Papst Benedikt XIV.:
Enzyklika »Vix pervenit«
vom 1. November 1745 über das
Zinsnehmen oder den Wucher und andere ungerechte Gewinne
An die ehrwürdigen
Brüder Patriarchen, Erzbischöfe, Bischöfe und Ordinarien Italiens.
Ehrwürdiger Bruder, Gruß
und Apostolischen Segen.
Einleitung:
Gegenstand und Vorbereitung der Enzyklika
Kaum war es Uns
zu Ohren gekommen, daß sich wegen eines neuentbrannten Streites (ob
nämlich ein gewisser Vertrag für rechtskräftig angesehen werden dürfe)
Ansichten über Italien hin ausbreiten, die mit der gesunden Lehre nicht
in Einklang zu stehen scheinen, da erachteten Wir es sogleich für
Unseres Apostolischen Amtes Pflicht, ein wirksames Gegenmittel
darzureichen, damit ein derartiges Übel nicht durch das Verstreichen der
Zeit und durch Stillschweigen noch mehr erstarke, und so dem Übel die
Möglichkeit zu nehmen, weiter fortzuwuchern und auch die bis dahin noch
unversehrten Städte Italiens anzustecken.
§ 1. Zu diesem
Zwecke nahmen Wir jenes Verfahren der Beratung auf, dessen sich der
Apostolische Stuhl stets zu bedienen pflegte: Wir unterbreiteten die
ganze Angelegenheit einigen Unserer ehrwürdigen Brüder Kardinäle der Hl.
Römischen Kirche, die sich durch theologisches Wissen und fachmännische
Kenntnis des Kirchenrechts auszeichnen. Auch zogen Wir mehrere in der
Theologie und im kanonischen Recht hervorragende Ordensleute bei, die
Wir teils aus den Mönchs- und Bettelorden, teils aus dem übrigen
Ordensklerus auswählten. Als Präsidenten ernannten Wir einen Doktor
beider Rechte, der im Handels- und Gerichtswesen lange Erfahrung
besitzt. Den 4. Tag des vergangenen Juli bestimmten Wir als den Tag, an
dem sie alle vor Uns erscheinen sollten. Wir erläuterten ihnen die Natur
der ganzen Angelegenheit und nahmen Kenntnis von dem, was sie bereits
selber davon erfahren und wahrgenommen hatten.
§ 2. Hierauf gaben
Wir ihnen den Auftrag, die ganze Sache ohne jede Parteilichkeit und
Leidenschaft sorgfältig zu untersuchen und ihre Gutachten schriftlich
auszuarbeiten. Über den Vertrag, der die Streitfrage veranlaßt hatte,
forderten wir von ihnen jedoch kein Urteil, da ihnen mehrere Dokumente,
die dazu notwendig erforderlich waren, nicht zur Verfügung standen. Sie
sollten aber die sichere Lehre über das Zinsnehmen oder den Wucher (usura)
feststellen. Denn was jüngst unter dem Volk sich zu verbreiten begann,
scheint dieser Lehre nicht unbeträchtlichen Schaden zugefügt zu haben.
Der Befehl wurde von allen ausgeführt. In zwei Kongregationssitzungen,
abgehalten in Unserer Gegenwart – die erste am 18. Juli, die zweite am
vergangenen 1. August – legten sie öffentlich ihre Gutachten dar und
übergaben diese Gutachten dann schriftlich dem Sekretär der
Kongregation.
§ 3. Sodann haben
sie einstimmig folgendes gutgeheißen:
1. Theoretischer Teil
Definition des Wuchers
I. Die Sünde, die
usura (Zinsnehmen, Wucher) heißt und im Darlehensvertrag ihren
eigentlichen Sitz und Ursprung hat, beruht darin, daß jemand aus dem
Darlehen selbst für sich mehr zurückverlangt, als der andere von ihm
empfangen hat und zu diesem Zweck aufgrund des Darlehens selbst
irgendeinen Gewinn über die Stammsumme hinaus als geschuldet
beansprucht. Denn der Darlehensvertrag verlangt seiner Natur nach
lediglich die Rückgabe der Summe, die ausgeliehen wurde. Jeder Gewinn,
der die geliehene Summe übersteigt, ist deshalb unerlaubt und
wucherisch.
