„Durch die Prominenz des zu Unrecht
Beschuldigten“
Benedikt XVI. will man „vom Versagen anderer ablenken, allen
voran des amtierenden Erzbischofs von München und Freising“, Kardinal Marx.
München-Vatikan
(kath.net 2022)
Die Vorwürfe aus dem Missbrauchs-Gutachten der Münchner Kanzlei Westpfahl
Spilker Wastl gegen Papst Benedikt XVI. sind derart absurd und an den Haaren
herbeigezogen, dass offenbar nicht einmal versucht wurde, ihren perfiden Zweck
zu verbergen: Durch die Prominenz des zu Unrecht Beschuldigten vom Versagen
anderer abzulenken, allen voran des amtierenden Erzbischofs von München und
Freising. Und der Kirche, für die Ratzinger steht, also einem theozentrischen
Katholizismus, den Todesstoß zu versetzen und an ihrer Stelle die
protestantisierte, anthropozentrische Zeitgeist-Kirche des „synodalen Weges“ zu
installieren.
Zu keinem anderen Schluss kann kommen, wer die
medialen „Soundbites“ von der Münchner Pressekonferenz in ihrem
Kampagnen-Charakter durchschaut hat und sich stattdessen auf die Lektüre des
Original-Berichtes konzentriert, der ja angeblich Belege für die selbstbewusst
in die auf sprungbereite Feindseligkeit gegen die Kirche programmierte Welt
hinaus posaunten Anschuldigungen enthalten soll. Doch wer nach Beweisen,
Indizien oder gar harten Fakten sucht, die den Ratzinger-Papst der Lüge
überführen könnten, wird ganz schnell enttäuscht. Denn in München kreißten ganz
gewaltig die bayerischen Berge, doch geboren wurde nur eine lächerliche Maus, so
klein, dass ihr keine römische Katze je nachlaufen würde.
Nehmen wir also die vier Fälle – ganze vier
von insgesamt 65 – einmal unter die Lupe, in denen dem damaligen Erzbischof von
München und Freising, Joseph Kardinal Ratzinger (von 1977-1982), Versagen im Amt
vorgeworfen wird – genauer gesagt, „nicht regelkonform beziehungsweise
angemessen“ auf Missbrauchsfälle reagiert zu haben. Schon hier aber droht der
Fallstrick des Anachronismus, wenn Gutachter den Umgang mit Missbrauchsfällen
vor einem halben Jahrhundert nach den heutigen Maßstäben zu bewerten versuchen.
Denn dass eine „Missbrauchs-Pandemie“ die katholische Kirche befallen hat, ist
erst eine Erkenntnis aus dem 21. Jahrhundert und es war ausgerechnet Benedikt
XVI., der am vehementesten darauf reagiert und den Augiasstall ausgemistet hat.
In seinem Pontifikat kam es, zumindest was Europa betrifft, zu der ersten
Aufarbeitung von Missbrauchsfällen im kirchlichen Umfeld und den bislang
härtesten Disziplinierungsmaßnahmen, von der Versetzung von 384 Täter-Priestern
in den Laienstand bis zur (erstmaligen) Zusammenarbeit mit weltlichen
Strafverfolgungsbehörden. Doch welchem Menschen kann man zum Vorwurf machen,
1977 noch nicht das Wissen und die Sensitivität für ein damals noch praktisch
unbekanntes Problem besessen zu haben, über die wir heute, 2022, verfügen? War
es nicht für uns alle unvorstellbar, in welche Abgründe die Übersexualisierung
unserer Gesellschaft seit der „Umwertung der Werte“ von 1968 auch Priesterseelen
stürzen würde? War die Vorstellung, es könne pädophile Priester geben, nicht für
uns alle damals undenkbar? Gab es nicht andere Erklärungen für kolportierte
Gerüchte, die auf der Grundlage damaligen Wissens wahrscheinlicher erschienen?
