Die Unsterblichkeit der
Seele
„Was mag ein
Mann in Tausch geben für seine Seele?“
Mt.
16,26
Ich nehme an,
es gibt keinen auch nur einigermaßen
unterrichteten Christen, der nicht glaubte,
eine genaue Vorstellung von den Unterschieden
zwischen unserem Glauben und den heidnischen
Religionen zu haben, welche durch jenen
verdrängt wurden. Jeder wird auf die Frage,
welchen Gewinn uns das Evangelium gebracht,
sofort mit der Antwort bereit sein, daß es uns
die Erkenntnis unserer Unsterblichkeit
gebracht, die Erkenntnis, daß wir eine Seele
haben, die ewig leben wird; daß die Heiden
dies nicht wußten, daß Christus dies lehrte,
daß Christi Jünger davon überzeugt sind. Jeder
wird sagen, und mit Recht sagen, daß diese
ernste und erhabene Lehre es war, welche dem
Christentum bei seinem ersten Auftreten
Anspruch verlieh, gehört zu werden; daß sie es
war, welche die gedankenlose Masse, die in den
Vergnügungen und Geschäften dieses Lebens
aufging, stutzig machte, sie mit dem Hinweis
auf ein künftiges Leben schreckte, sie
ernüchterte, bis sie aus aufrichtigem Herzen
sich Gott zuwandte. Man wird behaupten, und
mit Recht behaupten können, daß diese Lehre
von einem künftigen Leben es war, welche die
Macht und Verlockung des Heidentums brach. Die
armen, geistig umnachteten Heiden waren
verstrickt in alle die Ausgelassenheiten und
Albernheiten einer falschen Gottesverehrung,
welche das Licht der Vernunft in ihnen getrübt
hatte. Sie erkannten Gott, gaben ihn aber auf
für die Ausgeburten menschlicher Einbildung;
sie erfanden für sich selbst Schirmer und
Schützer und hatten in der Folge „viele Götter
und viele Herren.“
(1. Kor. 8, 5) Sie hatten
ihren unreinen Gottesdienst, ihre lärmenden
Umzüge, ihre nachsichtige Lehre, ihre leichten
Vorschriften, ihre sinnlichen Feste, ihre
kindischen Schwärmereien, kurz alles, was zu
einer Religion paßte, berechnet für Wesen, die
siebzig oder achtzig Jahre lebten, um dann ein
für allemal zu sterben und nicht mehr zu sein.
„Laßt uns essen und trinken, denn morgen sind
wir tot,“ das war ihre Lehre, das ihre
Lebensweisheit. „Morgen sind wir tot,“ soweit
gaben die Apostel ihnen recht, soweit dachten
sie mit den Heiden. „Morgen sind wir tot,“
dann aber fügten sie bei „und nach dem Tode
das Gericht“, das Gericht über die
unsterbliche Seele, welche fortlebt, mag auch
der Leib im Tode zerfallen. Diese Wahrheit war
es, welche die Menschen der Notwendigkeit
überführte, einen besseren und tieferen
Glauben zu haben als denjenigen, welcher zur
Zeit der Ankunft Christi auf Erden der
herrschende war; diese Wahrheit war es, welche
sie so ergriff, daß sie ihrem alten
Götzendienst entsagten und dieser zerfiel. Ja,
obschon dieser alle Gewalt der Welt sein
nannte und auf dem Gipfel der Macht thronte,
ein Schauspiel, wie es die Erde noch nie
gesehen, obschon gestützt von den Großen und
getragen von der Menge, von der Macht der
Gewalthaber und von der Zähigkeit des gemeinen
Mannes, — er zerfiel. Seine Trümmer bedeckten
das Angesicht der Erde, das zerschlagene
Riesengebäude seines mächtigen Trägers, des
stolzen Feindes Gottes, des heidnischen
römischen Reiches. Auch in unserem Lande sehen
wir Reste dieser Trümmer, welche uns sagen,
wie gewaltig seine Macht war; aber auch
wieviel gewaltiger eben darum jenes Etwas war,
das diese Macht zerschlug. Und dieses Etwas
war die Lehre von der Unsterblichkeit der
Seele. So gewaltig ist der Umschwung, den
diese Lehre in der Menschheit überall da
bewirkt, wo sie in der Tat und Wahrheit
Annahme findet.
