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Die Unsterblichkeit der Seele

Von Kardinal Henry Newman

   
   




 

  

Die Unsterblichkeit der Seele 

„Was mag ein Mann in Tausch geben für seine Seele?“
Mt. 16,26

Ich nehme an, es gibt keinen auch nur einigermaßen unterrichteten Christen, der nicht glaubte, eine genaue Vorstellung von den Unterschieden zwischen unserem Glauben und den heidnischen Religionen zu haben, welche durch jenen verdrängt wurden. Jeder wird auf die Frage, welchen Gewinn uns das Evangelium gebracht, sofort mit der Antwort bereit sein, daß es uns die Erkenntnis unserer Unsterblichkeit gebracht, die Erkenntnis, daß wir eine Seele haben, die ewig leben wird; daß die Heiden dies nicht wußten, daß Christus dies lehrte, daß Christi Jünger davon überzeugt sind. Jeder wird sagen, und mit Recht sagen, daß diese ernste und erhabene Lehre es war, welche dem Christentum bei seinem ersten Auftreten Anspruch verlieh, gehört zu werden; daß sie es war, welche die gedankenlose Masse, die in den Vergnügungen und Geschäften dieses Lebens aufging, stutzig machte, sie mit dem Hinweis auf ein künftiges Leben schreckte, sie ernüchterte, bis sie aus aufrichtigem Herzen sich Gott zuwandte. Man wird behaupten, und mit Recht behaupten können, daß diese Lehre von einem künftigen Leben es war, welche die Macht und Verlockung des Heidentums brach. Die armen, geistig umnachteten Heiden waren verstrickt in alle die Ausgelassenheiten und Albernheiten einer falschen Gottesverehrung, welche das Licht der Vernunft in ihnen getrübt hatte. Sie erkannten Gott, gaben ihn aber auf für die Ausgeburten menschlicher Einbildung; sie erfanden für sich selbst Schirmer und Schützer und hatten in der Folge „viele Götter und viele Herren.“ (1. Kor. 8, 5) Sie hatten ihren unreinen Gottesdienst, ihre lärmenden Umzüge, ihre nachsichtige Lehre, ihre leichten Vorschriften, ihre sinnlichen Feste, ihre kindischen Schwärmereien, kurz alles, was zu einer Religion paßte, berechnet für Wesen, die siebzig oder achtzig Jahre lebten, um dann ein für allemal zu sterben und nicht mehr zu sein. „Laßt uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot,“ das war ihre Lehre, das ihre Lebensweisheit. „Morgen sind wir tot,“ soweit gaben die Apostel ihnen recht, soweit dachten sie mit den Heiden. „Morgen sind wir tot,“ dann aber fügten sie bei „und nach dem Tode das Gericht“, das Gericht über die unsterbliche Seele, welche fortlebt, mag auch der Leib im Tode zerfallen. Diese Wahrheit war es, welche die Menschen der Notwendigkeit überführte, einen besseren und tieferen Glauben zu haben als denjenigen, welcher zur Zeit der Ankunft Christi auf Erden der herrschende war; diese Wahrheit war es, welche sie so ergriff, daß sie ihrem alten Götzendienst entsagten und dieser zerfiel. Ja, obschon dieser alle Gewalt der Welt sein nannte und auf dem Gipfel der Macht thronte, ein Schauspiel, wie es die Erde noch nie gesehen, obschon gestützt von den Großen und getragen von der Menge, von der Macht der Gewalthaber und von der Zähigkeit des gemeinen Mannes, — er zerfiel. Seine Trümmer bedeckten das Angesicht der Erde, das zerschlagene Riesengebäude seines mächtigen Trägers, des stolzen Feindes Gottes, des heidnischen römischen Reiches. Auch in unserem Lande sehen wir Reste dieser Trümmer, welche uns sagen, wie gewaltig seine Macht war; aber auch wieviel gewaltiger eben darum jenes Etwas war, das diese Macht zerschlug. Und dieses Etwas war die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele. So gewaltig ist der Umschwung, den diese Lehre in der Menschheit überall da bewirkt, wo sie in der Tat und Wahrheit Annahme findet.

