise, zur Einsiedelei San Lorenzo bei
Pietrarubbia, am Berg Carpegna westlich von Urbino. Man
übergibt den Gefangenen dem Guardian des Klosters, Pater
Giambattista da Montegrimano, mit strengen Weisungen:
Verbot, die Zelle zu verlassen, außer zur heiligen Messe.
Verbot aller Außenkontakte, auch aller schriftlichen, auch — eigens
erwähnt! — mit Kardinälen.
Verbot, Briefe zu schreiben und zu empfangen, und dies alles unter
Androhung der Strafe der Exkommunikation.
Der Inquisitor verlangt noch, den Provinzoberen der Kapuziner zu
sprechen, doch vergeblich; er zieht mit der
Wachmannschaft wieder ab. Und da war nun der weithin
berühmte Wundertäter, der Ratgeber und Helfer so vieler
Menschen.
Unterscheidung der Geister
Hatte sich
Pater Josef auch nur des geringsten Vergehens schuldig
gemacht? Hatte das Inquisitionsgericht zu Neapel
fünfzehn Jahre vorher nicht alle Vorwürfe und Anklagen
streng genug geprüft und als unbegründet abgewiesen? Wie
konnte das “Heilige Offizium” das Ordensleben eines
offensichtlich lauteren Priesters zu einem
Gefängnisaufenthalt machen und ihn zu diesem Zweck auch
noch von der vertrauten Gemeinschaft seines Ordens
trennen? Und das ohne Anhörung des Angeklagten, ohne
Angabe der Gründe! Ist das nicht grausame seelische
Quälerei? Muß sich darüber nicht jeder rechtlich
Denkende empören?
Und Josef von
Copertino selbst?
Der
Erklärungsversuch, Josef habe sich in Assisi nicht an
die Auflagen des ersten Inquisitions‑Prozesses gehalten,
muß kläglich scheitern, auch der ablenkende fromme
Hinweis, der Mystiker habe doch selbst vom Lärm der Welt
“abgeschieden und getrennt” leben wollen, um in seiner
Gebetsruhe nicht gestört zu werden. Richtig daran ist
nur, daß er in der Schule Gottes, seines, wie er ihn
nannte, “Novizenmeisters”, reifte: Diesmal fügt er sich
ohne äußere Klage und offenbar auch ohne inneres Hadern.
Er sieht in dieser Entwicklung eine Gelegenheit, noch
innerlicher zu werden, sich in Geduld und Demut zu
bewähren und “zu Gott aufzusteigen”. Aber das alles kann
das schreiende Unrecht, das hier einem “der großen
Wehrlosen der Geschichte”50 geschieht, nicht
erklären, geschweige denn rechtfertigen.
Dazu sei hier
ausdrücklich wiederholt, was Walter Nigg bei seinen
kritischen Fragen anmerkt: Pater Josef hat sich nicht
empört oder über diese Ungerechtigkeit beklagt — “so
dürfen wir es auch nicht tun, oder wir werden seinem
Geiste untreu”51.
Die amtliche
Begründung nach außen und der Zusatz, der Gespräche und
Briefwechsel mit Kardinälen ausdrücklich verbietet, sind
entlarvend genug: hier sind massive Ängste und
machtpolitische Intrigen im Vatikan selbst im Spiel, in
einem eigenartigen gegenseitigen Zusammenspiel.
Es beginnt
damit, daß der Zustrom von Menschen nach Assisi immer
mehr anschwillt, darunter von in Kirche und Gesellschaft
maßgeblichen Leuten. Vor allem die vertrauten
Beziehungen von Kardinälen zu dem einsamen Mönch in
Assisi erregen “bei Hofe” Aufsehen und Besorgnis — wird
da nicht über den nächsten Papst verhandelt? Hat der
Copertiner nicht dem Bischof von Camerino, Emilio
Altieri, vorausgesagt, er werde Papst (später wurde er
es tatsächlich: Klemens X., von 1670 bis 1676)?
Aufregung verursachte vollends eine mißverständliche
(oder mißverstandene und entstellte?) Äußerung Pater
Josefs über den Nachfolger des regierenden Papstes
Innozenz X; man deutete sie als Prophezeiung seines
baldigen Todes (der Pamfili‑Papst starb 1655). Der Papst
galt als strenger Jurist und unberechenbar und wußte das
— hatten sich Bischöfe und Kardinäle beim Copertiner
über ihn beklagt?
Dazu kommt
noch ein in ganz Italien bekannter Skandal: Dieser Papst
stand so sehr unter dem Einfluß seiner Schwägerin
Olimpia Maidachini, daß sie in Rom offen als die
“Papessa” verhöhnt werden konnte. Mit ihrer maßlosen
Herrschsucht erfüllte sie den Vatikan mit Intrigen,
Gezänk und Machtkämpfen — “eine der abschreckendsten
Frauen des damaligen Roms”.52 Kein Zweifel,
daß Josef von Copertino, der seine Mahnungen und
Weisungen ohne Ansehen der Person äußerte, zu diesem
offenen Skandal der Kirche seine Meinung deutlich gesagt
haben wird und daß das am päpstlichen Hof hinterbracht
wurde.
Dazu kamen
schließlich auch Rangeleien und Eifersüchteleien um
seine Person selbst und bevorzugte Besuche bei ihm. Das
führte sogar zu diplomatischen Belastungen, Assisi liegt
auf dem Gebiet des Vatikanstaates. Die Herzogin von
Mantua zum Beispiel war bei Josef von Copertino, also
mußte die von Parma ebenfalls zu ihm dürfen, um sich
“dieses Wunder des Jahrhunderts” anzusehen. Als die
Nachricht eintrifft, daß auch noch die Kaiserin Elenore
sich mit dem guten Pater aussprechen wollte, fällt die
Entscheidung des Heiligen Offiziums.