Ich sagte, daß
jedem unter uns diese Lehre geläufig ist und
daß ihre Kenntnis den wesentlichsten
Unterschied zwischen unseren Überzeugungen und
den Annahmen der Heiden bildet. Und doch,
obschon sie uns geläufig ist und „die
Richtschnur unseres Wissens“,
(Röm. 2, 20)
wie der hl. Paulus sich ausdrückt, kann man
sich kaum dem Zweifel entschlagen, daß die
große Mehrzahl derer, welche sich Christen
nennen, dieselbe in ihrem Innern nicht wirksam
werden lassen. Es ist in der Tat nichts
weniger als leicht, uns zum Bewußtsein zu
bringen, es uns fühlen zu lassen, daß wir eine
Seele haben, und nicht leicht möchte es einen
verhängnisvolleren Irrtum geben als den Wahn,
wir verstünden diese Lehre, weil wir die Worte
nachsprechen können, in welche wir sie zu
kleiden pflegen. Etwas so Großes ist es,
erfassen, daß wir eine Seele haben, daß dies
Bewußtsein, verbunden mit dessen Folgen,
gleichbedeutend ist mit ernster Religiösität,
mit wahrem und praktischem Christentum. Die
Unsterblichkeit seiner Seele erfassen, ist für
jeden Christen notwendig mit Furcht und
Zittern und Reueschmerz verbunden. Wo ist
derjenige unter uns, den nicht der wirkliche
Anblick des höllischen Feuers und der Seelen,
die hoffnungsledig in demselben schmachten,
erschüttern und ernüchtern würde? Würden nicht
alle seine Gedanken von diesem schrecklichen
Gesichte verschlungen werden, so daß er stille
stünde, unverwandten Auges es anstarrte und
alles andere vergäße; daß er nichts anderes
sähe, nichts anderes hörte, ganz in seine
Betrachtung verloren? Würde er nicht, wenn das
Gesicht verschwände, dasselbe in seinem
Gedächtnisse wie eingraviert bewahren, so daß
er hinfort tot wäre für alle Freuden und alle
Verrichtungen dieser Welt, nur insoweit ihnen
Aufmerksamkeit schenkend, nur insoweit sich
ihnen hingebend, als sie in Beziehung stehen
zu seiner Schreckensvision. Derartig wäre der
überwältigende Eindruck einer solchen
Offenbarung, gleichviel ob sie wirkliche Reue
hervorriefe oder nicht. So versenkt in den
Gedanken an das künftige Leben sind jene,
welche aus ganzem Herzen das Wort des Herrn
und der Apostel umfassen. Zweifellos, diese
Herzensverfassung, daher auch diese wahre
Erkenntnis ist der großen Menge derer, die
sich Christen nennen, fremd; ein
undurchlässiger Schleier liegt über ihrem
Auge, und obschon ihnen diese Lehre geläufig,
leben sie, als hätten sie nie ein Wort von ihr
vernommen. Sie leben dahin genau wie einst die
alten Heiden; sie essen, sie trinken, sie
vergnügen sich mit Eitelkeiten, sie leben in
der Welt ohne jede Furcht und Besorgnis, als
hätte Gott niemals erklärt, daß ihr Verhalten
in diesem Leben entscheidend sein werde für
ihr Geschick in jenem; sie leben, als hätten
sie entweder keine Seele oder als gehe das
Heil dieser Seele sie wenig oder gar nicht an;
und das war ja das Credo der Heidenwelt.
