Enzyklika "Humani generis"
über einige falsche Ansichten, die die Grundlagen der
katholischen Lehre zu untergraben drohen
(12. August 1950)
Pius XII.
Hinweis/Quelle: Offizieller deutscher Text, Wien 1950;
Überschriften und Übersicht aus: Heilslehre der Kirche,
Dokumente von Pius IX. bis Pius XII. Deutsche Ausgabe
des französischen Originals von P. Cattin O.P. und H.
Th. Conus O.P. besorgt von Anton Rohrbasser, Paulus
Verlag Freiburg Schweiz 1953; Imprimatur Friburgi Helv.,
die 22. maii 1953 L. Weber V. G. Jeweils ein
sinnentstellender Fehler der Übersetzung in Nr. 16 sowie
auch in Nr. 29 wurde korrigiert. Die Nummerierung
entspricht der englischen Fassung Fassung. Die
Rechtschreibung ist der gegenwärtigen Form angeglichen.
Digitalisiert von Armin Jauch. Irrtum vorbehalten.
Ehrwürdige
Brüder,
Gruß und
Apostolischen Segen !
Einleitung: Moralische Notwendigkeit der Offenbarung
1 Die
Uneinigkeit der Menschen in Dingen der Religion und
Moral wie auch ihr Abirren von der Wahrheit war von
jeher für alle Guten, besonders die gläubigen und
aufrechten Söhne der Kirche, der Grund und die Ursache
allertiefsten Schmerzes. Heute gilt das ganz besonders,
da Wir überall Angriffe gegen die Grundlagen der
christlichen Kultur wahrnehmen.
2 Es
wundert Uns zwar nicht, dass eine solche Uneinigkeit und
solche Irrtümer sich immer außerhalb der Kirche Christi
fanden; denn wenn auch der menschliche Verstand mit
seinen natürlichen Erkenntniskräften an sich zur wahren
und sicheren Erkenntnis des einen persönlichen Gottes,
der durch seine Vorsehung die Welt schützt und regiert,
sowie des Naturgesetzes, das der Schöpfer in unser Herz
legte, kommen kann, so bestehen doch für ihn nicht
wenige Hindernisse, von seiner ursprünglichen Fähigkeit
einen wirklich fruchtbaren Gebrauch zu machen; denn alle
Dinge, die sich auf Gott beziehen und das zwischen Gott
und den Menschen bestehende Verhältnis angehen, ruhen in
Wahrheiten, die die Welt der Sinne überragen. Diese
verlangen vom Menschen die Eigenhingabe und
Selbstverleugnung, wenn sie auf die Lebensführung
Einfluss gewinnen und sie bestimmen. Der menschliche
Verstand wird in der Erkenntnis solcher Wahrheiten
behindert durch die Gewalt der Sinne und der
Einbildungskraft, wie auch durch die verkehrten
Leidenschaften, die ihren Ursprung in der Erbsünde
haben. Darum reden sich Menschen in diesen Dingen gern
ein, es sei das falsch oder zweifelhaft, was sie nicht
wahrhaben möchten.
3 Darum
muss gesagt werden, dass die göttliche ”Offenbarung”
moralisch notwendig ist, damit, was in Fragen der
Religion und der Sitten dem Verstand an sich nicht
verborgen ist, auch bei dem gegenwärtigen Zustande des
Menschengeschlechts, von allen leicht, mit fester
Gewissheit und ohne jeglichen Irrtum erkannt werden kann[1].
4 Ja,
zuweilen kann der menschliche Verstand Schwierigkeiten
haben bei der Bildung eines sicheren Urteils der
”Glaubwürdigkeit” um den katholischen Glauben selbst,
obwohl so zahlreiche und wunderbare Zeichen von Gott
kamen, auf Grund derer schon in der Kraft des
natürlichen Verstandes der göttliche Ursprung der
christlichen Religion sicher bewiesen werden kann. Der
Mensch kann ja entweder durch Vorurteile verleitet oder
durch Leidenschaft und schlechten Willen angestachelt,
sowohl die Evidenz der äußeren Zeichen leugnen, die
feststeht, wie auch den übernatürlichen Einflüsterungen
widerstehen, durch die Gott zu unseren Herzen spricht.
I. Irrtümliche Lehren der Gegenwart
1. Irrtümer über die Vernunft und die Offenbarung
5 Wer heute
die Welt außerhalb der Hürde Christi beobachtet, kann
leicht die Hauptwege erkennen, die nicht wenige Gelehrte
wählten. Einige lassen unklug und urteilslos die
sogenannte Entwicklungslehre, die auf dem eigenen Gebiet
der Naturwissenschaften noch nicht sicher bewiesen ist,
für den Ursprung aller Dinge zu und verlangen sie; vermessentlich huldigen sie der monistischen und
pantheistischen Auffassung, dass das Weltall einer
ständigen Entwicklung unterworfen sei. Die Freunde des
Kommunismus aber benützen mit Freuden diese Ansicht, um
ihren „dialektischen Materialismus” wirkungsvoller zu
verteidigen und verbreiten, wobei sie jeden Gedanken an
Gott aus den Herzen entfernen.
6 Die
Behauptungen dieser Entwicklungslehre, die alles, was
absolut, fest, unveränderlich ist, leugnet, haben dem
Irrtum einer neueren Philosophie, die mit dem
”Idealismus”, ”Immanentismus” und ”Pragmatismus”
wetteifert und sich ”Existenzialismus” nennt, die Wege
bereitet; er kümmert sich nicht um das unveränderliche
Wesen der Dinge und wendet seine Aufmerksamkeit nur der
”Existenz” der Einzelgegenstände zu.
7 Dazu
kommt noch ein falscher ”Historizismus”, der nur auf das
Geschehen im menschlichen Leben achtet und die
Grundlagen jeder Wahrheit und jedes allgemein gültigen
Gesetzes vernichtet, sowohl für die Philosophie wie auch
für die christlichen Glaubenssätze.