Beim Versuch,
die Verantwortlichen zu verstehen, sehen wir uns an
solche und ähnliche leidvolle Erfahrungen der Kirche
verwiesen: Wie vorsichtig muß sie bei außergewöhnlichen
Phänomenen vorgehen, wie schwierig erweist sich immer
wieder Unterscheidung und Scheidung der Geister. “Es
gibt keinen Heiligen, der mehr als er [Josef von
Copertino] die Menschen in dem, was ihnen gewohnt ist,
in Verwirrung bringt.”53 Die Gefahr alles
Außergewöhnlichen, die Sensationsgier der Schaulustigen
ist gerade im Leben dieses Mystikers greifbar. Dazu
kommen die Furchtgefühle, die alles unmittelbare
Aufscheinen des Numinosen hervorruft, das Erschreckende
und für den Menschen Beunruhigende, ja Unheimliche in
den Phänomenen, die das greifbar wirkliche Handeln
Gottes auslösen kann. Walter Nigg spricht in diesem
Zusammenhang von der “Angst vor dem realen Heiligen”.54
Jedenfalls:
Josef wird aus Angst vor Schaden — welchem auch immer —
aus der Öffentlichkeit verbannt und “versteckt”. Damit
jedoch wird das Licht, das hätte leuchten sollen und
können, “unter den Scheffel gestellt” (Mt 5, 15), die
Gabe, die der Kirche seiner Zeit in diesem ganz “von
Gott ergriffenen Menschen” angeboten ist, nicht
angenommen. So deckt Josef von Copertino ungewollt nicht
nur den Zustand vieler Menschen auf und bringt sie zum
Nachdenken, wenn nicht heil-samen Erschrecken, er
entlarvt auch vor aller Welt beschämende, skandalöse
Zustände in Kirche und Gesellschaft seiner Zeit.
Und er
selbst?
Was auch
immer um ihn herum geschehen mag — innerlich bleibt er
unangreifbar.
7. Am Ziel
Pietrarubbia
Pater Josef hatte das alles kommen
sehen. Rechtzeitig hatte er seine Oberen gewarnt und um
Hilfe gebeten. Doch sie konnten gegen den Zustrom der
Menschen zu ihm nichts ausrichten. Im Traum hatte er
einen Berg und eine Einsiedelei gesehen und sich selbst
in ihren Mauern: zehn Jahre werde er ein schweres Kreuz
tragen müssen. Jetzt erkennt er diesen Ort wieder.
Obwohl die Kapuziner nicht informiert und völlig
überrascht waren, wird er nach anfänglicher Verwunderung
mit herzlicher Brüderlichkeit aufgenommen. Sie beten und
singen mit ihm, nehmen an seinen geistlichen Erfahrungen
Anteil und sind ehrfürchtige Zeugen seiner Entrückungen.
Josef erweist sich ihnen dankbar und kann seine
Zurückhaltung aufgeben, erzählt aus seiner Jugend, auch,
daß er einmal bei Kapuzinern war (daß diese ihn wieder
weggeschickt haben, verschweigt er dabei). Er will die
Brüder nur erfreuen und aufbauen. Nie kommt er auf die
Gründe seiner Verbannung zu sprechen, nie stellt er die
Frage nach dem unerklärlichen Verhalten der päpstlichen
Behörden.
Allerdings bringt er ungewollt auch hier die Ordnung der kleinen
Gemeinschaft etwas durcheinander. Die lange Dauer seiner
Meßfeier läßt zum Beispiel den Kerzenvorrat zusehends
gefährlich schmelzen. Der kleine Versorgungsengpaß in
dieser abgelegenen Gegend wird auf wunderbare Weise
überwunden.
An alles hatten die gestrengen Juristen bei ihren scharfen Verboten
gedacht, nur hatten sie nicht damit gerechnet, daß das
Leben sich nicht durch Vorschriften und Verbote
ersticken läßt, schon gar nicht das Wirken des Geistes.
Trotz der Abgelegenheit der Einsiedelei setzt sofort
wieder ein Strom von Pilgern ein. Aus der ganzen Gegend
kommen sie, aus Montefeltro, Urbino, Urbania und
Fossombrone, sogar aus Cesena. Es hatte sich schnell
herumgesprochen, wo Josef von Copertino sich aufhält.
Ganze Reisegesellschaften werden organisiert. Das
einsame Klösterchen sieht sich auf einmal als Ziel und
Mittelpunkt lebhaften Treibens, Zelte werden
aufgeschlagen, Hütten errichtet, Löcher in die Mauern
gebrochen, um den verehrten Mönch sehen zu können.
Eine Heilung am 10. August 1654 — Umstände und Namen sind ausdrücklich
bezeugt — läßt den Menschenstrom geradezu ausufern. Die
kleine Insel der Stille und Einsamkeit wird von einem
nicht mehr zu bändigenden Wogenschwall umbrandet. Der
Klosterobere muß befürchten, daß diese Entwicklung den
Anordnungen des Inquisitionsgerichts zuwiderläuft, hat
aber weder Weisung noch Vollmacht, das Volk von der
Meßfeier des sonst streng isolierten Häftlings
auszuschließen. Hilfesuchend wendet er sich an seinen
Vorgesetzten.