Laßt uns
nunmehr erwägen, was es heißt, erfassen, daß
wir eine Seele haben, und welches die
hauptsächlichste Schwierigkeit ist, die dem
entgegensteht; denn dies mag für uns bei dem
Versuche, uns diese folgenschwere Wahrheit
einzuprägen, nicht ohne Nutzen sein.
Wir sind, wie
der Augenschein lehrt, vom Tage unserer Geburt
an abhängig von den Dingen um uns her. Wir
sehen und fühlen, daß wir nicht leben, noch im
Leben fortschreiten können ohne die Hilfe
anderer. Für das Kind ist diese Welt alles. Es
kommt sich selbst wie ein Teil dieser Welt
vor, — wie ein Teil dieser Welt in demselben
Verstande, wie der Ast ein Teil des Baumes
ist; es hat so gut wie keine Erkenntnis von
seinem eigenen und selbständigen Sein, mit
andern Worten, es hat keine richtige
Vorstellung von seiner Seele. Es betrachtet
sich selbst bloß in Verknüpfung mit dieser
Welt, die ihm alles ist; es sieht zu ihr auf
wie zu einem Götzen, von dem es alles erhofft.
Versucht es jenseits dieses Lebens etwas zu
sehen, so vermag es nichts zu entdecken, da es
keinen Begriff von etwas anderem hat, noch
sich etwas anderes einzubilden vermag als
dieses Leben. Und ist es gezwungen, sich etwas
einzubilden, so bildet es sich nochmals dies
Leben ein, gerade wie die Heiden, die, wenn
sie nachdachten über die Sagen von einem Leben
nach dem Tode, welche bei ihnen in Schwang
waren, sich das Glück der Seligen nicht anders
vorzustellen wußten denn als Genuß der Sonne,
des Schattens, der Erde, genau wie zuvor,
höchstens daß sie sich das alles etwas besser
und glänzender dachten.
Verstehen, daß
wir eine Seele haben, heißt, uns unserer
Trennung von den Dingen um uns bewußt sein,
unserer Unabhängigkeit von ihnen, unserer
eigenen Existenz in uns selbst, unserer
Individualität, unserer Macht, aus eigenem
Antrieb so zu handeln oder anders, unserer
Verantwortlichkeit für das, was wir tun. Dies
sind die großen Wahrheiten, die, wie
angedeutet, wohl auch in des Kindes Seele
schlummern, und welche Gottes Gnade in
derselben zu wecken vermag, unerachtet der
Einflüsse der äußeren Welt; zunächst indes hat
die äußere Welt das Übergewicht. Wir blicken
von uns fort auf die Dinge um uns und
vergessen über diesen uns selbst; wir suchen
Stütze bei einem Rohre, das uns keinen Halt zu
bieten weiß und vergessen auf die eigene
Kraft. So steht es mit uns, wenn Gott anfängt,
uns zu einer richtigeren Auffassung von dem
Platze zu erziehen, den wir in dem großen Bau
seiner Vorsehung einnehmen. Beginnt er uns
heimzusuchen, empfinden wir eine beginnende
innere Unruhe. Die Wertlosigkeit und Ohnmacht
der irdischen Dinge drängt sich unserem Geiste
auf; sie versprechen und vermögen nicht, ihr
Versprechen zu halten; sie enttäuschen uns.
Oder, wenn sie ihr Versprechen auch einlösen,
vermögen sie nicht uns zu befriedigen. Wir
verlangen nach etwas anderem, ohne selbst zu
wissen was, aber nach etwas, was — das fühlen
wir — die Welt nicht zu geben weiß. Und dabei
ihre vielen, plötzlichen, heimtückischen,
ununterbrochenen Wechselfälle! Sie hört nicht
auf, sich zu verändern, sie wechselt fort und
fort, bis wir völlig kranken Herzens sind.
