Hl. Maria Magdalena
In den letzten Jahren wurde Maria Magdalena öfter in den Schmutz gezogen. In dem Roman Sakrileg von Dan Brown, wird ihr eine Beziehung mit Jesus unterstellt. Doch dieses Werk stammt aus der Synagoge des Satans, d.h. es wurde bewußt von Freimaurern gemacht, um Jesus, Maria Magdalena und damit die katholische Kirche mit ihrem Glauben zu diskreditieren.

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Die hl. Maria Magdalena

nach den Visionen von Maria Valtorta,
Therese Neumann,
der sel. Anna Katharina Emmerich
und Mechthild Thaller

 

eine Zusammenstellung
von Klemens Kiser

Hauptreliquie der hl. Maria Magdalena in St. Maximin
mit Ampullen blutgetränkter Erde von Golgotha

 

Massiv mit der Grotte der hl. Maria Magdalena

 

Grotte - la sainte Beaume

Inhalt

Einleitung
Die hl. Maria Magdalena - ihr Leben eine Übersicht
Begegnung Jesu mit Lazarus in Bethanien - 121
Jesus auf dem See von Tiberias - 135
Jesus im Haus des Lazarus - Martha spricht über Magdalena - 151
Bei Lazarus - Einladung von Josef aus Arimathäa - 152
Jesus begegnet Gamaliël beim Mahl Josefs von Arimathäa - 153
Jesus bei Lazarus - 156
Maria Magdalena erscheint bei der Bergpredigt - 213
Mord aus Eifersucht wegen Maria Magdalena - 222 223
In Bethanien - Meister, Maria hat Martha gerufen - 267
Jesus und Martha in Kapharnaum - 271
Das Gleichnis vom verlorenen Schaf - 273
Jesus sagt zu Martha: “Du hast den Sieg schon in deiner Hand” - 275
Magdalena im Haus des Pharisäers Simon - 276
“Viel wird dem verziehen, der viel liebt” - 277
Erwägungen über die Bekehrung Maria Magdalenas - 278
In Begleitung von Maria Magdalena unter den Jüngerinnen - 280
Margziam lehrt Magdalena das Vaterunser - 282
Jesus zu Philippus: “Ich bin der machtvolle Liebhaber” - 283
“Wissen ist nicht Verderben, wenn es Religion ist” - 284
Der strenge Judas - wäre auch hart zu Maria Magdalena
 285
Jesus in Nazareth - 287
Die Mutter Maria unterrichtet Magdalena - 289 292 f.
Zu den Jüngern von Sykaminon: “Der Glaube” - unter 294
Jesus zu Magdalena: Ich werde dich schmieden mit Feuer und Amboß  295
Im Garten Maria Magdalenas - 320
Während des Rüsttages - 419
Der Sabbat der ungesäuerten Brote - 423
Martha, Martha, du machst dir Sorge und Unruhe um vieles - 424
In Bethanien - 461
Jesus in Bethanien zum Laubhüttenfest - 537
Auf dem Weg nach Bethanien - Im Haus des Lazarus - 573
Die Juden im Haus des Lazarus - 595
Die Juden bei Martha und Maria - 596
Martha läßt den Meister benachrichtigen - 597
Der Tod des Lazarus - 598
Beim Begräbnis des Lazarus - 600
Laßt uns zu unserem Freund Lazarus gehen, der schläft - 601
Die Auferweckung des Lazarus - 602
Jesus kommt nach Bethanien - 636
Kreuzweg, Kreuzigung und Begräbnis - 669, 670
Nacht des Karfreitags - 673
Die frommen Frauen am Grab
  - 681    Auferstehung
Jesus erscheint Lazarus - 683 usw.
Jesus erscheint anderen Freunden im Haus des Abendmahles - Unter 688
Im Abendmahlsaal zu Pfingsten 702
Maria Magdalena nach Visionen der Therese Neumann
Maria Magdalena nach den Visionen der sel. Anna Katharina Emmerich
Mechthild Thaller - Maria Magdalena war unsichtbar stigmatisiert
Litanei zur hl. Maria Magdalena

Einleitung

In den letzten Jahren wurde Maria Magdalena öfter in den Schmutz gezogen. In dem Roman Sakrileg von Dan Brown, wird ihr eine Beziehung mit Jesus unterstellt. Doch dieses Werk stammt aus der Synagoge des Satans, d.h. es wurde bewußt von Freimaurern gemacht, um Jesus, Maria Magdalena und damit die katholische Kirche mit ihrem Glauben zu diskreditieren.

Auf der anderen Seite wird seit Jahrzehnten in der Theologie Maria Magdalena in zwei oder drei verschiedene Personen aufgespalten. Doch es gibt nur eine Maria Magdalena, die Schwester des Lazarus, die in Magdala am See Genezareth eine Villa hatte und dort einige Zeit ihr sündhaftes Leben pflegte, aber nach Bethanien zurückkehrte.

Nach ihrer Bekehrung wurde sie die treueste Jüngerin Jesu, die sich nicht gescheut hat den Kreuzweg mitzugehen, unter dem Kreuz zu Jesus zu stehen und seine Mutter zu stützen. Am Ostermorgen war sie die erste, vor allen Aposteln, die im Morgengrauen zum Grab gegangen ist, eigentlich um Jesus noch mal einzubalsamieren, doch dann entdeckte sie, daß das Grab leer war.

Später wurde sie mit ihren Geschwistern Lazarus und Martha von den Juden verbannt und kam so nach Südfrankreich, wo sie einige Jahrzehnte in einer Grotte bei St. Maxim ihn lebte, betete und fastete.

Sie gehört zu den vergessenen großen Heiligen der Kirche. Jesus nennt sie in dem großen Werk Valtorta ein Seraph, d.h. sie gehört zu den seraphischen Heiligen. Die folgenden Kapitel stammen aus den Visionen der italienischen Mystikerin Maria Valtorta, der Resl von Konnersreuth und der sel. Anna Katharina Emmerich, wo auch ausführlich die Apostel, ihr Hintergrund und das Leben der anderen Jünger Jesu geschildert werden.

Papst Benedikt XVI. sagte einmal, wir kennen die Kirche nicht, wenn wir die Heiligen nicht kennen. Leider ist in den letzten Jahrzehnten die Heiligenverehrung sehr in Vergessenheit geraten, obwohl wir immer noch beten: Ich glaube an die Gemeinschaft der Heiligen. Doch dieser Glaube ist keine Theorie, wir sollen ihn leben. Die Heiligen sind uns als Vorbild, Fürsprecher und Freunde gegeben. Sie sind jedoch Gentlemen, sie drängen und sich nicht auf. Es liegt an uns sie zu ehren, ihre Hilfe und ihren Schutz anzuflehen.

     Inhaltsverzeichnis

Die hl. Maria Magdalena
kurzer Lebensabriß aus meinem Buch
die Heiligen des AT und NT

Die hl. Maria Magdalena gehört zu den größten Heiligen der Kirche . Sie stand als einige der wenigen unter dem Kreuz und ging an Ostern als erste zum Grab. Das zeigt ihre Liebe zum Herrn. Ihr erschien Jesus vor allen Aposteln, gab ihr den Auftrag den Aposteln die Botschaft der Auferstehung zu überbringen, daher hat sie den Titel ‘apostola apostolorum’ -Apostolin der Apostel und deshalb wurde früher an ihrem Fest auch das Glaubensbekenntnis, wie bei den Aposteln, gebetet! Sie war die Schwester von Lazarus und Martha. Lazarus war eine bedeutetende Persönlichkeit und hatte Freunde bis in die höchsten Kreise sowohl der Juden wie der Römer, denn sein Vater Theophilus war Statthalter in Syrien. Er war nach Maria Valtorta der reichste Jude, aber im Gegensatz zu vielen anderen nicht dekadent und korrupt. Daher war Jesus mit seinen Jüngern, wenn er bei Lazarus in Bethanien war, beschützt. Ihm gehörte auch der Ölberg, deshalb konnte Jesus immer ungestört in den Ölgarten gehen und dort zum Gebet verweilen und später durften Maria mit Johannes dort wohnen.

Lazarus hatte auch Besitztümer in Antiochien, wohin sich früh die ersten Christen und auch die Apostel begaben. Selbst Petrus verlegte seinen Sitz von Jerusalem zunächst nach Antiochien, bevor er nach Rom ging.

Lazarus wurde später mit seinen Schwestern von den Juden verbannt, auf ein Schiff ohne Ruder und Segel im Mittelmeer ausgesetzt, damit er untergehen sollte, aber über das ganze Mittelmeer nach Südfrankreich getrieben. Daher ist Frankreich die älteste Tochter der Kirche . Schon bevor die Apostel sich auf Missionsreise begaben, kam das Evangelium ins damalige Gallien. Lazarus und sein Diener Maximin wurden Bischöfe. Der hl. Paulus kam später auf seiner Reise nach Spanien auch nach Südfrankreich und der hl. Petrus schickte mehrere seiner Schüler auch nach Gallien, wie das alte römische Martyrologium berichtet.

Maria Magdalena gehört zu den wichtigsten Heiligen. Sie soll nach der Gottesmutter die heiligste Frau sein . Sie stand neben Maria und Johannes unter dem Kreuz. Das zeigt ihre Liebe und ihren Mut, sich öffentlich zu Jesus zu bekennen, während die meisten Apostel aus Angst geflohen waren. Und so erschien ihr Jesus auch vor ihnen.

Die hl. Maria Magdalena war eine große Sünderin und war daher wegen ihres lasterhaften Lebens besessen. Jesus hat nach Lk 8,2 sieben Teufel aus ihr ausgetrieben. Das wollen manche Theologen nicht wahrhaben. Doch schwere Sünden können zur Besessenheit führen. So versucht man zwei oder drei verschiedene Marien zu konstruieren. Aber man macht auch aus David und Petrus keine zwei verschiedene Personen, nur weil sie mal untreu waren.

Maria war die Schwester des Lazarus und der Martha und hatte ein Haus in Magdala am See von Genesareth, daher Maria Magdalena genannt. Dort ist im Sommer das Klima milder und in der Nähe war ja auch Tiberias, wo sich die reichen Römer am See, wie heute die Reichen am Lago maggiore oder der Cote d’Azur, vergnügten... Darüber berichtet auch Maria Valtorta.

Schon die Bollandisten haben festgestellt, daß es allgemeine Meinung in der latein. Kirche ist, wenigstens seit Papst Gregor I., daß die Verfechter der Identität richtig liegen, d.h. daß es nur eine Maria Magdalena gibt.

Der Herr hat sie von sieben Dämonen befreit, d.h. von den sieben Hauptsünden, hinter denen mächtige böse Geister stehen, die die Menschen in der Sünde gebunden halten. Die Folge der Sünden sind ja unsichtbare Bindungen, die Menschen werden zu Sklaven der Sünde. Wir tun Dinge, die wir eigentlich gar nicht wollen, wie der hl. Paulus selbst schreibt. Daher ist das Widersagen bei der Taufe und auch bei der Bekehrung sehr wichtig und eben auch die Taufexorzismen.

Der hl. Johannes, mit dem sie später unter dem Kreuz stand, beichtet, daß sie Jesu Füße mit echten, kostbaren Nardenöl gesalbt hat . Darüber hat sich der untreue Apostel empört, weil er gleich den ungeheueren Wert von 300 Denaren erkannte, womit er sich anderes hätte leisten können. (Ein Denar war der Tageslohn - 300 der Jahresverdienst!) Jesus wußte warum und ließ sie gewähren. Das war kurz nach der Auferweckung des Lazarus, ein Zeichen des Dankes für dieses Wunder und andererseits geschah es bereits im Hinblick auf den Tod Jesu.

Beachtenswert ist auch die Episode des Besuches Jesu bei Martha und Maria , wo sich Martha bei Jesus beschwerte (!), weil Maria ihr bei der Arbeit nicht half. Jesus sagte das Wort: Martha, Martha, du machst dir viele Sorgen und Mühen. Nur eines ist notwendig. Maria hat das bessere gewählt. Es soll ihr nicht genommen werden. Lk 10,38f. Das erinnert an die Versuchung Jesu, wo er dem Teufel antwortete: Der Mensch lebt nicht nur vom Brot allein, sondern von jedem Wort, das aus dem Mund Gottes kommt.

Hier dürfen wir uns fragen, nehmen wir uns Zeit für Gott, - sein Wort und hören wir auf ihn, ja können wir oder wollen wir überhaupt noch auf ihn hören ?

Nach dem Evangelium ist Maria an Ostern als Erste mit den frommen Frauen zum Grab Jesu gegangen, um Ihn nochmals schöner zu salben. Das zeigt ihre Liebe zum Herrn. Sie fand das Grab leer, konnte zunächst nicht glauben, daß Jesus auferstanden ist, suchte nach dem Leichnam, bis ihr Jesus erschien. Er sandte sie dann zu den Aposteln, die dies zunächst auch nicht glauben wollten. So gingen Petrus und Johannes selbst zum Grab und fanden es leer.

Interessant ist, daß sie Jesus Meister nennt. Das zeigt auch ihre Ehrfurcht. Es ist niederträchtig, wie ihr in den letzen Jahren immer wieder in Büchern und Filmen ein Verhältnis zu Jesus, sogar mit Nachwuchs unterstellt wird.

Maria Magdalena stand unter dem Kreuz und wird ausdrücklich mit Namen erwähnt. Sie hatte keine Angst sich vor den Juden und Römern öffentlich zu Jesus zu bekennen. Auch hier ist sie uns ein Vorbild. Beten wir zu ihr um vor Menschenfurcht und Angst befreit zu werden, wie auch in anderen großen Versuchungen, denn ihr Weg aus der Sünde war sicher kein Spaziergang.

Maria Magdalena hatte die Demut öffentlich ihre Sünden zu Füßen des Herrn zu beweinen. Sie hat nichts beschönigt und der Herr hat ihr verziehen.

Nach alter Überlieferung, die auch von seriösen Mystikern, wie der sel. Anna Katharina Emmerich bestätigt wird, sind Lazarus und sein Diener Maximinus, Maria Magdalena und deren Schwester Martha, ferner Maria Jakobi und Maria Salome unter himmlischem Schutz übers Mittelmeer nach Südfrankreich gekommen und haben sich in der Provence niedergelassen.

Lazarus sollte getötet werden, weil viele durch seine Auferweckung zum Glauben an Jesus kamen, daher wurde er in ein Boot ohne Segel und Steuerruder gesetzt und auf diese Weise einem sicheren Tod auf dem Meer preisgegeben, kam jedoch wunderbarer Weise unverletzt an die gallische Küste.

Es wird überliefert, Lazarus sei zu Marseille und Maximinus zu Aix Bischof geworden, die hl. Maria Magdalena hat in einer Grotte bei Beaume in beständige Gebet und Buße gelebt, während Maria Jakobi (Kleophae) und Maria Salome sich nach Arles begaben und dort wohnten.