Ich sagte, daß jedem unter uns diese Lehre geläufig ist und daß ihre Kenntnis den wesentlichsten Unterschied zwischen unseren Überzeugungen und den Annahmen der Heiden bildet. Und doch, obschon sie uns geläufig ist und „die Richtschnur unseres Wissens“, (Röm. 2, 20) wie der hl. Paulus sich ausdrückt, kann man sich kaum dem Zweifel entschlagen, daß die große Mehrzahl derer, welche sich Christen nennen, dieselbe in ihrem Innern nicht wirksam werden lassen. Es ist in der Tat nichts weniger als leicht, uns zum Bewußtsein zu bringen, es uns fühlen zu lassen, daß wir eine Seele haben, und nicht leicht möchte es einen verhängnisvolleren Irrtum geben als den Wahn, wir verstünden diese Lehre, weil wir die Worte nachsprechen können, in welche wir sie zu kleiden pflegen. Etwas so Großes ist es, erfassen, daß wir eine Seele haben, daß dies Bewußtsein, verbunden mit dessen Folgen, gleichbedeutend ist mit ernster Religiösität, mit wahrem und praktischem Christentum. Die Unsterblichkeit seiner Seele erfassen, ist für jeden Christen notwendig mit Furcht und Zittern und Reueschmerz verbunden. Wo ist derjenige unter uns, den nicht der wirkliche Anblick des höllischen Feuers und der Seelen, die hoffnungsledig in demselben schmachten, erschüttern und ernüchtern würde? Würden nicht alle seine Gedanken von diesem schrecklichen Gesichte verschlungen werden, so daß er stille stünde, unverwandten Auges es anstarrte und alles andere vergäße; daß er nichts anderes sähe, nichts anderes hörte, ganz in seine Betrachtung verloren? Würde er nicht, wenn das Gesicht verschwände, dasselbe in seinem Gedächtnisse wie eingraviert bewahren, so daß er hinfort tot wäre für alle Freuden und alle Verrichtungen dieser Welt, nur insoweit ihnen Aufmerksamkeit schenkend, nur insoweit sich ihnen hingebend, als sie in Beziehung stehen zu seiner Schreckensvision. Derartig wäre der überwältigende Eindruck einer solchen Offenbarung, gleichviel ob sie wirkliche Reue hervorriefe oder nicht. So versenkt in den Gedanken an das künftige Leben sind jene, welche aus ganzem Herzen das Wort des Herrn und der Apostel umfassen. Zweifellos, diese Herzensverfassung, daher auch diese wahre Erkenntnis ist der großen Menge derer, die sich Christen nennen, fremd; ein undurchlässiger Schleier liegt über ihrem Auge, und obschon ihnen diese Lehre geläufig, leben sie, als hätten sie nie ein Wort von ihr vernommen. Sie leben dahin genau wie einst die alten Heiden; sie essen, sie trinken, sie vergnügen sich mit Eitelkeiten, sie leben in der Welt ohne jede Furcht und Besorgnis, als hätte Gott niemals erklärt, daß ihr Verhalten in diesem Leben entscheidend sein werde für ihr Geschick in jenem; sie leben, als hätten sie entweder keine Seele oder als gehe das Heil dieser Seele sie wenig oder gar nicht an; und das war ja das Credo der Heidenwelt.

Laßt uns nunmehr erwägen, was es heißt, erfassen, daß wir eine Seele haben, und welches die hauptsächlichste Schwierigkeit ist, die dem entgegensteht; denn dies mag für uns bei dem Versuche, uns diese folgenschwere Wahrheit einzuprägen, nicht ohne Nutzen sein.

Wir sind, wie der Augenschein lehrt, vom Tage unserer Geburt an abhängig von den Dingen um uns her. Wir sehen und fühlen, daß wir nicht leben, noch im Leben fortschreiten können ohne die Hilfe anderer. Für das Kind ist diese Welt alles. Es kommt sich selbst wie ein Teil dieser Welt vor, — wie ein Teil dieser Welt in demselben Verstande, wie der Ast ein Teil des Baumes ist; es hat so gut wie keine Erkenntnis von seinem eigenen und selbständigen Sein, mit andern Worten, es hat keine richtige Vorstellung von seiner Seele. Es betrachtet sich selbst bloß in Verknüpfung mit dieser Welt, die ihm alles ist; es sieht zu ihr auf wie zu einem Götzen, von dem es alles erhofft. Versucht es jenseits dieses Lebens etwas zu sehen, so vermag es nichts zu entdecken, da es keinen Begriff von etwas anderem hat, noch sich etwas anderes einzubilden vermag als dieses Leben. Und ist es gezwungen, sich etwas einzubilden, so bildet es sich nochmals dies Leben ein, gerade wie die Heiden, die, wenn sie nachdachten über die Sagen von einem Leben nach dem Tode, welche bei ihnen in Schwang waren, sich das Glück der Seligen nicht anders vorzustellen wußten denn als Genuß der Sonne, des Schattens, der Erde, genau wie zuvor, höchstens daß sie sich das alles etwas besser und glänzender dachten.