Dann ist unser Verhältnis zu ihr gebrochen. Es
ist uns klar geworden, wir können nicht länger
von ihr abhängen oder wir müssen gleichen
Schritt mit ihr halten, müssen auch uns
fortwährend verändern; das aber können wir
nicht. Wir fühlen, daß, während sie sich
ändert, wir dieselben geblieben sind, und so
kommen wir mit Gottes Hilfe dahin, daß etwas
vom Bewußtsein unserer Unabhängigkeit von den
irdischen Dingen, vom Bewußtsein unserer
Unsterblichkeit in uns aufdämmert. Und sollte
Unglück uns heimsuchen, wie dies ja meistens
der Fall ist, dann lernen wir noch besser die
Nichtigkeit dieser Welt verstehen, dann lernen
wir noch besser, ihr zu mißtrauen, ihr unsere
Liebe zu entziehen, bis sie endlich von
unseren Augen wie ein immer durchsichtigerer
Schleier zu schweben beginnt, der unerachtet
all seiner Farbenpracht nicht mehr imstande
ist, uns den Anblick dessen zu rauben, was
hinter ihm liegt. Wir beginnen schritt- und
stufenweise uns zu der Erkenntnis zu erheben,
daß es nur zwei Dinge in der Welt gibt, unsere
Seele und Gott, der sie erschaffen hat.
Erhabene, so
oft vergessene und doch so wahre Lehre! Für
jeden von uns gibt es nur zwei Wesen in der
Welt, er selbst und Gott selbst. Denn was
diese äußere Lebensbühne betrifft, diese Welt
mit ihren Vergnügungen und Unternehmungen, mit
ihren Ehren und Sorgen, ihren Erfindungen,
ihren großen Männern, ihren Reichen, mit der
Menge ihrer Sklaven der Arbeit, was kann sie
uns sein? Nichts, nichts anderes als ein
Schauspiel. „Die Welt vergeht mit ihrer Lust.“
Und was jene betrifft, die uns näher stehen,
die wir nicht der eitlen Welt zuzählen dürfen,
ich meine unsere Freunde und Verwandte, die
wir recht tun zu lieben, auch sie sind im
Grunde nichts für uns. Sie können uns nicht
wahrhaft helfen oder nützen; wir sehen sie und
sie wirken auf uns ein gleichsam wie von
ferne, durch die Vermittlung der Sinne; an
unsere Seele können sie nicht heran, sie
können nicht eindringen in unser Inneres, sie
können uns nicht eigentlich Gefährten sein. In
der künftigen Welt wird es durch Gottes Gnade
anders sein. Hier aber erfreuen wir uns nicht
wahrhaft ihrer Gegenwart, sondern erhalten nur
einen Vorgeschmack von dem, was einmal sein
wird. So treten schließlich auch sie zurück
und verschwinden vor der klaren Anschauung,
die wir gewinnen zunächst von unserem eigenen
Sein, dann von der Gegenwart des großen Gottes
in uns und über uns, unseres Herrn und
Richters, der in uns wohnt in unserem
Gewissen, seinem Stellvertreter.
