Exkurs über den Vater der „Brüder“ Jesu
Es ergeben sich nun interessante weitere Einzelheiten über die Familienverhältnisse der „Brüder Jesu“, wenn wir die Aussagen des Johannesevangelium über die Frauen unter dem Kreuz heranziehen und diese mit den Aussagen von Markus und Matthäus vergleichen. Matthäus und Markus erwähnen (in Mt 27,55f und Mk 15,40) unter den Zeugen der Kreuzigung zwei Frauen namens Maria:
- Maria von Magdala, und
- Maria, die Mutter zweier Brüder Jesu (Jakobus und Josef/Joses).
Johannes erwähnt (nach der wahrscheinlichsten Deutung) drei Frauen (in Joh 19,25):
- Maria, die Mutter Jesu,
- "die Schwester seiner Mutter, Maria, die [Frau] des Klopas"[11],
- Maria von Magdala.
Da nun der Bericht des Johannesevangeliums auf einen unmittelbaren Augenzeugen der Kreuzigung zurückgeht (Joh 19,35), ist es wahrscheinlich, dass die beiden von Markus und Matthäus erwähnten Frauen (die sicher in der Urkirche eine wichtige Rolle spielten) hier ebenfalls erwähnt werden, insbesondere sollte dann also „Maria, die Mutter des Jakobus und Josef/Joses“ eine der drei von Johannes erwähnten Frauen namens Maria sein. Wie wir gesehen haben, kann aber „Maria, die Mutter des Jakobus und Josef/Joses“ nicht die Mutter Jesu sein und natürlich ist sie auch nicht mit Maria von Magdala identisch (da sie von dieser bei Markus und Matthäus unterschieden wird). Dann bleibt aber nur übrig, dass sie mit „Maria, die Schwester seiner Mutter und die Frau des Klopas“ gleichgesetzt werden muss. Dazu passt nun, dass diese Maria als „Schwester“ der Mutter Jesu (was hier nur „Verwandte“ heißen kann, weil ja leibliche Schwestern nicht beide Maria heißen können) mit Maria verwandt war. Denn von „Maria, der Mutter des Jakobus und Josef/Joses“ wissen wir ja ebenfalls, dass sie als Mutter von „Brüdern“ (nahen Verwandten) Jesu ebenfalls mit Maria verwandt sein muss. Ist also diese Kombination richtig, so folgt, dass der Vater der „Brüder“ Jesu wahrscheinlich Klopas hieß.
Eine wichtige Stütze erhält diese Kombination aus einer nachbiblischen Quelle: den Erinnerungen des Hegesipp (um 180 n. Chr.), aus denen in der Kirchengeschichte des Eusebius Fragmente erhalten sind. Dort wird bezeugt, dass der Herrenbruder Jakobus der erste Bischof von Jerusalem war, und dass ihm Simon, der Sohn des Klopas nachfolgte. Wörtlich heißt es:
„Nachdem Jakobus der Gerechte ... als Märtyrer gestorben war, ... wird wiederum Symeon, ... der Sohn des Klopas, zum Bischof eingesetzt. Alle schlugen ihn vor, weil er ein zweiter Vetter des Herrn war".[12]
Damit erklärt Hegesipp auch den Herrenbruder Jakobus zum „Vetter“ des Herrn, denn wenn Symeon der „zweite“ Vetter war, muss es einen ersten geben, und dieser ist dem Zusammenhang nach Jakobus. Diese Stelle wird von einigen Übersetzern um ihre Beweiskraft gebracht, indem „zweiter Vetter“ gestrichen wird; statt dessen liest man, dass Symeon zum „zweiten Bischof“ gemacht wurde. Es handelt sich um ein sprachlich kaum mögliches Verständnis des griechischen Textes, und das hartnäckige Beharren vieler Übersetzer auf diesem Verständnis seit Theodor Zahn ist wohl darauf zurückzuführen, dass sie Jakobus für einen Vollbruder Jesu halten und ein entgegenstehendes Zeugnis des Hegesipp nicht akzeptieren wollen (siehe dazu Blinzler, Die Brüder und Schwestern Jesu S. 105-108). Da Hegesipp mit Jakobus und Symeon (= Simon) hier offenbar die im Neuen Testament genannten Herrenbrüder meint, ist hier also bezeugt, dass (1) Klopas der Vater des Herrenbruders Simon war,[13] und (2) Jakobus ebenso wie Simon ein Vetter des Herrn (ob der Vater des Jakobus ebenfalls Klopas war, bleibt allerdings unklar).