Verstehen, daß wir eine Seele haben, heißt, uns unserer Trennung von den Dingen um uns bewußt sein, unserer Unabhängigkeit von ihnen, unserer eigenen Existenz in uns selbst, unserer Individualität, unserer Macht, aus eigenem Antrieb so zu handeln oder anders, unserer Verantwortlichkeit für das, was wir tun. Dies sind die großen Wahrheiten, die, wie angedeutet, wohl auch in des Kindes Seele schlummern, und welche Gottes Gnade in derselben zu wecken vermag, unerachtet der Einflüsse der äußeren Welt; zunächst indes hat die äußere Welt das Übergewicht. Wir blicken von uns fort auf die Dinge um uns und vergessen über diesen uns selbst; wir suchen Stütze bei einem Rohre, das uns keinen Halt zu bieten weiß und vergessen auf die eigene Kraft. So steht es mit uns, wenn Gott anfängt, uns zu einer richtigeren Auffassung von dem Platze zu erziehen, den wir in dem großen Bau seiner Vorsehung einnehmen. Beginnt er uns heimzusuchen, empfinden wir eine beginnende innere Unruhe. Die Wertlosigkeit und Ohnmacht der irdischen Dinge drängt sich unserem Geiste auf; sie versprechen und vermögen nicht, ihr Versprechen zu halten; sie enttäuschen uns. Oder, wenn sie ihr Versprechen auch einlösen, vermögen sie nicht uns zu befriedigen. Wir verlangen nach etwas anderem, ohne selbst zu wissen was, aber nach etwas, was — das fühlen wir — die Welt nicht zu geben weiß. Und dabei ihre vielen, plötzlichen, heimtückischen, ununterbrochenen Wechselfälle! Sie hört nicht auf, sich zu verändern, sie wechselt fort und fort, bis wir völlig kranken Herzens sind. Dann ist unser Verhältnis zu ihr gebrochen. Es ist uns klar geworden, wir können nicht länger von ihr abhängen oder wir müssen gleichen Schritt mit ihr halten, müssen auch uns fortwährend verändern; das aber können wir nicht. Wir fühlen, daß, während sie sich ändert, wir dieselben geblieben sind, und so kommen wir mit Gottes Hilfe dahin, daß etwas vom Bewußtsein unserer Unabhängigkeit von den irdischen Dingen, vom Bewußtsein unserer Unsterblichkeit in uns aufdämmert. Und sollte Unglück uns heimsuchen, wie dies ja meistens der Fall ist, dann lernen wir noch besser die Nichtigkeit dieser Welt verstehen, dann lernen wir noch besser, ihr zu mißtrauen, ihr unsere Liebe zu entziehen, bis sie endlich von unseren Augen wie ein immer durchsichtigerer Schleier zu schweben beginnt, der unerachtet all seiner Farbenpracht nicht mehr imstande ist, uns den Anblick dessen zu rauben, was hinter ihm liegt. Wir beginnen schritt- und stufenweise uns zu der Erkenntnis zu erheben, daß es nur zwei Dinge in der Welt gibt, unsere Seele und Gott, der sie erschaffen hat.

Erhabene, so oft vergessene und doch so wahre Lehre! Für jeden von uns gibt es nur zwei Wesen in der Welt, er selbst und Gott selbst. Denn was diese äußere Lebensbühne betrifft, diese Welt mit ihren Vergnügungen und Unternehmungen, mit ihren Ehren und Sorgen, ihren Erfindungen, ihren großen Männern, ihren Reichen, mit der Menge ihrer Sklaven der Arbeit, was kann sie uns sein? Nichts, nichts anderes als ein Schauspiel. „Die Welt vergeht mit ihrer Lust.“ Und was jene betrifft, die uns näher stehen, die wir nicht der eitlen Welt zuzählen dürfen, ich meine unsere Freunde und Verwandte, die wir recht tun zu lieben, auch sie sind im Grunde nichts für uns. Sie können uns nicht wahrhaft helfen oder nützen; wir sehen sie und sie wirken auf uns ein gleichsam wie von ferne, durch die Vermittlung der Sinne; an unsere Seele können sie nicht heran, sie können nicht eindringen in unser Inneres, sie können uns nicht eigentlich Gefährten sein. In der künftigen Welt wird es durch Gottes Gnade anders sein. Hier aber erfreuen wir uns nicht wahrhaft ihrer Gegenwart, sondern erhalten nur einen Vorgeschmack von dem, was einmal sein wird. So treten schließlich auch sie zurück und verschwinden vor der klaren Anschauung, die wir gewinnen zunächst von unserem eigenen Sein, dann von der Gegenwart des großen Gottes in uns und über uns, unseres Herrn und Richters, der in uns wohnt in unserem Gewissen, seinem Stellvertreter.