II. Von diesem
Makel aber wird man sich nicht reinwaschen können durch die Ausrede, der
Gewinn sei ja nicht übermäßig und übertrieben, sondern bescheiden, nicht
groß, sondern gering, oder dieser Gewinn bloß um des Darlehens willen
werde ja nicht von einem Armen, sondern von einem Reichen gefordert, und
dieser lasse die als Darlehen empfangene Summe nicht brach liegen,
sondern lege sie zur Vergrößerung seines Vermögens aufs Vorteilshafteste
an, indem er Grundstücke zusammenkaufe oder gewinnbringende
Handelsgeschäfte betreibe. Die Rechtsnatur des Darlehens fordert
notwendig die Gleichheit von Gabe und Rückgabe. Wer immer, sobald diese
Gleichheit einmal hergestellt ist, sich herausnimmt, von einem
Darlehensnehmer auf Grund des Darlehens selber, dem durch die Rückgabe
des Gleichen doch schon Genüge getan ist, noch mehr zu fordern, handelt
offensichtlich gegen die Rechtsnatur des Darlehens. Folglich ist er,
falls er etwas darüber hinaus empfangen hat, zur Rückerstattung
verpflichtet kraft jener Gerechtigkeit, die man die Tauschgerechtigkeit
nennt und deren Aufgabe es ist, in den menschlichen Verträgen die
Gleichheit zwischen den Partnern gewissenhaft zu wahren und die nicht
gewahrte genau wiederherzustellen.
Legitimer Gewinn aus Darlehens- und
anderen Verträgen
III. Damit wird
nun aber keineswegs verneint, daß mit dem Darlehensvertrag dann und wann
andere sogenannte Titel, die der Natur des Darlehens selber nicht im
geringsten angeboren oder innerlich zugehörig sind, etwa zusammentreffen
können, aus denen dann ein durchaus legitimer und rechtmäßiger Grund
entsteht, über die aus dem Darlehensvertrag geschuldete Summe hinaus mit
Recht etwas mehr zu fordern. Ebenso wird nicht bestritten, daß jeder
sein Geld durch andere, ihrem Wesen nach von der Natur des
Darlehensvertrags durchaus verschiedene Verträge auf manche Art sittlich
tadellos anlegen und verwenden kann, sei es um sich Jahreseinkünfte zu
sichern, sei es auch, um ein erlaubtes Handels- und sonstiges Geschäft
zu betreiben und daraus ehrliche Gewinne zu ziehen.
IV. Wird aber bei
diesen vielen vom Darlehen verschiedenen Vertragsarten die einem jeden
eigentümliche Gleichheit nicht gewahrt, so fällt, was über das Gerechte
hinaus genommen wird, zwar nicht unter den Begriff des Zinsnehmens oder
Wuchers – denn es liegt ja kein Darlehen vor, weder ein offenes noch ein
bemänteltes –, aber doch sicher und gewiß unter den Begriff einer andern
wirklichen Ungerechtigkeit, die gleicherweise die Pflicht der
Rückerstattung auferlegt. Ebenso ist unzweifelhaft gewiß, daß bei
richtiger Durchführung und Beurteilung nach der Waage der Gerechtigkeit
die vielfältige Ausgestaltung dieser erlaubten Verträge vollauf für den
menschlichen Verkehr und den erfolgreichen Handel genügt, um das
öffentliche Wohl zu erhalten und zu fördern. Fern sei von den Christen
der Gedanke, durch Zinsdarlehen oder ähnliche Ungerechtigkeiten bei
andern Verträgen könne ein gewinnbringender Handel und Verkehr gedeihen;
wir werden ja aus göttlichem Munde selbst belehrt: »Die Gerechtigkeit
erhebt ein Volk, die Sünde aber macht die Völker elend« (Spr 14,34).
V. Man huldigte
aber – das ist wohl zu beachten – einer falschen und sehr gewagten
Ansicht, wenn man meinte, es fänden sich immer und seien überall
verfügbar beim Darlehen andere rechtmäßige Titel, oder es gäbe außerhalb
des Darlehens andere gerechte Verträge, und unter dem Schutz dieser
Titel oder Verträge sei es immer erlaubt, einen rechtmäßigen Mehrwert
über die volle und unverlorene Stammsumme hinaus zu nehmen, so oft man
Geld, Getreide oder etwas anderes dieser Art einem andern kreditiert.
Wenn jemand so denkt, ist er nicht nur im Widerspruch mit den göttlichen
Lehren und der Entscheidung der Kirche über den Darlehenszins, sondern
zweifellos auch sogar mit dem allgemeinen Menschheitsbewußtsein und mit
der natürlichen Vernunft. Denn wenigstens das kann keinem verborgen
sein, daß der Mensch in vielen Fällen verpflichtet ist, dem andern mit
einem einfachen und bloßen Darlehen beizuspringen. Lehrt doch Christus
der Herr selbst: »Wer von dir borgen will, den weise nicht ab!« (Mt
5,42). Ähnlich kann unter vielen Umständen nur ein Darlehensvertrag und
kein anderer wahrer und gerechter Vertrag am Platze sein. Wer also
seinem Gewissen Rechnung tragen will, muß zuerst sorgfältig untersuchen,
ob mit dem Darlehen wirklich ein gerechter anderer Titel oder ob ein vom
Darlehen verschiedener gerechter Vertrag sich wirklich darbiete, wodurch
der angestrebte Gewinn von jedem Makel frei und ledig würde.