Und weisen nicht gerade Menschen von hoher persönlicher Integrität oft eine
gewisse Naivität auf, was die Abgründe krimineller Seelen betrifft? Haben nicht
eben darum Hochstapler und Betrüger ein so leichtes Spiel? Ganz sicher ist ein
Erzbischof kein Kriminalpsychologe und läuft Gefahr, zuerst das Gute in einem
Menschen zu sehen. Die Mahnung Jesu, sich bei jeder Steinigung zurückzuhalten
und auch reumütigen Tätern eine zweite Chance zu geben, führt jeden Bischof beim
Umgang mit Missbrauchstätern zumindest in einen Gewissenskonflikt. Es ist also
eher eine Binsenweisheit, wenn auch Benedikt XVI. in seiner Antwort auf die
Fragen der Gutachter erklärt, es sei doch unumgänglich, „das seinerzeitige
Handeln historisch richtig einzuordnen und in den damaligen zeitlichen Kontext,
in die damalige Rechtslage, in den damaligen Zeitgeist und die damals
herrschenden Moralvorstellungen einzuordnen.“ Dazu gehört, dass sich nur
schuldig macht, wer gegen die zum Zeitpunkt seiner Verantwortung geltenden
Rechtsnormen verstieß. „Nulla culpa sine lege“ („Keine Schuld ohne Gesetz“) ist
ein juristischer Grundsatz aus dem römischen Recht, der auch einer Münchner
Anwaltskanzlei bekannt sein müsste, zumindest auf der Pressekonferenz aber
leider unter den Teppich gekehrt wurde. So trat die Instruktion „Crimen
sollicitationis“, gegen die Ratzinger zwischen 1977 und 1982 verstoßen haben
soll, überhaupt erst mit dem Codex Iuris Canonici von 1983 in Kraft, für dessen
Verabschiedung kein anderer als – Joseph Kardinal Ratzinger, jetzt als Präfekt
der Glaubenskongregation, verantwortlich zeichnete. Angewendet wurde sie sogar
erst seit Ende der 1990er Jahre. Damit aber wäre zumindest geklärt, weshalb
Ratzinger die fraglichen Fälle, wenn sie ihm überhaupt bekannt gewesen wären,
nicht nach Rom meldete – das war zum damaligen Zeitpunkt weder Vorschrift noch
gängige Praxis!
Doch auch sonst gibt es bei den fünf Fällen,
die man Ratzinger unterstellt, einen ziemlichen Interpretationsspielraum. Das
müssen auch die Gutachter einräumen, ebenso wie sie sogar die genannte Anzahl
der Fälle gleich wieder relativieren, wörtlich: „Davon betreffen zwei Fälle
während der Amtszeit des Erzbischofs Kardinal Ratzinger verübte Taten und drei
Fälle solche, die vor dessen Amtszeit und teilweise außerhalb des Gebiets der
Erzdiözese verübt wurden. Von den im Rahmen dieses Bandes behandelten Fällen hat
sich der von den Gutachtern geäußerte Verdacht in einem Fall nicht bestätigt. In
dem gesondert dargestellten Fall 41 (der gesondert behandelt wird und kein Teil
des eigentlichen Berichtes ist, d.Verf.) hat sich der Verdacht nur teilweise
bestätigt.“
Im ersten der vier Fälle – im Gutachten mit
„Nr. 22“ beziffert – handelt es sich um einen Priester, der in den 1960er Jahren
wegen homosexueller Pädophilie zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden war.