8 Bei einer
solchen Verwirrung der Meinungen tröstet es Uns ein
wenig, zu sehen, dass solche, die in den Grundsätzen des
”Rationalismus” erzogen wurden, heute nicht selten zu
den Quellen der göttlichen Offenbarung zurückkehren
wünschen und das Wort Gottes, das in der Heiligen
Schrift enthalten ist, als Grundlage der Theologie
anerkennen und verkünden. Zugleich aber ist es zu
beklagen, wie nicht wenige von ihnen, je fester sie dem
Worte Gottes anhängen, desto mehr die menschliche
Vernunft herabsetzen, und je höher sie in ihrer
Begeisterung die Autorität der göttlichen Offenbarung
erheben, desto heftiger das Lehramt der Kirche
verachten, das Christus, der Herr, einsetzte, um die von
Gott geoffenbarten Wahrheiten zu bewahren und zu
erklären. Das steht aber nicht nur in offenem
Widerspruch zur Heiligen Schrift, sondern erweist sich
auch in der Erfahrung als falsch; häufig nämlich
beklagen sich diese, die sich von der wahren Kirche
getrennt halten, über ihre eigene Uneinigkeit in
dogmatischen Fragen, so dass sie gegen ihren Willen die
Notwendigkeit des lebendigen Lehramtes bezeugen.
2. Gefährliche Haltungen im kirchlichen Bereich
9 Es ist
aber Pflicht der katholischen Theologen und Philosophen,
die die große Aufgabe haben, die göttliche und
menschliche Wahrheit zu verteidigen und den Herzen der
Menschen einzupflanzen, diese mehr oder weniger vom
rechten Weg abirrenden Ansichten zu kennen und zu
beachten. Ja, diese Lehrmeinungen selbst sollen ihnen
gut bekannt sein, weil schon Krankheiten nicht gut
geheilt werden können, wenn sie nicht richtig erkannt
sind, dann auch, weil in falschen Ansichten häufig ein
Körnchen Wahrheit liegt; endlich auch drängen diese
dazu, bestimmte philosophische und theologische
Wahrheiten eifriger zu untersuchen und durchzudenken.
10 Wenn
unsere Philosophen und Theologen aus der gründlichen
Untersuchung dieser Lehren nur solche Früchte suchen
wollten, hätte das kirchliche Lehramt keinen Grund,
Einspruch zu erheben. Aber wenn Wir auch wissen, dass
die katholischen Lehrer sich im allgemeinen vor diesen
Irrtümern hüten, so fehlt es doch heute, wie in den
apostolischen Zeiten, nicht an solchen, die allzu sehr
das Neue suchen, oder aber auch fürchten, in den Dingen
des wissenschaftlichen Fortschritts für unwissend
gehalten zu werden, und darum sich der Leitung des
heiligen Lehramtes zu entziehen trachten; so laufen sie
Gefahr, sich unmerklich den geoffenbarten Wahrheiten zu
entfernen und auch andere mit sich in den Irrtum zu
ziehen.
11 Es zeigt
sich auch eine andere Gefahr, die umso größer ist, als
sie sich mehr in den Schein der Tugend hüllt. Viele, die
den Zwiespalt und die Verirrung der Geister betrauern,
lassen sich von einem unklugen Eifer treiben, von ihrem
Inneren drängen und brennen in unüberlegter Begierde,
die Umzäunungen zu entfernen, durch die gute und
aufrechte Menschen voneinander getrennt sind; sie geben
sich einem solchen ”Irenismus” hin, dass sie unter
Beiseitesetzung der trennenden Fragen nicht nur auf den
Atheismus schauen, den sie mit vereinten Kräften
bekämpfen, sondern auch auf die Beseitigung der
Gegensätze in den Glaubenslehren. Und wie es eine Zeit
gab, da sich manche fragten, ob nicht die herkömmliche
Apologetik mehr ein Hindernis sei, die Seelen für
Christus zu gewinnen, so fehlt es auch heute nicht an
solchen, die so weit zu gehen wagen, dass sie ernstlich
die Frage vorlegen, ob nicht die heutige Theologie und
ihre Methode, die von der kirchlichen Autorität
gebilligt werden, nicht nur vervollkommnet, sondern ganz
reformiert werden müsste, damit das Reich Christi auf
der ganzen Welt, unter Menschen jeder Kultur und jeder
religiösen Anschauung wirkungsvoller verbreitet werden
könne.
12 Wenn
diese nur die Absicht hätten, durch Einführung
irgendeiner Neuerung die kirchliche Lehre und ihre
Methode den modernen Verhältnissen und Anforderungen
anzupassen, gäbe es kaum einen Grund zur Besorgnis; aber
in dem unklugen Übereifer ihres ”Irenismus” halten
anscheinend einige auch die Dinge für Hindernisse der
brüderlichen Verständigung, die auf den Gesetzen und
Grundsätzen Christi und den von ihm gegründeten
Einrichtungen selbst beruhen, oder die als Bollwerk und
Stütze des unversehrten Glaubens dastehen; wenn diese
fallen, dann ist zwar alles geeint, aber nur zum
allgemeinen Ruin.
13 Moderne
Ansichten dieser Art, ob sie nun aus der traurigen Sucht
nach Neuerungen hervorgehen oder einen lobenswerten
Grund haben, werden nicht immer in der gleichen
Abstufung, derselben Deutlichkeit oder den gleichen
Ausdrücken vorgelegt, auch nicht immer unter einmütiger
Zustimmung ihrer Urheber; denn was heute von einigen mit
gewissen Einschränkungen und Unterscheidungen, in mehr
verdeckter Weise gelehrt wird, das bringen morgen
andere, die weniger zurückhaltend sind, offen, in
übertriebene Weise vor; und zwar zum Ärgernis für viele,
besonders den jüngeren Klerus und zum Schaden der
kirchlichen . Autorität. Was bei Veröffentlichungen in
Buchform mit mehr Vorsicht behandelt wird, das wird
offener vorgestellt in privat verarbeiteten Schriften,
in Verlesungen und Besprechungen. Diese Auffassungen
finden ihre Verbreitung nicht nur beim Welt und
Ordensklerus und in den Seminarien, sondern auch in
Laienkreisen, besonders bei den Jugenderziehern.
3. Theologischer und dogmatischer Relativismus
14 In der
Theologie aber gehen einige darauf aus, den Begriff der
Dogmen möglichst abzuschwächen; das Dogma selbst möchten
sie von der in der Kirche seit langem üblichen
Ausdrucksweise und den Begriffen der katholischen
Philosophie freimachen, um bei der Erklärung der
katholischen Lehre zu den Formulierungen der Heiligen
Schrift und der heiligen Väter zurückzukehren. So hoffen
sie, dass das Dogma, gereinigt von allen Bestandteilen,
die nach ihren Worten äußerliche Bestandteile der
göttlichen Offenbarung sind, zu einem fruchtbaren
Vergleich kommt mit den Glaubenssätzen der von der
Kirche Getrennten, um dann so den Weg zu finden, das
katholische Dogma und die von ihm abweichenden Ansichten
einander anzugleichen.