2. Praktischer Teil
Solidität der dargelegten Lehre und ihre Gegner
§ 4. In den obigen
Sätzen faßten die Kardinäle, Theologen und erfahrensten Gelehrten des
kanonischen Rechts, deren Rat Wir in dieser äußerst ernsten
Angelegenheit einverlangt hatten, ihre Gutachten klar zusammen. Auch Wir
haben es nicht unterlassen, vor, während und auch nach den abgehaltenen
Kongregationen diese Streitsache selber zu studieren. Die Voten der
erwähnten hervorragenden Männer sind Wir aufs sorgfältigste
durchgegangen. So billigen und bestätigen Wir denn alles, was in den
oben angeführten Sätzen enthalten ist. Diese Lehrsätze scheinen ja
wirklich geradezu alle theologischen Schriftsteller und Professoren des
Kirchenrechts, mehrere Zeugnisse der Heiligen Schrift, die Dekrete
Unserer Vorgänger auf dem päpstlichen Stuhl und die Autorität der
Konzilien und Kirchenväter fast einmütig gutzuheißen. Übrigens kennen
Wir jene Autoren sehr gut, denen gegenteilige Ansichten zugeschrieben
werden müssen, und ebenso jene, die solche Ansichten unterstützen und
verteidigen oder ihnen Anlaß und günstige Anhaltspunkte zu geben
scheinen. Es ist Uns auch wohlbekannt, mit welch großer Klugheit und
Besonnenheit Theologen die Verteidigung der Wahrheit übenahmen, die in
der Nachbarschaft jener Gegenden wohnen, wo diese Streitfragen ihren
Ursprung hatten.
Ermahnung an die Träger des Lehramtes
§ 5. Damit nun
dieser Sachverhalt Dir, Ehrwürdiger Bruder, und allen übrigen zur
Kenntnis gelange, richten Wir Unser Rundschreiben an alle Erzbischöfe,
Bischöfe und Ordinarien Italiens. Sooft es geschieht, daß eine Synode
gefeiert wird, Ansprachen ans Volk gerichten werden oder dieses in den
geheiligten Lehren unterrichtet wird, darf nichts vorgetragen werden,
was nur irgendwie von dem Spruch abwiche, welchen Wir oben wiedergegeben
haben. Auch ermahnen Wir eindringlich, mit aller Sorgfalt darüber zu
wachen, daß niemand in Euren Diözesen durch Wort und Schrift das
Gegenteil zu lehren wage. Sollte aber einer den Gehorsam verweigern, so
erklären Wir ihn für den Strafen verfallen, die durch die hl. Kanones
über die Verächter und Übertreter der apostolischen Weisungen verhängt
sind.
§ 6. Über den
Vertrag jedoch, der diese neuen Streitfragen veranlaßt hat, bestimmen
Wir einstweilen nichts. Wir entscheiden jetzt auch nichts bezüglich der
andern Verträge, bei denen die Theologen und Ausleger der kirchlichen
Gesetze in den Meinungen auseinander gehen. Jedoch müssen nach Unserer
Meinung der Eifer und die Gewissenhaftigkeit Eures Pflichtgefühls
aufgerufen sein zur Durchführung dessen, was Wir jetzt folgen lassen.
Besondere Anweisungen
§ 7. Erstens: Mit
nachdrücklichen Worten zeigt Euren Gemeinden, daß die Schande und das
Laster des Zinsnehmens oder Wuchers bei einem Darlehen von den Heiligen
Schriften gebrandmarkt wird und daß es sich in verschiedene Formen und
Gestalten hüllt, um die durch Christi Blut zur Freiheit und Gnade
zurückgeführten Gläubigen wieder jählings ins Verderben zu stürzen. Sie
sollen deshalb, wenn sie ihr Geld anlegen wollen, ja sorgfältig darauf
achten, daß sie sich nicht von der Habsucht, der Quelle aller Übel,
hinreißen lassen, sondern vielmehr solche um Rat fragen, die durch
Gelehrsamkeit und Tugend sich auszeichnen.