Und nun
erwäget, welche Umwälzung sich in einer
Menschenseele vollziehen muß, die nicht ganz
verworfen ist, je mehr sie diese Beziehung
zwischen ihr und dem allmächtigen Gotte
erfaßt. Wir werden in diesem Leben niemals
vermögen, ganz zu fassen, was es heißt, ewig
leben; was wir aber zu fassen vermögen ist,
daß diese Welt nicht ewig leben wird, daß sie
stirbt, um nie wieder zu erstehen. Begreifen
wir dies, dann begreifen wir auch, daß wir ihr
keinen Dienst schuldig sind, keine
Ergebenheit. Sie hat keinen Anspruch an uns
und kann uns in Wahrheit weder nützen noch
schaden. Gegenteils heischt das Gesetz Gottes,
das in unsere Herzen eingeschrieben ist, daß
wir ihm dienen, ja es sagt uns zu einem Teile
wenigstens, wie wir ihm dienen können und
sollen, und die Hl. Schrift ergänzt die
Gebote, welche die Natur uns gibt. Beide aber,
Schrift und Gewissen, lassen uns nicht im
Zweifel darüber, daß wir für unser Tun
verantwortlich sind und daß Gott ein gerechter
Richter ist. Endlich tritt unser Erlöser als
unser sichtbarer Herr und Gott an die Stelle
der Welt als der eingeborene Sohn des Vaters,
der sich allen gezeigt und geoffenbart hat,
damit wir nicht sagen könnten, Gott sei
verborgen und nicht zu finden. So wird der
Mensch auf die verschiedenste Weise und durch
die mächtigsten Einflüsse von den zeitlichen
Dingen ab und zu den ewigen hingezogen,
angetrieben, sich selbst zu verleugnen, sein
Kreuz auf sich zu nehmen und Christus
nachzufolgen. Denn da sind einmal die
schrecklichen Drohungen und Verwarnungen
unseres Herrn, wohl geeignet, ihn mit Ernst zu
erfüllen, da sind seine Lehren und Gebote, die
ihn anziehen und zu Gott erheben, da sind
seine Verheißungen, die ihn ermutigen, sein
gnadenreiches Leben und Leiden, das ihn
demütigen muß bis in den Staub und sein Herz
in unauslöschlicher Dankbarkeit ein für
allemal an den Fesseln, dessen Erbarmung so
ohne Grenzen ist. Alles das wirkt auf ihn ein;
und so gewiß der hl. Mathäus, als Christus ihn
rief, von seinem Einnehmertische sich erhob,
unbekümmert darum, was die Zuschauer von ihm
sagen würden, so gehen diejenigen, welche die
Gnade haben, den geheimen Einsprechungen
Gottes zu folgen, Wege, welche denen der Welt
gerade entgegengesetzt sind, dessen nicht
achtend, wie andere über sie urteilen, weil
sie eines begriffen haben, daß sie eine Seele
haben, für die zu sorgen ihre einzige Aufgabe
ist.
Ich weiß wohl,
es gibt unberufene Lehrer, welche hinausziehen
in die Welt, die fast dieselbe Sprache führen,
die ich hier führe, und doch etwas völlig
Verschiedenes meinen. Zu ihnen gehören jene,
welche die Taufgnade leugnen, dagegen an eine
plötzliche und unvermittelte Bekehrung des
Sünders durch Gott glauben. Ich habe nicht
nötig, an diesem Orte die Abweichungen ihrer
Lehre von jener der Hl. Schrift hervorzuheben.
Was immer ihre besonderen Irrtümer sein mögen,
soweit sie behaupten, daß wir von Natur aus
blind und sündig sind und durch Gottes Gnade
und die eigene Mitwirkung zur Erkenntnis
kommen müssen, daß wir eine Seele haben, daß
wir zu einem neuen Leben uns erschwingen
müssen, indem wir uns lossagen von der Welt
und im Glauben wandeln an das, was wir nicht
sehen und was zukünftig ist, soweit haben sie
recht, denn soweit reden sie die Sprache der
Hl. Schrift, welche spricht: „Wache auf, der
du schläfst, und steh auf von den Toten und
Christus wird dich erleuchten. Sehet zu denn,
daß ihr vorsichtig wandelt, nicht wie Unweise,
sondern wie Weise und benützet die Zeit, denn
die Tage sind böse. Darum werdet nicht
unverständig, sondern verstehet, was der Wille
Gottes ist.“
(Ephes. 5, 14)
Laßt uns denn
uns selbst ernstlich die Frage stellen und
Gott um die Gnade bitten, daß wir sie
aufrichtig beantworten, die Frage, ob wir
losgelöst sind von der Welt, oder ob wir, in
Abhängigkeit von ihr lebend statt in
Abhängigkeit von dem ewigen Urheber unseres
Seins, in der Tat unseren Anteil mit dieser
vergänglichen Welt wählen, völlig vergessend,
daß wir eine Seele haben. Ich weiß recht wohl,
daß solche Gedanken im großen und ganzen sehr
wenig nach dem Geschmacke der Menge sind.