Die Reliquien der hl. Maria Magdalena

Im Jahr 716 wurden ihre Reliquien angesichts der Sarazeneneinfälle nach Vezelay gebracht, wo sich heute noch Reste befinden, andererseits ist es auch möglich, daß nur ein Teil dorthin gelangte. Dorthin pilgerte sogar der hl. Franziskus.

Die Reliquien wurden dann im Jahr 1279 fast vollzählig wieder nach St. Maximin gebracht. Das Reliquiar der hl. Maria Magdalena in der Krypta des Doms zu St. Maximin ist eine Büste mit ihrem Schädel, der von 4 Engeln getragen wird. Darunter befinden sich 3 Ampullen , worin kleine Steinchen und Erde von Golgotha zu sehen sind, durchtränkt vom Kostbaren Blut unseres Herrn Jesus Christus. Dieses Hl. Blut vermischt mit Golgotha-Erde hat die Gottesmutter am Fuß des hl. Kreuzes mit der hl. Maria Magdalena aufgesammelt und als kostbaren Schatz bei sich verwahrt.

In der Zeitung “Le Pelerin” vom Juli 1876 stand folgendes: “Das Wunder ereignete sich während einer langen Reihe von Jahren anläßlich des Karfreitags. Man sah die braunschwarzen Steinchen nach der Verlesung der Passionsgeschichte vor aller Augen leuchtend rot werden. Das Blut, das an diesen Steinchen klebte, wurde flüssig, und man konnte es in den Ampullen brausen sehen. Dann sank es wieder auf den Boden der Ampulle(n) zurück. Es geschah an jedem Karfreitag und war in der ganzen Gegend als das Blutwunder von Saint Maximin bekannt. Im Lauf der Zeit geriet alles in Vergessenheit und auch heute schätzt man dort nicht diese hochheiligen Blutreliquien.

Die Göttliche Vorsehung hat der sel. Anna Katharina Emmerich in Visionen Hinweise auf diese Hl. Blutreliquien gegeben, damit sie der Vergessenheit entrissen werden. Am Samstag, den 10. Sept. 1983 begann das hl. BLUT in den Ampullen flüssig zu werden , zum großen Erstaunen der zahlreichen Anwesenden.

Das Blutwunder von St. Maximin beweist die Echtheit der Reliquien und stärkt uns im Glauben, der in unserer Zeit so schwach zu werden droht. Außerdem ist es eine Bestätigung der Visionen der sel. Anna Katharina Emmerich.

Die Grotte der hl. Maria Magdalena

Sie liegt im Bergmassiv von la sainte Beaume =die heilige Höhle , ca. 30 km südlich von St. Maximin, 100 km östlich von Marseille. Hier lebte Maria Magdalena, als Einsiedlerin etwa 30 Jahre unter Gebet, Fasten und Buße, wie Johannes der Täufer in der Wüste. Sie wurde von Engeln beschützt und auf den Berggipfel, der sonst nur von Süden erreichbar ist hinauf- und heruntergetragen.

Die Grotte ist ein alter Pilgerort und hat eine gewisse Ähnlichkeit mit der Grotte des hl. Erzengels Michaels in Italien. Schon der hl. König Ludwig pilgerte hier hin , ebenso die hl. Katharina von Siena , die hl. Birgitta von Schweden , der hl. Vinzenz von Paul , die hl. Johanna Franziska von Chantal ,der hl. Benedikt Labre . In der Felsengrotte befindet sich auch eine kleine Reliquie der hl. Maria Magdalena.

Ihr Grab sollte man mehr in Ehre halten und wie die Apostelgräber in Rom besuchen. Viele glauben heute nicht mehr an die Auferstehung und das ewige Leben. Viele meinen sie könnten sich selbst erlösen und verlieren nicht nur viel Geld in esoterischen Kursen und Sekten, sondern letztlich ihr Seelenheil.

In Les-Saintes-Maries-de-la-Mer, dem Ort, wo die drei Geschwister mit den anderen hl. Marien, die unter dem Kreuz gestanden waren, gestrandet sind, findet die große Zigeunerwallfahrt statt. Ste. Maries heißt die heiligen Marien, denn es sollen auch die anderen Marien, die beim Kreuz standen und Halbschwestern der Muttergottes waren - deshalb waren sie ja dabei - Maria Salome und Maria Kleophae dabei gewesen sein. Maria Salome war die Mutter des Johannes und Jakobus des Älteren Maria Kleophae die Mutter von Jakobus dem Jüngeren und Judas Thaddäus.

Bei den Visionen gibt es Unterschiede, manchmal auch Widersprüche. Anna Katharina Emmerich sagt einmal, daß sie bei anderen sah, daß sie Gesehenes mit Eigenem vermischen und hatte Angst, dies auch (unbewußt) zu tun.

Wenn man fünf Leute dasselbe Ereignis beschreiben läßt, erhält man fünf verschiedene Berichte. Wenn man aber nun übernatürlich Geschautes in Worte fassen muß, wird es noch schwieriger. Im Italienischen heißt es tradutori traductori - der Übersetzer ist ein Verfälscher, weil man nicht zugleich wörtlich und sinngemäß übersetzen kann.

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Das Leben der hl. Maria Magdalena
nach Maria Valtorta

Begegnung Jesu mit Lazarus in Bethanien - 121

Ein ganz klarer, sommerlicher Tagesanbruch... Jesus und Simon (der Zelote) haben einen Weg eingeschlagen, der mit der Hauptstraße ein V bildet. Sie nähern sich herrlichen Obstgärten und Flachsfeldern, deren Pflanzen, bereits mannshoch, bald abgemäht werden müssen. Andere, weiter entfernte Felder zeigen nur die großen roten Flecken des Klatschmohns im Gelb der Stoppeln.

“Wir befinden uns schon auf dem Besitz meines Freundes. Siehst du, Meister, die Entfernung entspricht der gesetzlichen Meile. [d.h. es war Sabbat.] Ich hätte mir nie erlaubt, dich zu täuschen. Hinter diesem Obstgarten ist der Zaun des Gartens und dahinter das Haus. Ich habe dich auf dieser Abkürzung hierher geführt, um den Vorschriften zu gehorchen.” - “ Dein Freund muß sehr reich sein.” -

“Sehr. Doch er ist nicht glücklich. Seine Familie hat auch anderswo Besitztümer.” - “Ist er Pharisäer?” - “Sein Vater war es nicht. Er... ist sehr gesetzestreu. Ich habe dir gesagt: ein wahrer Israelit!”

[Simon der Zelote, stammte aus Bethanien, war aussätzig und wurde von Jesus geheilt. In Kap. 89. steht auch, daß der Teufel alle, die nach dem Himmel streben, noch mehr versucht! D.h. das christliche Leben ist ein Kampf, was die heutige Theologie uns gar nicht mehr lehrt. Man will eine neue Soft-Religion - Luther 2.0.] Sie gehen noch ein Stück, bis zu einer hohen Mauer. Dahinter stehen Bäume und Büsche, zwischen denen das Haus kaum sichtbar ist. Der Erdboden bildet hier eine kleine Erhebung, doch nicht so sehr, daß sie dem Auge versagt, in den Garten zu sehen, der so schön ist, daß wir ihn Park nennen wollen. Sie gehen um die Ecke. Von der Mauer hängen duftende Rosen und Jasminsträucher herunter. Hier das schwere Tor aus kunstgeschmiedetem Eisen.

Simon schlägt mit dem bronzenen Klopfer an. “Es ist noch zu früh, um einzutreten, Simon”, bemerkt Jesus. “Oh! mein Freund steht mit der Sonne auf, da er nur in seinem Garten oder zwischen seinen Büchern Trost findet. Die Nacht ist für ihn eine Plage. Warte nicht länger, Meister, ihm die Freude deines Kommens zu machen!” Ein Diener öffnet das Tor. “Asäus, ich grüße dich, sag deinem Herrn, daß Simon der Zelote gekommen ist und seinen Freund mitgebracht hat.”

Der Diener eilt fort, nachdem er beide hat eintreten lassen und sie mit den Worten begrüßt hat: “Euer Diener. Kommt herein, denn das Haus des Lazarus steht allen Freunden offen !” Simon kennt sich hier gut aus; er schlägt nicht den Mittelweg ein, sondern einen kleineren zwischen Rosenhecken und geht auf eine mit Jasmin bewachsene Pergola zu. Tatsächlich zeigt sich dort Lazarus . Er ist sehr mager und blaß , so wie ich ihn immer gesehen habe... sehr groß, mit kurzen, schütteren und glatten Haaren und einem spärlichen Bart, der nur die Unterseite des Kinns bedeckt. Er ist in feinstes Linnen gekleidet und geht mühsam, wie jemand, den die Beine schmerzen. Da er Simon sieht, grüßt er mit liebenswürdiger Geste und geht dann, so gut er kann, Jesus entgegen, wirft sich ihm zu Füßen und küßt den Saum seines Gewandes und sagt: “Ich bin nicht so viel Ehre wert. Doch da deine Heiligkeit sich bis zu meinem Elend erniedrigt, komm, mein Herr, tritt ein und sei Herr in meinem bescheidenen Hause !” - “Steh auf, mein Freund, und empfange meinen Frieden!” Lazarus erhebt sich, küßt die Hände Jesu und betrachtet ihn voller Verehrung, nicht ohne Neugier. Sie gehen zusammen zum Haus.

Wie sehr habe ich dich erwartet, Meister ! Jeden Morgen sagte ich mir: „Heute wird er kommen“, und jeden Abend: „Auch heute habe ich ihn nicht gesehen“.” - “Warum erwartetest du mich so sehnsüchtig?” - “Warum?... Was erwarten wir in Israel anderes als dich?” - “Und du glaubst, das ich der Erwartete bin?” - “Simon hat noch nie gelogen. Auch ist er kein Mensch, der übertreibt oder sich für Lügendunst begeistert. Das Alter und das Leiden haben ihn zu einem Weisen heranreifen lassen. Und dann... wenn er dich nicht an der Wahrheit deines Wesens erkannt hätte, dann hätten deine Werke gesprochen und dich heilig erklärt. Wer die Werke Gottes tut, muß ein Mann Gottes sein. Und du tust sie . Und die Art und Weise, wie du sie vollbringst, bestätigt, daß du der Mann Gottes bist. Mein Freund ist zu dir gekommen, angezogen durch die Kunde deiner Wunder; und er hat ein Wunder an sich erlebt. Ich weiß, daß dein Weg durch weitere Wunder gezeichnet ist. Warum also sollte ich nicht glauben, daß du der Erwartete bist?

Oh, es ist so süß, an das Gute zu glauben. Bei vielen unguten Dingen müssen wir so tun, als seien sie gut... aus Friedensliebe... weil wir sie nicht ändern können; bei vielen hinterhältigen Worten, die Verehrung, Lob und Gutmütigkeit auszudrücken scheinen, jedoch Sarkasmus oder Ironie sind... mit Honig überzogenes Gift. Wir müssen tun, als ob wir daran glaubten, obwohl wir um das Gift, den Hohn und den Spott wissen. Wir müssen so tun, weil es nicht anders möglich ist, da wir schwach sind gegen eine starke Welt und allein gegen eine ganze Welt, die uns feindlich gesinnt ist. Warum also nicht an das Gute glauben? Außerdem ist die Zeit erfüllt, und die Zeichen der Zeit sind da . Das, was unserer Gewißheit noch fehlen könnte, kommt uns von unserem Willen zu glauben, daß die Wartezeit beendet ist und der Retter, der Messias, da ist... der Israel und den Kindern Israels den Frieden bringt. Er, der unseren Tod frei von Ängsten machen wird, da wir wissen, daß wir erlöst sind, daß wir ohne den Schmerz der Sehnsucht nach unseren Verstorbenen leben können... Oh, die Toten! Warum sie beweinen, wenn nicht deshalb, weil sie keine Kinder mehr und noch nicht den Vater und Gott haben?”

Ist es schon lange her, daß dein Vater gestorben ist?” - “Drei Jahre, und sieben, daß meine Mutter gestorben ist ... Doch seit einiger Zeit trauere ich nicht mehr um sie. Auch ich möchte dort sein, wo ich hoffe, daß sie sind... in Erwartung des Himmels.” - “Dann hättest du aber den Messias nicht zu Gast.” - “Das ist wahr. Jetzt bin ich in einer glücklicheren Lage als sie, da ich dich habe... und das Herz diese Freude genießen darf. Tritt ein, Meister! Erweise mir die Ehre , daß mein Haus dein Haus sei! Heute ist Sabbat; leider kann ich nicht zu deiner Ehre die Freunde einladen...” - “Ich wünsche es auch nicht. Heute bin ich nur für den Freund Simons da, der auch mein Freund ist.”

Sie betreten einen schönen Saal, wo die Diener schon bereitstehen, sie zu empfangen. “Ich bitte euch, ihnen zu folgen”, sagt Lazarus. “So werdet ihr euch vor der morgendlichen Mahlzeit erfrischen können.” Und während Jesus und Simon in einen anderen Raum gehen, gibt Lazarus den Dienern Anweisungen. Ich erkenne, daß es ein reiches, vielmehr ein herrschaftliches Haus ist. Jesus trinkt Milch, die ihm Lazarus unbedingt selbst eingießen will, bevor er sich zum Frühstück niedersetzt.

Ich höre, wie Lazarus, sich an Simon wendend, sagt: “Ich habe den Mann gefunden, der bereit ist, deine Güter zu erwerben zum Preis, den dein Vertrauensmann vorgeschlagen hatte. Er will keine Drachme abziehen.” - “Ist er auch bereit, meine Bedingungen zu erfüllen?” - “Er ist dazu bereit. Er nimmt alles an, nur um zu diesen Ländereien zu kommen; auch ich bin zufrieden, da ich weiß, wer mein Nachbar sein wird. Doch da du beim Verkauf nicht anwesend sein willst, möchte auch er für dich unerkannt bleiben. Ich bitte dich, diesen Wunsch zu berücksichtigen.”

“Ich habe nichts dagegen einzuwenden. Du, mein Freund, wirst mich vertreten; was immer du tun wirst, wird gut getan sein. Mir genügt es, wenn mein treuer Diener nicht auf die Straße gestellt wird... Meister, ich verkaufe und bin sehr glücklich darüber, daß ich nichts mehr habe, das mich an etwas bindet, was dir nicht dient . Doch ich habe einen alten, treuen Diener, den einzigen, der mir nach meinem Schicksalsschlag verblieben ist und der mir, wie ich dir schon gesagt habe, während meiner Absonderung immer geholfen und meine Güter wie sein Eigentum verwaltet hat. Er hat sie mit Hilfe des Lazarus als seine eigenen ausgegeben und sie mir somit erhalten, um ein wenig meiner Not abhelfen zu können. Nun wäre es nicht gerecht, wenn dieser Diener in seinem Alter auf die Straße gesetzt würde. So habe ich beschlossen, daß ein kleines Haus am Rand des Besitztums ihm gehören und ein Teil der Verkaufssumme ihm für seine künftigen Bedürfnisse gegeben werden soll. Die Alten, weißt du, sind wie der Efeu. Nachdem sie immer an demselben Ort gelebt haben, leiden sie zu sehr, wenn sie aus der gewohnten Umgebung herausgerissen werden. Lazarus wollte ihn zu sich nehmen, denn er ist ein guter Mensch. Doch ich habe es vorgezogen, die Sache so zu regeln. So wird der Alte weniger leiden.”