Nach seiner Entlassung habe Ratzingers Vorgänger, Julius Kardinal Döpfner, ihn
ins Ausland versetzt. In Ratzingers Amtszeit bat er um Rückkehr in seine
bayerische Heimat, um dort in den Ruhestand gehen zu können. Das wurde ihm Ende
der 1970er Jahre gewährt. Das Gutachten unterstellt Benedikt XVI., den Täter zu
kennen, weil er in dessen ehemaliger Pfarrei seinen Urlaub verbracht habe und
darüber hinaus mit dessen Nachfolger bekannt sei. Zudem habe er ihm zum
Ruhestand den „Ehrentitel ‚Pfarrer‘“ verliehen. Und eben dort fangen die
Absurditäten an. Denn natürlich ist „Pfarrer“, anders als etwa Monsignore,
Apostolischer Protonotar oder Prälat, kein Ehrentitel, sondern eine
Berufsbezeichnung. „Pfarrer im Ruhestand“ darf sich jeder Priester nennen, der
einmal eine Pfarrei geleitet hat. Also hat Ratzinger ihm diese auch nicht
verliehen, er war lediglich mit seiner korrekten Berufsbezeichnung angeschrieben
worden, als das Erzbischöfliche Generalvikariat ihm die Versetzung in den
Ruhestand gewährte. Zu behaupten, Ratzinger habe sich bei seinem einmaligen
Urlaub in dessen ehemaliger Pfarrei über sein Vorleben und Strafregister schlau
gemacht, ist nicht nur eine Unterstellung, sondern eine perfide Konstruktion:
der besagte Urlaub fand im August 1982 statt, also ein halbes Jahr nachdem
Ratzinger sein Amt als Erzbischof niedergelegt hatte, um auf Wunsch Johannes
Pauls II. in Rom als Präfekt der Glaubenskongregation zu wirken. Selbst wenn er
also – was kaum anzunehmen ist – damals etwas über das Vorleben des Täters
erfahren hätte, konnte es seine Handlung drei oder vier Jahre zuvor nicht
beeinflusst haben. Ob Ratzinger je wusste, weshalb der Besagte im Ausland
gewirkt hatte, ist mehr als fraglich. Er selbst bestreitet es vehement und es
gibt keinen Grund, ihm nicht zu glauben. Es wäre aber auch kein Grund gewesen,
einem Mann, der seine Strafe abgebüßt hatte und nie wieder rückfällig geworden
war, die Rückkehr in seine Heimat und die Versetzung in den Ruhestand mit einem
üblichen Standardschreiben und korrekter Anrede zu verweigern. Doch nicht einmal
das hat Ratzinger getan; das Formschreiben blieb ohne die Unterschrift des
Kardinals! So müssen selbst die Gutachter zugeben, dass Benedikt XVI. „insofern
insgesamt als entlastet“ zu gelten hat.
Im zweiten Fall, „Nr. 37“, war ein Priester
aus der Diözese Essen Anfang der 1970er Jahre, also unter Ratzingers Vorgänger
Julius Kardinal Döpfner, wegen „versuchter Unzucht mit Kindern und (sexueller)
Beleidigung“ verurteilt worden. Sofort wurde er vom Bistum aus dem Schuldienst
abgezogen. Fünf Jahre später, jetzt unter Ratzinger, kam es zu einer zweiten
Verurteilung wegen exhibitionistischen Handlungen. Ratzinger sei damit
einverstanden gewesen, dass der Priester trotzdem auf seiner Stelle verbleibt,
wo er ein Jahr später rückfällig wurde. Jetzt verurteilte ihn das Gericht zu
einer Haftstrafe auf Bewährung. Nach einer fachärztlichen Behandlung wurde er
anschließend von einer Privatschule als Religionslehrer beschäftigt. Während
Benedikt XVI. bestreitet, über den Fall vollumfänglich informiert worden zu
sein, ist zumindest das Verhalten seines Generalvikars nachvollziehbar: Der
besagte Priester war in Ratzingers Amtszeit lediglich als Exhibitionist
verurteilt worden, hatte sich also nicht an Kindern vergangen. Eine Versetzung
kam nicht infrage, da er sich am Ort in psychiatrischer Behandlung befand. Als
er rückfällig wurde, entließ man ihn aus dem seelsorgerischen Dienst; er lehrte
daraufhin an einer privaten Wirtschaftsschule, wo er sich nach Auskunft des
Schulleiters tadellos verhielt. Darüber hinaus glaubte man in den 1970er Jahren,
dass Exhibitionismus und Pädophilie heilbare Krankheiten seien, die durch eine
psychiatrische Behandlung kuriert werden könnten. Auch hier gibt es also
keinerlei Indiz für ein Fehlverhalten oder Versäumnis des Erzbischofs Ratzinger.
Der dritte Fall, „Nr. 40“, entlastet Benedikt
XVI. eher, als dass er ihn belastet. Ein Priester einer ausländischen Diözese
und Verwandter des dortigen Bischofs war in seinem Heimatland wegen sexuellem
Missbrauch von Kindern zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden. Der Bischof,
sein Onkel, bemühte sich daraufhin, den Täter zur Fortsetzung seines Studiums
bzw. seiner Promotion nach München zu schicken, ein Gesuch, dem Erzbischof
Ratzinger stattgab. Dabei wurde dieser auch als Kaplan in der Seelsorge
eingesetzt. Als er beim Nacktbaden beobachtet wurde und sich um private Kontakte
zu Ministranten bemühte, wurde ihm jede Zelebration in der Pfarrei untersagt und
schließlich seine Entlassung bewirkt.