Daneben gibt es nun aber noch eine andere Argumentation, die auf einen Mann namens Alphäus als Vater von „Brüdern“ Jesu schließen lässt. Nach der Apostel-Liste Apg 1,13 (ähnlich Lk 6,14-16) gehörten nämlich zu den zwölf Aposteln: „Jakobus [Sohn] des Alphäus und Simon der Zelot und Judas des Jakobus“. Demnach gab es drei Apostel mit Namen Jakobus, Simon und Judas, welche dieselben Namen haben und in derselben Reihenfolge genannt werden wie drei der vier namentlich bekannten Brüder Jesu in Mt 13,55. Waren es diese Brüder? Dafür spricht neben der Namensgleichheit, dass die drei Apostel hier anscheinend als untereinander verwandt beschrieben werden,[14] und dass wir über diese drei Apostel fast gar keine Nachrichten hätten, wenn wir sie nicht mit den Herrenbrüdern gleichen Namens gleichsetzen.[15] Die früher oft übliche These von der Gleichsetzung von Brüdern Jesu mit Aposteln ist allerdings nicht ganz unproblematisch und wird darum heute überwiegend (z. B. auch schon von Josef Blinzler) abgelehnt. Aber die Schwierigkeiten werden oft übertrieben und sind meines Erachtens keine vollkommen überzeugende Beweise gegen die Gleichsetzung.[16] Als Vater der Herrenbrüder kommt somit also möglicherweise neben Klopas auch Alphäus in Frage.
Könnte man beides vereinbaren? Da die beiden Namen ziemlich ähnlich klingen, könnte es sich um ein und dieselbe Person handeln. Man kann diesbezüglich vier Hypothesen unterscheiden:
1. Nach der Gleichnamigkeits-Hypothese handelt es sich tatsächlich um ein und denselben semitischen Namen „Chalpai“ mit hartem „Ch“. Da das Griechische kein hartes „Ch“ kennt, wird dieser Buchstabe entweder weggelassen (so kommt „Aphäus“ zustande) oder er wird zum „K“ und man erhält „Klopas“.
2. Eine andere Möglichkeit wäre die Wechselnamigkeits-Hypothese. Wechselnamigkeit besagt, dass jemand zwei verschiedene, aber ähnlich klingende Namen aus verschiedenen Sprachen hat. (z. B. Ludwig-Luzius). Solche Wechselnamigkeit kam bei den Juden der Zeit Jesu häufiger vor, indem diese außer ihrem angestammten semitischen Namen noch einen griechischen, ähnlich klingenden annahmen. So könnte der Jude Chalpai (= Alphäus) zugleich den Namen Kleopatras = Kleophas = Klopas angenommen haben.
3. Davon zu unterscheiden ist die Hypothese der Doppelnamigkeit, wonach derselbe Mann zwei semitische Namen hatte: Chalpai (= Alphäus) und Klopa (= Klopas).
4. Schließlich könnte es auch sein, dass es sich um zwei Personen handelt. Dieser Hypothese zufolge wäre Maria, die Mutter der Herrenbrüder zuerst mit Alphäus verheiratet gewesen (wobei aus dieser Ehe Jakobus hervorging) und hätte dann nach dem Tod des Alphäus den Klopas geheiratet (der dann eventuell der Vater anderen Herrenbrüder war; nach Hegesipp stammt ja Simon von Klopas ab).
Endgültige Klarheit ist hier wohl nicht zu gewinnen, wenn keine neuen Quellen entdeckt werden.
Argumente für die immerwährende Jungfräulichkeit Mariens
Wir haben gesehen, dass keines der gegen die immerwährenden Jungfräulichketi Mariens vorgebrachten Argumente stichhaltig ist. Damit ist jedoch noch nicht positiv gezeigt, dass Maria nach Jesu Geburt Jungfrau blieb. Die wichtigsten Argumente, welche die immerwährende Jungfräulichkeit Mariens positiv untermauern, sind nun folgende.