“Auch du bist gut, Simon; wenn alle so gerecht wären wie du, dann wäre meine Aufgabe einfacher”, bemerkt Jesus. “Findest du die Welt tückisch, Meister?” fragt Lazarus. “Die Welt?... Nein. Die Mächte der Welt: Satan! Wenn er nicht der Herr der Herzen wäre und sie nicht in seiner Gewalt hätte, würde ich keinem Widerstand begegnen. Doch das Böse ist gegen das Gute, und ich muß in jedem das Böse besiegen, um das Gute hineinzulegen, was nicht alle wünschen.”

“Es ist wahr. Nicht alle wollen dies. Meister, welche Worte findest du für die Schuldigen, um sie zu bekehren, sie zu beugen? Worte der strengen Zurechtweisung, wie jene, denen wir in der Geschichte Israels oft begegnen und die als letzter der Vorläufer gebrauchte... oder Worte der Barmherzigkeit?”

“Liebe übe ich und Barmherzigkeit. Glaube es, Lazarus, über jemand, der gefallen ist, hat ein Blick der Liebe mehr Macht als eine Verfluchung .”

“Und wenn die Liebe verlacht wird?” - “Weiterhin lieben... bis zum äußersten. Lazarus, kennst du die Gegenden, in denen der verräterische Erdboden die Unvorsichtigen verschlingt?” - “Ja, ich habe darüber gelesen, denn in meinem Zustand lese ich viel, aus Leidenschaft und um die langen, schlaflosen Nächte zu verkürzen. Ich weiß, daß es solche in Syrien, in Ägypten und auch bei Chaldäa gibt. Und mir ist bekannt, daß sie nicht mehr hergeben, was sie verschlungen haben. Ein Römer sagte, daß es Mäuler der Hölle seien, in denen heidnische Ungeheuer leben. Ist das wahr?” - “Das ist nicht war. Es sind nur besondere Beschaffenheiten der Erdoberfläche. Der Olymp hat damit nichts zu tun. Auch wenn man an den Olymp nicht mehr glauben wird, werden sie weiterbestehen, und der Fortschritt der Menschen wird nur eine genauere Erklärung darüber geben können, ohne an der Tatsache etwas zu ändern.

Nun frage ich dich: wenn du davon gelesen hast, weißt du bestimmt auch, wie man sich retten kann, wenn man hineingefallen ist.” - “Ja, mit einem zugeworfenen Seil, einer Stange oder auch einem Ast. Manchmal genügt ein kleiner Gegenstand, um dem Versinkenden das Minimum an Halt zu geben, der ihm erlaubt, die Ruhe zu bewahren und ohne Aufregung weitere Hilfe zu erwarten.”

“Nun gut: der Sünder, der Besessene wird vom verräterischen Erdboden, der an der Oberfläche Blumen aufweist und darunter beweglichen Schlamm hat, angesaugt . Glaubst du, daß einer, der weiß, was es heißt, sich auch nur mit einem eigenen Atom in den Besitz Satans zu begeben, es doch täte? Aber er weiß es nicht... und dann... entweder lähmt ihn der Schreck und das Gift des Bösen, oder er wird verrückt; um sich zu retten, wehrt er sich mit Bewegungen und sinkt dadurch nur tiefer in den Schlamm ; schlägt er weiter um sich, bewirkt er schwere Wogen und beschleunigt damit sein Versinken.

Die Liebe ist das Seil, der Ast, der Zweig, von dem du sprichst. Man muß darauf bestehen, bis er sie ergreift... Ein Wort... ein Verzeihen... ein Verzeihen, das größer ist als die Schuld... um ein weiteres Abgleiten zu verhindern und die Hilfe Gottes zu erwarten. Lazarus, weißt du, welche Macht das Vergeben hat? Es bringt dem Vergebenden Gott zu Hilfe. Du liest viel?”

“Sehr viel. Ich weiß nicht, ob es gut ist. Doch aufgrund meiner Krankheit und anderer Dinge sind mir viele menschliche Köstlichkeiten vorenthalten; so bleiben mir nur Liebhabereien: Blumen und Bücher, Bäume und auch Pferde . Ich weiß, daß man mich deswegen kritisiert. Doch ich kann in meinem Zustand (er zeigt seine dickgeschwollenen, eingewickelten Beine) nicht zu Fuß oder auf einem Esel meine Güter besuchen. Ich muß einen Wagen benützen, und es muß rasch gehen. Deswegen habe ich mir Pferde angeschafft, und ich liebe sie sehr. Doch wenn du sagst, daß es nicht gut ist, werde ich sie verkaufen.”

“Nein, Lazarus. Diese Dinge schaden nicht . Es schadet nur, was den Geist beunruhigt und ihn von Gott entfernt.” - “Dies, Meister, wollte ich wissen. Ich lese viel. Ich habe nur diesen Trost . Ich bin wißbegierig. Ich glaube, daß es im Grunde besser ist, das Böse zu kennen als es zu tun; daß es besser ist zu lesen als... andere Dinge zu tun. Doch ich lese nicht nur unsere Bücher. Ich liebe es, auch die Welt der anderen kennenzulernen, und Rom und Athen ziehen mich an. Nun weiß ich, wieviel Sittenverderbnis über Israel kam, als es sich mit den Assyrern und Ägypten verbündete, und wieviel Übel uns die hellenisierende Regierung gebracht hat. Ich weiß nicht, ob ein Einzelmensch sich selbst so viel Unheil zufügen kann, wie Judas (Makkabäus) sich selbst und uns, seinen Söhnen, angetan hat. Doch was denkst du davon? Ich möchte, daß du mich belehrst. Du, der du nicht nur ein Rabbi bist, sondern das Wort der göttlichen Weisheit.”

Jesus betrachtet ihn einige Minuten lang mit einem durchdringenden und doch fernen Blick. Man hat das Gefühl, daß dieser Blick den matten Körper des Lazarus durchbohre, sein Herz ergründe, noch einmal alles überprüfe und wer weiß was sehe. Endlich sagt Jesus: “ Verwirrt dich deine Lektüre? Entfernt sie dich von Gott und seinem Gesetz?

Nein , Meister. Sie zwingt mich zum Vergleich zwischen unserem wahren Gott und den falschen, heidnischen Göttern. Ich betrachte die Helden Israels, seine Gerechten, die Patriarchen, die Propheten und vergleiche sie mit den finsteren Gestalten der Geschichte der anderen Völker. Ich vergleiche unsere Philosophie - ich meine die Weisheit der Hl. Schrift - mit den armen griechischen und römischen Philosophien, in welchen Feuerflämmchen aufflackern, doch keine richtige Flamme brennt und leuchtet wie in den Büchern unserer Weisheit. Dann verneige ich mich in noch tieferer Verehrung im Geist, um unseren Gott anzubeten, der in Israel durch Geschehnisse, Personen und unsere Schriften spricht.” -

Dann lies nur weiter , es kann für dich nützlich sein, die heidnische Welt kennen- zulernen. Mach weiter so... du kannst weiterhin lesen. Die Hefe des Bösen und der Keim der seelischen Zersetzung stecken nicht in dir. Daher kannst du ohne Sorge lesen. Die wahre Liebe, die du zu deinem Gott hast, macht die profanen Keime, welche die Lektüre in dir entwickeln könnte, wirkungslos. In allen Handlungen des Menschen liegt die Möglichkeit zum Guten und zum Bösen. Lieben ist keine Sünde, wenn man heiligmäßig liebt. Arbeiten ist keine Sünde, wenn man arbeitet, wann es erlaubt ist. Verdienen ist keine Sünde, wenn man sich mit dem gerechten Lohn begnügt. Studieren ist keine Sünde, wenn das Studium nicht die Gedanken an Gott in uns tötet. Doch Sünde ist es, dem Altar zu dienen, wenn dies aus Eigennutz geschieht. Bist du nun überzeugt, Lazarus?”

“Ja, Meister. Ich habe schon andere darüber befragt, und sie haben mich deshalb verachtet. Du hingegen gibst mir Licht und Frieden . Oh, wenn alle dich hören könnten! Komm, Meister! Unter der Jasminlaube ist frische Luft und Ruhe. Angenehm ist es, in Erwartung des Abends im kühlen Schatten auszuruhen.” Sie gehen hinaus, und die Vision ist zu Ende.

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Jesus auf dem See Genezareth - 135

Jesus und alle die Seinen - es sind mit ihm zusammen vierzehn - befinden sich jeweils zu sieben in zwei Booten auf dem See von Galiläa. Jesus ist mit Petrus , Andreas, Simon, Josef und den beiden Vettern im ersten Boot . In anderen sind die beiden Söhne des Zebedäus mit dem Iskariot, Philippus, Thomas, Natanaël und Matthäus. Die Boote segeln rasch dahin von einem frischen Nordwind getrieben, der das Wasser an vielen Stellen kräuselt. Es bildet sich so ein leichter Schaum, der wie Tüll auf dem türkisblauen, klaren See ruht. Sie segeln nebeneinander und hinterlassen zwei Kielwasser, die sich in einiger Entfernung mit ihrem fröhlichen Quirlen vereinigen.

Von Boot zu Boot findet eine angeregte Unterhaltung statt. Daraus schließe ich, daß die Galiläer den Judäern die schönsten Stellen des Sees mit ihren Handelsplätzen und den dort wohnenden Persönlichkeiten anpreisen und die Entfernung zwischen dem Abfahrtsort Kapharnaum und dem Ziel Tiberias nennen.

In den Booten wird nicht gefischt, sie werden nur für den Personentransport benützt. Jesus sitzt auf einem Brett am Bug und erfreut sich sichtlich an der schönen Landschaft, dem Schweigen ringsum, dem herrlichen Blau des Himmels und des Sees, der von einem grünen Ufer umsäumt ist, wo da und dort weiße Dörfer eingebettet sind. Jesus hört nicht auf die Gespräche der Jünger. Er hat sich jetzt auf ein Bündel Segel gelegt und schaut ab und zu in den blauen Spiegel des Sees, als wolle er erforschen, was in diesem klaren Wasser alles lebt. Wer weiß, woran er denkt?

Petrus fragt ihn zweimal, ob die Sonne ihn störe, die nun bereits im Osten voll aufgegangen und schon ziemlich wärmt. Ein anderes Mal fragt er Jesus, ob er wie die anderen etwas Brot und Käse haben möchte. Doch Jesus wünscht nichts, weder Sonnenschutz noch Brot. So läßt Petrus ihn in Ruhe.

Eine Gruppe kleiner Barken, die zu Unterhaltungsfahrten auf dem See dienen, mit purpurnen Baldachinen und Polstern ausgestattet, schneidet den Fischerbooten den Weg. Man hört singen, lachen und riecht Wohlgerüche. Die Luxusboote sind voll schöner Frauen, fröhlicher Römer und Palästinenser ; die Römer sind sicher in der Mehrzahl; neben den Einheimischen befinden sich auch einige Griechen. Dies entnehme ich aus den Worten eines mageren, wendigen Jünglings, dessen Hautfarbe dunkel wie eine reife Olive ist. Er trägt ein kurzes rotes Gewand, das mit einer reichen griechischen Borte gesäumt ist und in der Taille von einem Gürtel gehalten wird, einem Meisterwerk der Goldschmiedekunst. Er sagt: “Hellas ist schön, doch mein olympisches Vaterland hat nicht dieses Blau und diese Blumen. Daher wundert es mich nicht, daß die Göttinnen meine Heimat verlassen haben und hierher gekommen sind. Überschütten wir die Göttinnen, nicht mehr die griechischen, sondern die jüdischen, mit Blumen, Rosen und Huldigungen...” und er streut über die Frauen seines Bootes herrliche Rosenblätter und wirft auch in die anderen Boote solche. Ein Römer bemerkt: “Streue nur, streue nur, Grieche! Doch Venus ist bei mir. Ich entblättere nicht: ich pflücke mir die Rosen von diesem schönen Mund. Das ist süßer!” und er neigt sich nieder, um Maria von Magdala auf den zum Lachen geöffneten Mund zu küssen. Sie liegt auf den Polstern und hat ihr blondes Haupt in den Schoß eines Römers gelegt. Nun sind die Boote nahe beieinander, und, ob aus Unachtsamkeit der Schiffer oder wegen des Spiels des Windes, es erfolgt beinahe ein Zusammenstoß...”

Paßt auf, wenn euch das Leben lieb ist!” schreit Petrus wütend, während er abdreht und mit einer Stange abwehrt, um den Zusammenstoß zu vermeiden. Schimpfwörter der Männer und Schreckensrufe der Frauen fliegen von Boot zu Boot . Die Römer beleidigen die Galiläer: “Paßt doch auf, ihr hebräischen Hunde!” Petrus und die anderen Galiläer lassen sich die Beleidigungen nicht gefallen, und besonders Petrus, rot wie ein Hahnenkamm, steht aufgerichtet am Rand des Bootes, das stark ins Schwanken gerät, und antwortet, die Hände in die Hüften gestemmt, Schlag auf Schlag, ohne Römer, Griechen, Hebräer oder Hebräerinnen zu schonen. Er widmet ihnen eine ganze Reihe wenig ehrenvoller Bezeichnungen, die ich lieber nicht niederschreibe. Dieses Hin- und Hergeschimpfe dauert solange, bis die Ruder und Stangen sich entwirrt haben, und jede Barke auf ihrem Weg weiterziehen kann.