15 Haben
sie dann die katholische Lehre zu diesem Stand gebracht,
so glauben sie, werde der Weg bereitet, auf dem den
modernen Bedürfnissen entsprechend das Dogma auch in den
Begriffen der heutigen Philosophie ausgedrückt werden
könne, ganz gleich, ob es der ”Immanentismus”,
”Idealismus”, ”Existenzialismus“ oder irgendein anderes
System ist. Es könne und müsse das deshalb auch
geschehen, behaupten einige mit einiger Kühnheit, weil
die Geheimnisse des Glaubens sich niemals in Begriffe
fassen lassen, die vollständig der Wahrheit entsprechen,
sondern nur in Ausdrücken, die ”annäherungsweise” wahr,
und ständig Veränderungen unterworfen sind; diese deuten
die Wahrheiten zwar einigermaßen, gestalten sie aber
auch notwendigerweise um. Darum halten sie es nicht für
abwegig, sondern für durchaus notwendig, dass die
Theologie entsprechend den verschiedenen Philosophien,
deren sie sich im Laufe der Zeit als Instrument bedient,
neue Begriffe an die Stelle der alten setze, so dass sie
auf verschiedene Weise, die unter sich sogar in gewissem
Sinn im Widerspruch stehen, aber, wie sie sagen, das
gleiche bedeuten, die gleichen göttlichen Wahrheiten in
menschlicher Art ausdrücken. Sie fügen noch hinzu, die
Geschichte der Dogmen bestehe in der Wiedergabe der
verschiedenen aufeinanderfolgenden Formen, in die die
Wahrheit sich gekleidet habe, entsprechend den
verschiedenen Lehren und Ansichten, die im Laufe der
Zeiten entstanden.
16 Die
bisherigen Ausführungen zeigen deutlich, dass diese
Versuche nicht nur zum sogenannten dogmatischen
”Relativismus” führen, sondern ihn bereits enthalten; er
ist auch allzu sehr begünstigt durch die Verachtung der
gewöhnlich überlieferten Lehre gegenüber, sowie der
Worte, mit denen sie sich ausdrückt. Es leugnet wohl
niemand, dass die Bezeichnungen für diese Begriffe, wie
sie in der Schule und vom kirchlichen Lehramt benützt
werden, verbessert und gefeilt werden können; außerdem
ist bekannt, dass sich die Kirche im Gebrauch dieser
Ausdrücke nicht immer gleich blieb. Klar ist auch, dass
sie sich nicht an irgendein kurzlebiges philosophisches
System binden kann; die Begriffe und Bezeichnungen, die
von den katholischen Gelehrten nach gemeinsamer
Übereinkunft im Laufe mehrerer Jahrhunderte geprägt
wurden, um eine Glaubenslehre verständlich zu machen,
stützen sich wahrhaftig nicht auf ein so hinfälliges
Fundament. Sie stützen sich im Gegenteil auf Prinzipien
und Begriffe, die aus wahrheitsgemäßer Erkenntnis der
geschaffenen Welt abgeleitet wurden; allerdings
erleuchtete die geoffenbarte Wahrheit durch die Kirche
wie ein heller Stern den Verstand des Menschen. Es
wundert Uns darum nicht, wenn einige von diesen
Begriffen von den Allgemeinen Konzilien nicht nur
angewandt, sondern auch feierlich bestätigt wurden; es
ist darum unrecht, sie fallen zu lassen.
17 Es wäre
sehr töricht, die Begriffe und Bezeichnungen, an denen
Menschen außergewöhnlicher Geisteskraft und Heiligkeit
unter der Aufsicht des kirchlichen Lehramtes, in der
Gnade und unter Leitung des Heiligen Geistes
Jahrhunderte lang geformt und gefeilt haben, um geistige
Glaubenswahrheiten noch stets genauer in Werte zu
fassen, zu vernachlässigen, zu verwerfen oder ihres
Wertes zu berauben, um ihre Stelle mutmaßliche Begriffe
zu stellen und Worte einer neuen Philosophie, die weder
eine feste Form noch Gestalt hat, Begriffe, die wie die
Blumen des Feldes heute bestehen und morgen fallen; es
macht diese Auffassung das Dogma zu einem Rohr, das vom
Winde hin- und hergetrieben wird. Die Verachtung der
Bezeichnungen und Begriffe, die die scholastische
Theologie gebraucht, führt auch von selbst zur
Schwächung der spekulativen Theologie, der sie keine
Sicherheit zuschreiben, weil sie sich auf theologische
Beweisgründe stützt.
4. Falscher Begriff vom Lehramt der Kirche
18 Leider
gehen diese Neuerer von der Verachtung der
scholastischen Theologie sehr leicht dazu über, das
Lehramt der Kirche selbst, das diese Theologie mit ihrer
Autorität so sehr stützt, nicht zu beachten oder sogar
zu verachten. Sie stellen dieses Lehramt als ein Hemmnis
für den Fortschritt und als ein Hindernis für die
Wissenschaft hin. Einige Nichtkatholiken aber sehen es
als ungerechten Zwang an, der Theolegen von höherer
Bildung davon abhält, ihre Lehrmeinungen zu reformieren.
Und wenn auch dieses heilige Lehramt für einen jeden
Theologen in Dingen des Glaubens und der Sitten die
nächste und allgemeine Norm sein muss (da Christus, der
Herr, ihm den ganzen Glaubensschatz anvertraut hat, d.
h. die Heilige Schrift und die göttliche Überlieferung,
um ihn zu behüten, zu verteidigen und zu erklären), so
gerät doch immer wieder in Vergessenheit, als wenn sie
nicht bestände, die Pflicht der Gläubigen, ebenfalls
diese Irrtümer zu fliehen, die sich mehr oder weniger
der Häresie nähern, und also ”auch die Konstitutionen
und Erlasse zu beachten, mit denen der Heilige Stuhl
falsche Ansichten dieser Art verworfen und verboten hat“[2].