1. Eine starke psychologische Motivation für vollständige Enthaltsamkeit könnte man in der jungfräulichen Empfängnis Jesu sehen. Nimmt man die in der Schrift eindeutig bezeugte jungfräuliche Empfängnis Jesu als Tatsache ernst (Mt 1,18-24; Lk 1,26-38), so wird man zugeben, dass dieses Ereignis auf Maria und Josef einen tiefen Eindruck hinterlassen haben muss. Maria war Braut des Heiligen Geistes geworden, der sie „überschattet“ hatte (Lk 1,35). Konnten nach einem solchen Gotteserlebnis noch andere Interessen in ihr aufkommen wie etwa das Verlangen nach ehelichem Verkehr mit Josef? Auch Josef dürfte sich nach der jungfräulichen Empfängnis Jesu gescheut haben, mit Maria wie mit einer gewöhnlichen Ehefrau umzugehen, selbst wenn er dies ursprünglich vorgehabt haben sollte. So wäre also bei Maria und Josef der Entschluss zur ehelichen Enthaltsamkeit psychologisch gut nachvollziehbar.
2. Sodann lassen sich für die immerwährende Jungfräulichkeit Mariens viele „Angemessenheitsgründe“ angeführen, unter anderem etwa das folgende: Der Stand, der am meisten angemessen ist für die Aufgabe, Mutter Christi zu sein, d. h. den Sohn Gottes aufzuziehen und auf seinem Weg ins Leben zu begleiten, scheint der Stand der Jungfräulichkeit zu sein, wo keine anderen Interessen Platz haben als Gott allein, wo das Herz „ungeteilt“ und ganz Gott gehört (vgl. 1 Kor 7,32-34). Daher hat Gott Maria wahrscheinlich zu einer jungfräulichen Lebensweise berufen.
3. Gibt es aber, so wird gefragt, kein Schriftwort, aus dem sich die immerwährende Jungfräulichkeit auf direktem Wege und klar erweisen lässt? Früher war die katholische Theologie allgemein davon überzeugt, dass es eine solche Schriftstelle gibt: Mariens Frage an den Engel. Als der Engel ankündigt, sie werde Christus empfangen (Lk 1,26-33) fragt Maria nämlich (Vers 34): „Wie soll das geschehen, da ich keinen Mann erkenne“? Diese Frage Mariens hat oft schon Erstaunen ausgelöst. Warum fragt sie nach dem „wie“, und warum sagt sie, dass sie „keinen Mann“ erkenne, da sie doch bereits mit Josef verlobt war (Lk 1,27), so dass die Heirat bald erfolgen musste? Musste sie nicht zunächst einmal davon ausgehen, dass sie das Kind nach ihrer Heirat von Josef empfangen sollte? Der Engel sagt ja nicht: „Du wirst jetzt sofort empfangen“, sondern er benutzt die unbestimmte Zukunftsform „du wirst empfangen“. Die einzige Erklärung scheint hier die Annahme zu sein, dass Maria den Vorsatz gefasst hatte, in ihrer Ehe mit Josef jungfräulich zu bleiben. Wieso war sie dann verlobt? Es sind mehrere Gründe denkbar. Zum Beispiel könnte die Heirat von den Eltern beschlossen worden sein. Vielleicht war die Situation auch so, dass Maria keine Brüder hatte und deshalb nach dem Gesetz einen Verwandten aus der väterlichen Sippe heiraten musste, damit der Erbbesitz ihres Vaters nicht auf eine andere Sippe überging (siehe 3 Mose 27,6-11 und 36,6-12). Maria könnte also in aller Stille den Vorsatz zur bleibenden Jungfräulichkeit gefasst haben und dennoch zu der von den Eltern bestimmten oder vom Gesetz vorgeschriebenen Ehe ihre Zustimmung gegeben haben, nachdem sie sich mit Josef auf eine jungfräuliche Ehe geeinigt hatte. Vor diesem Hintergrund würde die Frage Mariens verständlich. „Wie soll das geschehen“, fragt sie, da sie „keinen Mann“ erkenne, d. h. da sie bisher glaubte, zur jungfräulichen Lebensweise berufen zu sein. So gesehen zeigt die Frage, dass Maria nun eventuell bereit ist, ihren Jungfräulichkeitsvorsatz aufzugeben, falls Gott das wünschen sollte. Aber der Engel antwortet ihr, dass sie unter Bewahrung ihrer Jungfräulichkeit empfangen sollte. Nun konnte sie sicher sein, dass ihr Vorsatz Gott gefällt. Ist diese Deutung richtig, so spricht alles dafür, dass Maria diesem ihren Vorsatz auch nach Christi Geburt treu geblieben ist, womit dann ihre immerwährende Jungfräulichkeit bewiesen wäre.