Jesus hat seine Stellung nicht gewechselt. Er ist ruhig liegengeblieben, ohne auf die Worte, die Schiffe oder deren Insassen zu achten. Auf einen Ellbogen gestützt, hat er ohne Unterbrechung auf den weiten Wasserspiegel geschaut, als ob um ihn herum nichts geschehe. Es wird ihm eine Blume zugeworfen. Ich weiß nicht, von wem... bestimmt von einer Frau, denn ich höre ein weibliches Lachen diesen Wurf begleiten. Doch er rührt sich nicht. Die Blume trifft ihn beinahe ins Gesicht, fällt auf die Bretter und beendet ihre Reise zu Füßen des wütenden Petrus. Als die Boote sich entfernen, sehe ich, daß Magdalena aufsteht und mit ihrem Blick dem weisenden Finger eines Gefährten des Lasters folgt, bis ihre herrlichen Augen am abgeklärten Gesicht des fernen Jesus haften bleiben . Wie weit entfernt von der Welt ist dieses Antlitz!...“

Sag, Simon”, fragt Iskariot, “du, der du Judäer bist wie ich, antworte mir: ist diese wunderschöne Blonde auf der Brust des Römers, die sich erhoben hat, nicht die Schwester des Lazarus von Bethanien ?” - “Keine Ahnung”, entgegnet Simon der Zelote trocken. “Ich bin erst vor kurzem unter die Lebenden zurückgekehrt, und diese Frau ist jung...” - “Du wirst mir doch nicht weismachen wollen, daß du Lazarus von Bethanien nicht kennst! Ich weiß genau, daß ihr befreundet seid und daß du mit dem Meister dort gewesen bist.” - “Und wenn auch?” - “Und weil es so ist, sage ich, mußt du auch die Sünderin kennen, die Schwester des Lazarus. Alle kennen sie. Schon seit zehn Jahren macht sie von sich reden. Sie hat schon, kaum reif geworden, ein leichtes Leben begonnen. Doch nun seit vier Jahren! Der Skandal kann dir nicht unbekannt sein , auch wenn du im Tal des Todes gewesen bist. Ganz Jerusalem sprach davon. Und Lazarus hat sich damals nach Bethanien zurückgezogen ... Er hat übrigens gut daran getan. Niemand hätte mehr einen Fuß in den herrlichen Palast auf Zion gesetzt, wo sie ein- und ausging. Ich meine damit: niemand, der heilig ist. Auf dem Land... weiß man... Und übrigens ist sie nun überall, nur nicht in ihrem Haus... Jetzt wird sie wohl in Magdala sein; mit einem neuen Liebhaber. Du antwortest nicht? Willst du mich Lügen strafen?” - “Ich leugne nicht, ich schweige.” - “Dann ist sie es also doch! Auch du hast sie erkannt.” - “Ich sah sie, als sie noch ein reines Mädchen war. Ich sehe sie nun wieder. Und ich erkenne sie wieder; obwohl sie schamlos geworden ist, sieht sie ihrer Mutter ähnlich, die eine Heilige war.”

“Und warum hast du dann beinahe geleugnet, daß sie die Schwester deines Freundes ist?” - “ Unsere Wunden und die Wunden jener, die wir lieben, suchen wir zu verdecken . Besonders, wenn wir ehrbar sind.” Judas lacht wütend. “Du sagst es gut, Simon. Und du bist ehrbar”, bemerkt Petrus. “Und auch du hast sie wiedererkannt? Bestimmt gehst auch du nach Magdala, um dort deine Fische zu verkaufen, und wer weiß, wie oft du sie gesehen hast!” - “Bursche, merke dir eines: wenn die Nieren todmüde von einer ehrlichen Arbeit sind, dann sind die Frauen Nebensache. Man liebt nur das ehrsame Bett der eigenen Ehefrau.”

“Bah, schöne Dinge gefallen allen. Wenigstens betrachtet man sie.” - “Warum denn? Um dann zu sagen: „Das ist keine Nahrung für deinen Tisch?“ Nein, weißt du... der See und das Handwerk haben mich manches gelehrt, und eines davon ist dieses: der Süßwasserfisch kann im Salzwasser und den Wirbeln der Oberfläche nicht leben.” - “Was willst du damit sagen?”

“Ich will damit sagen, daß jeder an seinem Platz bleiben muß, um nicht auf böse Weise umzukommen.” - “Wollte denn Magdalena dich umbringen?” - “Nein. Ich habe ein dickes Fell. Aber sag mir: fühlst du dich vielleicht nicht wohl?” - “Oh, ich habe sie nicht einmal angesehen.” - “Lügner! Ich wette, daß es dich gewurmt hat, nicht auf dem ersten Boot und so ihr näher zu sein... Du hättest sogar mich ertragen, um ihr nahe zu sein. Die Wahrheit meiner Worte wird dadurch bestätigt, daß du ihretwegen mir die Ehre gibst, nach vielen Tagen wieder mit mir zu sprechen.” - “Ich? Wenn du nicht da gewesen wärest, hätte niemand sie gesehen! Sie hat fortwährend den Meister angeblickt.” - “Ha, ha, ha... und dann sagst du, daß du nicht nach ihr geschaut hast ! Wie könntest du bemerken, wohin sie schaut, wenn du deine Augen nicht auf sie gerichtet hieltest?” Alle lachen bei dieser Bemerkung des Petrus, außer Judas, Jesus und dem Zeloten.

Jesus setzt der Diskussion, der er, wie es schien, nicht zugehört hatte, ein Ende; er fragt Petrus: “Ist dies hier Tiberias?” - “Ja, Meister, ich werde nun anlegen.”

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Jesus im Haus des Lazarus -
Martha spricht über Magdalena
- 151

Der Marktplatz von Jericho mit seinen Bäumen und seinen schreienden Händlern. In einer Ecke der Zöllner Zachäus , beschäftigt mit legalen und illegalen Geschäften. Er muß auch Käufer und Verkäufer von Schmucksachen sein, denn ich sehe, daß er etwas wägt und schätzt: Schmucksachen und Gegenstände aus Edelmetall, die ihm - ich weiß es nicht und vermute es nur - vielleicht an Stelle von Geld für Steuerabgaben gegeben oder aus anderem Zwang verkauft wurden.

Nun kommt eine schlanke, in einen großen Mantel eingehüllte Frau. Auch vor dem Gesicht hat sie ein dichtes, gelblich-weißes Damasttuch, das nicht erlaubt, ihr Antlitz zu sehen. Man erkennt nur die Schlankheit des Körpers, die trotz des gräulichen Überwurfs sichtbar ist. Sie muß noch jung sein, nach dem wenigen zu schließen, das man von ihr sieht, und zwar der Hand, die nun zum Vorschein kommt und ein goldenes Armband übergibt. Man sieht auch die mit Sandalen bekleideten Füße, d. h. nur die glatten und jugendlichen Zehen und ein wenig die schmale und schneeweiße Ferse. Sie reicht ihr Armband wortlos hin, empfängt ohne Handeln und ohne Widerrede das Geld und dreht sich rasch um, um wegzukommen.

Ich bemerke nun, daß hinter ihrem Rücken der Iskariot sie aufmerksam beobachtet und ihr beim Weggehen etwas sagt, das ich jedoch nicht verstehen kann. Doch sie antwortet nicht, als wäre sie stumm und geht etwas schwerfällig in ihrem hemmenden Gewand davon. Judas fragt Zachäus : “Wer ist sie?” Zachäus antwortet: “Ich frage meine Kunden nie nach dem Namen, besonders nicht, wenn sie so sympathisch sind wie diese Frau.” - “Sie ist noch jung, nicht wahr?” - “Anscheinend.” - “Aber ist sie aus Judäa?” - “Wer kann das wissen; das Gold ist in allen Ländern gelb.” - “Laß mich das Armband sehen.” - “Willst du es kaufen?” - “Nein.” - “Dann nicht! Was meinst du? Ich gebe keine Auskünfte. Du könntest mich über sie ausfragen?” - “Ich wollte nur sehen, ob ich etwas über sie erfahren könnte aufgrund des Schmuckstückes.” - “So sehr beschäftigt sie dich? Bist du ein Hellseher, der raten kann, oder ein Spürhund, der den Geruch erkennt? Geh weiter, beruhige dich! Eine Frau wie sie ist entweder ehrenwert und unglücklich oder aussätzig. Deshalb... nichts zu machen!” - “Ich habe kein Verlangen nach Frauen”, antwortet Judas verächtlich. “Mag sein... doch deinem Gesicht traue ich wenig. Wenn du also sonst nichts willst, dann geh! Ich muß andere bedienen.”

Judas entfernt sich verärgert; er fragt einen Bäcker und einen Obsthändler, ob sie die Frau kennen, die eben zuvor bei ihnen Brot und Äpfel gekauft hat, und ob sie ihm sagen können, wo sie wohnt. Sie wissen es nicht. Sie antworten: “Sie kommt seit einiger Zeit jeden zweiten oder dritten Tag. Doch wer sie ist und wo sie wohnt, das wissen wir nicht.”- “Wie spricht sie denn?” - “Na, mit dem Munde!” Judas schimpft und geht von dannen, um direkt mit der Gruppe Jesu und den Jüngern zusammenzutreffen, die ihr Brot und das Nötige für den Tag einkaufen. Beide Seiten sind überrascht, aber nicht gerade begeistert. Jesus sagt nur: “Hier bist du?”, und während Judas etwas stammelt, lacht Petrus laut auf und sagt: “Nun ja, ich bin blind und ungläubig. Ich kann hier keine Weinstöcke sehen. Und an ein Wunder glaube ich nicht.” - “Aber was sagst du da?” fragen zwei oder drei Jünger. “Ich sage die Wahrheit. Hier sind keine Weinberge. Und ich kann nicht glauben, daß Judas in diesem Staub Weinlese halten kann, nur weil er ein Jünger des Meisters ist.” - “Die Weinlese ist schon zu Ende”, antwortet Judas trocken. “Und Kerijot liegt viele Meilen weit entfernt”, erwidert Petrus. “Du forderst mich immer heraus. Du bist mir feindlich gesinnt.” - “Nein. Ich bin nur nicht so dumm, wie du mich haben möchtest.” - “Genug jetzt!” gebietet Jesus. Er ist sehr ernst.

Er wendet sich an Judas: “Ich habe dich hier nicht erwartet . Ich hätte dich eher in Jerusalem am Laubhüttenfest vermutet.” - “Morgen will ich hingehen. Ich habe hier nur auf einen Freund der Familie gewartet, der...” - “Bitte, genug!” - “Du glaubst mir nicht, Meister? Ich schwöre es dir.” - “Ich habe dich nichts gefragt, und ich bitte dich, nichts zu sagen. Du bist hier, das genügt. Gedenkst du mit uns zu kommen, oder hast du noch etwas zu erledigen? Antworte ohne Umschweife!” - “Nein, ich habe alles erledigt. Nun, da der Erwartete nicht kommt, gehe ich zum Fest nach Jerusalem. Und wohin gehst du?” - “Nach Jerusalem!” - “Noch heute?”

Heute abend will ich in Bethanien sein .” - “Bei Lazarus?” - “Bei Lazarus.” - “Dann werde auch ich kommen.” - “Ja, du kommst mit, bis nach Bethanien. Von dort werden Andreas, Jakobus des Zebedäus und Thomas nach Getsemani gehen, um für uns alles vorzubereiten und auf uns zu warten, und du wirst mit ihnen gehen.” Jesus betont so stark, was er sagt, daß Judas es nicht wagt, etwas zu erwidern. “Und wir?” fragt Petrus. “Du wirst mit meinen Vettern und Matthäus dahin gehen, wohin ich euch sende, um am Abend wieder zurückzukommen. Johannes, Bartholomäus, Simon und Philippus bleiben bei mir : das heißt, sie gehen nach Bethanien und melden dort, daß der Meister ankommt und um die neunte Stunde zu ihnen sprechen wird.” Sie gehen eilends durch die abgeernteten Felder. Es ist Gewitterstimmung; nicht am Himmel, sondern in den Herzen. Alle spüren es und ziehen schweigend dahin.

Sie erreichen Bethanien, und da sie von Jericho kommen, stoßen sie schon am Ortseingang auf das Haus des Lazarus. Jesus entläßt eine Gruppe nach Jerusalem, eine andere schickt er nach Betlehem und sagt: “Geht beruhigt! Auf halbem Weg werdet ihr Isaak, Elija und die anderen treffen. Sagt ihnen, daß ich für längere Zeit in Jerusalem bleibe und sie dort erwarte, um sie zu segnen!”

Inzwischen hat Simon am Gittertor geklopft und Einlaß erhalten. Die Diener melden Lazarus die Ankunft Jesu, der sofort herbeikommt. Judas Iskariot, der sich schon einige Meter entfernt hatte, kommt zurück mit der Entschuldigung: “Meister, ich habe dir mißfallen. Ich habe nachgedacht. Verzeih mir!” er späht dabei durch das offene Tor in den Garten und zum Haus. “Es ist gut, geh nur! Geh, laß die anderen nicht warten.” Judas muß schließlich gehen. Petrus brummt: “Er hat sich eingebildet, du würdest deine Anweisungen ändern.” - “Das niemals, Petrus. Ich weiß, was ich tue. Doch du mußt diesen Mann bemitleiden...” - “Ich will es versuchen. Aber ich kann es nicht versprechen... Leb wohl, Meister! Komm, Matthäus, und auch ihr beiden! Laßt uns rasch gehen!” - “Mein Friede sei immer mit euch!” Jesus geht mit den vier übrigen Jüngern in den Hof, und nachdem er Lazarus geküßt hat, stellt er Johannes, Philippus und Bartholomäus vor , die er dann entläßt, um mit Lazarus allein zu sein. Sie gehen zum Haus.

Dieses Mal steht unter dem schönen Portal eine Frau. Es ist Martha . Sie ist nicht so hochgewachsen wie ihre Schwester, doch immer noch groß; außerdem ist sie braun, während die andere blond und rosig ist. Martha ist jedoch eine schöne, junge Frau mit einem wohlproportionierten, rundlichen Körper, einem dunklen Köpfchen mit gebräunter, glatter Stirn, zwei sanften, friedlichen und schwarzen Augen, die von langen dunklen Wimpern beschattet sind, einer leicht nach unten gebogenen Nase und einem sehr roten, kleinen Mund zwischen den gebräunten Wangen. Sie lächelt und zeigt dabei starke, strahlende Zähne. Sie trägt ein dunkel- blaues Kleid mit roten und grünen Borten am Hals und an den bis zu den Ellbogen reichenden Ärmeln, aus denen andere Ärmel, hervorschauen, die aus feinstem Leinen und an den Handgelenken mit einem Kordeldurchzug gerafft sind. Auch am Hals sieht man die feingefältelte Krause mit der Kordel. Als Gürtel dient eine blau-rot-grüne Schärpe aus feinstem Stoff, die um die Hüfte gelegt ist und auf der linken Seite mit Fransen herabhängt. Ein vornehmes, keusches Gewand.

Ich habe eine Schwester, Meister; es ist Martha . Sie ist gut und fromm. Sie ist der Trost und die Ehre der Familie und die Freude des armen Lazarus. Früher war sie meine erste und einzige Freude. Nun ist sie die zweite, weil nun du die erste Stelle eingenommen hast.” Martha verbeugt sich bis zur Erde und küßt den Saum des Gewandes Jesu. “Friede der guten Schwester und der keuschen Frau! Steh auf!” Martha steht auf und geht zusammen mit Jesus und Lazarus in das Haus. Dann bittet sie um die Erlaubnis, sich entfernen zu dürfen, um sich um das Haus zu kümmern. “Die ist mein Friede...” murmelt Lazarus und betrachtet Jesus. Ein forschender Blick. Doch Jesus tut so, als ob er es nicht bemerke.

Lazarus fragt: “ Und Jona?” - “Er ist tot. ” - “Tot? Dann...” - “Ich habe ihn sterbend übernommen. Er durfte frei und glücklich in meinem Haus in Nazareth zwischen mir und meiner Mutter sterben.” - “ Doras hat ihn also zu Tode gequält , bevor er ihn dir überlassen hat.” - “Durch Überanstrengung, ja... aber auch mit Schlägen!” - “Er ist ein Dämon und haßt dich. Er haßt die ganze Welt, diese Hyäne... Hat er es dir nicht selbst gesagt, daß er dich haßt?” - “Er hat es gesagt.”