Das Gutachten unterstellt Erzbischof
Ratzinger, freilich ohne einen einzigen Beweis oder auch nur ein Indiz, dass er
von der Verurteilung des jungen Priesters im Ausland gewusst haben muss. Sehr
viel wahrscheinlicher ist allerdings, dass dessen Onkel diese bewusst
verschwiegen hat. Nun ist weder Nacktbaden noch das „Bemühen um Kontakte“ ein
sexueller Missbrauch, geschweige denn eine Straftat. Trotzdem handelte das
Bistum präventiv.
Im vierten Fall, „Nr. 42“, geht es um einen
Priester, der beschuldigt wurde, „anzügliche Fotografien“ von unter 14jährigen
Mädchen angefertigt zu haben, was später auch zu einer Verurteilung führte.
Darüber sei Erzbischof Ratzinger informiert worden, der entschied, den
Beschuldigten fortan in einem Altenheim und einem Krankenhaus einzusetzen. Der
Pfarrer, der ihn in seine Pfarrei aufnahm, ließ ihn auch in der Pfarrkirche
zelebrieren. Wie die Gutachter aus der erfolgten Strafversetzung ein Versagen
Ratzingers oder gar „Gleichgültigkeit und Desinteresse“ ableiten wollen, zumal
nie sexuelle Handlungen mit Minderjährigen zur Debatte standen, bleibt offen.
Geben diese vier Fälle es her, das Lebenswerk
eines der klügsten Päpste der Kirchengeschichte zu beschädigen? Allenfalls
offenbaren sie, dass die Kirche im Umgang mit Missbrauch sensibler geworden ist,
und das ist gut so. Doch gerade das war, wir sagten es bereits, das Werk
Benedikts XVI. Umso absurder, umso perfider, den Aufklärer jetzt in eine Ecke
mit den Vertuschern zu stellen!
„Räuberbande“:
Als Papst Benedikt XVI. alles vorhersagte…
Vor
gut 10 Jahren hat Papst Benedikt XVI. eine
Rede im Deutschen Bundestag gehalten, deren
prophetische Weitsicht erst in diesen diesen
dunklen Tagen der Missachtung der
Menschenrechte, des vor dem Staat geltenden
Individuums und der Freiheit als
grundlegendem Gedanken der westlichen Welt
so recht zur Geltung kommt.
Audio:
Rede von Papst Benedikt XVI.
im Deutschen Bundestag 22.09.2011
Sehr geehrter Herr Bundespräsident!
Herr Bundestagspräsident!
Frau Bundeskanzlerin!
Frau Bundesratspräsidentin!
Meine Damen und Herren Abgeordnete!
Es ist mir Ehre und Freude, vor diesem Hohen
Haus zu sprechen – vor dem Parlament meines deutschen Vaterlandes, das als
demokratisch gewählte Volksvertretung hier zusammenkommt, um zum Wohl der
Bundesrepublik Deutschland zu arbeiten. Dem Herrn Bundestagspräsidenten möchte
ich für seine Einladung zu dieser Rede ebenso danken wie für die freundlichen
Worte der Begrüßung und Wertschätzung, mit denen er mich empfangen hat. In
dieser Stunde wende ich mich an Sie, verehrte Damen und Herren – gewiß auch als
Landsmann, der sich lebenslang seiner Herkunft verbunden weiß und die Geschicke
der deutschen Heimat mit Anteilnahme verfolgt. Aber die Einladung zu dieser Rede
gilt mir als Papst, als Bischof von Rom, der die oberste Verantwortung für die
katholische Christenheit trägt. Sie anerkennen damit die Rolle, die dem Heiligen
Stuhl als Partner innerhalb der Völker- und Staatengemeinschaft zukommt. Von
dieser meiner internationalen Verantwortung her möchte ich Ihnen einige Gedanken
über die Grundlagen des freiheitlichen Rechtsstaats vorlegen.