Allerdings werden heute auch von vielen katholischen Bibelgelehrten gegen diese Auslegung starke Bedenken geltend gemacht, die man in zwei Punkten zusammenfassen kann: Man sagt erstens, dass den Juden das Ideal der Jungfräulichkeit fremd war, man zählte vielmehr die Ehe und die Kinderzeugung zu den religiösen Pflichten. Daher könne ein solcher Vorsatz auch bei Maria nicht angenommen werden. Doch wird dabei übersehen, dass nicht alle Schichten des Judentums das Ideal der Jungfräulichkeit ablehnten. Schon im Alten Israel war eine religiös begründete geschlechtliche Enthaltsamkeit durchaus bekannt: Das Volk musste drei Tage vor dem Bundesschluß am Sinai enthaltsam leben (2 Mose 19,14) und der Priester Abimelech verlangte vor dem Essen der heiligen Brote von David und seinen Soldaten Enthaltsamkeit (1 Sam 21,5). Lukas berichtet ferner von einer 84-jährigen jüdischen Witwe namens Hanna, die im Tempel diente und nach siebenjähriger Ehe im Witwenstand verblieben war – offenbar aus Hochschätzung für den jungfräulichen Dienst vor Gott. Mehr noch: Zur Zeit Jesu gab es eine Gruppe im Judentum, deren Angehörige „Essener“ genannt wurden, und die aus religiösem Antrieb ganz auf die Ehe verzichteten. Dasselbe gilt für eine von Philo von Alexandrien beschriebene Gruppe von Juden, die in Ägypten lebten und sich „Therapeuten“ nannten. Darüber hinaus kennen wir gerade in der Verwandschaft Mariens einen Fall von entschiedener Jungfräulichkeit um des Himmelreichs willen: Johannes der Täufer, Jesu Vorläufer, war mit Maria verwandt (Lk 1,34-36; 57-63) und lebte höchstwahrscheinlich jungfräulich (Lk 1,80), ebenso wie schließlich Jesus selbst (Mt 8,20; Lk 14,26; Mt 19,12). In diesem Umfeld ist es also nicht unmöglich, dass auch Maria das Jungfräulichkeitsideal kannte.[17]
Zweitens wird behauptet, dass sich die Verheißung des Engels auf die Gegenwart bezieht (im Sinne von: “Du wirst sogleich schwanger werden“), so dass die Frage Mariens „wie soll das geschehen“ lediglich besagt: „soll ich etwa schon vor der Ehe mit Josef verkehren?“ Doch mir scheint der Text diese Deutung nicht zu stützen. Denn in der Ankündigung des Engels ist nun einmal keine Zeitbestimmung enthalten. Auch sagt Maria ohne jede Einschränkung: „Ich erkenne keinen Mann“, und nicht, wie man erwarten würde, wenn jene Deutung richtig wäre: „ich erkenne noch keinen Mann“.[18] Sobald man sich daher das Zwiegespräch zwischen Maria und dem Engel als wörtlich so geschehen vorstellt, stößt man bei dem Versuch, die psychologischen Voraussetzungen der Frage Mariens und ihrer kategorischen Aussage „ich erkenne keinen Mann“ zu ergründen, auf die Schwierigkeit, dass eine verlobte Frau, die eine normale Ehe führen wollte, so etwas gar nicht sagen konnte.[19]
So lässt sich also nicht wegerklären, dass der Dialog zwischen Maria und dem Engel Lk 1,26-38 den Gedanken nahelegt, dass Maria nicht nur Jungfrau war, sondern auch für immer bleiben wollte und sollte.
* Überarbeitete Fassung der Veröffentlichung in: Theologisches, Jahrgang 37, Nr. 11/12 2007, 393-404.
__________________________________________
[1] So heißt es im Katechismus der Katholischen Kirche aus dem Jahre 1993, dass Maria „stets wirklich Jungfrau geblieben ist“ (Nr. 499), und zu den in der Schrift erwähnten Brüdern und Schwestern Jesu heißt es (ebd. Nr. 500): “Die Kirche hat diese Stellen immer in dem Sinn verstanden, dass sie nicht weitere Kinder der Jungfrau Maria betreffen. In der Tat sind Jakobus und Josef, die als ‚Brüder Jesu’ bezeichnet werden (Mt 13,55), die Söhne einer Maria, welche Jüngerin Jesu war und bezeichnenderweise ‚die andere Maria’ genannt wird (Mt 28,1). Gemäß einer bekannten Ausdrucksweise des Alten Testaments handelt es sich dabei um nahe Verwandte Jesu“ (vgl. auch das Kompendium zum Katechismus aus dem Jahre 2005, Nr. 99).