Der nun entscheidet rasch: Der Bevölkerung wird der Zutritt zur Kirche in
der Zeit der Meßfeier Pater Josefs untersagt, ein
Beauftragter hat für Abschirmung seiner Person und
Wiederherstellung der klösterlichen Stille zu sorgen;
die entstandenen Schäden mußten ausgebessert werden.
Doch in Rom wird eine noch wirksamere Maßnahme
beschlossen: erneute Verschleppung in aller Heimlichkeit
in ein noch ärmeres Kapuzinerkloster, in abgelegenster
Bergeinsamkeit südöstlich von Urbino.
Fossombrone
Der Generalvikar von Urbino wird beauftragt, den Häftling unbemerkt durch
die Öffentlichkeit zu überstellen. Mit Kutsche und
Dienerschaft fährt er in Pietrarubbia vor, als handele
es sich um einen ganz gewöhnlichen Besuch im Kloster San
Lorenzo, und weist dem Oberen seine Bevollmächtigung vor
mit der Verordnung, niemand dürfe erfahren, daß Pater
Josef weggebracht werde und wohin. Seine Frage “Wohin
bringt ihr mich?” bleibt ohne Antwort. Pater Josef fragt
weiter: “Wird Gott dort sein? Dann auf, laßt uns
heiteren Sinnes ziehen! Der Gekreuzigte wird uns
beistehen.”
Während die Reisegesellschaft im Refektorium bewirtet wird, führt ihn
Pater Pietro Avernali, der ihn zu beaufsichtigen hatte,
an der Hand auf Schleichwegen aus dem Haus. Unterwegs
nimmt ihn die Kutsche, von niemandem bemerkt, auf.
Weiter geht es, auf Seitenwegen, man meidet alle
belebten Straßen, übernachtet in einem Gehöft des
Erzbischofs von Urbino und setzt am nächsten Morgen die
beschwerliche Fahrt durch unwegsames Gelände fort, ins
Tal des Flusses Metauro hinab. Die Bischofsstadt Urbino
wird umgangen. Bei starkem Regen passieren sie
ungehindert die Post‑ und Zollstelle. Es geht über die
alte römische Brücke, die steile Berglehne hinauf bis
zum “altehrwürdigen, düster ernsten und stillen Kloster
von Fossombrone”. Der überraschte Guardian, Pater
Teodoro da Cingoli, muß mit dem Häftling auch die
strengen Auflagen des Inquisitionsgerichts
entgegennehmen, die noch durch zwei Verbote verschärft
sind: Niemand — außer den Klosterbrüdern – darf Josef
von Copertino auch nur sehen, und niemand — außer den
Kapuzinern — darf von seinem Aufenthalt erfahren.
Bischof Zeccardo, mit der Überwachung des Gefangenen beauftragt und von
der päpstlichen Behörde für die Einhaltung der Verbote
verantwortlich gemacht, erscheint eines Tages zur
Visitation. Danach wird es endgültig still um unseren
Minoriten. Auch ein zehntägiger Aufenthalt (natürlich
unter gleichen Bedingungen) im Kloster Montevecchio —
damit in Fossombrone das Provinzkapitel der Kapuziner
ungestört verlaufen konnte — unterbricht die absolute
Isolation des Klosterhäftlings nicht.
Seine Gastgeber behandeln ihn freundlich und mit Hochachtung, sind erbaut
durch seine gleichmäßige heitere Gelassenheit und
Dankbarkeit, erfahren im täglichen Gemeinschaftsleben
seine Dienstbereitschaft und Genügsamkeit, seinen Eifer
im geistlichen Leben — und seine mystischen Zustände.
Sie bemerken, daß nie eine Klage oder auch nur die Frage
“Warum das alles?” über seine Lippen kommt, ja daß sie
ihn überhaupt nicht interessiert. Er beklagt sich nicht
bei den Menschen, aber auch nicht (mehr) bei Gott.
Die Brüder schätzen seinen geistlichen Rat und merken sich auch einzelne
Aussprüche von ihm:
“Das wahre und vollkommene Gebet besteht darin, den Willen Gottes zu
tun.” — “Keine Versuchungen haben, ist eine große
Versuchung.” — “Wer Geduld hat allezeit, der bringt es
weit.”
Den letzten Sinnspruch singt er einem von Schmerzen geplagten alten
Bruder vor, und der wird dabei wunderbar getröstet: “Oh
ja, Fra Antonio, das ist ein schönes Lied.”
Pater Josef versucht bei der Feier der Eucharistie auf die Tagesordnung
der Klostergemeinschaft Rücksicht zu nehmen und sich an
die Zeit zu halten. Im übrigen brechen die Ekstasen und
geheimnisvollen Flüge in einer Fülle wie vorher in
Assisi auf. Als es dadurch in der Klosterkirche einmal
zu einer schwierigen Situation kommt — Kirchbesucher
stehen vor der verschlossenen Tür —, bittet Pater Josef
seinen Bewacher, ihn, wenn nötig, auch während seines
Entrücktseins zum Gehorsam zu rufen. Der Lärm, das
Schreien der Menge — offenbar hat sich sein Aufenthalt
trotz aller Geheimhaltung und der strengen
Vorsichtsmaßregeln doch wieder herumgesprochen —,
erreicht ihn nicht, aber der Gehorsam ruft ihn wieder
zurück auf den Boden der irdischen Tatsachen.
Am 7. Januar 1655 vertraut er einem Bruder an, daß er während der
heiligen Messe den Papst auf dem Sterbebett und die
Umstehenden gesehen und für ihn das Memento für die
Verstorbenen gehalten habe. Tags darauf gelangt durch
Eilboten über die Via Flaminia die Todesnachricht nach
Fossombrone.