Mit Absicht haben sich einige daran gewöhnt, das nicht
zu beachten, was die Rundschreiben der Römischen Päpste
über die Natur und die Einrichtung der Kirche sagen, nur
um eine mehr unbestimmte Auffassung vorherrschen zu
lassen, die sie aus den Schriften der alten Väter,
besonders der griechischen, geschöpft zu haben
behaupten. Die Päpste, so pflegen sie zu sagen, wollen
kein Urteil abgeben in den Fragen, über die die
Theologen disputieren, und darum sei es nötig, zu den
ersten Quellen zurückzugehen und die neueren
Konstitutionen und Erlasse des kirchlichen Lehramtes
nach den Schriften der Alten zu erklären.
19 Wenn das
auch geistreich zu sein scheint, es liegt doch ein
Irrtum darin. Wahr ist, dass die Päpste im allgemeinen
den Theologen die Freiheit lassen in den Fragen, in
denen hervorragende Geisteslehrer verschiedener Meinung
sind; die Geschichte lehrt aber auch, dass in
verschiedenen Fragen, die vorher umstritten waren,
nachher keine Verschiedenheit der Meinungen zugelassen
wurde.
20
Man darf ebenfalls nicht annehmen, man brauche den
Rundschreiben nicht zuzustimmen, weil die Päpste darin
nicht ihr höchstes Lehramt ausüben. Sie sind aber doch
Äußerungen des ordentlichen Lehramtes, von dem auch das
Wort Christi gilt: ”Wer euch hört, der hört mich”[3].
Sehr häufig gehört das, was die Enzykliken lehren und
einschärfen, sonst wie schon zum katholischen Lehrgut.
Wenn die Päpste in ihren Akten ein Urteil über eine
bislang umstrittene Frage aussprechen, dann ist es für
alle klar, dass diese nach der Absicht und dem Willen
dieser Päpste nicht mehr der freien Erörterung
unterliegen kann.
21 Wahr ist
ebenfalls, dass die Theologen ständig auf die Quellen
der göttlichen Offenbarung zurückgreifen sollen; es ist
ja ihre Aufgabe, aufzuzeigen,. warum das, was das
lebendige Lehramt vorbringt, sich in der Heiligen
Schrift und in der göttlichen „Überlieferung” entweder
ausdrücklich oder einschließend findet[4].
Sicher ist, dass dieser doppelte Quell der Lehre
göttlicher Offenbarung so viele und so große Schätze der
Wahrheiten enthält, dass er nie wirklich ganz
ausgeschöpft werden kann. Darum erneuern auch die
heiligen Wissenschaften durch das Studium der heiligen
Quellen ihre Kraft, während die Spekulation, die eine
weitere Untersuchung des Glaubensschatzes
vernachlässigt, wie Wir durch Erfahrung feststellen
konnten, ohne Frucht bleibt. Aus diesem Grunde kann auch
die sogenannte positive Theologie nicht einfach mit der
Geschichtswissenschaft gleichgestellt werden, da Gott
der Kirche zusammen mit diesen heiligen Quellen das
lebendige Lehramt schenkte, um auch die Wahrheiten zu
erklären und zu entfalten, die im ”Depositum fidei” nur
dunkel und gleichsam eingehüllt enthalten sind. Diesen
Glaubensschatz hat der Heiland weder den einzelnen
Christgläubigen noch auch den Theolegen selbst zur
authentischen Erklärung hinterlassen, sondern allein dem
kirchlichen Lehramt. Wenn aber die Kirche dieses ihr
Amt, wie es im Laufe der Zeiten häufig geschehen ist,
durch einen ordentlichen oder außerordentlichen Akt
ausübt, so steht als sicher fest, dass die Methode
falsch ist, nach der man klare Wahrheiten aus unklaren
beweisen will; im Gegenteil müssen alle den
entgegengesetzten Weg gehen. Darum fügte Unser
unvergesslicher Vorgänger, Pius IX., bei der Erklärung,
dass es vornehmste, Aufgabe der Theologie sei, zu
zeigen, wie die von der Kirche feierlich aufgestellte
Lehre in den Quellen enthalten sei, nicht ohne wichtigen
Grund die Worte hinzu : ”in dem gleichen Sinn, wie die
Kirche sie definierte”.
5. Missverstandene Auslegung der Heiligen Schrift
22 Kehren
wir zu den neuen Ansichten zurück, die oben berührt
wurden. Mehrere Dinge werden von einigen vorgetragen und
den Herzen eingeflößt zum Schaden der göttlichen
Autorität der Heiligen Schrift. Sie verdrehen kühn den
Sinn der Definition des Vatikanischen Konzils über Gott
als den Urheber der Heiligen Schrift und erneuern den
bereits öfters verworfenen Satz, nach dem sich die Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift nur auf die
Gegenstände bezieht, die über Gott, und Fragen der Moral
und der Religion handeln. In falscher Weise sprechen sie
über einen menschlichen Sinn der heiligen Bücher, unter
dem nach ihrer Exklärung der göttliche Sinn verborgen
liege. Bei der Auslegung der Heiligen Schrift wollen sie
der Analogie des Glaubens und der ”Überlieferung” keine
Rechnung tragen, so dass mehr die Lehre der heiligen
Väter und des kirchlichen Lehramtes zu messen sei nach
der Heiligen Schrift – die von den Exegeten in rein
menschlicher Weise erklärt werden müsse –, als die
Heilige Schrift zu erklären: sei nach dem Sinn der
Kirche, die aber von Christus dem Herrn als Hüterin und
Erklärerin des ganzen von Gott offenbarten
Glaubensschatzes aufgestellt ist.
23 Außerdem
müsste der wörtliche Sinn der Heiligen Schrift und ihre
Auslegung, die von so vielen und so großen Exegeten
unter der Aufsicht der Kirche ausgearbeitet wurde, nach
ihrer falschen Ansicht einer neuen Schrifterklärung
weichen, die sie die symbolische oder geistige nennen;
nach dieser Exegese würden endlich einmal die Bücher des
Alten Testamentes, die heute wie ein verschlossener
Brunnen in der Kirche verborgen lägen, allen geöffnet
werden. Auf die gleiche Weise, so behaupten sie,
verschwinden alle Schwierigkeiten, die nur für solche
ein Hindernis bilden, die am wörtlichen Sinn der
Heiligen Schrift festhalten.
24 Jeder
sieht, wie sich alle diese Ansichten von den Grundsätzen
und Normen der Schrifterklärung entfernen, die mit Recht
aufgestellt wurden von Unseren Vorgängern sel.