“Mißtraue ihm, Jesus! Er ist zu allem fähig. Herr, was hat dir Doras gesagt? Hat er nicht gesagt, daß du mich meiden sollst? Hat er dir den armen Lazarus nicht in ein schlechtes Licht gerückt?” - “Ich glaube, daß du mich zur Genüge kennst, um zu verstehen, daß ich aus mir und mit Gerechtigkeit urteile. Wen ich liebe, den liebe ich ohne abzuwägen, ob die Liebe mir in den Augen der Welt nütze oder schade.” - “Aber dieser Mensch ist gefährlich und nur darauf bedacht zu verletzen und zu schaden. Mich hat er vor einigen Tagen auch gequält. Er ist zu mir gekommen und hat gesagt... Oh, ich habe doch schon so viel Leid! Warum will man auch dich mir entreißen?”

“Ich bin der Trost der Unglücklichen und der Freund der Verlassenen. Ich bin auch deshalb zu dir gekommen.” - “Ah... dann weißt du es also schon?... Oh, meine Schande!” - “Nein, warum deine Schande? Ich weiß... Sollte ich dich ächten, dich, der du leidest? Ich bin die Barmherzigkeit, der Friede, die Vergebung und die Liebe für alle. Und was werde ich für die Unschuldigen sein? Nicht du hast die Sünde begangen, deretwegen du leidest. Sollte ich dich anklagen, während ich auch für sie Mitleid empfinde?” - “Hast du sie gesehen?” - “Ich habe sie gesehen. Weine nicht!” Doch Lazarus läßt das Haupt auf die am Tisch aufgestützten Arme sinken und weint mit schmerzlichem Schluchzen. Martha kommt an die Türe und ist erstaunt. Jesus deutet ihr an, ruhig zu sein. Und Martha geht wieder hinaus mit großen Tränen in den Augen, die lautlos über die Wangen rollen.

Lazarus beruhigt sich langsam und entschuldigt sich wegen seiner Schwäche. Jesus tröstet ihn, und da der Freund wünscht, sich etwas zurückziehen zu dürfen, geht Jesus in den Garten und wandelt zwischen den Beeten auf und ab, dort, wo noch die eine oder andere Rose blüht. Martha erreicht ihn kurz danach.

“Meister, hat Lazarus gesprochen?” - “Ja, Martha!” - “Lazarus findet keine Ruhe mehr, seit er weiß, daß du es weißt und daß du sie gesehen hast.” - “Woher weiß er es?” - “Zuerst sagte es ihm der Mann, der mit dir war und erklärte, daß er dein Jünger sei; ein junger, hochgewachsener, dunkler, bartloser; dann Doras. Dieser hat ihn mit seiner Verachtung beleidigt. Der erstere hat nur gesagt, daß ihr sie auf dem See gesehen... mit ihren Liebhabern .”

“Aber weint deswegen nicht! Glaubt ihr, daß ich eure Wunde nicht kannte? Ich kannte sie schon, als ich noch beim Vater war. Laß dich nicht niederdrücken, Martha! Erhebe dein Herz und deine Stirne!”

“Bete für sie, Meister! Ich bete... doch ich kann ihr nicht ganz verzeihen, und so lehnt der Ewige vielleicht mein Gebet ab!” - “Das hast du gut gesagt. Man muß verzeihen, um Verzeihung zu erlangen und erhört zu werden. Ich bete auch für sie. Doch gib mir deine Vergebung und die des Lazarus! Du gute Schwester, du kannst sprechen und kannst noch mehr als ich erhalten. Seine Wunde ist zu offen und entzündet, als daß meine Hand sie so bald berühren dürfte. Du kannst es tun. Schenkt mir eure volle, heilige Vergebung, und ich werde das weitere tun...”

“Verzeihen?... Das können wir nicht. Unsere Mutter ist vor Schmerz über ihr übles Benehmen gestorben ... und damals war es noch wenig im Vergleich zu heute. Ich sehe immer noch die Qualen der Mutter; ich habe sie stets vor Augen. Und ich sehe, was Lazarus leidet.” - “ Sie ist krank, Martha. Eine Kranke, eine Irre! Verzeiht ihr!” - “Sie ist besessen, Meister!”

“Was ist die satanische Besessenheit anderes als eine Krankheit der Seele, die, von Satan angesteckt , in einen teuflischen Geist ausartet. Wie könnte man sonst gewisse Entartungen in den Menschen verstehen? Entartungen, die den Menschen schlimmer als ein wildes Tier werden lassen, schamloser als ein Affe und so weiter und in einem Bastardzustand enden, bei dem Mensch, Tier und Satan vermengt sind. Das ist die Erklärung für das, was uns bei vielen Geschöpfen als eine unbegreifliche Ungeheuerlichkeit verblüfft. Weine nicht. Verzeih! Ich sehe! Denn ich habe eine Schau, die über das Sehen der Augen und des Herzens hinausgeht. Ich habe die Schau Gottes. Ich sehe! Ich sage dir, verzeihe, denn sie ist krank.” - “Wirst du sie heilen?”

“Ich werde sie heilen. Habe Vertrauen! Ich werde dich glücklich machen; doch du mußt verzeihen und Lazarus sagen, daß auch er es muß . Verzeihe ihr! Liebe sie aufs neue! Versuche, dich ihr zu nähern. Sprich mit ihr, wie wenn sie wie du wäre. Sprich mit ihr von mir!” - “Wie soll sie dich, den Heiligen, verstehen?” - “Es wird so scheinen, daß sie nicht versteht. Aber schon allein mein Name ist Rettung. Mache, daß sie an mich denkt und mich beim Namen nennt! Oh, Satan flieht, wenn mein Name in einem Herzen gedacht wird. Lächle, Martha, in dieser Hoffnung. Schau diese Rose an! Der Regen der letzten Tage hatte sie entkräftet, doch die heutige Sonne hat sie neu geöffnet. Und sie ist nun noch viel schöner, denn Regentropfen sind zwischen den Blütenblättern geblieben und haben sie mit Edelsteinen besetzt. So wird es mit eurem Haus sein: heute noch Tränen und Schmerz, aber dann... Freude und Herrlichkeit! Geh! Sprich davon mit Lazarus, während ich im Frieden deines Gartens zum Vater bete für Maria und für euch...”
Alles endet damit.

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Bei Lazarus
- Einladung von Josef aus Arimathäa
- 152

Jesus ist wiederum bei Lazarus . Aus dem, was ich hören kann, schließe ich, daß die Feste schon vorüber sind und daß Jesus auf das Drängen des Freundes, der nie von Jesus getrennt sein möchte, zurückgekehrt ist. Ich verstehe, daß Jesus nur mit Simon und Johannes bei Lazarus ist, während die anderen in der ganzen Umgebung verstreut sind. Endlich begreife ich noch, daß eine Zusammenkunft stattgefunden hat von Freunden, die Lazarus treu geblieben sind und die er eingeladen hat, um sie mit Jesus zusammenzuführen. Alles dies verstehe ich, weil Lazarus noch besser den Charakter eines jeden beleuchtet.

Er spricht von Josef von Arimathäa und bezeichnet ihn als einen gerechten Mann, einen wahren Israeliten. Er sagt: “Er wagt nicht zu sprechen, weil er das Synedrium fürchtet, dem er angehört, und das dich schon haßt. Doch er erhofft in dir den von den Propheten Verheißenen. Von sich aus hat er mich gebeten, kommen zu dürfen, um dich kennenlernen und selbst beurteilen zu können, da ihm unrichtig erscheint, was deine Feinde von dir sagten. Sogar aus Galiläa sind Pharisäer gekommen, um dich der Sünde zu beschuldigen. Doch Josef hat so über dich geurteilt: „Wer Wunder wirken kann, der hat Gott. Wer Gott hat, kann nicht in der Sünde leben, sondern nur jemand sein, den Gott liebt.“

Er möchte dich in seinem Haus haben. Er hat mich gebeten, es dir zu sagen. Und ich möchte dich bitten: erhöre seine und meine Bitte!” - “Ich bin mehr für die Armen gekommen und für die seelisch und körperlich Leidenden als für die Mächtigen, die in mir nur einen Gegenstand für eigene Interessen sehen. Aber ich werde zu Josef gehen. Ich bin nicht voreingenommen den Mächtigen gegenüber. Einer meiner Jünger (der aus Neugierde und Wichtigtuerei ohne meinen Auftrag zu dir gegangen ist - er ist noch jung und bedarf der Nachsicht) kann meine Achtung mächtigen Kasten gegenüber bezeugen, die sich selbst als „die Beschützer des Gesetzes“ bezeichnen und zu verstehen geben, daß sie „Stützen“ des Allerhöchsten sind. Oh! Der Ewige braucht keine Stützen! Keiner der Schriftgelehrten hatte je soviel Achtung vor den Priestern des Tempels wie ich.”

“Ich weiß es, und noch viele andere wissen es... Doch nur die Besten geben dieser Tatsache den rechten Namen. Die anderen sagen: Scheinheiligkeit.” - “Jeder kann nur geben, was er in sich hat, Lazarus.” - “Das ist wahr. Doch gehe zu Josef! Er möchte dich am nächsten Sabbat begrüßen.” - “Ich werde hingehen. Du kannst es ihn wissen lassen.”

Auch Nikodemus ist gut . Er aber... hat zu mir gesagt... Darf ich dir eine Kritik über einen deiner Jünger vortragen?” - “Sage sie! Wenn sie gerecht ist, hat er recht; wenn sie ungerecht ist, dann kritisiert er eine Konversion; denn der Geist gibt dem Geist des Menschen Licht, wenn es ein guter Mensch ist, und der Geist des Menschen, der vom Geiste Gottes geleitet wird, hat übermenschliche Weisheit und liest die Wahrheit in den Herzen.” - “Er hat zu mir gesagt: „Ich kritisiere nicht, daß sich unter den Jüngern Jesu Unwissende und ein Zöllner befinden. Doch einen halte ich nicht für würdig , zu den Seinen zu gehören, da er selbst nicht weiß, ob er für oder gegen ihn ist, und einem Chamäleon gleicht , das die Farbe und das Aussehen dessen annimmt, der gerade in seiner Nähe ist.” - “ Es ist Iskariot . Ich weiß es! Doch glaubt es alle: Jugend ist Wein, der gärt und sich dann klärt. Während der Gärung schwillt und schäumt er nach allen Seiten, aus Überschuß an Kraft. Der Frühjahrswind biegt die Zweige nach allen Richtungen und zerzaust die Blätter wie ein Narr. Doch müssen wir ihm dankbar sein, denn dadurch werden die Blüten befruchtet. Judas ist Wein und Wind. Doch bösartig ist er nicht. Seine Art verwirrt und stört, stößt sogar ab und verletzt . Doch ist er nicht von Grund auf schlecht... Er ist ein Füllen mit feurigem Blute.”

“Du sagst es; ich bin nicht in der Lage, es zu beurteilen. Von ihm ist mir eine bittere Erinnerung geblieben, weil er mir gesagt hat, daß du sie gesehen hast.”

“Doch diese Bitterkeit wird nun gemildert zu Honig durch mein Versprechen.” - “Ja. Doch ich erinnere mich an jenen Augenblick. Den Schmerz vergißt man nicht, auch wenn er aufgehört hat.” - “Lazarus, Lazarus, du betrübst dich wegen zu vieler Dinge... und so nichtiger! Laß die Tage vergehen. Es sind nur Luftblasen, die dahinschwinden und nicht mehr zurückkommen mit ihren lustigen oder traurigen Farben. Blicke zum Himmel auf! Er enttäuscht nicht. Er ist den Gerechten vorbehalten.”

- “Ja, Meister und Freund. Ich will nicht darüber urteilen, daß Judas mit dir ist, und du ihn bei dir behältst. Ich kann nur beten, daß er dir nicht schadet.” Jesus lächelt, und alles ist zu Ende.

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Jesus begegnet Gamaliël
bei Josef von Arimathäa
- 153

Arimathäa liegt in einer gebirgigen Gegend. Ich weiß nicht warum, aber ich hatte es in einer Ebene vermutet. Es liegt jedoch in den Bergen; obgleich diese schon zur Ebene abfallen, die an bestimmten Straßenwindungen im Westen sehr fruchtbar ist. An diesem Novembermorgen liegt sie unter einem niedrigen Nebelschleier, der den Anschein einer endlosen Wasserfläche erweckt. Jesus hat Simon und Thomas bei sich. Andere Apostel sehe ich nicht. Ich habe das Gefühl, daß er sehr weise abwägt, wen er zu gewissen Menschen und an bestimmte Orte mitnehmen kann, ohne den Gastgeber zu beunruhigen. Diese Judäer müssen noch empfindlicher sein als romantische Dämchen ...

Ich höre, daß sie über Josef von Arimathäa sprechen, und Thomas, der ihn anscheinend sehr gut kennt, beschreibt die weiten und schönen Besitztümer, die sich über den Berg ausdehnen, besonders in Richtung Jerusalem, längs der Straße, die von der Hauptstadt nach Arimathäa und von da nach Joppe führt. Thomas lobt auch die Felder, die in der Ebene längs der Straße liegen und ebenfalls Eigentum Josefs von Arimathäa sind.

“Wenigstens werden hier die Menschen nicht wie Tiere behandelt. Oh, dieser Doras!” sagt Simon. Tatsächlich sind die Landarbeiter hier wohlgenährt und ordentlich gekleidet, und sie sehen auch zufrieden aus. Sie grüßen respektvoll, denn sie wissen bestimmt schon, wer der große, schöne Mann ist, der durch die Felder von Arimathäa zum Haus ihres Herrn geht; und sie beobachten ihn unter gegenseitigem Flüstern. Als bereits das Haus Josefs in Sicht ist, erscheint ein Diener, der nach einer tiefen Verbeugung fragt: “Bist du der erwartete Rabbi?” - “Ich bin es”, antwortet Jesus. Der Mann grüßt ergebenst und eilt fort, seinen Herrn zu benachrichtigen. Das Haus ist von einer immergrünen Hecke umzäunt, die hier die hohe Mauer des Hauses von Lazarus ersetzt und die Gebäude gegen die Straße hin isoliert, ohne jedoch anderes zu sein als die Fortsetzung des baumreichen Gartens.

Josef von Arimathäa kommt in seinem weiten Gewand, das mit Fransen besetzt ist, Jesus entgegen und verneigt sich tief vor ihm mit auf der Brust gekreuzten Armen. Es ist nicht der demütige Gruß eines Menschen, der in Jesus den fleisch- gewordenen Gott erkennt und sich bis zur Kniebeuge verdemütigt, um kniend den Fuß oder den Saum des Gewandes zu küssen; doch es ist immer noch eine sehr respektvolle Begrüßung. Auch Jesus verneigt sich ebenso und gibt dann seinen Friedensgruß. “Komm herein, Meister! Du machst mich glücklich mit der Annahme meiner Einladung. Ich habe nicht so viel Entgegenkommen zu erhoffen gewagt.” - “Warum? Ich gehe doch auch zu Lazarus und...” - “Lazarus ist dein Freund; ich bin dir unbekannt.” - “Du bist eine wahrheitssuchende Seele. Daher wirst du von der Wahrheit nicht zurückgewiesen.” - “Bist du die Wahrheit?”