Mit dem Tod Innozenz' X., des gestrengen Konsistorial‑Advokaten seines
ersten Inquisitions‑Prozesses und Verantwortlichen für
seine erneute Inhaftierung, keimen bei den Freunden
Josefs neue Hoffnungen auf. Schon vorher hatte man immer
wieder versucht, Erleichterungen seiner Haft oder eine
Überprüfung des Dekrets zu erreichen, das ihn aus seinem
Orden ausgeschlossen hatte. Der Generalminister der
Minoriten und Kardinäle hatten sich für ihn verwendet.
Sogar die Infantin von Savoyen hatte sich — in richtiger
Einschätzung der Machtverhältnisse am päpstlichen Hof —
an die Schwägerin des Papstes gewandt und schließlich an
die Regierungen in Paris und Wien, was aber der Sache
eher schadete. Innozenz X. aber hatte auf strenge
Einhaltung des Verbannungsdekretes bestanden und jede
Abweichung oder großzügige Ausdeutung der Verbote strikt
abgelehnt. Der fromme Ordensmann sei vor aller Belastung
durch Besuche und jeder unangebrachten Verehrung zu
schützen. Freunde des Copertiners waren nach Rom
zitiert, der Guardian des Klosters von Urbino zeitweilig
seines Amtes enthoben worden.
Auch der nächste Papst, Alexander VII., wird nun mit Bitten bestürmt. Die
frühere Königin Christine von Schweden, erst kurz zuvor
katholisch geworden, bittet um ein Gespräch mit Pater
Josef — ohne Erfolg. Das Generalkapitel der Minoriten,
das im Mai 1656 in Rom versammelt war, reicht ein
Bittgesuch von acht Provinzialministern beim Papst ein,
endlich mit dem Erfolg, daß der Minorit wieder seinem
Orden zurückgegeben wird. Freilich — die strengen
Isolierungsvorschriften werden nicht gelockert. Auch der
Vorschlag des Ordens, ihn wieder nach Assisi
zurückbringen zu dürfen, wird mit der Begründung
abgelehnt: “Ein heiliger Franziskus genügt schon, um das
Volk anzulocken.”
Man bestimmt Osimo in der Mark Ankona zum Verbannungsort, ein einsames
Kloster, zur Überwachung geeignet. Dafür wird der
zuständige Bischof Antonio Bichi, ein Neffe des Papstes,
verantwortlich gemacht. Wegen einer Beulenpest, die zu
dieser Zeit Italien heimsuchte — in Rom allein starben
Tausende daran — muß die Ausführung des Plans verschoben
werden, die Straßen sind überall gesperrt, die Städte
bewacht.
Endlich, Anfang Juli 1657, überstellt man Josef von Copertino in einer
überraschenden Nacht‑ und Nebelaktion nach Osimo. Das
Gesundheitszeugnis, das wegen der Folgen der Epidemie
noch erforderlich war, wird ohne Namensnennung
ausgestellt. Der Generalminister des Ordens und der
beauftragte Bischof bleiben im Hintergrund. Der
Generalvikar Crivelli hat das Unternehmen auszuführen,
der Sekretär des Ordensoberen begleitet es mit einigen
Mitbrüdern. In Fossombrone ist Pater Josef der einzige,
der die Ankunft der Reisegesellschaft voraussieht, für
die Kapuziner kommt die Abholung ihres Gastes völlig
überraschend.
Osimo
Nach herzlichem Abschied “unter Tränen und Umarmungen” wird Pater Josef
noch in der Nacht zum alten Kloster Santa Vittoria delle
Fratte gebracht, wo Bischof Zeccardo schon auf ihn
wartet, um ihn sehen und sprechen zu können. Am 8. Juli
setzt man die Reise fort. Unterwegs, in Jesi, wird Pater
Josef erkannt. Man muß eine unfreiwillige Pause in einem
Gasthaus einlegen. Vor Osimo am Morgen des 9. Juli
angelangt, wagt man nicht, am hellen Tag in die Stadt
einzuziehen. Man bittet den Bischof durch Boten um eine
Kutsche, bleibt dann aber bis zum Anbruch der Nacht in
der Gegend von Padiglione. Dort werden die Begleiter
Josefs Zeugen mehrerer Ekstasen und eines entrückten
Fluges ihres streng bewachten Häftlings. Die übrige Zeit
bringt er singend und betend zu.
Nachts endlich erreichen sie ihr Ziel. Am Stadttor weist sich der
Generalsekretär des Minoritenordens aus, er sei auf
Visitationsreise, die Reisegruppe kann unkontrolliert
passieren, der berühmte Minorit gelangt unerkannt ins
Kloster. Dort “versteckt” man ihn und schafft durch
Umbauten eine vollständige Abschirmung: eine eigene
Privatkapelle für die Stille Feier der Eucharistie und
ein winziges Gärtlein für ihn, das er aber selten
aufsucht. Eine kleine, völlig abgeschirmte Welt. Sechs
Jahre wird er hier eingeschlossen bleiben, bis Bruder
Tod ihn befreit. Isoliert von den Menschen, erfährt er,
wie die “vollkommene Freude” in ihm aufbricht: er ist
allein mit Gott.