Angedenkens, Leo XIII. in der Enzyklika
”Providentissimus”, von Benedikt XV. in der Enzyklika
”Spiritus Paraclitus” und von Uns selbst in der
Enzyklika „Divino afflante spiritu”.
6. Zehn theologische Irrtümer der Gegenwart
25 Es
braucht uns nicht zu wundern, dass das Gift dieser
Neuerungen in alle Teile der Theologie gelangte. So wird
in Zweifel gezogen, dass der menschliche Verstand ohne
Hilfe der göttlichen 0ffenbarung und der Gnade mit
Beweisen aus der Schöpfung die Existenz eines
persönlichen Gottes beweisen könne; geleugnet wird, dass
die Welt einen Anfang hat, und gezeigt, dass die
Schöpfung notwendig ist, da sie aus der notwendigen
Freigebigkeit Gottes hervorgehe; verneint wird ebenfalls
das ewige und unfehlbare Vorherwissen Gottes um die
freien Handlungen der Menschen: All diese Ansichten
stehen im Widerspruch zu den Erklärungen des
Vatikanischen Konzils[5].
26 Einige
werfen auch die Frage auf, ob die Engel persönliche
Geschöpfe sind, ob Stoff und Geist sich wesentlich
unterscheiden. Andere verwerfen es, dass die
übernatürliche Ordnung ein freies Geschenk Gottes sei,
mit der Behauptung, Gott könne keine vernunftbegabten
Wesen schaffen, ohne sie auf die Anschauung der Seligen
hinzuordnen und sie dazu zu berufen. Damit nicht genug :
Der Begriff der Erbsünde wird, unter Außerachtlassung
der Entscheidungen des Konzils von Trient, ebenso wie
dieser der Sünde im allgemeinen als Beleidigung Gottes
vernichtet, wie auch der Begriff der Genugtuung, die
Christus für uns leistete. Es finden sich auch solche,
die behaupten, die Lehre von der Wesensverwandlung, die
sich auf den veralteten philosophischen Begriff der
Substanz stütze, müsse so verändert werden, dass die
wirkliche Gegenwart Christi in der heiligsten
Eucharistie auf einen gewissen Symbolismus zurückgeführt
werde. Demnach sollen die heiligen Gestalten nur
wirksame Zeichen sein der geistigen Gegenwart Christi
und Seiner innigen Vereinigung mit den gläubigen
Gliedern im geheimnisvollen Leibe Christi.
27 Einige
halten sich nicht gebunden an die vor einigen Jahren in
einem Rundschreiben erklärte Lehre, die sich auf die
Quellen der ”Offenbarung” stützt und erklärt, dass der
geheimnisvolle Leib Christi und die Römische katholische
Kirche ein und dasselbe seien[6].
Andere schwächen die Notwendigkeit der Zugehörigkeit zur
wahren Kirche, um das ewige Heil zu erlangen, zu einer
bloßen Formel ab. Schließlich tun wieder andere dem
Charakter der ”Glaubwürdigkeit” des christlichen
Glaubens, der dem Verstand einsichtig ist, Gewalt an.
II. Darlegung der katholischen Lehre
28 Es steht
fest, dass diese und ähnliche Irrtümer sich in die
Herzen einiger unserer Söhne einschlichen, die sich
täuschen ließen von einem, unklugen Seeleneifer oder
einer Wissenschaft, die diesen Namen nicht verdient;
traurigen Herzens sind Wir mit schwerer Sorge gezwungen,
diese bereits bekannten Wahrheiten zu wiederholen und
offenbare Irrtümer wie ihre Gefahren anzuzeigen.
1. Die Philosophie betreffend:
a) Richtige Einschätzung des menschlichen Verstandes
29 Es ist
allen bekannt, wie hoch die Kirche den Wert der
menschlichen Vernunft stellt, der es zukommt, die
Existenz des einen persönlichen Gottes mit Sicherheit zu
beweisen, wie auch die Grundlagen des christlichen
Glaubens unwiderleglich durch göttliche Zeichen
aufzuzeigen; gleicherweise soll sie auch das Gesetz, das
der Schöpfer in die Herzen der Menschen schrieb, in das
rechte Licht stellen; endlich auch zu einer
beschränkten, aber äußerst fruchtbaren Erkenntnis der
Geheimnisse kommen[7].
b) Die traditionelle Philosophie
Aber dieser
Aufgabe kann die Vernunft nur dann in entsprechender
Weise und mit Sicherheit gerecht werden, wenn sie nach
Gebühr ausgebildet wird; wenn sie also mit jener
gesunden Philosophie genährt wird, die wie ein Erbteil
früherer christlicher Jahrhunderte überliefert ist, also
auch ein höheres Ansehen besitzt, weil das Lehramt der
Kirche selbst, ihre Grundsätze und wesentlichsten
Behauptungen, die von geistvollen Männern allmählich
aufgedeckt und bestimmt wurden, zum Maßstab der
göttlichen „Offenbarung“ gemacht hat. Diese gleiche
Philosophie, von der Kirche anerkannt und zugelassen,
verteidigt den wirklichen Wert der menschlichen
Erkenntnis, die unerschütterlichen Grundgesetze der
Metaphysik – vom hinreichenden Grund, von der
Ursächlichkeit und Zweckhaftigkeit – und endlich die
Erreichung der sicheren und unveränderlichen Wahrheit.