Lassen Sie mich meine Überlegungen über die
Grundlagen des Rechts mit einer kleinen Geschichte aus der Heiligen Schrift
beginnen. Im ersten Buch der Könige wird erzählt, daß Gott dem jungen König
Salomon bei seiner Thronbesteigung eine Bitte freistellte. Was wird sich der
junge Herrscher in diesem Augenblick erbitten? Erfolg – Reichtum – langes Leben
– Vernichtung der Feinde? Nicht um diese Dinge bittet er. Er bittet: „Verleih
deinem Knecht ein hörendes Herz, damit er dein Volk zu regieren und das Gute vom
Bösen zu unterscheiden versteht“ (1 Kön 3,9). Die Bibel will uns mit
dieser Erzählung sagen, worauf es für einen Politiker letztlich ankommen muß.
Sein letzter Maßstab und der Grund für seine Arbeit als Politiker darf nicht der
Erfolg und schon gar nicht materieller Gewinn sein. Die Politik muß Mühen um
Gerechtigkeit sein und so die Grundvoraussetzung für Friede schaffen. Natürlich
wird ein Politiker den Erfolg suchen, ohne den er überhaupt nicht die
Möglichkeit politischer Gestaltung hätte. Aber der Erfolg ist dem Maßstab der
Gerechtigkeit, dem Willen zum Recht und dem Verstehen für das Recht
untergeordnet. Erfolg kann auch Verführung sein und kann so den Weg auftun für
die Verfälschung des Rechts, für die Zerstörung der Gerechtigkeit. „Nimm das
Recht weg – was ist dann ein Staat noch anderes als eine große Räuberbande“, hat
der heilige Augustinus einmal gesagt. Wir
Deutsche wissen es aus eigener Erfahrung, daß diese Worte nicht ein leeres
Schreckgespenst sind. Wir haben erlebt, daß Macht von Recht getrennt wurde, daß
Macht gegen Recht stand, das Recht zertreten hat und daß der Staat zum
Instrument der Rechtszerstörung wurde – zu einer sehr gut organisierten
Räuberbande, die die ganze Welt bedrohen und an den Rand des Abgrunds treiben
konnte. Dem Recht zu dienen und der Herrschaft des Unrechts zu wehren ist und
bleibt die grundlegende Aufgabe des Politikers. In einer historischen Stunde, in
der dem Menschen Macht zugefallen ist, die bisher nicht vorstellbar war, wird
diese Aufgabe besonders dringlich. Der Mensch kann die Welt zerstören. Er kann
sich selbst manipulieren. Er kann sozusagen Menschen machen und Menschen vom
Menschsein ausschließen. Wie erkennen wir, was recht ist? Wie können wir
zwischen Gut und Böse, zwischen wahrem Recht und Scheinrecht unterscheiden? Die
salomonische Bitte bleibt die entscheidende Frage, vor der der Politiker und die
Politik auch heute stehen.
In einem Großteil der rechtlich zu regelnden
Materien kann die Mehrheit ein genügendes Kriterium sein. Aber daß in den
Grundfragen des Rechts, in denen es um die Würde des Menschen und der Menschheit
geht, das Mehrheitsprinzip nicht ausreicht, ist offenkundig: Jeder
Verantwortliche muß sich bei der Rechtsbildung die Kriterien seiner Orientierung
suchen. Im 3. Jahrhundert hat der große Theologe Origenes den Widerstand der
Christen gegen bestimmte geltende Rechtsordnungen so begründet: „Wenn jemand
sich bei den Skythen befände, die gottlose Gesetze haben, und gezwungen wäre,
bei ihnen zu leben …, dann würde er wohl sehr vernünftig handeln, wenn er im
Namen des Gesetzes der Wahrheit, das bei den Skythen ja Gesetzwidrigkeit ist,
zusammen mit Gleichgesinnten auch entgegen der bei jenen bestehenden Ordnung
Vereinigungen bilden würde …“
Von dieser Überzeugung her haben die
Widerstandskämpfer gegen das Naziregime und gegen andere totalitäre Regime
gehandelt und so dem Recht und der Menschheit als ganzer einen Dienst erwiesen.
Für diese Menschen war es unbestreitbar evident, daß geltendes Recht in
Wirklichkeit Unrecht war. Aber bei den Entscheidungen eines demokratischen
Politikers ist die Frage, was nun dem Gesetz der Wahrheit entspreche, was
wahrhaft recht sei und Gesetz werden könne, nicht ebenso evident. Was in bezug
auf die grundlegenden anthropologischen Fragen das Rechte ist und geltendes
Recht werden kann, liegt heute keineswegs einfach zutage. Die Frage, wie man das
wahrhaft Rechte erkennen und so der Gerechtigkeit in der Gesetzgebung dienen
kann, war nie einfach zu beantworten, und sie ist heute in der Fülle unseres
Wissens und unseres Könnens noch sehr viel schwieriger geworden.