Zweifelsohne wird mehr denn einer, wenn er
solche Lehren vernimmt, wie ich sie soeben
vorgetragen, in seinem Herzen sprechen, daß
man das Christentum auf diese Weise trostlos
und abstoßend macht; daß er auf andere hören
werde, die weniger strenge Anschauungen
vertreten; daß doch das Christentum nicht
bestimmt sei, ein finsteres und drückendes
Gesetz zu sein, sondern vielmehr die Religion
des Frohsinnes und der Freude. So etwas denkt
sich die Jugend, wenn sie auch ihren Gedanken
nicht diesen logischen Ausdruck zu geben
pflegt. Sie betrachtet ein ernstes Leben der
Pflicht als etwas Widriges und Hassenswertes;
der bloße Gedanke daran stößt sie zurück.
Wären sie aber älter und haben sie sich mehr
in der Welt umgesehen, lernen sie ihre Ansicht
verteidigen und geben derselben mehr oder
weniger in den von mir gebrauchten Wendungen
Ausdruck. Sie hassen die Wahrheit und
widersprechen ihr sozusagen grundsätzlich; und
je mehr man ihnen sagt, sie hätten eine
unsterbliche Seele, um so entschlossener sind
sie zu leben, als hätten sie keine. In der Tat
müssen wir als etwas von vornherein
Selbstverständliches und des Beweises
Entratendes den Satz hinstellen, daß religiöse
Pflichten allemal denen schwer fallen, welche
dieselben vernachlässigen. Alles, was wir
lernen müssen, erscheint uns anfänglich
schwer; die Pflichten aber, die wir gegen Gott
und um seinetwillen gegen die Menschen haben,
sind besonders schwierig, da sie von uns nicht
weniger verlangen, als daß wir ein neues Leben
beginnen und die Liebe dieser Welt aufgeben
zugunsten einer andern. Es ist nicht zu
vermeiden: wir müssen in Furcht und in Sorge
sein, bevor wir uns erfreuen können; das
Evangelium muß für uns eine Bürde sein, bevor
es uns ein Trost werden, bevor es uns den
Frieden bringen kann. Niemand kann sein Herz
von den natürlichen Gegenständen seiner Liebe
loslösen, ohne diese Lösung schmerzlich zu
empfinden und noch nachher das Pochen seines
Herzens zu vernehmen. Das liegt in der Natur
der Dinge; und so wahr es sein mag, daß dieser
oder jener Prediger hart und zurückstoßend
sei, das Wesen der Dinge vermag er nicht zu
ändern. Die Religion muß der weltlich
gesinnten Seele zunächst als eine Last
erscheinen und sie heischt Anstrengung und
Selbstverleugnung von jedem, der ein wahrhaft
religiöses Leben führen will.
Doch da sind
andere, die zu größerer Hoffnung berechtigen
als jene, von denen wir soeben sprachen, die,
wenn sie von Reue reden hören und von der
Notwendigkeit, ein neues Leben zu beginnen,
bei dem Gedanken an die Größe des Geforderten
erschrecken; sie sind entmutigt, da so viel
von ihnen gefordert wird. Sie mögen nicht
vergessen, daß das, wovon ich gesprochen,
nicht plötzlich und auf einmal zu geschehen
hat. Ich habe nirgends behauptet, es könne
eine Seele nicht auf gutem Wege sein, die noch
nicht völlig die Eitelkeit der Welt und den
Wert der Seele erfaßt hat. Nicht auf gutem
Wege befindet sich aber ohne Zweifel
derjenige, der nicht den Wunsch und das
Verlangen hat, all dies zu fassen und zu
fühlen. Gebt mir einen Christen, der
einerseits die Unsterblichkeit der Seele mit
dem Munde bekennt, andererseits so sein Leben
einzurichten sucht, daß es sein Bekenntnis
nicht Lügen strafe, so sage ich, er ist auf
dem Wege des Heiles, er ist auf dem Pfade des
Himmels, wenngleich er sich noch nicht völlig
den Fesseln der Welt entschlagen hat. In der
Tat, nicht einer unter uns wird behaupten
wollen, daß er schon völlig der Welt
abgestorben sei. Wir alle bleiben
rücksichtlich unserer Pflichten mit unseren
Taten hinter unseren Worten zurück. Niemand
erfaßt es ganz und voll, was es heißt, eine
unsterbliche Seele haben; auch der Beste
befindet sich nur im Fortschritte auf dies
Ziel zu, und auch der Schwächste und
Unwissendste, der nach demselben sucht,
befindet sich auf dem gleichen Wege. Darum
darf niemand verzagen, wenn er hört, es bleibe
ihm noch viel zu tun übrig, bevor er zu einer
völlig geläuterten Auffassung seines
Verhältnisses zu Gott komme, d. h. zu einem
völlig geläuterten Glauben. Uns allen bleibt
viel zu tun; der springende Punkt aber ist
der, ob wir entschlossen sind, es zu tun.