Ich bin der Weg, das Leben und die Wahrheit . Wer mich liebt und mir nachfolgt, wird in sich den sicheren Weg und das selige Leben haben, und er wird Gott erkennen dürfen, denn Gott ist außer der Liebe und der Gerechtigkeit auch die Wahrheit.”

“Du bist ein großer Gelehrter. Aus jedem deiner Worte strömt Weisheit.” Dann wendet er sich an Simon : “Es freut mich, daß du nach einer so langen Abwesenheit in mein Haus zurückkehrst.” - “Nicht aus eigenem Willen bin ich dir ferngeblieben. Du weißt, welches Schicksal ich zu tragen hatte und wieviel Tränen es im Leben des kleinen Simon gab, der von deinem Vater sehr geliebt wurde.” - “Ich weiß es, und ich nehme an, daß dir bekannt ist, daß von meiner Seite kein Wort zu deiner Ungunst kam.” - “Ich weiß alles. Mein treuer Diener hat mir gesagt, daß ich es dir zu verdanken habe, wenn meine Habe geachtet wurde. Gott möge es dir vergelten!” - “Ich hatte einen Posten im Synedrium und habe dies ausgenützt, damit einem Freund meines Hauses Gerechtigkeit geschehe.” - “Viele waren Freunde meines Hauses, und viele waren einflußreich im Synedrium, aber nicht so gerecht wie du.”

“Wer ist dieser Mann? Er scheint mir nicht fremd, doch weiß ich nicht, wo...” - “ Ich bin Thomas , genannt Didymus!” - “Ach! Schau da! Lebt der alte Vater noch?” - “Er lebt. Er hat noch seinen Handel, und meine Brüder sind bei ihm. Ich habe ihn verlassen, um dem Meister zu folgen; doch mein Vater ist glücklich darüber.” - “Er ist ein wahrer Israelit, und da er glaubt, daß Jesus von Nazareth der Messias ist, kann er nur glücklich darüber sein, daß sein Sohn zu den Erwählten gehört.”

Sie sind nun bereits im Hausgarten angelangt. “ Ich habe Lazarus hier behalten . Er sitzt in der Bibliothek und liest einen Bericht über die letzten Sitzungen des Synedriums. Er wollte nicht bleiben, weil... Ich weiß, daß es dir bekannt ist... Daher wollte er nicht bleiben. Doch ich habe gesagt: „Nein, es ist nicht recht, daß du dich schämst. In meinem Haus beleidigt dich niemand. Bleibe! Wer sich zurückzieht, ist allein gegen die ganze Welt. Und da die Welt mehr böse als gut ist, wird der Einzelgänger niedergeworfen und zertreten . Habe ich nicht recht?” - “Gut hast du gesprochen und recht hast du getan,” antwortet Jesus.

“Meister, heute werden Nikodemus und Gamaliël hier sein. Hast du etwas dagegen?” - “Warum sollte es mir nicht gefallen? Ich kenne seine Weisheit.” - “Ja, er wollte dich sehen und dennoch auf seiner Ansicht beharren. Du weißt schon... Ideen! Er sagt, er habe den Messias schon gesehen; er wartet nur noch auf das Zeichen, das er ihm für sein Auftreten versprochen hat. Aber er sagt auch, du seist „ein Mann Gottes“ . Er sagt nicht „der Mann“, er sagt „ein Mann“... Rabbinische Spitzfindigkeiten, nicht wahr? Du bist deswegen nicht beleidigt?”

Jesus antwortet: “Spitzfindigkeiten! Gut hast du es gesagt. Man muß ihn seinen Weg gehen lassen. Die Besten gehen ihn allein und legen selbst alle unnützen Wildlinge ab, die nur ins Kraut schießen und keine Früchte tragen; sie kommen dann zu mir.” - “Ich wollte dir seine Worte sagen, denn ganz bestimmt wiederholt er sie auch dir. Er ist sehr aufrichtig”, bemerkt Josef. “Eine seltene Tugend, die ich sehr zu schätzen weiß”, antwortet Jesus. “Ja. Ich habe ihm auch gesagt: „Aber mit dem Meister ist auch Lazarus von Bethanien.“ Ich mußte dies sagen, weil... nun ja... wegen seiner Schwester. Doch Gamaliël hat geantwortet: „Ist sie denn anwesend? Nein? Na also. Der Schlamm fällt vom Kleid, wenn es nicht mehr im Schlamm ist. Und dann meine ich, wenn in sein Haus ein Mann Gottes geht, kann ich, ein Gesetzesgelehrter, mich ihm doch nähern.” - “Gamaliël urteilt gut. Pharisäer und Gelehrter bis ins Mark, doch auch redlich und gerecht.”

“Es freut mich, dies von dir zu hören. Meister, hier ist Lazarus.” Lazarus beugt sich nieder, um das Gewand Jesu zu küssen . Er ist glücklich, bei ihm zu sein; aber man erkennt auch seine offensichtliche Erregung wegen der zu erwartenden Miteingeladenen. Ich bin sicher, daß der arme Lazarus außer den Leiden, die den Menschen durch die Überlieferung der Geschichte bekannt sind, noch ein Leiden hatte, das von vielen nicht erkannt und bedacht wird: das seelische Leiden des schrecklichen Stachels beim Gedanken: “Was werden sie von mir sagen? Was werden sie von mir denken? Wie werden sie mich einschätzen? Werden sie mich mit Worten oder Blicken der Verachtung treffen?”

Der Stachel, unter dem alle leiden, in deren Familie ein Makel ist! Inzwischen sind sie in den prächtigen Saal getreten, in dem die Tische bereit stehen, und sie warten nur noch auf Gamaliël und Nikodemus, denn die anderen vier Gäste sind schon angekommen. Ich höre, wie sie mit ihren Namen vorgestellt werden: Felix, Simon, Johannes und Kornelius. Es kommt viel Bewegung unter die Diener, als Nikodemus und Gamaliël eintreten; der immer beeindruckende Gamaliël in seinem schneeweißen Gewand, das er mit der Würde eines Königs trägt. Josef beeilt sich, ihm entgegenzugehen; die gegenseitige Begrüßung ist sehr feierlich . Auch Jesus hat sich verneigt und wird vom großen Rabbi mit den Worten begrüßt: “Der Herr sei mit dir!” worauf er antwortet: “Und sein Friede sei stets dein Begleiter!” Auch Lazarus verneigt sich, und ebenso die anderen.

Gamaliël nimmt in der Mitte der Tafel zwischen Jesus und Josef Platz. Neben Jesus ist Lazarus, neben Josef von Arimathäa Nikodemus. Nach den rituellen Gebeten, die Gamaliël nach einem typisch orientalischen Höflichkeitsaustausch zwischen den drei Hauptpersonen, Jesus, Gamaliël und Josef, gesprochen hat, beginnt das Mahl. Gamaliël ist sehr würdevoll, aber nicht hochmütig . Er hört mehr zu, als daß er selbst spricht. Aber man sieht, daß er über jedes Wort, das Jesus sagt, nachdenkt; und oft betrachtet er ihn mit seinen dunklen, ernsten Augen. Wenn Jesus schweigt, weil ein Thema erschöpft ist, belebt er mit einer geeigneten Frage wieder die Unterhaltung. Lazarus ist zunächst etwas verwirrt. Doch dann faßt er Mut und spricht ebenfalls. Direkte Fragen über die Persönlichkeit Jesu werden bis zum Ende der Mahlzeit nicht gestellt. Dann jedoch entsteht zwischen dem Mann, der Felix genannt wird, und Lazarus, dem sich dann Nikodemus und schließlich Johannes anschließen, ein Gespräch über den Beweis zugunsten oder gegen einen Wunder-Wirkenden. Jesus schweigt. Er lächelt manchmal geheimnisvoll, aber er schweigt. Auch Gamaliël schweigt. Mit einem Ellbogen aufs Polster gestützt, betrachtet er Jesus eingehend. Es scheint, als wolle er übernatürliche Worte entziffern, die in die bleiche, glatte Haut des mageren Antlitzes Jesu eingegraben sind. Es sieht so aus, als wolle er jede Faser analysieren.

Felix besteht darauf, daß die Heiligkeit des Täufers unantastbar ist, und aus dieser unbestrittenen und unbestreitbaren Heiligkeit zieht er eine für Jesus, den Urheber zahlreicher bekannter Wunder, keine günstige Folgerung. Er sagt: “Die Wunder sind kein Beweis der Heiligkeit; denn im Leben des Täufers fehlen sie. Niemand in Israel führt ein Leben wie er. Er nimmt an keinem Festmahl teil, hat keine Freundschaft und keinerlei Bequemlichkeit. Er hat nur Leiden und Gefangen- schaft zur Ehre des Gesetzes. Er hat nur Einsamkeit; denn obgleich er Jünger hat, lebt er nicht mit ihnen und findet in allen, auch in den besten, Fehler, und er tadelt alle. Während... ja, während der anwesende Meister von Nazareth zwar Wunder gewirkt hat, doch, wie ich feststellen muß, auch liebt, was das Leben bietet. Er hält Freundschaften nicht unter seiner Würde. Verzeihe, wenn einer der Alten des Synedriums es dir sagt. Doch ist es allzu leicht, bekannten und mit dem Fluch belegten Sündern im Namen Gottes Vergebung und Liebe zu gewähren. Du solltest das nicht tun, Jesus!” Jesus lächelt und schweigt.

Lazarus antwortet an seiner Statt: “Unser mächtiger Herr ist frei, seine Diener wie und wohin er will zu leiten. Moses hat er die Macht gegeben, Wunder zu wirken; Aaron, seinem ersten Hohenpriester, nicht. Und nun? Was schließt du daraus? Ist der eine heiliger als der andere?” - “Ganz bestimmt”, antwortet Felix. “Dann ist Jesus der heiligste, denn er wirkt Wunder.” Felix ist verwirrt. Aber er hält an einem Punkt fest: “Aaron hatte schon das höchste Priesteramt erhalten. Das genügte vollkommen.” - “Nein, Freund”, antwortet Nikodemus.

“Das Hohepriesteramt war ein Auftrag; ja, eine heilige Mission, doch nicht mehr als eine Mission. Nicht alle Hohenpriester Israels waren Heilige . Und doch waren sie Hohepriester, auch wenn sie keine Heiligen waren.” - “Du willst doch nicht sagen, daß der Hohepriester ein Mensch ohne Gnade ist?” ruft Felix aus. “Felix, wir wollen nicht mit brennendem Feuer spielen. Ich, du, Gamaliël, Josef, Nikodemus, alle wissen wir viele Dinge...” sagt der mit dem Namen Johannes. “Aber wie, aber wie? Gamaliël, sprich du...” Felix ist verärgert. “Wenn er gerecht ist, wird er die Wahrheit sagen, die du nicht hören willst”, sagen die drei, die gegen Felix aufgebracht sind. Josef versucht, Frieden zu stiften. Jesus, wie auch Simon der Zelote und der andere Simon, der Freund Josefs, schweigen. Gamaliël scheint mit den Fransen seines Gewandes zu spielen und blickt von unten her auf Jesus.

“So sprich doch, Gamaliël!” ruft Felix. “Ja, sprich!”, wiederholen die drei. “Ich sage: die Schwächen der Familie müssen verborgen bleiben ”, sagt Gamaliël. “Das ist keine Antwort!” schreit Felix. “Es scheint, als wolltest du damit bekennen, daß im Haus des Hohenpriesters Sünden begangen werden!” - “Der Mund der Wahrheit”, sagen die drei. Gamaliël richtet sich auf und wendet sich Jesus zu: “Hier ist der Meister, der den Gelehrtesten nicht nachsteht. Er soll reden!”

“Du willst es! Ich gehorche. Ich sage: der Mensch ist Mensch. Die Sendung überragt den Menschen. Doch der Mensch, der mit einer Sendung betraut wurde, wird fähig, sie als Übermensch zu meistern, wenn er dank eines heiligen Lebens Gott zum Freunde hat. Er hat gesagt: „Du bist Priester nach der von mir gegebenen Ordnung.“ Was steht auf dem Brustschild geschrieben? „Lehre und Wahrheit.“ Dies müßten die Hohenpriester besitzen. Zur Lehre kommt man durch ausdauernde Betrachtung, die darauf abzielt, den Allerweisesten zu verstehen. Zur Wahrheit kommt man durch die absolute Treue zum Guten. Wer mit dem Bösen spielt, fällt in die Lüge und verliert die Wahrheit.” - “Gut, du hast als großer Lehrer geantwortet. Ich, Gamaliël, sage es dir. Du übertriffst mich .” - “Dann soll er auch erklären, warum Aaron keine Wunder wirkte, dagegen Mose”, drängt Felix. Jesus antwortet sofort: “Weil Moses sich über die Menge der Israeliten, die blind und schwer von Begriff und auch widerspenstig waren, durchsetzen und erreichen mußte, Einfluß auf sie zu gewinnen und sie nach dem Willen Gottes zu beugen. Der Mensch ist der ewig Widerspenstige, das ewige Kind. Er wird nur von dem ergriffen, was aus der Regel fällt. Das Wunder ist so. Es ist ein Licht, das man vor den verdunkelten Pupillen bewegt, und ein lauter Ton an den tauben Ohren, aufweckend und aufmunternd. Er verkündet: „Hier ist Gott.”

“Du sagst dies zu deinem eigenen Vorteil”, entgegnet Felix. “Zu meinem Vorteil? Was füge ich mir hinzu, wenn ich Wunder wirke? Kann ich größer erscheinen, wenn ich einen Grashalm unter die Füße lege? So verhält sich das Wunder zur Heiligkeit. Es gibt Heilige, die nie Wunder gewirkt haben. Es gibt Magier und Geisterbeschwörer, die mit dunklen Kräften Wunder wirken, also übermensch- liche Dinge tun, die aber nicht heilig sind... denn Dämonen sind mit ihnen am Werk . Ich werde immer ich selbst sein, auch wenn ich keine Wunder mehr wirke.” - “ Sehr gut! Du bist groß, Jesus!” bestätigt Gamaliël .

“Und wer ist nach deiner Ansicht dieser „Große“?” fragt Felix, sich an Gamaliël wendend. “Der größte Prophet, den ich kenne, sowohl in seinen Werken, als auch in seinen Worten”, antwortet dieser. “ Er ist der Messias, ich sage es dir, Gamaliël. Glaube an ihn, du Weiser und Gerechter!” sagt Josef. “Wie? Auch du, Führer der Judäer, du vom Hohen Rat, unser Ruhm, verfällst der Vergötterung eines Menschen? Was beweist dir, daß er der Christus ist? Ich werde es nicht glauben, selbst wenn ich ihn Wunder wirken sähe. Warum tut er keines vor uns? Sag es ihm, der du ihn lobst; sage es ihm, der du ihn verteidigst”, sagt Felix zu Gamaliël und Josef. “Nein, ich habe ihn nicht eingeladen als Spielball der Freunde, und ich möchte dich daran erinnern, daß er mein Gast ist”, antwortet Josef ernst.