Und nun erwäget, welche Umwälzung sich in einer Menschenseele vollziehen muß, die nicht ganz verworfen ist, je mehr sie diese Beziehung zwischen ihr und dem allmächtigen Gotte erfaßt. Wir werden in diesem Leben niemals vermögen, ganz zu fassen, was es heißt, ewig leben; was wir aber zu fassen vermögen ist, daß diese Welt nicht ewig leben wird, daß sie stirbt, um nie wieder zu erstehen. Begreifen wir dies, dann begreifen wir auch, daß wir ihr keinen Dienst schuldig sind, keine Ergebenheit. Sie hat keinen Anspruch an uns und kann uns in Wahrheit weder nützen noch schaden. Gegenteils heischt das Gesetz Gottes, das in unsere Herzen eingeschrieben ist, daß wir ihm dienen, ja es sagt uns zu einem Teile wenigstens, wie wir ihm dienen können und sollen, und die Hl. Schrift ergänzt die Gebote, welche die Natur uns gibt. Beide aber, Schrift und Gewissen, lassen uns nicht im Zweifel darüber, daß wir für unser Tun verantwortlich sind und daß Gott ein gerechter Richter ist. Endlich tritt unser Erlöser als unser sichtbarer Herr und Gott an die Stelle der Welt als der eingeborene Sohn des Vaters, der sich allen gezeigt und geoffenbart hat, damit wir nicht sagen könnten, Gott sei verborgen und nicht zu finden. So wird der Mensch auf die verschiedenste Weise und durch die mächtigsten Einflüsse von den zeitlichen Dingen ab und zu den ewigen hingezogen, angetrieben, sich selbst zu verleugnen, sein Kreuz auf sich zu nehmen und Christus nachzufolgen. Denn da sind einmal die schrecklichen Drohungen und Verwarnungen unseres Herrn, wohl geeignet, ihn mit Ernst zu erfüllen, da sind seine Lehren und Gebote, die ihn anziehen und zu Gott erheben, da sind seine Verheißungen, die ihn ermutigen, sein gnadenreiches Leben und Leiden, das ihn demütigen muß bis in den Staub und sein Herz in unauslöschlicher Dankbarkeit ein für allemal an den Fesseln, dessen Erbarmung so ohne Grenzen ist. Alles das wirkt auf ihn ein; und so gewiß der hl. Mathäus, als Christus ihn rief, von seinem Einnehmertische sich erhob, unbekümmert darum, was die Zuschauer von ihm sagen würden, so gehen diejenigen, welche die Gnade haben, den geheimen Einsprechungen Gottes zu folgen, Wege, welche denen der Welt gerade entgegengesetzt sind, dessen nicht achtend, wie andere über sie urteilen, weil sie eines begriffen haben, daß sie eine Seele haben, für die zu sorgen ihre einzige Aufgabe ist.

Ich weiß wohl, es gibt unberufene Lehrer, welche hinausziehen in die Welt, die fast dieselbe Sprache führen, die ich hier führe, und doch etwas völlig Verschiedenes meinen. Zu ihnen gehören jene, welche die Taufgnade leugnen, dagegen an eine plötzliche und unvermittelte Bekehrung des Sünders durch Gott glauben. Ich habe nicht nötig, an diesem Orte die Abweichungen ihrer Lehre von jener der Hl. Schrift hervorzuheben. Was immer ihre besonderen Irrtümer sein mögen, soweit sie behaupten, daß wir von Natur aus blind und sündig sind und durch Gottes Gnade und die eigene Mitwirkung zur Erkenntnis kommen müssen, daß wir eine Seele haben, daß wir zu einem neuen Leben uns erschwingen müssen, indem wir uns lossagen von der Welt und im Glauben wandeln an das, was wir nicht sehen und was zukünftig ist, soweit haben sie recht, denn soweit reden sie die Sprache der Hl. Schrift, welche spricht: „Wache auf, der du schläfst, und steh auf von den Toten und Christus wird dich erleuchten. Sehet zu denn, daß ihr vorsichtig wandelt, nicht wie Unweise, sondern wie Weise und benützet die Zeit, denn die Tage sind böse. Darum werdet nicht unverständig, sondern verstehet, was der Wille Gottes ist.“ (Ephes. 5, 14)