Wie erkennt man, was recht ist? In der
Geschichte sind Rechtsordnungen fast durchgehend religiös begründet worden: Vom
Blick auf die Gottheit her wird entschieden, was unter Menschen rechtens ist. Im
Gegensatz zu anderen großen Religionen hat das Christentum dem Staat und der
Gesellschaft nie ein Offenbarungsrecht, nie eine Rechtsordnung aus Offenbarung
vorgegeben. Es hat stattdessen auf Natur und Vernunft als die wahren
Rechtsquellen verwiesen – auf den Zusammenklang von objektiver und subjektiver
Vernunft, der freilich das Gegründetsein beider Sphären in der schöpferischen
Vernunft Gottes voraussetzt. Die christlichen Theologen haben sich damit einer
philosophischen und juristischen Bewegung angeschlossen, die sich seit dem 2.
Jahrhundert v. Chr. gebildet hatte. In der ersten Hälfte des 2. vorchristlichen
Jahrhunderts kam es zu einer Begegnung zwischen dem von stoischen Philosophen
entwickelten sozialen Naturrecht und verantwortlichen Lehrern des römischen
Rechts. In dieser Berührung ist die
abendländische Rechtskultur geboren worden, die für die Rechtskultur der
Menschheit von entscheidender Bedeutung war und ist. Von dieser vorchristlichen
Verbindung von Recht und Philosophie geht der Weg über das christliche
Mittelalter in die Rechtsentfaltung der Aufklärungszeit bis hin zur Erklärung
der Menschenrechte und bis zu unserem deutschen Grundgesetz, mit dem sich unser
Volk 1949 zu den „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als
Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in
der Welt“ bekannt hat.
Für die Entwicklung des Rechts und für die
Entwicklung der Humanität war es entscheidend, daß sich die christlichen
Theologen gegen das vom Götterglauben geforderte religiöse Recht auf die Seite
der Philosophie gestellt, Vernunft und Natur in ihrem Zueinander als die für
alle gültige Rechtsquelle anerkannt haben. Diesen Entscheid hatte schon Paulus
im Brief an die Römer vollzogen, wenn er sagt: „Wenn Heiden, die das Gesetz (die
Tora Israels) nicht haben, von Natur aus das tun, was im Gesetz gefordert ist,
so sind sie… sich selbst Gesetz. Sie zeigen damit, daß ihnen die Forderung des
Gesetzes ins Herz geschrieben ist; ihr Gewissen legt Zeugnis davon ab…“ (Röm
2,14f). Hier erscheinen die beiden Grundbegriffe Natur und Gewissen, wobei
Gewissen nichts anderes ist als das hörende Herz Salomons, als die der Sprache
des Seins geöffnete Vernunft. Wenn damit bis in die Zeit der Aufklärung, der
Menschenrechtserklärung nach dem Zweiten Weltkrieg und in der Gestaltung unseres
Grundgesetzes die Frage nach den Grundlagen der Gesetzgebung geklärt schien, so
hat sich im letzten halben Jahrhundert eine dramatische Veränderung der
Situation zugetragen. Der Gedanke des Naturrechts gilt heute als eine
katholische Sonderlehre, über die außerhalb des katholischen Raums zu
diskutieren nicht lohnen würde, so daß man sich schon beinahe schämt, das Wort
überhaupt zu erwähnen. Ich möchte kurz andeuten, wieso diese Situation
entstanden ist. Grundlegend ist zunächst die These, daß zwischen Sein und Sollen
ein unüberbrückbarer Graben bestehe. Aus Sein könne kein Sollen folgen, weil es
sich da um zwei völlig verschiedene Bereiche handle. Der Grund dafür ist das
inzwischen fast allgemein angenommene positivistische Verständnis von Natur.
Wenn man die Natur – mit den Worten von H. Kelsen – als „ein Aggregat von als
Ursache und Wirkung miteinander verbundenen Seinstatsachen“ ansieht, dann kann
aus ihr in der Tat keine irgendwie geartete ethische Weisung hervorgehen.