Trotz aller Geheimhaltung sickern in der Öffentlichkeit Gerüchte durch,
auch genährt durch die Maurerarbeiten im Kloster,
verebben aber bald wieder. Das normale Leben der
Klostergemeinschaft geht weiter; auch wenn der Bischof
einmal aus irgendeinem Grund einen Besuch macht, ist das
ganz selbstverständlich und unauffällig. Pater Josef
hatte ihn — er ist ja glühender Marienverehrer —
gebeten, bei der Kurie die Erlaubnis zu einer
Pilgerfahrt nach dem nahegelegenen Marienwallfahrtsort
Loreto zu erwirken. Doch sie muß verweigert werden, weil
man keine Möglichkeit sieht, das vor der Bevölkerung
geheimzuhalten. So erfährt niemand etwas vom Aufenthalt
des Copertiners.
Und er selbst?
“Ich wohne hier innerhalb einer Stadt, aber es dünkt mich, als wohnte ich
in einem Walde oder vielmehr im Paradies.”55
In gesundem Empfinden weiß er also sehr wohl das
Eingeschlossensein, die Ungerechtigkeit seiner
Klosterhaft und die Härte seiner Isolierung richtig
einzuschätzen. Das muß seiner Natur widerstehen und ist
ein Widerspruch gegen seine Sendung zu den Menschen.
Aber er bleibt voller Freude und Liebe, ohne Klage oder
innere Auflehnung. Er ist mit Gott, sich selbst und den
Mitmenschen versöhnt: mit Gott, bei dem er sich einmal
bitter beklagt hat, mit sich selbst und seinem Leben —
und mit den Menschen, auch denen, die ihm Unrecht tun,
auch mit der Institution Kirche.
Er betet und singt und weiß sich in seiner Gottverbundenheit wie im
Paradies. Die Gemeinschaft seiner Brüder und der
geistliche Austausch mit ihnen genügen. Gern steht er
auch in diesem kleinsten, abgeschiedenen Kreis für Rat
und Lehre, Trost und geistliche Hilfe zur Verfügung.
Behutsam weist er die Brüder, wenn ein Anlaß vorliegt,
zurecht und ist um Bewahrung und Wiederherstellung des
Friedens besorgt. Durch ihn festigt sich die religiöse
Ordnung und geistliche Kraft des Konvents, sie beginnt
auch “nach außen” auszustrahlen, daß manche
Außenstehende sich unwillkürlich fragen, ob nicht doch
Josef von Copertino in dieser Bruderschaft lebt und
wirkt — anders sei ein solcher Wandel nicht zu erklären.
Von draußen werden die Franziskaner um ihre Gebetshilfe angegangen, wohl
auch in der Vermutung, sich dadurch der Fürbitte des
Copertiners zu vergewissern. Der kannte, obwohl er nie
hinausdurfte, in Osimo jede Gasse, jedes Haus, sah die
Menschen konkret in ihren Nöten. Die Gebetserhörungen
werden zeitweilig so auffällig, daß sie die
Geheimhaltung gefährden und die päpstliche Kurie mit
erneuter Verbannung — doch wohin eigentlich? — drohte.
Pater Josef bleibt gelassen und sich gewiß: “Haec
requies mea!” — hier in Osimo, in dieser Situation, hat
er nun das Ziel seines Lebens gefunden, seine “Ruhe”.
8. Vollendet
Sechs stille Jahre und doch voller bewegender Ereignisse — ein
unaufhaltsamer Aufstieg zu Gott. Die gelegentlichen
Gespräche mit dem Bischof, dem Josef die
Kardinalsernennung vorhersagt, und die spärliche
Korrespondenz mit der päpstlichen Behörde können die
Stille nicht stören. Kardinal Bichi hebt in seinen
Berichten lobend hervor, wie ergeben und zurückhaltend
sich der Klosterhäftling verhält.
Pater Silvestro, sein Vertrauter, war für drei Jahre woanders hin
versetzt worden. Als er nach Osimo zurückkehrt, empfängt
ihn Josef. “Du kommst gerade zurecht, um dein
Versprechen zu halten”, nämlich die Erfüllung des
Paktes, sich im Sterbefall gegenseitig priesterlich zu
begleiten. Er spricht von einer weiten Reise; die
Mitbrüder verstehen nicht, was er damit meint, die
Wallfahrt nach Loreto war doch verboten worden. Andere
meinen, der Copertiner hoffe auf Rückkehr nach Grottella.
Tatsächlich aber mehren sich die Anzeichen zunehmender
Schwäche und Erkrankung.
Im August 1663 erkrankt er an Wechselfieber. Mit letzter Kraft feiert er
noch einmal am 15. August, dem Fest der Aufnahme Mariens
in den Himmel, die heilige Messe. Geduldig unterzieht er
sich den Bemühungen der Ärzte: Untersuchungen, Diät,
Aderlaß und Beinoperation unter Anwendung glühender
Eisen. Von der schmerzhaften Prozedur spürt er in seiner
Entrücktheit wenig. Sie war schon überstanden, da
ermutigte er den Arzt noch dazu. In allen Beschwerden
und Leiden tröstet er andere und schickt einen Prälaten,
der ihn in Begleitung des Kardinals besucht, wieder nach
Hause zu seiner inzwischen erkrankten Köchin. Bis
zuletzt bleibt er fürbittend und helfend den Mitmenschen
zugewandt und verharrt zugleich in ständigem Gebet, mit
Gott verbunden. Er hat noch die Freude, daß der Papst,
es ist Alexander VII., ihm seinen Segen für die
Sterbestunde übermitteln läßt.
Am 6. September bringt ihn ein schwerer Rückfall an den Rand des Todes.