Felix steht auf und geht verärgert und unhöflich fort. Es herrscht Schweigen. Jesus wendet sich an Gamaliël: “Und du, verlangst du keine Wunder, um zu glauben?” - “Es sind nicht die Wunder eines Mannes Gottes, die mir den Stachel der drei Fragen aus dem Herzen reißen, die immer noch ohne Antwort sind.” - “Welche Fragen? ” - “Lebt der Messias? War es jener? Ist es dieser? ” - “Er ist es, sage ich dir, Gamaliël!” ruft Josef. “Spürst du nicht, daß er heilig, verschieden, mächtig ist? Ja? Was erwartest du noch, um zu glauben?” Gamaliël gibt Josef keine Antwort.

Er wendet sich an Jesus: “Zum ersten, laß dich nicht verdrießen, o Jesus, wenn ich in meinen Ansichten verharre . Einmal, als noch der große und weise Hillel lebte, glaubte ich, und er mit mir, der Messias sei in Israel. Welch ein großes Aufblitzen der göttlichen Sonne an jenem kalten späten Wintertag! Es war an Ostern ... Die Leute bangten um die Ernten, die der Frost getroffen hatte. Ich sagte, nachdem ich die Worte gehört hatte: „Israel ist gerettet! Von heute an doppelten Ertrag auf den Feldern und Segen in den Herzen! Der Ersehnte hat sich zum erstenmal in seinem Glanz gezeigt!“ Ich hatte mich nicht geirrt. Alle konnten feststellen, welcher Art die Ernte war im verlängerten Jahr von dreizehn Monaten, das sich jetzt wiederholt...” (Das hebräische Jahr zählte zwölf Monate von 29 oder 30 Tagen mit einem zusätzlichen Monat alle zwei oder drei Jahre.) “Welche Worte hast du gehört? Wer sagte sie?”

Ein Knabe... etwas älter als ein Kind... auf dessen unschuldig sanftem Gesicht sich Gott widerspiegelte ! Es war vor neunzehn Jahren, wenn ich mich recht erinnere... und ich suche, diese Stimme wieder zu hören... die Worte der Weisheit sprach... In welchem Teil der Erde lebt er ? Ich meine... er war Gott. In Gestalt eines Knaben , um die Menschen nicht zu erschrecken. Und wie ein Blitz, der am Himmel aufleuchtet und das Firmament von Osten nach Westen und von Norden nach Süden durchzuckt. Er, der Göttliche, zieht in seinem Gewand barmherziger Schönheit, mit der Stimme und dem Antlitz eines Knaben und mit göttlichen Gedanken über die Erde, um den Menschen zu sagen: „Ich bin es!“ Ich frage mich: wann wird er wohl wieder in Israel sein?... Wann? Und ich sage mir: dann, wenn Israel der Altar für den Fuß Gottes sein wird. Und mein Herz seufzt, wenn es die Niederträchtigkeit Israels sieht: „Niemals!“ Oh!... harte Antwort! Aber wahr. Kann die Heiligkeit in ihrem Messias herniedersteigen, solange in uns der Greuel herrscht?

“Sie kann und tut es; denn sie ist Barmherzigkeit”, antwortet Jesus. Gamaliël schaut Jesus nachdenklich an und fragt: “ Wie lautet dein wahrer Name? ” Jesus erhebt sich würdevoll und sagt: “ Ich bin, der ich bin. Der Gedanke und das Wort des Vaters. Ich bin der Messias des Herrn !” - “Du?... Ich kann es nicht glauben. Deine Heiligkeit ist groß . Doch der Knabe, an den ich glaube, hat damals gesagt: „ Ich werde ein Zeichen geben: die Steine werden beben, wenn meine Stunde gekommen ist !“ Ich erwarte dieses Zeichen, um zu glauben. Kannst du es mir geben, um mich zu überzeugen, daß du der Erwartete bist?”

Die beiden, die sich nun feierlich und hochgewachsen gegenüberstehen, der eine im weiten fallenden Leinenkleide, der andere im einfachen dunkelroten Gewand; der eine alt, der andere jung, betrachten sich fest, beide mit gebieterischem und tiefem Blick. Dann läßt Jesus den rechten Arm sinken, den er an die Brust gehalten hatte, und ruft aus, als wolle er schwören: “ Dieses Zeichen willst du? Du wirst es haben. Ich wiederhole die Worte von einst: „Die Steine des Tempels des Herrn werden erzittern bei meinen letzten Worten .“ Erwarte dieses Zeichen, du Gelehrter Israels, du gerechter Mann, und dann glaube, wenn du Vergebung und Rettung finden willst! Selig schon jetzt, wenn du vorher schon glauben könntest! Doch du kannst es nicht. Jahrhunderte von falschen Erwartungen nach einer richtigen Verheißung und angehäufter Stolz machen dich blind für die Wahrheit und den Glauben.” - “Du sagst es gut. Ich werde auf das Zeichen warten. Leb wohl ! Der Herr sei mit dir!” - “Leb wohl, Gamaliël! Der Geist des Ewigen möge dich erleuchten und führen!”

Alle grüßen Gamaliël, der mit Nikodemus, Johannes und Simon (dem Synedristen) geht. Jesus, Josef, Lazarus, Thomas, Simon der Zelote und Kornelius bleiben zurück. “Er kann sich nicht beugen. Ich möchte ihn unter deinen Jüngern haben. Ein entscheidendes Gewicht zu deinen Gunsten... aber es gelingt mir nicht”, sagt Josef von Arimathäa. “Sei nicht traurig deswegen! Keinem Gewicht wird es gelingen, mich vor dem Sturm zu bewahren, der sich schon vorbereitet. Aber Gamaliël... wenn er sich nicht beugt und für Christus ausspricht, wird er sich ebenso nicht gegen Christus stellen. Er ist einer, der wartet...” Alles ist zu Ende.

Unter 155
Weißt du, Lazarus ist sehr reich und mächtig. Große Teile dieser Stadt gehören ihm und auch viele Ländereien in Palästina . Der Vater hatte zu seinem Besitz und dem der Eucheria, die aus deinem Stamm und deiner Familie herkommt, noch die Belohnung der Römer für ihren treuen Diener hinzugefügt und so seinen Söhnen eine bedeutende Erbschaft hinterlassen. Doch hat er, was noch mehr zählt, eine geheime, aber starke Freundschaft mit Rom. Ohne diese... was hätte sein Haus vor der Schande schützen können nach dem anstößigen Benehmen Marias, nach ihrer Scheidung, die sie nur erhielt, weil „sie“ es war? Zügellos hat sie gelebt in dieser Stadt, in der sein Grundbesitz sich befindet, und in Tiberias mit dem vornehmen Bordell; Rom und Athen haben dort ein Zentrum der Prostitution errichtet, auch für viele des auserwählten Volkes.

Wahrlich, wenn Theophilus der Syrer ein überzeugter Proselyt gewesen wäre, dann hätte er seinen Kindern nicht diese hellenisierende Erziehung gegeben, die soviel Tugend tötet und soviel Laster sät; eine Erziehung, die zwar von Lazarus und besonders von Martha getrunken und ohne Folgen wieder ausgeschieden wurde, die jedoch die unbändige Maria angesteckt und verdorben und aus ihr den Abscheu der Familie und Palästinas gemacht hat. Nein, ohne den mächtigen Schatten der Gunst von Rom wären sie mehr als die Aussätzigen mit Acht belegt worden. Nütze also die Freundschaft mit Lazarus.”

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Jesus bei Lazarus - 156

Jesus steigt den Bergpfad hinan, der zu der Hochebene führt, auf welcher Bethanien erbaut worden ist. Er schlägt diesmal nicht die Hauptstraße ein, sondern diesen steiler ansteigenden Weg, der von Nordwest nach Osten führt und sehr wenig begangen ist, eben weil er so steil ist. Nur die eiligen Reisenden benützen ihn, solche, die Herden haben und sie nicht dem Verkehr der Hauptstraße aussetzen wollen, und solche, die, wie Jesus heute, nicht von zu vielen gesehen werden möchten. Jesus geht voraus und spricht mit dem Zeloten. Dahinter bilden die Vettern mit Johannes und Andreas eine Gruppe, eine weitere Gruppe besteht aus Jakobus des Zebedäus, Matthäus, Johannes und Philippus, und schließlich kommen Bartholomäus, Petrus und Iskariot. Doch als die Hochebene erreicht ist, auf der Bethanien an diesem schönen Novembertag in der Sonne liegt und von wo aus man im Osten den Jordan und die Straße sieht, die nach Jericho führt, gibt Jesus Johannes Anweisung, Lazarus von seinem Kommen zu unterrichten.

Während Johannes davoneilt, geht Jesus mit den Seinen langsam weiter. Er wird immer wieder von Bewohnern der Ortschaft gegrüßt. Die erste, die aus dem Haus des Lazarus kommt, ist eine Frau, die sich bis auf die Erde verneigt und sagt: “Glücklich dieser Tag für das Haus meiner Herrin! Komm, Meister , hier ist Maximinus und am Tor auch schon Lazarus !” Auch Maximinus kommt eilends herbei. Ich weiß nicht genau, wer er ist. Ich habe den Eindruck, er sei ein wenig begüterter Verwandter, der von den Kindern des Theophilus aufgenommen worden ist, oder aber ein Verwalter ihrer großen Besitztümer, der jedoch wie ein Freund behandelt wird aufgrund seines jahrelangen Dienstes für die Familie. Vielleicht ist es auch der Sohn eines Verwalters des Vaters, der dann an dessen Stelle bei den Kindern des Theophilus im Dienst geblieben ist. Er ist etwas älter als Lazarus, ungefähr fünfunddreißig Jahre alt oder etwas darüber.

“Wir haben nicht gehofft, dich sobald wiederzusehen”, sagt er. “Ich bitte um Herberge für eine Nacht.” - “Wäre es für immer, so würdest du uns glücklich machen.” Nun sind sie an der Schwelle, und Lazarus küßt und umarmt Jesus und begrüßt die Jünger. Dann legt er einen Arm um die Hüfte Jesu, betritt mit ihm den Garten, sondert sich von den anderen ab und fragt sofort: “Wem verdanke ich die Freude, dich hier zu haben?” - “Dem Haß der Synedristen.” - “Haben sie dir wieder Böses angetan?” - “Nein! Aber sie wollen es tun. Die Stunde ist noch nicht gekommen. Solange ich nicht ganz Palästina gepflügt und den Samen ausgestreut habe, darf ich nicht niedergeschlagen werden.” - “Du mußt auch deine Ernte einbringen, guter Meister. Das ist nur recht und billig!” - “Meine Ernte werden meine Freunde einbringen. Sie werden die Sense anlegen, dort wo ich gesät habe. Lazarus, ich habe beschlossen, mich von Jerusalem zu entfernen. Ich weiß, daß es unnütz ist; ich weiß es im voraus. Aber es wird mir wenigstens die Möglichkeit geben, das Evangelium zu verkünden. In Zion ist es mir verwehrt.”

Ich habe dir durch Nikodemus sagen lassen, du könntest auf eines meiner Besitztümer gehen. Niemand kann dir dort Gewalt antun. Du könntest ohne Belästigungen deine Aufgabe erfüllen. Oh, mein Haus! Es ist das glücklichste aller meiner Häuser, das geheiligt wird von deiner Lehre und deinem Atem. Mach mir die Freude, dir nützlich zu sein, Meister!” - “Du siehst, daß ich schon dabei bin. Denn in Jerusalem kann ich nicht bleiben. Ich selbst würde nicht belästigt, aber man würde jene belästigen, die zu mir kommen. Ich werde in Richtung Efraim gehen. Zwischen diesem Ort und dem Jordan will ich das Evangelium verkünden und taufen wie Johannes.”

In den Ländereien um diesen Ort habe ich ein Häuschen . Aber es ist nur eine Hütte für die landwirtschaftlichen Geräte der Arbeiter. Manchmal schlafen sie auch dort, wenn sie zur Zeit der Heuernte oder der Weinlese dort sind. Es ist armselig. Nur ein einfaches Dach auf vier Mauern. Doch es liegt immerhin auf meinem Land, das wissen alle. Dies zu wissen, wird eine Abschreckung für die Schakale sein. Nimm es an, Herr. Ich werde Diener hinschicken, um es herzurichten.” - “Das ist nicht notwendig. Wenn dort deine Landarbeiter schlafen können, dann genügt es auch für uns.” - “Ich will es nicht mit Luxus ausstatten, nur einige Betten mehr aufstellen lassen, arm, wie du es gern hast, und auch für Decken, Stühle, Krüge und Becher sorgen. Ihr müßt auch essen und euch zudecken, besonders in diesen Wintermonaten. Laß mich nur machen! Ich brauche es ja nicht selbst zu tun.

Hier kommt Martha. Sie hat einen praktischen Sinn und kümmert sich um alle häuslichen Angelegenheiten. Sie ist für das Haus geschaffen und für die Sorge um Leib und Seele aller Hausbewohner. Komm, meine gute, reine Herbergsmutter! Siehst du? Auch ich habe mich unter ihre mütterliche Fürsorge gestellt und lebe in ihrem Erbschaftsanteil. So brauche ich meine Mutter nicht zu sehr zu beweinen. Martha, Jesus will sich in die Ebene des „Trügerischen Gewässers“ zurückziehen. Gut ist nur der fruchtbare Boden; das Haus ist eher ein Stall zu nennen. Aber Jesus wünscht ein Haus der Armut. Es muß mit dem Nötigsten ausgestattet werden. Gib Anweisungen, du bist so tüchtig!” Lazarus küßt die wunderschöne Hand der Schwester, die ihn dann mit mütterlicher Geste liebkost.

Martha sagt: “Ich werde sofort hingehen und Maximinus und Marcella mitnehmen. Die Fuhrleute können beim Einrichten helfen. Segne mich, Meister, so werde ich etwas von dir mitnehmen.” - “Ja, meine gute Herbergsmutter. Ich nenne dich so wie Lazarus. Ich gebe dir mein Herz, damit du es in deinem Herzen tragen kannst.” - “Ist dir bekannt, Meister, daß heute auf diesen Weiden Isaak, Elija und die anderen sind? Sie haben mich um Erlaubnis gebeten, auf den Wiesen der Ebene die Tiere weiden zu dürfen, damit sie etwas beisammen sein können; ich habe zugestimmt. Heute werden sie hier eintreffen; ich erwarte sie für die Mahlzeit.” - “Das freut mich sehr. Ich werde ihnen Anweisungen geben.” - “Ja... um miteinander in Verbindung zu bleiben. Manchmal mußt du aber selbst kommen.”