c) Der wahre philosophische Fortschritt
30 In
dieser Philosophie gibt es sicherlich verschiedene
Fragen, die sich weder unmittelbar noch mittelbar auf
den Glauben und die Sitten beziehen, und die von der
Kirche der freien Erörterung der Fachgelehrten
überlassen werden; aber für verschiedene andere Dinge,
besonders die Grundsätze und Hauptlinien, die Wir oben
erwähnten, kann nicht die gleiche Freiheit gelten. Aber
es kann auch in diesen wesentlichen Fragen der
Philosophie ein mehr entsprechendes und reicheres Gewand
angelegt werden; man kann ihre Kraft vergrößern durch
die Formung neuer zweckentsprechender Ausdrücke, sie von
weniger passenden, schulmäßigen Dingen freimachen, sie
auch – aber mit Vorsicht – bereichern mit bestimmten
Anteilen des Fortschritts menschlichen Geistes; nie aber
hat man das Recht, sie zugrundezurichten oder sie mit
falschen Grundsätzen zu beflecken oder sie als ein
gewaltiges, aber doch veraltetes Monument zu achten;
denn die Wahrheit und jede ihrer philosophischen
Äußerungen kann nicht täglichen Veränderungen
unterworfen werden. Das gilt besonders, wenn es sich um
der menschlichen Vernunft an sich bekannte Grundsätze
handelt oder jene Sätze, die sich auf die Weisheit von
Jahrhunderten wie auch auf die Zustimmung und das
Fundament der göttlichen Offenbarung stützen. Die
Wahrheiten, die der menschliche Verstand in ehrlichem
Suchen entdecken wird, vermögen nicht im Gegensatz zu
stehen zu einer bereits entdeckten Wahrheit; Gott, die
höchste Wahrheit, hat den menschlichen Verstand
erschaffen und leitet ihn, aber nicht so, dass er der in
ehrlichem Streben erworbenen Wahrheit täglich neue
Erkenntnisse entgegenstellt, sondern um nach Entfernung
etwaiger Irrtümer, das Wahre durch andere neue
Erkenntniswahrheiten zu überhöhen, in der gleichen
Ordnung und Verbindung, in der wir die Natur selbst, aus
der wir die Wahrheit schöpfen, aufgebaut sehen. Darum
soll der Christ, Philosoph oder Theologe, nicht
eilfertig und leichtsinnig all die neuen Ideen in sich
aufnehmen, die täglich ausgedacht werden, sondern muss
sie mit größter Sorgfalt prüfen und nach rechtem Maß
abwägen, um nicht die bereits erworbene Wahrheit mit
großer Gefahr und großem Schaden für seinen Glauben zu
verlieren oder zu verderben.
d) Die Lehre des heiligen Thomas von Aquin
31 Nach
diesen Überlegungen versteht man leicht, warum die
Kirche verlangt, dass ihre zukünftigen Priester in den
philosophischen Fächern unterrichtet werden ”nach der
Methode, der Lehre und den Grundsätzen des Englischen
Lehrers[8].
Sie weiß ja nach einer Erfahrung von Jahrhunderten gut,
dass die Methode des Aquinaten sich vor andern bewährt,
sowohl im Unterricht wie auch in der Suche nach
verborgenen Wahrheiten; dass seine Lehre fernerhin in
Harmonie mit der göttlichen Offenbarung steht und in
wirkungsvoller Weise sichere Fundamente des Glaubens
legt, wie auch mit Nutzen und Sicherheit die Früchte
eines gesunden Fortschritts bringt[9].
32 Darum
ist es sehr zu beklagen, dass man die Philosophie, die
von der Kirche aufgenommen und anerkannt ist, heute von
mancher Seite der Verachtung preisgibt, als veraltet in
der Form und rationalistisch –, wie sie sagen – in der
Denkweise erklärt. Die Gegner behaupten, dass diese
unsere Philosophie irrtümlicherweise die Meinung
verteidige, es gebe eine absolut gültige Metaphysik;
während sie im Gegenteil sagen, die Wahrheiten,
besonders die transzendenten, könnten keinen geeigneteren Ausdruck finden als in ganz verschiedenen
Lehrsätzen, die sich ergänzen, obwohl sie untereinander
in gewisser Weise im Gegensatz stehen. Darum geben sie
auch zu, dass die auf unseren Schulen gelehrte
Philosophie mit ihrer klaren Beschreibung der
Fragestellung und Lösung, mit der genauen Bestimmung der
Begriffe und ihren klaren Unterscheidungen wohl nützlich
sein könne zum Studium der scholastischen Theologie, die
sich der Denkungsart des mittelalterlichen Menschen in
hervorragender Weise anpasste; aber – so fügen sie hinzu
– sie kann keine philosophische Methode bieten, die
unserer modernen Kultur mit ihren Bedürfnissen
entspricht. Sie wenden ferner ein, dass die ”philosophia
perennis” nur eine Philosophie der unveränderlichen
Wesenheiten sei, während das moderne Denken interessiert
sein müsse an der ”Existenz” der Einzeldinge und dem
stets fließenden Leben. Während sie aber diese
Philosophie verachten, preisen sie andere Systeme hoch,
alte oder neue, solche östlicher oder westlicher Völker,
in einer Art, die andeuten zu wollen scheint, jede
beliebige Philosophie oder Meinung könne unter Beifügung
– wenn das notwendig ist – einiger Verbesserungen oder
Ergänzungen mit dem katholischen Dogma vereint werden.
Aber kein Katholik kann daran zweifeln, dass dieses ein
vollständiger Irrtum ist, besonders da es sich um
Systeme handelt, wie den ”Immanentismus”, ”Idealismus”,
den geschichtlichen oder dialektischen ”Materialismus”
oder auch den ”Existenzialismus”, entweder in der Form
des Atheismus oder wie er sich wenigstens gegen den Wert
der metaphysischen Schlussfolgerung wendet.
33
Schließlich werfen sie der Philosophie unserer Schulen
noch vor, dass sie im Erkenntnisvorgang nur den Verstand
berücksichtige, die Tätigkeit des Willens aber und der
Gemütsbewegungen vernachlässige. Das entspricht nicht
der Wahrheit. Denn niemals hat die christliche
Philosophie den Nutzen und die Wirksamkeit geleugnet,
die die gute Verfassung der Gesamtseele für die volle
Erkenntnis und Erfassung der religiösen und sittlichen
Wahrheiten haben; im Gegenteil, sie hat immer gelehrt,
dass das Fehlen einer solchen Verfassung der Grund dafür
sein kann, dass der Verstand unter dem Einfluss der
Leidenschaften und des bösen Willens so verdunkelt wird,
dass er nicht mehr richtig sieht. Mehr noch, der ”Doctor
Communis” glaubt, dass der Verstand in irgendeiner Weise
die höheren Güter der natürlichen oder übernatürlichen
Sittenordnung begreifen könne, insofern, als er in
seinem Innern eine gewisse gemütsmäßige natürliche oder
gnadenhafte ”Naturgleichheit” (Connaturalitas) mit
diesen Gütern verspürt[10].