O daß das Herz
in unserer Brust so geartet wäre, daß wir
diese sichtbare Welt beiseite schöben, daß wir
sie nur betrachteten als eine Schranke, die
uns von Gott trennt, daß wir nur an ihn
dächten, der hinter dieser Hülle wohnt, der
über uns wacht, uns prüft, uns segnet, uns
anspornt und stärkt zum Guten, Tag für Tag.
Doch ach! Wie sehr lassen wir uns von den
wechselnden Geschicken des Tages beeinflussen!
Wie schwierig ist es, fest und
unerschütterlich zu bleiben gegenüber den
Lockungen und Drohungen der Welt! Wie wechseln
unsere Anschauungen je nach Ort und Zeit und
unserer Umgebung! Wir sind des Sonntags voll
guter Vorsätze, um vielleicht schon am Montag
mit Wissen und Willen zu sündigen. Wir stehen
des Morgens auf mit Gewissensbissen über unser
Tun und mit dem Entschluß, uns zu bessern, um
vielleicht rückfällig zu werden, ehe die Nacht
hereinbricht. Der bloße Wechsel unserer
Umgebung genügt, um einen Wandel in unserem
Inneren hervorzurufen; und doch erkennen wir
nicht hinreichend die Schwäche des eigenen
Selbst und suchen Stärke, wo sie allein zu
finden ist, bei dem unveränderlichen Gott.
Welcherart werden unsere Gedanken sein, wenn
schließlich der Tag erscheint, da diese Welt
für uns versinkt, und wir uns selbst da
finden, wo wir übrigens stets gewesen, unter
den Augen Gottes, zu dessen Rechten Christus
sitzet, der Herr?
Welch freudige
Entdeckung ist es gegenteils für jene, welche
dieselbe machen, einzusehen, daß diese Welt
nur Eitelkeit ist und Schein, und daß sie
wirklich allzeit in der Gegenwart ihres
Heilandes sind. Dies ist ein Gedanke, den man
kaum vor einer gemischten Versammlung
eingehender behandeln darf; denn warum sollten
die Geheimnisse des wahren Christen solchen
enthüllt werden, die dies nicht sind, und
warum sein ausschließliches köstliches
Eigentum achtlos Dahinlebenden verraten? Der
wahre Christ kennt sein Glück und hat niemand
notwendig, der es ihm sage; er weiß, wem er
geglaubt hat, und in der Stunde der Gefahr
oder der Prüfung erkennt er, was es um jenen
Frieden ist, den Christus nicht erläuterte,
als er ihn seinen Aposteln gab, sondern von
dem er sich begnügte zu sagen, daß die Welt
ihn nicht geben kann.
„Du wirst ihn in vollkommenem Frieden
bewahren, dessen Seele auf dich gestellt ist,
da er auf dich vertraute. Bauet auf den Herrn
für immer, denn in dem Herrn Jehova ist ewige
Stärke.“
(Is. 26, 3 u. f.)
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