Zwei Tage später, am Fest Mariä Geburt, verlangt er die
heilige Kommunion als Wegzehrung, bittet alle um
Verzeihung auch für jede ungewollte Kränkung, bekennt
als seine Schuld, nicht einmal sein tägliches Brot
verdient zu haben. Er bittet um die Krankensalbung und
beginnt danach zu jubeln:
“O welches Licht, welcher Glanz! O was für schöne Worte! Was für Stimmen!
Welcher Wohlgeruch! Welche Süßigkeit! O welcher
Vorgeschmack des Himmels! O welches Himmelsglück!”56
Sein Sterben vergleicht er mit dem Aufstieg eines Eselchens auf einen
Berg. Immer wieder reißt es ihn auf seinem Lager hoch.
Er erneuert seine Bereitschaft, nach Gottes Willen zu
sterben: “Ich habe Leben und Tod dem Willen Gottes
überlassen.” Nach altem Ordensbrauch bekräftigt er noch
einmal die Ordensgelübde und will dem Oberen auch noch
die letzten persönlichen Habseligkeiten zurückgeben:
“...aber ich habe nichts, gar nichts.”
Bewußt erlebt er die letzte “Losschälung” von allem Irdischen und seufzt
einmal vernehmlich: “Dieser Übergang ist ungeheuer.”57
Die letzten Tage verbringt er wie in Ekstase. Pater
Silvestro bleibt unablässig bei ihm. Sie beten und
singen miteinander, begleitet durch eine kleine
Hausorgel, die man bei ihm aufgestellt hat. Zeitweilig
kommt es wie eine Ungeduld über ihn, er preßt die Hände
aufs Herz oder wühlt geradezu an der Brust: “Nimm dieses
Herz! Verbrenne es! Zerspalte es! Öffnet die Brust! O
Liebe, Liebe!”58 Das Singen und Beten wird
mühsamer, der Mund ist ausgetrocknet, die Zunge
angeschwollen. Man betet die Lauretanische Litanei und
die Sterbegebete, auf die er noch leise antwortet:
“Amen. Amen.” Mit diesen Worten verhaucht er am 18.
September 1663, eine Stunde vor Mitternacht, sein Leben.
Ein Lächeln verklärt sein Gesicht, es leuchtet wie von der Sonne
beschienen auf, friedlich und entspannt ruht sein Leib,
wie im Schlaf, ohne die Spur eines Todeskampfes oder
Leidens. Bei der Sektion stellt man ein völlig
blutleeres Herz fest, es ist wie ausgetrocknet. “Er
starb, verzehrt von innerem Feuer.”
In den Morgenstunden des nächsten Tages drängt sich eine Volksmenge ins
Kloster, um den Verstorbenen zu sehen. Man muß ihn vor
dem Andrang schützen, Chorschranken, Ritter und
Mitbrüder halten die Totenwache. Heilungen von
Krankheiten und Gebetserhörungen werden bezeugt.
Am 20.
September wird der Leichnam in der linken Seitenkapelle,
die der Immaculata geweiht ist, bestattet. Von da an
reißt der Pilgerstrom der Verehrer nicht mehr ab,
begleitet von wunderbaren Ereignissen. Er hatte eine
möglichst unauffällige Bestattung gewünscht, niemand
sollte sein Grab finden können:
“Die letzte Willenskundgebung Josefs unterscheidet sich noch einmal
vollständig vom Verhalten jener Menschen, die alles tun,
damit nach ihrem Tod weiter von ihnen geredet werde, und
dabei doch bald der Vergessenheit anheimfallen.”59
Noch im Oktober des gleichen Jahres gibt der Generalobere des
Minoritenordens an Pater Roberto Nuti den Auftrag,
Material für eine Lebensbeschreibung zu sammeln. Diese
Biographie sollte “der glücklichen Seele Pater Josefs”
entsprechend “einfach und klar und bescheiden” ohne
Phrasen und Eleganz des Ausdrucks abgefaßt werden. “Ich
will nicht, daß der Diener Gottes gerühmt werde.”60
1665 leitet
man in den Diözesen Osimo, Assisi und Nardö den
kirchlichen Untersuchungsprozeß ein. Augen‑ und
Ohrenzeugen werden vorgeladen, diesmal nicht mehr, um
ihn anzuklagen und zu verurteilen, sondern um Beispiele
und Beweise seines heiligen Lebens und seiner heroischen
Tugenden zu sammeln. Doktoren der Theologie, Bischöfe
und Kardinäle beschreiben bis ins einzelne sein Leben
und Verhalten.
1688 kann der Apostolische Prozeß in Rom aufgenommen werden, das
schriftliche Material wird überprüft, die
Verehrungswürdigkeit des Copertiners offiziell
bestätigt.
Neunzig Jahre nach seinem Tod schließt Papst Benedikt XIV. den
Seligsprechungsprozeß ab. Jetzt darf Josef von Copertino,
von der Kirche nach sorgfältiger Prüfung ausdrücklich
anerkannt, als “Seliger” angerufen werden. Das gibt
seiner Verehrung mächtigen Auftrieb. Im gleichen Jahr
1753 veröffentlicht Pater Angelo Pastrovicchi im
päpstlichen Auftrag, fußend auf den umfangreichen Akten
des Seligsprechungsprozesses, eine Lebensbeschreibung
des Mystikers, die auch Einzelheiten seines Leidens und
Reifens bekannt macht. Erneut werden zahlreiche Wunder,
Krankenheilungen und Gebetserhörungen, die man seiner
Fürsprache zuschreibt, berichtet und nach strengen
medizinischen und theologischen Maßstäben überprüft. Was
der Prüfung standhält, reicht bei weitem — nach
einhelligem Urteil aller befragten Kardinäle und
Konsultatoren — als Grundlage für den
Heiligsprechungsprozeß, der 1767 abgeschlossen wird.