Es versteht sich, wie sehr diese, wenn auch nur im
Unterbewusstsein liegende Erkenntnis den Bemühungen der
Vernunft helfen kann. Den Willensaffekten die Kraft
zuerkennen, der Vernunft zu helfen, zu einer sichereren
und festeren Erkenntnis der sittlichen Wahrheiten zu
kommen, bedeutet aber nicht, was diese Neuerer
behaupten, dass nämlich der Wille und das Gefühl eine
gewisse intuitive Kraft haben, und dass der Mensch, wo
er durch Verstandestätigkeit nicht mit Sicherheit die
Wahrheit erkennen kann, sich an den Willen wendet, mit
dem er einen freien Entschluss und eine Wahl zwischen
entgegengesetzten Meinungen treffen kann; dabei
vermischt er in übler Weise die Erkenntnis und den
Willensakt miteinander.
e) Aufgabe der Theodizee und der Ethik
34 Es nimmt
kein Wunder, dass diese neuen Ansichten zwei
philosophische Fächer in Gefahr bringen, die ihrer Natur
nach sehr eng mit dem Glaubensunterricht verbunden sind,
die natürliche Gotteserkenntnis (Theodizee) und die
natürliche Sittenlehre (Ethik). Sie sind der Ansicht,
dass es nicht die Aufgabe dieser beiden Fächer sei, mit
Sicherheit irgendeine Wahrheit über Gott oder ein
anderes transzendentes Wesen zu beweisen, sondern
vielmehr zu zeigen, wie doch die Wahrheiten, die der
Glaube über den persönlichen Gott und seine Gebote
lehrt, so eng mit den Bedürfnissen des Lebens
zusammenhängen und wie diese Wahrheiten darum von allen
anzunehmen seien, um der Verzweiflung aus dem Wege zu
gehen und das ewige Heil zu erreichen. Alle diese
Behauptungen und Ansichten stehen in offenem Widerspruch
mit den Entscheidungen Unserer Vorgänger Leo XIII. und
Pius X.; sie sind auch unvereinbar mit Verordnungen des
Vatikanischen Konzils. Es wäre unnötig, diese Irrtümer
zu betrauern, wenn alle, auch auf dem Gebiet der
Philosophie, mit gebührender Ehrfurcht auf das Lehramt
der Kirche schauten. Seine Aufgabe ist es nach
göttlicher Anordnung nicht nur, den Glaubensschatz der
Offenbarung zu bewahren und zu erklären, sondern auch
über die philosophischen Fächer zu wachen, damit die
katholischen Glaubenslehren durch diese Irrtümer keinen
Schaden leiden.
2. Die positiven Wissenschaften betreffend
35 Es ist
jetzt noch zu den Fragen Stellung zu nehmen, die aus den
positiven Wissenschaften entspringen und mehr oder
weniger mit den Wahrheiten des christlichen Glaubens
zusammenhängen. Nicht wenige bitten ja dringend darum,
die katholische Religion möge mit dieser Wissenschaft
möglichst stark Rechnung halten. Es ist das lobenswert,
soweit es sich um bewiesene Tatsachen handelt; es heißt
aber, vorsichtig voranzugehen, wenn es sich mehr um
Hypothesen handelt – auch wenn sie irgendwie
wissenschaftlich begründet sind –, mit denen Lehren der
Heiligen Schrift oder der Tradition in Berührung stehen.
Wenn diese Hypothesen sich direkt oder indirekt gegen
die Offenbarung wenden, so können sie in keiner Weise
zugelassen werden.
a) Biologische und anthropologische Fragen
36 Aus
diesem Grund verbietet das Lehramt der Kirche nicht,
dass in Übereinstimmung mit dem augenblicklichen Stand
der menschlichen Wissenschaften und der Theologie die
Entwicklungslehre Gegenstand der Untersuchungen und
Besprechungen der Fachleute beider Gebiete sei, insoweit
sie Forschungen anstellt über den Ursprung des
menschlichen Körpers aus einer bereits bestehenden,
lebenden Materie, während der katholische Glaube uns
verpflichtet, daran festzuhalten, dass die Seelen
unmittelbar von Gott geschaffen sind. Es sollen diese
Verhandlungen in der Weise geschehen, dass die Gründe
für beide Ansichten, also dieser, die der
Entwicklungslehre zustimmt, wie jener, die ihr
entgegensteht, mit nötigen Ernst abgewogen und
beurteilt, vorausgesetzt, dass alle bereit sind, das
Urteil der Kirche anzunehmen, der Christus das Amt
anvertraut hat, die Heilige Schrift authentisch zu
erklären und die Grundsätze des Glaubens zu schützen[11].
Einige überschreiten nun verwegen diese Freiheit der
Meinungsäußerung, da sie so tun, als sei der Ursprung
des menschlichen Körpers aus einer bereits bestehenden
und lebenden Materie durch bis jetzt gefundene Hinweise
und durch Schlussfolgerungen aus diesen bereits mit
vollständiger Sicherheit bewiesen; ebenso tun sie, als
ob aus den Quellen der Offenbarung kein Grund vorliege,
der auf diesem Gebiet nicht die allergrößte Mäßigung und
Vorsicht geböte.
37 Wenn es
sich aber um eine andere Hypothese handelt, den so
genannten Polygenismus, lässt die Kirche nicht die
gleiche Freiheit. Darum können Gläubige sich nicht der
Meinung anschließen, nach der es entweder nach Adam hier
auf Erden wirkliche Menschen gegeben habe, die nicht von
ihm, als dem Stammvater aller auf natürliche Weise
abstammen, oder dass Adam eine Menge von Stammvätern
bezeichne, weil auf keine Weise klar wird, wie diese
Ansicht in Übereinstimmung gebracht werden kann mit dem,
was die Quellen der Offenbarung und die Akten des
kirchlichen Lehramts über die Erbsünde sagen; diese geht
hervor aus der wirklich begangenen Sünde Adams, die
durch die Geburt auf alle überging und jedem einzelnen
zu eigen ist[12].
b) Der historische Wert der Genesis
38 Wie in
den biologischen und anthropologischen Wissenschaften,
so missachten auch in der Geschichte einige kühn die von
der Kirche vorsichtig gezogenen Grenzen. In besonderer
Weise gibt ein System Anlass zur Trauer, das die
geschichtlichen Bücher des Alten Testamentes mit allzu
großer Freiheit erklärt. Um ihre Gründe zu verteidigen
berufen sich die Vertreter dieses Systems auf ein
Schreiben, das vor nicht langer Zeit von der Päpstlichen
Bibelkommission an den Erzbischof von Paris gerichtet
wurde[13].