[2] Theodor Zahn, Brüder und Vettern Jesu, in: Forschungen zur Geschichte des neutestamentlichen Kanons und der altchristlichen Literatur, Band IV, Leipzig, 1900, S. 225-364.
[3] Grundlegend vor allem: Josef Blinzler, Die Brüder und Schwestern Jesu, Stuttgart, 1967.
[4] Ebd. S. 11-12 .
[5] Der hier vorliegenden Sachverhalt lässt sich durch folgende Parallele erläutern. Angenommen, ein Prophet begegnet einem Bettler und verkündet: „Du wirst Millionär werden, ohne dafür arbeiten zu müssen“. Nachdem dies eingetroffen ist (beispielsweise durch einen Lottogewinn), könnte man in einem Bericht darüber folgendes sagen: „Es geschah so, wie der Prophet gesagt hatte: Der Bettler blieb untätig, bis er im Lotto gewann“. Wer so berichtet, will sicher nicht andeuten, dass der ehemalige Bettler, nachdem er nun zu Geld gekommen war, seine Untätigkeit aufgab und anfing zu arbeiteten; es ist mit der Berichterstattung vereinbar, dass er immerwährend untätig blieb. Die Aussage zieht nur den Zeitraum bis zum Geldgewinn des Bettlers in Betracht, d. h. bis zum Schlusspunkt der Prophezeiung, und willbestätigen, dass sie eingetroffen ist. Genauso betont Matthäus in Mt 1,25, dass Maria gemäß der Verheißung Jesajas bei der Geburt Jesu noch Jungfrau war und insofern „bis“ zur Geburt keinen Verkehr mit Josef hatte, ohne damit irgendetwas über das „danach“ aussagen zu wollen.
[6] Josef Blinzler hat noch auf einen klaren Beleg hingewiesen, dass ein Einziggeborener im Judentum als Erstgeborener bezeichnet werden konnte: Auf einem jüdischen Grabstein einer jungen Frau fand man die Aufschrift: „Bei den Geburtswehen meines erstgeborenen Kindes führte mich das Schicksal an das Ende meines Lebens“ (Blinzler, Die Brüder und Schwestern Jesu, S. 57).
[7] „Joses“ ist eine seltene Nebenform des Namens „Josef“, wahrscheinlich ein Kosename.
[8] Dies lässt sich noch durch zwei weitere Gründe untermauern: Erstens gehörte Maria, die Mutter des Jakobus und Josef/Joses zu den Frauen, die Jesus, „als er noch in Galiläa war, nachfolgten und ihm dienten“ (Mk 15,41). Maria, die Mutter Jesu scheint dagegen nicht zu Jesu ständigen Begleitern gehört zu haben (vgl. Mk 3,31-35). Zweitens war Jesu Mutter nach dem Zeugnis des Johannes zwar ebenfalls bei der Kreuzigung anwesend, aber sie stand sie so nahe beim Kreuz, dass Jesus mit ihr reden konnte (Joh 19,25-27), während von Maria, der Mutter des Jakobus und Joses gesagt wird, dass sie „von ferne“ zuschaute (Mt 27,55; Mk 15,40).
[9] Darauf hat zu Recht Josef Blinzler hingewiesen (Die Brüder und Schwestern Jesu S. 70).
[10] Hätte Jesus seinen Jünger Johannes nur in die Schar der Söhne Mariens einreihen wollen, so hätte er sagen müssen „siehe, ein Sohn von dir“, was im Griechischen einfach durch Weglassen des Artikels gesagt werden kann.
[11] Man streitet darüber, ob die „Schwester seiner Mutter“ und „Maria, die Frau des Klopas“ hier ein oder zwei Personen sind. Dafür, dass von einer Person die Rede ist, sprechen vor allem zwei Gründe:
a) Johannes setzt zwischen die Bezeichnungen hier kein „und“, was er sonst bei Aufzählungen immer tut, auch dort, wo es nicht notwendig wäre (wie etwa in Joh 2,12 und 21,2).
b) Wäre von zwei Personen die Rede, so wäre „Maria, die Frau des Klopas“ eine Person, deren Bezug zu Jesus ungenannt bliebe, so dass der nicht eingeweihte Leser damit nichts anfangen könnte.
[12] Eusebius, Kirchengeschichte VI, 22, 4.