Laßt uns denn uns selbst ernstlich die Frage stellen und Gott um die Gnade bitten, daß wir sie aufrichtig beantworten, die Frage, ob wir losgelöst sind von der Welt, oder ob wir, in Abhängigkeit von ihr lebend statt in Abhängigkeit von dem ewigen Urheber unseres Seins, in der Tat unseren Anteil mit dieser vergänglichen Welt wählen, völlig vergessend, daß wir eine Seele haben. Ich weiß recht wohl, daß solche Gedanken im großen und ganzen sehr wenig nach dem Geschmacke der Menge sind. Zweifelsohne wird mehr denn einer, wenn er solche Lehren vernimmt, wie ich sie soeben vorgetragen, in seinem Herzen sprechen, daß man das Christentum auf diese Weise trostlos und abstoßend macht; daß er auf andere hören werde, die weniger strenge Anschauungen vertreten; daß doch das Christentum nicht bestimmt sei, ein finsteres und drückendes Gesetz zu sein, sondern vielmehr die Religion des Frohsinnes und der Freude. So etwas denkt sich die Jugend, wenn sie auch ihren Gedanken nicht diesen logischen Ausdruck zu geben pflegt. Sie betrachtet ein ernstes Leben der Pflicht als etwas Widriges und Hassenswertes; der bloße Gedanke daran stößt sie zurück. Wären sie aber älter und haben sie sich mehr in der Welt umgesehen, lernen sie ihre Ansicht verteidigen und geben derselben mehr oder weniger in den von mir gebrauchten Wendungen Ausdruck. Sie hassen die Wahrheit und widersprechen ihr sozusagen grundsätzlich; und je mehr man ihnen sagt, sie hätten eine unsterbliche Seele, um so entschlossener sind sie zu leben, als hätten sie keine. In der Tat müssen wir als etwas von vornherein Selbstverständliches und des Beweises Entratendes den Satz hinstellen, daß religiöse Pflichten allemal denen schwer fallen, welche dieselben vernachlässigen. Alles, was wir lernen müssen, erscheint uns anfänglich schwer; die Pflichten aber, die wir gegen Gott und um seinetwillen gegen die Menschen haben, sind besonders schwierig, da sie von uns nicht weniger verlangen, als daß wir ein neues Leben beginnen und die Liebe dieser Welt aufgeben zugunsten einer andern. Es ist nicht zu vermeiden: wir müssen in Furcht und in Sorge sein, bevor wir uns erfreuen können; das Evangelium muß für uns eine Bürde sein, bevor es uns ein Trost werden, bevor es uns den Frieden bringen kann. Niemand kann sein Herz von den natürlichen Gegenständen seiner Liebe loslösen, ohne diese Lösung schmerzlich zu empfinden und noch nachher das Pochen seines Herzens zu vernehmen. Das liegt in der Natur der Dinge; und so wahr es sein mag, daß dieser oder jener Prediger hart und zurückstoßend sei, das Wesen der Dinge vermag er nicht zu ändern. Die Religion muß der weltlich gesinnten Seele zunächst als eine Last erscheinen und sie heischt Anstrengung und Selbstverleugnung von jedem, der ein wahrhaft religiöses Leben führen will.