Damit rehabilitiert die Kirche Josef von Copertino noch einmal
ausdrücklich vor aller Welt und erkennt an, daß seinem
Gehorsam, seiner Liebe und Selbstverleugnung, seiner
demütigen Unterwerfung unter ihre Autorität heroischer
Grad zugebilligt werden muß. Alles andere als
leichtfertig oder unkritisch, bestätigt sie die Echtheit
und Übernatürlichkeit der erst umstrittenen
Erscheinungen und Ereignisse seines Lebens, derentwillen
sie den Mystiker zu seinen Lebzeiten vor der
Öffentlichkeit “versteckt” hatte.
Am 16. Juli 1767 wird Josef von Copertino feierlich in den Kanon der
Heiligen aufgenommen. Die Kirche begeht sein Fest am 18.
September. Seine Gebeine ruhen heute in der Unterkirche
der ihm geweihten Basilika zu Osimo.
Ein Pfarrer Ignaz Grandi übersetzte 1968 für die deutschen Pilger einen
Auszug aus der umfangreichen Lebensbeschreibung des
Heiligen von Gustavo Parisciani und zitiert zum Schluß
noch die Würdigung unseres Mystikers durch Walter Nigg;
er beendet seinen Bericht mit dem Nachwort61:
“Das also war dein Leben, lieber Bruder Josef von Copertino. Nun bist du
wirklich nach dem Tode glücklich zu preisen', nachdem du
so vieles durchgemacht, soviel Unglaube, Widerspruch und
Mißverständnis gefunden hast. Wird man dir jetzt,
dreihundert Jahre nach deinem Tode, mehr Glauben
schenken, da du doch bei Lebzeiten so wenig Glauben
gefunden hast? Kann sein; ich weiß es nicht. Du aber
lebst und bist hoch über alle menschlichen Meinungen
erhaben.”
Kurzgefaßter Lebenslauf in Daten
1603 |
17.
Juni: Giuseppe Maria Desa, getauft zu Copertino
in Apulien (Italien). |
1611‑1617
|
Behinderte Kindheit. |
1617 |
Kurze, erfolglose Lehrzeit. |
1620-1628 |
Laienbruder bei den Kapuzinern, dann aufgenommen
von den Minoriten in Grottella bei Copertino.
Mühseliges Studium. |
1628 |
18.
März: Priesterweihe, Dienst in Grottella. |
1630 |
4.
Oktober: erste bezeugte ekstatische Levitation —
wachsendes Aufsehen. |
1636 |
Anklage beim kirchlichen Gericht.
Untersuchung durch die Inquisition in Neapel und
Rom.
Versetzung nach Assisi. |
1639-1653 |
Assisi: völlige Abgeschiedenheit, Erfahrung der
Geistesgaben.
Wachsende Ausstrahlung, großer Andrang. |
1644 |
29.
Juli: prophetische Kenntnis vom Tod des Papstes
Urban VIII. |
1651 |
Konversion Johann Friedrichs von Sachsen, des
Herzogs von Braunschweig‑Lüneburg. |
1653 |
23.
Juli: erneutes Eingreifen der Inquisition.
Verbannung und Gefängnishaft im Kapuzinerkloster
Pietrarubbia, dann in Fossombrone. |
1655 |
7.
Januar: prophetische Kenntnis auch vom Tod des
Papstes Innozenz X. |
1657 |
9. Juli: ins Minoritenkloster
Osimo verbracht, strengste Geheimhaltung. |
1663 |
Fieber, fast ständige Ekstasen.
15.
August: letzte heilige Messe.
18.
September: Sterben, “verzehrt von innerem
Feuer”.
Sammlung von Material durch Roberto Nuti. |
1678 |
Veröffentlichung des Materials. |
1688 |
Eröffnung des kanonischen Prozesses. |
1753 |
24.
Februar: Seligsprechung.
Veröffentlichung der Lebensbeschreibung durch
Angelo Pastrovicchi in päpstlichem Auftrag (auch
ins Deutsche übersetzt). |
1767 |
16.
Juli: Heiligsprechung, Fest am 18. September. |
Literatur
in deutscher Sprache
Ignaz Grandi, Der heilige Josef von Copertino. Ein Auszug aus dem
ausführlichen Werk von Gustavo Pariseiani OFMConv, in
deutsch, Verlag Pax et Bonum Osimo 1968 (offensichtlich
vergriffen).
Angelo Pastroviechi, Kurzer Inbegriff des Lebens und der Tugenden und
Wunder des seligen Joseph von Copertino, 1753
(Hauptquelle für Hello und Nigg).
Ernst Hello, Heiligengestalten, Jakob Hegner Verlag Köln und Olten 11934
, 31953, S. 246‑257.
Walter Nigg, Der einfältige Charismatiker: Josef von Copertino, in: Große
Heilige, Arternis Verlag Zürich und Stuttgart 71962,
S. 364‑395, Anmerkungen S. 534.
Nigg bringt — nach einigen Bemerkungen über die Quellenlage — das
Geheimnis dieses Mystikerlebens “auf den Punkt”: die
außergewöhnliche charismatische Begnadung ohne jede
Grundlage in einer natürlichen Begabung, die Befremdung,
ja Ängste, die sie bei amtskirchlichen Stellen
verursachte; und die Einfalt, mit der Josef sich fügt
und alle menschliche Weisheit beschämt. Nigg zitiert
auch: Anonymus (unbekannter Verfasser), Das wundervolle
Leben des heiligen Josef von Copertino, 1843; Simone
Weil, Schwerkraft und Gnade, 1952, S. 72; Herbert
Thurston, Die körperlichen Begleiterscheinungen der
Mystik, 1956.