[13] Nach Hegesipp war dieser Klopas außerdem ein Bruder Josefs, des Nährvaters Jesu (vgl. Eusebius, Kirchengeschichte 3,11).
[14] „Judas des Jakobus“ könnte entweder „Judas, Sohn des Jakobus“ oder „Judas, Bruder des Jakobus“ bedeuten, wobei mit Jakobus hier naheliegenderweise der Alphäussohn Jakobus gemeint ist, weil dieser ja gerade eben genannt war. Wahrscheinlich ist „Bruder des Jakobus“ gemeint, weil sonst Vater und Sohn zugleich Apostel gewesen wären. Zwischen „Jakobus, [Sohn] des Alphäus“ und „Judas des Jakobus“ steht aber noch Simon, und es ist nicht ausgeschlossen, dass die Kennzeichnung „des Jakobus“ sich nicht nur auf Judas, sondern zugleich auch auf Simon beziehen soll. Man könnte die Aufzählung dann also so verstehen: „Jakobus, [Sohn] des Alphäus, Simon der Zelot und Judas [die Brüder bzw.\ Angehörigen] des Jakobus“. Damit wären die drei Apostel untereinander verwandt.
[15] Die Herrenbrüder waren hingegen bedeutende Persönlichkeiten der Urkirche: Jakobs und Simon waren die ersten beiden Bischöfe von Jerusalem (wie wir von Hegesipp wissen), während von Judas ebenso wie von Jakobus ein neutestamentlicher Brief erhalten ist.
[16] Es sind im Wesentlichen zwei Schwierigkeiten: Erstens werden die Brüder Jesu als anfänglich ungläubig bezeichnet (Joh 7,5). Aber gilt dies nicht auch für die Apostel? – Zweitens werden die Brüder Jesu werden oft verbal von den Aposteln oder Jüngern getrennt oder stehen sich sogar einander gegenüber (vgl. Mk 3,20f, Joh 2,12, Apg 1,13-14 und 1 Kor 9,5). Aber man muss einerseits damit rechnen, dass bei solchen Gegenüberstellungen entweder mit Jüngern bzw. Aposteln nicht der vollständige Apostelkreis gemeint ist (die drei Brüder könnten zu Aposteln ernannt worden sein, ohne dass sie dies von Anfang an ernst nahmen und Jesus tatsächlich begleiteten), und/oder dass zu den Brüdern Jesu ein größerer Kreis von Verwandten Jesu gerechnet wird, von dem der überwiegende Teil den Aposteln gegenübersteht mit Ausnahme der drei zu Aposteln berufenen Brüder, die man hier außer Acht lässt.
[17] Man vergleiche auch das Eintreten des Juden Paulus für die Jungfräulichkeit in 1 Kor 7. Bemerkenswert ist vor allem Vers 37: „ ... wer also in seinem Herzen entschlossen ist, seine Jungfrau unberührt zu lassen, handelt richtig“. Hier ist anscheinend von der Bewahrung der Jungfräulichkeit in einer nach außen hin wie eine Ehe geführten Beziehung die Rede, ähnlich wie es im Fall von Maria und Josef gewesen sein könnte.
[18] Im Griechischen heißt es wörtlich: „einen Mann erkenne ich nicht“. Hier hätte Lukas einfach "oupo" (noch nicht) statt „ou“ (nicht) schreiben können.
[19] Man entgeht dieser Schwierigkeit nur, wenn man das Gespräch mit dem Engel als von Lukas erfunden betrachtet, also als Stilmittel, mit dem Lukas nichts weiter klarmachen wollte als dass Jesus der von einer Jungfrau empfangene Sohn Gottes war. In dieser Sicht wäre die Frage Mariens nur eine bloße Überleitung zur Antwort des Engels. Doch gerade auch dann, wenn Lukas den Dialog in den Einzelheiten selbst gestaltet haben sollte, schiene es angemessen, in der Frage Mariens eine Unterstreichung ihres Jungfrau-Seins zu sehen und womöglich einen Niederschlag der Kunde, dass Jesu Eltern eine jungfräuliche Ehe führen wollten und geführt haben. Denn andernfalls läge nur eine sehr misslungene Überleitung vor, die den Leser ratlos macht. Man sollte also meiner Meinung nach Lk 1,34 in der Diskussion über die immerwährende Jungfräulichkeit Mariens nicht so voreilig und unbesehen beiseite legen, wie es heute oft geschieht.