Doch da sind andere, die zu größerer Hoffnung berechtigen als jene, von denen wir soeben sprachen, die, wenn sie von Reue reden hören und von der Notwendigkeit, ein neues Leben zu beginnen, bei dem Gedanken an die Größe des Geforderten erschrecken; sie sind entmutigt, da so viel von ihnen gefordert wird. Sie mögen nicht vergessen, daß das, wovon ich gesprochen, nicht plötzlich und auf einmal zu geschehen hat. Ich habe nirgends behauptet, es könne eine Seele nicht auf gutem Wege sein, die noch nicht völlig die Eitelkeit der Welt und den Wert der Seele erfaßt hat. Nicht auf gutem Wege befindet sich aber ohne Zweifel derjenige, der nicht den Wunsch und das Verlangen hat, all dies zu fassen und zu fühlen. Gebt mir einen Christen, der einerseits die Unsterblichkeit der Seele mit dem Munde bekennt, andererseits so sein Leben einzurichten sucht, daß es sein Bekenntnis nicht Lügen strafe, so sage ich, er ist auf dem Wege des Heiles, er ist auf dem Pfade des Himmels, wenngleich er sich noch nicht völlig den Fesseln der Welt entschlagen hat. In der Tat, nicht einer unter uns wird behaupten wollen, daß er schon völlig der Welt abgestorben sei. Wir alle bleiben rücksichtlich unserer Pflichten mit unseren Taten hinter unseren Worten zurück. Niemand erfaßt es ganz und voll, was es heißt, eine unsterbliche Seele haben; auch der Beste befindet sich nur im Fortschritte auf dies Ziel zu, und auch der Schwächste und Unwissendste, der nach demselben sucht, befindet sich auf dem gleichen Wege. Darum darf niemand verzagen, wenn er hört, es bleibe ihm noch viel zu tun übrig, bevor er zu einer völlig geläuterten Auffassung seines Verhältnisses zu Gott komme, d. h. zu einem völlig geläuterten Glauben. Uns allen bleibt viel zu tun; der springende Punkt aber ist der, ob wir entschlossen sind, es zu tun.

O daß das Herz in unserer Brust so geartet wäre, daß wir diese sichtbare Welt beiseite schöben, daß wir sie nur betrachteten als eine Schranke, die uns von Gott trennt, daß wir nur an ihn dächten, der hinter dieser Hülle wohnt, der über uns wacht, uns prüft, uns segnet, uns anspornt und stärkt zum Guten, Tag für Tag. Doch ach! Wie sehr lassen wir uns von den wechselnden Geschicken des Tages beeinflussen! Wie schwierig ist es, fest und unerschütterlich zu bleiben gegenüber den Lockungen und Drohungen der Welt! Wie wechseln unsere Anschauungen je nach Ort und Zeit und unserer Umgebung! Wir sind des Sonntags voll guter Vorsätze, um vielleicht schon am Montag mit Wissen und Willen zu sündigen. Wir stehen des Morgens auf mit Gewissensbissen über unser Tun und mit dem Entschluß, uns zu bessern, um vielleicht rückfällig zu werden, ehe die Nacht hereinbricht. Der bloße Wechsel unserer Umgebung genügt, um einen Wandel in unserem Inneren hervorzurufen; und doch erkennen wir nicht hinreichend die Schwäche des eigenen Selbst und suchen Stärke, wo sie allein zu finden ist, bei dem unveränderlichen Gott. Welcherart werden unsere Gedanken sein, wenn schließlich der Tag erscheint, da diese Welt für uns versinkt, und wir uns selbst da finden, wo wir übrigens stets gewesen, unter den Augen Gottes, zu dessen Rechten Christus sitzet, der Herr?

Welch freudige Entdeckung ist es gegenteils für jene, welche dieselbe machen, einzusehen, daß diese Welt nur Eitelkeit ist und Schein, und daß sie wirklich allzeit in der Gegenwart ihres Heilandes sind. Dies ist ein Gedanke, den man kaum vor einer gemischten Versammlung eingehender behandeln darf; denn warum sollten die Geheimnisse des wahren Christen solchen enthüllt werden, die dies nicht sind, und warum sein ausschließliches köstliches Eigentum achtlos Dahinlebenden verraten? Der wahre Christ kennt sein Glück und hat niemand notwendig, der es ihm sage; er weiß, wem er geglaubt hat, und in der Stunde der Gefahr oder der Prüfung erkennt er, was es um jenen Frieden ist, den Christus nicht erläuterte, als er ihn seinen Aposteln gab, sondern von dem er sich begnügte zu sagen, daß die Welt ihn nicht geben kann.

„Du wirst ihn in vollkommenem Frieden bewahren, dessen Seele auf dich gestellt ist, da er auf dich vertraute. Bauet auf den Herrn für immer, denn in dem Herrn Jehova ist ewige Stärke.“ (Is. 26, 3 u. f.)

 

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