Ein positivistischer Naturbegriff, der die Natur rein funktional versteht, so
wie die Naturwissenschaft sie erkennt, kann keine Brücke zu Ethos und Recht
herstellen, sondern wiederum nur funktionale Antworten hervorrufen. Das gleiche
gilt aber auch für die Vernunft in einem positivistischen, weithin als allein
wissenschaftlich angesehenen Verständnis. Was nicht verifizierbar oder
falsifizierbar ist, gehört danach nicht in den Bereich der Vernunft im strengen
Sinn. Deshalb müssen Ethos und Religion dem Raum des Subjektiven zugewiesen
werden und fallen aus dem Bereich der Vernunft im strengen Sinn des Wortes
heraus. Wo die alleinige Herrschaft der positivistischen Vernunft gilt – und das
ist in unserem öffentlichen Bewußtsein weithin der Fall –, da sind die
klassischen Erkenntnisquellen für Ethos und Recht außer Kraft gesetzt. Dies ist
eine dramatische Situation, die alle angeht und über die eine öffentliche
Diskussion notwendig ist, zu der dringend einzuladen eine wesentliche Absicht
dieser Rede bildet.
Das positivistische Konzept von Natur und
Vernunft, die positivistische Weltsicht als Ganze ist ein großartiger Teil
menschlichen Erkennens und menschlichen Könnens, auf die wir keinesfalls
verzichten dürfen. Aber es ist nicht selbst als Ganzes eine dem Menschsein in
seiner Weite entsprechende und genügende Kultur. Wo die positivistische Vernunft
sich allein als die genügende Kultur ansieht und alle anderen kulturellen
Realitäten in den Status der Subkultur verbannt, da verkleinert sie den
Menschen, ja sie bedroht seine Menschlichkeit. Ich sage das gerade im Hinblick
auf Europa, in dem weite Kreise versuchen, nur den Positivismus als gemeinsame
Kultur und als gemeinsame Grundlage für die Rechtsbildung anzuerkennen, alle
übrigen Einsichten und Werte unserer Kultur in den Status einer Subkultur
verweisen und damit Europa gegenüber den anderen Kulturen der Welt in einen
Status der Kulturlosigkeit gerückt und zugleich extremistische und radikale
Strömungen herausgefordert werden. Die sich exklusiv gebende positivistische
Vernunft, die über das Funktionieren hinaus nichts wahrnehmen kann, gleicht den
Betonbauten ohne Fenster, in denen wir uns Klima und Licht selber geben, beides
nicht mehr aus der weiten Welt Gottes beziehen wollen. Und dabei können wir uns
doch nicht verbergen, daß wir in dieser selbstgemachten Welt im stillen doch aus
den Vorräten Gottes schöpfen, die wir zu unseren Produkten umgestalten. Die
Fenster müssen wieder aufgerissen werden, wir müssen wieder die Weite der Welt,
den Himmel und die Erde sehen und all dies recht zu gebrauchen lernen.
Aber wie geht das? Wie finden wir in die
Weite, ins Ganze? Wie kann die Vernunft wieder ihre Größe finden, ohne ins
Irrationale abzugleiten? Wie kann die Natur wieder in ihrer wahren Tiefe, in
ihrem Anspruch und mit ihrer Weisung erscheinen? Ich erinnere an einen Vorgang
in der jüngeren politischen Geschichte, in der Hoffnung, nicht allzusehr
mißverstanden zu werden und nicht zu viele einseitige Polemiken hervorzurufen.
Ich würde sagen, daß das Auftreten der ökologischen Bewegung in der deutschen
Politik seit den 70er Jahren zwar wohl nicht Fenster aufgerissen hat, aber ein
Schrei nach frischer Luft gewesen ist und bleibt, den man nicht überhören darf
und nicht beiseite schieben kann, weil man zu viel Irrationales darin findet.