§ 8. Zweitens:
Diejenigen, die im Vertrauen auf ihre Fähigkeit und ihre Einsicht keine
Bedenken haben, in diesen Fragen, die doch gewiß eine nicht geringe
Kenntnis der hl. Theologie und der Rechtswissenschaft erfordern,
Auskunft zu erteilen, sollen sich wohl hüten vor Extremen, die immer
fehlerhaft sind. Einige nämlich urteilen in diesen Sachen mit solcher
Strenge, daß sie überhaupt jeden aus dem Geld gewonnenen Nutzen als
unerlaubt und mit Zinsnehmen verbunden hinstellen. Umgekehrt aber sind
manche so nachsichtig und mild, daß sie jedweden Profit von der
Schändlichkeit des Wuchers freisprechen. Möge man nicht zu sehr an der
eigenen Meinung hängen, sondern vor der Auskunftserteilung mehrere
hervorragende Schriftsteller zu Rate ziehen und dann jene Meinung
annehmen, die man durch die Vernunft und Autorität als klar begründet
erkennt. Entsteht bei der Prüfung eines Vertrags ein Disput, so soll man
keinerlei Beschimpfungen gegen die Vertreter der gegenteiligen Ansicht
vorbringen und nicht behaupten, diese sei mit schweren kirchlichen
Strafen zu brandmarken, zumal wenn sie keineswegs der Begründung und des
Zeugnisses hervorragender Männer entbehrt. Schmähreden und
Beschimpfungen zerreißen ja das Band der christlichen Liebe und geben
dem Volk schwerstes Ärgernis.
§ 9. Drittens: Wer
sich von jedem Makel des Zinsnehmens oder Wuchers frei und rein halten
und sein Geld so einem andern geben will, daß er nur eine rechtmäßige
Frucht bezieht, ist zu ermahnen, den einzugehenden Vertrag vorher genau
zu bezeichnen und die darin aufzunehmenden Bedingungen und die Frucht,
die er aus dem Gelde fordert, klarzulegen. Das wird in hohem Maße dazu
beitragen, nicht nur seelische Unruhe und Gewissensbedenken zu
vermeiden, sondern auch den Vertrag selbst im äußeren Bereich billigen
zu können. Das verriegelt auch Streitigkeiten die Türe, die oft
entstehen müssen, wenn es um die Abklärung der Frage geht, ob das Geld,
das einem andern in rechter Weise gegeben zu sein scheint, nicht doch in
Wirklichkeit einen bemäntelten Wucher in sich schließe.
§ 10. Viertens
ermahnen Wir auch, dem albernen Gerede jener Schwätzer kein Gehör zu
schenken, die zu behaupten pflegen, der Streit um den Zins sei eine
bloße Wortklauberei; die einem andern in irgendeiner Weise überlassene
Geldsumme werfe ja meistenteils eine Frucht ab. Wie falsch und
wahrheitsfremd das ist, sehen wir ohne weiteres ein, wenn wir bedenken,
daß die Natur des einen Vertrages von der Natur des andern
grundverschieden und ganz anders geartet ist und daß deshalb ebenso die
Wirkungen dieser unter sich verschiedenen Verträge erheblich voneinander
abweichen. Tatsächlich besteht ein sehr deutlicher Unterschied zwischen
der Frucht, die in rechtlich erlaubter Weise aus dem Gelde gezogen und
darum vor dem einen Forum wie vor dem anderen behalten werden kann, und
der Frucht, die unrechtmäßig aus dem Gelde erworben wird und deshalb
nach dem Urteile jeden Forums zurückerstattet werden muß. Es steht somit
fest, daß man eine Untersuchung über den Zins in der heutigen Zeit nicht
etwa mit dem Hinweis als unnütz erklären kann, daß man ja doch
meistenteils aus dem Geld, das einem andern überlassen wird, irgendeine
Frucht erziele.
§ 11. Das haben
Wir in der Hauptsache für gut befunden, Euch bekannt zu geben, in der
Hoffnung, daß Ihr die Ausführung aller in diesem Schreiben von Uns
gegebenen Vorschriften anordnet. Ihr werdet auch, wie Wir zuversichtlich
glauben, für geeignete Abwehrmittel sorgen, wenn vielleicht wegen dieser
neuen Streitfrage über den Zins in Eurer Diözese die Massen aufgewiegelt
werden oder Verführer auftreten, um die Lauterkeit und Reinheit der
gesunden Lehre zu trüben. Zum Schlusse erteilen wir Euch und der Eurer
Hirtensorge anvertrauten Herde den Apostolischen Segen.
Gegeben zu Rom bei S.
Maria Maggiore, am 1. November 1745, im 6. Jahr Unseres Pontifikats.
Papst Benedikt XIV.