Winthir Rauch, Josef von Copertino, in: Die Heiligen in ihrer Zeit,
Matthias‑Grünewald‑Verlag Mainz 31967 —
eingeordnet unter “Heilige erkennen das Gebot der
Stunde” in Band 11, S. 367‑370.
Wilhelm Schamoni, Das wahre Antlitz der Heiligen, Kösel‑Verlag München
31950, S. 230 f. — mit dem Bild der
Totenmaske aus dem Kloster Osimo.
Unter “Noten und Hinweise” beruft sich Schamoni (S. 343) auf. Josef
Görres, Mystik 11, S. 542, und verweist auf dessen
Ausführungen über das ekstatische Schweben und Fliegen
(S. 339‑348): “Bei keiner historischen Tatsache ist ...
größere Sorgfalt angewendet worden, um die rechte
Wahrheit auszufinden”. In “Die Entrückung und der
ekstatische Flug” (Bd. 11, S. 528‑553) führt Görres noch
manche andere Mystiker für diese Erscheinung an.
Haus Kühner, Lexikon der Päpste. Von Petrus bis Johannes XXIII.,
Frankfurt a. M. 1960 (Fischer Bücherei).
Josef Hopfenzitz, Die Klosterkiche in Maihingen, Verlag der Buchhandlung
Engler Nördlingen, S. 36‑38 und 18.
In dieser Kirche des früheren Minoritenklosters erzählt ein ganzer
Gemälde‑Zyklus das Leben des heiligen Josef von
Copertino: Geburt, Klostereintritt, Austreibung böser
Geister, der aus Liebe Weinende, Kasteiung, Gabe der
Heilung, Konversion des Herzogs von Braunschweig, Flug
in Ekstase, Tod, Seligund Heiligsprechung.
Anmerkungen
1 Walter Nigg,
Der einfältige Charismatiker: Josef von Copertilio, in:
Große Heilige, Arternis Verlag Zürich und Stuttgart
1962, S. 360.
2 Ebd., S.
365.
3 Ebd.
4 Ernst Hello,
Heiligengestalten, Jakob Hegner Verlag Köln und Olten
11934, 31953, S. 248.
5 Ignaz Grandi,
Der heilige Josef von Copertitio. Ein Auszug aus dem
ausführlichen Werk von Gustavo Parisciani OFM Coilv, in
deutsch, Verlag Pax er Bonuni Osinio 1968, S. 7.
6 Nigg, a. a.
O., S. 367.
7 Ebd.
8 Ebd., S.
368.
9 Wilhelm
Schamoni, Das wahre Antlitz der Heiligen, Kösel Verlag
München 31950, S. 231.
10 Nigg, a. a.
O., S. 370.
11 Hello, a.
a. O., S. 251.
12 Nigg, a. a.
O., S. 378.
13 Grandi, S.
16.
14 Ebd.
15 Nigg, a. a.
O., S. 373.
16 Ebd., S.
376.
17 Ebd., S.
374.
18 Josef
Görres, Mystik II, S. 542; Herbert Thurston, Die
körperlichen Begleiterscheinungen der Mystik.
19 Simone Weil,
Schwerkraft und Gnade, S. 72.
20 Nach Grandi,
a. a. O., S. 19.
21 Nigg, a. a.
O., S. 384.
22 Grandi, a.
a. O., S. 22.
23 Nigg, a. a.
O., S. 381.
24 Grandi, a.
a. O., S. 25.
25 Ebd., S. 26
f.
26 Ebd., S.
31.
27 Ebd., S. 32
f.
28 Ebd., S.
36.
29 Ebd., S. 37
und 39.
30 Winthir
Rauch ‚Josef von Copertino, in: Die Heiligen in ihrer
Zeit, Matthias‑Grünewald‑Verlag Mainz a. a. 31967,
Bd. 11, S. 369.
31 Grandi, a.
a. O., S. 48.
32 Ebd., S.
49.
33 Ebd., S.
50.
34 Ebd., S.
51.
35 Ebd.
36 Bei Grandi,
a. a. O., S. 52.
37 Ebd., S.
55.
38 Ebd., S.
54.
39 Bei Rauch,
a. a. O., S. 369.
40 Bei Grandi,
a. a. O., S. 52 f.
41 Ebd., S.
53.
42 Ebd., S. 53
f
43 Bei Rauch,
a. a. O., S. 369.
44 Grandi, a.
a. O., S. 54.
45 Ebd.
46 Ebd., S.
55.
47 Ebd., S.
56.
48 Haus
Kühner, Lexikon der Päpste. Von Petrus bis Johannes
XXIII., Frankfurt a. M. 1960 (Fischer Bücherei), S.
150‑153.
49 Grandi, a.
a. O., S. 65.
50 Nigg, a. a.
O., S. 388.
51 Ebd.
52 Kühner, a. a. O., S. 146.
53 Hello, a.
a. O., S. 257.
54 Nigg, a. a.
O., S. 388.
55 Ebd., s.
390.
56 Grandi, a.
a. O., S. 84.
57 Rauch, a.
a. O., S. 370.
58 Grandi, a.
a. O., S. 85.
59 Nigg, a. a.
O., S. 390 f.
60 Rauch, a.
a. O., S. 367.
61 Grandi, a.
a. O., S. 89.
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