Jungen Menschen war bewußt geworden, daß irgend etwas in unserem Umgang mit der
Natur nicht stimmt. Daß Materie nicht nur Material für unser Machen ist, sondern
daß die Erde selbst ihre Würde in sich trägt und wir ihrer Weisung folgen
müssen. Es ist wohl klar, daß ich hier nicht Propaganda für eine bestimmte
politische Partei mache – nichts liegt mir ferner als dies. Wenn in unserem
Umgang mit der Wirklichkeit etwas nicht stimmt, dann müssen wir alle ernstlich
über das Ganze nachdenken und sind alle auf die Frage nach den Grundlagen
unserer Kultur überhaupt verwiesen. Erlauben Sie mir, bitte, daß ich noch einen
Augenblick bei diesem Punkt bleibe. Die Bedeutung der Ökologie ist inzwischen
unbestritten. Wir müssen auf die Sprache der Natur hören und entsprechend
antworten. Ich möchte aber nachdrücklich einen Punkt ansprechen, der nach wie
vor – wie mir scheint –ausgeklammert wird: Es gibt auch eine Ökologie des
Menschen. Auch der Mensch hat eine Natur, die er achten muß und die er nicht
beliebig manipulieren kann. Der Mensch ist nicht nur sich selbst machende
Freiheit. Der Mensch macht sich nicht selbst. Er ist Geist und Wille, aber er
ist auch Natur, und sein Wille ist dann recht, wenn er auf die Natur achtet, sie
hört und sich annimmt als der, der er ist und der sich nicht selbst gemacht hat.
Gerade so und nur so vollzieht sich wahre menschliche Freiheit.
Kehren wir zurück zu den Grundbegriffen Natur
und Vernunft, von denen wir ausgegangen waren. Der große Theoretiker des
Rechtspositivismus, Kelsen, hat im Alter von 84 Jahren – 1965 – den Dualismus
von Sein und Sollen aufgegeben. (Es tröstet mich, daß man mit 84 Jahren offenbar
noch etwas Vernünftiges denken kann.) Er hatte früher gesagt, daß Normen nur aus
dem Willen kommen können. Die Natur könnte folglich Normen nur enthalten – so
fügt er hinzu –, wenn ein Wille diese Normen in sie hineingelegt hätte. Dies
wiederum – sagt er – würde einen Schöpfergott voraussetzen, dessen Wille in die
Natur miteingegangen ist. „Über die Wahrheit dieses Glaubens zu diskutieren, ist
völlig aussichtslos“, bemerkt er dazu.
Wirklich? – möchte ich fragen. Ist es wirklich sinnlos zu bedenken, ob die
objektive Vernunft, die sich in der Natur zeigt, nicht eine schöpferische
Vernunft, einen Creator Spiritus voraussetzt?
An dieser Stelle müßte uns das kulturelle Erbe
Europas zu Hilfe kommen. Von der Überzeugung eines Schöpfergottes her ist die
Idee der Menschenrechte, die Idee der Gleichheit aller Menschen vor dem Recht,
die Erkenntnis der Unantastbarkeit der Menschenwürde in jedem einzelnen Menschen
und das Wissen um die Verantwortung der Menschen für ihr Handeln entwickelt
worden. Diese Erkenntnisse der Vernunft bilden unser kulturelles Gedächtnis. Es
zu ignorieren oder als bloße Vergangenheit zu betrachten, wäre eine Amputation
unserer Kultur insgesamt und würde sie ihrer Ganzheit berauben. Die Kultur
Europas ist aus der Begegnung von Jerusalem, Athen und Rom – aus der Begegnung
zwischen dem Gottesglauben Israels, der philosophischen Vernunft der Griechen
und dem Rechtsdenken Roms entstanden. Diese dreifache Begegnung bildet die
innere Identität Europas. Sie hat im Bewußtsein der Verantwortung des Menschen
vor Gott und in der Anerkenntnis der unantastbaren Würde des Menschen, eines
jeden Menschen, Maßstäbe des Rechts gesetzt, die zu verteidigen uns in unserer
historischen Stunde aufgegeben ist.
Dem jungen König Salomon ist in der Stunde
seiner Amtsübernahme eine Bitte freigestellt worden. Wie wäre es, wenn uns, den
Gesetzgebern von heute, eine Bitte freigestellt würde? Was würden wir erbitten?
Ich denke, auch heute könnten wir letztlich nichts anderes wünschen als ein
hörendes Herz – die Fähigkeit, Gut und Böse zu unterscheiden und so wahres Recht
zu setzen, der Gerechtigkeit zu dienen und dem Frieden. Ich danke Ihnen für Ihre
Aufmerksamkeit! Quelle:
www.vatican.va