Es weist ausdrücklich darauf hin, dass die ersten elf
Kapitel des Buches der Schöpfung doch in einem wahren
Sinn, der von den Exegeten noch weiter zu erforschen und
zu erklären ist, geschichtlich sind, wenn sie auch
eigentlich nicht der Methode der Geschichtsschreibung
entsprechen, die von den besten griechischen und
lateinischen Autoren, auch von den Fachleuten unserer
Zeit, angewandt wurde. Die gleichen Kapitel, so heißt es
weiter, berichten in ihrer einfachen und bildhaften, der
Denkart eines wenig gebildeten Volkes angepassten
Sprache die Hauptwahrheiten, die für unser Heil von
grundlegender Bedeutung sind; zugleich geben sie aber
auch einen volkstümlichen Bericht vom Ursprung des
Menschengeschlechtes und des auserwählten Volkes.
39 Wenn
auch die alten Verfasser der Heiligen Bücher einiges aus
den volkstümlichen Erzählungen nahmen – was ruhig
zugegeben werden kann –, so darf man doch nie vergessen,
dass sie es unter dem Beistand göttlicher Eingebung
taten, der sie bei der Wahl und der Wertung dieser
Dokumente vor allem Irrtum bewahrte. Es können auch die
der Heiligen Schrift eingefügten volkstümlichen
Erzählungen in keiner Weise mit Mythologien oder
dergleichen auf die gleiche Stufe gestellt werden, da
diese mehr Frucht einer ausschweifenden Einbildungskraft
sind als des Strebens nach Wahrheit und Einfachheit, das
in den Büchern des Alten Testamentes sosehr
hervorleuchtet; darum muss auch von seinen Verfassern
gesagt werden, dass sie alle Profanschriftsteller
deutlich übertreffen.
Schluss
40 Wir
wissen nun gut, dass die meisten katholischen Lehrer,
die die Früchte ihrer Studien den Universitäten,
Seminarien und religiösen Kollegien zukommen lassen,
weit von diesen Irrtümern entfernt sind, die heute offen
oder versteckt durch Neuerungssucht oder übertriebenen
apostolischen Eifer Verbreitung finden. Wir wissen aber
auch, dass diese neuen Auffassungen die Unvorsichtigen
anlocken können; darum wollen Wir ihnen lieber gleich
beim Beginn entgegentreten, als dann erst die Heilmittel
verordnen, wenn das Übel bereits eingewurzelt ist.
41 Um daher
Unserer heiligen Pflicht nachzukommen, schreiben Wir
nach reiflicher Überlegung im Herrn den Bischöfen und
Obern der Ordensgenossenschaften unter schwerer
Verpflichtung für ihr Gewissen vor, mit allem Eifer
dafür zu sorgen, dass weder in der Schule, bei
Zusammenkünften, in Schriften irgendwelcher Art solche
Meinungen vorgebracht, noch sie auch Klerikern oder Christgläubigen auf irgendeine Weise vorgetragen werden.
42 Alle,
die in kirchlichen Anstalten lehren, sollen wissen, dass
sie das ihnen anvertraute Lehramt nicht ruhigen
Gewissens ausüben können, wenn sie die von Uns
erlassenen Lehrnormen nicht in religiösem Geist annehmen
und beim Unterricht genauestens befolgen. Diese
schuldige Ehrfurcht und diesen Gehorsam, die sie
fortwährend in ihrem Wirken dem kirchlichen Lehramt
entgegenbringen müssen, sollen sie auch dem Verstand und
dem Herzen ihrer Schüler einprägen.
43 Sicher
sollen sie mit aller Kraft und Anstrengung ihr Lehrfach
fördern, sich aber auch davor hüten, die von Uns zum
Schutz der Wahrheit des Glaubens und der katholischen
Lehre gezogenen Grenzen zu missachten. Die neuen Fragen,
wie sie die moderne Kultur und der Fortschritt aufwirft,
sollen sie sehr genau, aber auch mit der gebotenen
Klugheit und Vorsicht untersuchen. Schließlich sollen
sie nicht in einer falschen Friedensliebe (oder
”Irenismus”) glauben, die Getrennten und Irrenden
könnten anders glücklich in den Schoß der Kirche
zurückgeführt werden, als dass sie ehrlich die ganze
Wahrheit der Kirche, ohne jegliche Entstellung und jeden
Abstrich, entgegennehmen.
44 In
dieser Hoffnung, die wächst durch Eure Hirtensorge,
geben Wir als den Träger himmlischer Gnaden und als den
Beweis Unseres väterlichen Wohlwollens Euch allen
einzeln, Ehrwürdige Brüder, wie auch Eurem Klerus und
Volk von Herzen den Apostolischen Segen.
Gegeben zu
Rom, bei St. Peter, am 12. August 1950,
im zwölften
Jahr unseres Pontifikates.
PIUS PP.
XII.
[1]
Conc, Vatic. D. B., 1876, Const.
De Fide
cath., cap. 2, De revelatione.
[2].
C. I. C., e an. 1324; cfr. Conc. Vat., D, B. 1820, Cost.
De Fide cath., cap. 4, De fide et ratione, post canones.
[3]
Luc. 10, 16.
[4]
Pius IX, Inter gravissimas, 28 oct. 1870, Acta, voI,
I,p. 260.
[5]
Cfr. Conc. Vat., Const. De Fide cath., cap. 1, De Deo
rerum omnium creatore.
[6]
Litt. Enc. Mystici CORPORIS Christi, A.A.S. vol. XXXV,
p. 193 sq.
[7]
Cfr. Conc. Vat., D. B., 1796.
[8]
C.I.C., can. 1366, 2.
[9]
A.A.S. vol. XXXVIII, 1946, p. 387.
[10]
Cfr. S. Thom., Summa Theol., II –
II, quaest.
1, art. 4
ad 3 et quaest. 45, art 2, in 6.
[11]
Cfr. Allocut. Pont, ad membra Academiae Scientiarum, 30
novembris 1941 : A.A.S voL XXXIII, p. 506.
[12]
Cfr. Rom. V, 12 – 19; Conc.Trid., sess.
V, can. 1 –
4.
[13]
Die 16 ianuarii 1948 : A.A.S. vol.
XL, pp. 45–48.
Zwei
Übersetzungen
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