“Ich werde kommen; ich habe darüber schon mit Simon gesprochen. Und da es nicht recht ist, daß ich dein Haus mit den Jüngern überfalle, werde ich in das Haus Simons gehen...” - “Nein, Meister! Warum willst du mir diesen Schmerz bereiten?” - “Bestehe nicht darauf, Lazarus... Ich weiß schon, was richtig ist.” - “Aber dann...” - “Dann werde ich auf deinen Besitzungen bleiben. Was Simon nicht weiß, weiß ich. Er, der erwerben wollte, ohne sich zu zeigen und ohne zu verhandeln, nur um in der Nähe des Lazarus von Bethanien zu sein, war der Sohn des Theophilus, der treue Freund Simons des Zeloten und der große Freund Jesu von Nazareth. Er, der die Summe für Jona verdoppelt hat und das Guthaben Simons damit nicht belasten wollte, um ihm die Möglichkeit zu geben, viel für den armen Meister und die Armen des Meisters zu tun: er trägt den Namen Lazarus. Er, der verborgen und aufmerksam wirkt, leitet und alle guten Kräfte einsetzt, um mir Hilfe, Trost und Schutz zu gewähren, ist Lazarus von Bethanien. Ich weiß es.”

“Oh, sag es nicht! Ich hatte so geglaubt, im Verborgenen recht zu handeln.” - “Für die Menschen ist es ein Geheimnis, aber nicht für mich. Ich lese in den Herzen. Willst du, daß ich dir sage, warum deine natürliche Güte sich mit übernatürlicher Vollkommenheit verbindet? Weil du ein übernatürliches Geschenk erbittest: die Rettung einer Seele, sowie deine und Marthas Heiligung. Und du fühlst, daß es nicht genügt, gut nach der Meinung der Welt zu sein, sondern daß es notwendig ist, gut nach den Gesetzen des Geistes zu sein, um die Gnade Gottes zu besitzen. Du hast meine Worte nicht gehört. Aber ich habe gesagt: „Wenn ihr Gutes tut, tut es im Verborgenen, und euer Vater wird es euch reichlich vergelten!“ Du hast aus dem natürlichen Antrieb zur Demut gehandelt. Und in Wahrheit sage ich dir, daß der Vater dir eine Vergeltung vorbereitet, die du dir nicht vorstellen kannst.”

Die Rettung Marias? ” - “Ja, und noch viel mehr!” - “Was gibt es, Meister, das unmöglicher wäre?” Jesus schaut ihn an und lächelt. Dann sagt er mit dem Ton des Psalmisten: “Der Herr herrscht, und mit ihm seine Heiligen. Aus seinen Strahlen bereitet er Kronen und legt sie auf das Haupt der Heiligen, wo sie in Ewigkeit erstrahlen in den Augen Gottes und des Universums. Aus welchem Metall bestehen sie? Mit welchen Edelsteinen sind sie geschmückt? Gold, reinstes Gold ist der Ring, entstanden im doppelten Feuer der göttlichen Liebe und der menschlichen Liebe, bearbeitet mit dem Meißel des Willens, der hämmert, feilt, schneidet und verfeinert. Perlen von großer Schönheit und Smaragde, grüner als das Gras im April, Türkise von der Farbe des Himmels, Opale bleich wie der Mond, Amethyste, verschämten Veilchen gleich, Jaspisse, Saphire, Hyazinthen und Topase. Sie sind eingefügt für das ganze Leben. Und, um das Werk zu vollenden, ein Ring von Rubinen, ein großer Reif um die glorreiche Stirn. Denn der Gesegnete besaß Glauben und Hoffnung, Sanftmut und Keuschheit, Mäßigkeit und Stärke, Gerechtigkeit, Klugheit und grenzenlose Barmherzigkeit; und in seinem Grund ist mit Blut mein Name und der Glaube an mich, die Liebe zu mir und sein Name im Himmel eingetragen.

Freut euch, ihr Gerechten im Herrn! Der Mensch weiß es nicht, Gott aber sieht! Er schreibt meine Versprechen in die ewigen Bücher ein und mit ihnen eure Werke und eure Namen, ihr Fürsten der künftigen Zeiten, ihr ewigen Sieger mit Christus, dem Herrn.” Lazarus betrachtet ihn verwundert. Dann murmelt er: “Oh, ich werde nicht fähig sein.” - “Glaubst du?” und Jesus bricht einen biegsamen Weidenzweig ab, der über den Weg hängt, und sagt: “Schau! Wie meine Hand diesen Zweig mit Leichtigkeit biegen kann, so wird die Liebe deine Seele biegen und ihr eine ewige Krone bereiten. Die Liebe ist der individuelle Erlöser. Wer liebt, beginnt seine Erlösung. Der Menschensohn wird sie dann zur Vollendung bringen.”

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Maria Magdalena erscheint
bei der Bergpredigt
- 213

Es ist ein herrlicher Morgen...
Daher wißt von den beiden Wegen den guten zu wählen, beschreitet ihn und widersteht jederzeit den Verlockungen der Sinne, der Welt, der Wissenschaft und des Teufels. Die Halbheiten im Glauben, die Kompromisse und die Pakte zwischen zwei gegensätzlichen Partnern, überlaßt sie den Menschen der Welt...

Der Geist Gottes läßt sich mit dem Geist der Welt nicht vereinbaren. Der eine führt nach oben, der andere nach unten. Der eine heiligt, der andere verdirbt. Wenn ihr aber verdorben seid, wie könnt ihr dann noch in Reinheit wirken? Die sinnliche Begierde erwacht im Verdorbenen und zieht noch andere Gelüste nach sich. Ihr wißt schon, wie Eva verführt wurde, und Adam durch sie...

Hütet eure Blicke, Männer! Sowohl die Blicke der Augen als auch die Blicke des Geistes. Sind sie verdorben, können sie nur alles übrige auch noch verderben. Das Licht des Körpers ist das Auge. Das Licht des Herzens ist dein Denken. Ist dein Auge unrein, dann wird alles in dir trübe sein, und verführerische Nebel werden in dir unreine Trugbilder erzeugen....

Eine starke Bewegung kommt in das Volk, das sich am Weg, der zur Hochebene hinaufführt, befindet. Die Köpfe derer in der Nähe Jesu wenden sich um. Die Aufmerksamkeit wird abgelenkt. Jesus hört auf zu reden und wendet seinen Blick in dieselbe Richtung wie die anderen. Er ist ernst und schön in seinem dunkelblauen Gewand mit den auf der Brust gekreuzten Armen. Die Sonne streift sein Haupt mit dem ersten Strahl, der über den östlichen Gipfel des Hügels dringt.

»Macht Platz, Gesindel, das ihr seid«, schreit eine zornige Männerstimme. »Macht Platz der Schönheit, die vorübergeht!« Es kommen vier aufgeputzte Gecken, von denen einer Römer sein muß, da er mit einer römischen Toga bekleidet ist. Sie tragen auf ihren Armen , die zu einem Sitzverschränkt sind, Maria von Magdala, die immer noch große Sünderin, im Triumph daher .

Maria lacht mit ihrem entzückenden Mund und wirft ihren Kopf mit der goldenen Haarpracht zurück, deren Zöpfe und Locken von wertvollen Spangen, Nadeln und einem goldenen Band gehalten werden. Das mit Perlen bedeckte Band schmückt ihre Stirn wie ein Diadem, leichte Löckchen fallen darüber und verschleiern die an sich schon herrlichen Augen, die durch einen geschickten Kunstgriff noch größer und verführerischer erscheinen. Das Diadem verliert sich hinter den Ohren unter der Fülle ihrer geflochtenen Haare, die über den weißen, bloßen Nacken hängen. Die Blöße reicht sogar weit unter den Nacken. Ihre Achseln sind bis zu den Schulterblättern frei und die Brust noch weit mehr . Das Gewand wird auf den Schultern von zwei goldenen Kettchen gehalten und ist ärmellos. Alles ist sozusagen von einem Schleier bedeckt, der nur die Aufgabe hat, die Haut vor den Sonnenstrahlen zu schützen. Das Kleid ist sehr leicht, und wenn sie sich in ihrem gezierten Getue einmal an diesen, dann an jenen Verehrer lehnt, ist es fast, als würde sie es mit dem nackten Körper tun. Ich habe den Eindruck, daß der Römer der Bevorzugte ist, denn ihm gelten hauptsächlich ihr Lachen und ihre Blicke, und an seine Schulter legt sie besonders gern ihren Kopf.

»Die Göttin ist befriedigt«, sagt der Römer. »Rom hat sich zum Reittier der neuen Venus gemacht, und dort ist Apollo, den du zu sehen gewünscht hast. Verführe ihn nun, aber laß auch uns einige Brosamen deiner Gunst

Maria lacht und springt mit einer behenden, herausfordernden Bewegung zu Boden und entblößt die kleinen Füße in den weißen Sandalen mit goldenen Spangen, und auch ziemlich viel Bein. Dann deckt das weite Kleid aus leichter Wolle, das wie ein schneeweißer Schleier auf den Hüften von einem Gürtel aus goldenen Schuppen gehalten wird, alles wieder zu. Die Frau steht da wie eine Blume aus Fleisch und Blut, eine unreine Blume, durch einen Zauber auf der grünen Ebene erblüht, in der es Maiglöckchen und wilde Narzissen in großer Zahl gibt.

Maria von Magdala ist schön wie nie zuvor. Ihr kleiner, purpurroter Mund gleicht einer aufbrechenden Nelke, die auf dem Weiß der vollendet schönen Zähne blüht. Das Antlitz und der Körper könnten den anspruchsvollsten Maler oder Bildhauer sowohl durch die Farben als auch durch die Formen zufriedenstellen. Die volle Brust und die Hüften im rechten Verhältnis zur schmalen, geschmeidigen Taille, gleicht sie einer Göttin, wie der Römer gesagt hat... einer Göttin, aus zartem rosa Marmor gemeißelt, auf deren Hüften der leichte Stoff sanft aufliegt, um dann in einem reichen Faltenwurf nach vorn zu fallen. Alles ist für den Genuß der Augen ausgeklügelt.

Jesus blickt sie fest an. Frech hält sie seinem Blick stand und lacht und windet sich unter der Berührung ihrer Schultern und Brust mit einem von dem Römer unterwegs gepflückten Maiglöckchen. Dann hebt sie unter gekünsteltem Jammern den Schleier und sagt: »Respektiert meine Unberührtheit!«, wobei die vier Männer in ein schallendes Gelächter ausbrechen.

Jesus blickt sie weiterhin fest an. Als das Gelächter verstummt, nimmt er seine Rede wieder auf und würdigt sie keines Blickes mehr. Es ist, wie wenn das Auftauchen dieser Frau Jesus zur Wiederaufnahme der Rede entflammt hätte, die schon auf ihr Ende zuging und am Erlöschen war. Er schaut nun wieder auf seine Zuhörer, die durch den Vorfall verwirrt und entsetzt zu sein scheinen.

Jesus fährt fort: »Ich habe gesagt, daß man dem Gesetz treu sein, demütig und barmherzig sein soll, daß man nicht nur die Menschen seines eigenen Geblütes lieben soll, sondern auch jene, die wie wir Menschen und somit unsere Brüder sind. Ich habe euch gesagt, daß Vergebung besser ist als Groll, daß Nachsicht besser ist als Unerbittlichkeit. Nun aber sage ich euch, daß man nicht verurteilen darf, wenn man nicht selbst frei von der Sünde ist, die man verurteilen will . Macht es nicht wie die Schriftgelehrten und Pharisäer, die streng mit allen, aber nicht mit sich selbst sind, die unrein nennen, was äußerlich ist und nur das Äußere verunreinigen kann, und dann in tiefster Brust, im Herzen, der Unreinheit Raum gewähren.

Gott ist nicht mit den Unreinen, denn die Unreinheit zerstört, was Gottes Eigentum ist: die Seele , und besonders die Seelen der Kinder, der auf der Erde verstreuten Engel. Wehe allen, die ihnen mit der Roheit dämonischer Bestien die Flügel ausreißen, diese Himmelsblumen in den Schmutz ziehen und in ihnen den Lebensgenuß wecken!

Wehe! Es wäre besser, sie würden vom Blitz getroffen verbrennen, als einer solchen Sünde zu verfallen! Wehe euch Reichen und Genießern! Gerade unter euch gärt die größte Unreinheit, der Müßiggang und Geld als Bett und Polster dienen. Ihr seid jetzt überfüttert. Bis an die Kehle reicht euch die Speise der Begehrlichkeit und würgt euch. Aber einst werdet ihr einen Hunger kennenlernen, einen schrecklichen, unersättlichen Hunger, der nicht gelindert werden kann und ewig dauert! Jetzt seid ihr reich. Wieviel Gutes könntet ihr mit eurem Reichtum tun! Aber ihr benützt ihn zum Bösen, sowohl für euch als auch für die anderen. Eines Tages werdet ihr eine entsetzliche Armut kennenlernen, und sie wird kein Ende nehmen. Nun lacht ihr. Ihr wähnt zu triumphieren, doch eure Tränen werden die Pfuhle der Hölle (Gehenna) füllen, und sie werden endlos fließen.

Wo nistet sich der Ehebruch ein? Wo ist das Verderben der Mädchen? Wer hat außer seinem Ehebett noch zwei oder drei Betten der Zügellosigkeit, auf denen er sein Geld verschwendet und die Kraft seines Körpers vergeudet, den er von Gott gesund erhalten hat, damit er für seine Familie arbeite und nicht, damit er sich in sündhaften Verbindungen aufreibe, die ihn unter ein unreines Tier erniedrigen? Ihr habt gehört, daß gesagt wurde „Du sollst nicht ehebrechen“?

Ich aber sage euch, daß jeder, der eine Frau lüstern ansieht, und jede, die sich mit Begierde dem Mann nähert - und selbst, wenn es bei bloßer Begierde bleibt - im Herzen bereits Ehebruch begangen hat. Kein Grund rechtfertigt den Ehebruch. Keiner! Nicht das Verlassen- und Verstoßensein durch einen Ehemann. Nicht das Mitleid mit einer Verstoßenen. Ihr habt nur ein Herz. Ist es durch ein Treuegelöbnis mit einem anderen verbunden, so dürft ihr nicht verleugnen, sonst wird euer schöner Körper, mit dem ihr sündigt, zusammen mit eurer unreinen Seele in das nie erlöschende Feuer geworfen. Verstümmelt ihn eher, aber tötet ihn nicht, indem ihr ihn auf ewig verdammt. Werdet wieder zu Menschen, ihr Reichen, ihr lasterhaften, wurmstichigen Gestalten, werdet wieder zu Menschen, um nicht den Himmel mit Abscheu vor euch zu erfüllen.

Maria, die anfänglich mit einem Gesicht zugehört hat, das ein Gedicht von Verführung und Ironie war, und ab und zu ein spöttisches Kichern hören ließ, wird gegen Ende der Rede schwarz vor Wut. Sie versteht, daß Jesu Worte ihr gelten, obwohl er sie nicht anblickt. Ihre wachsende Empörung wird immer aufsässiger und schließlich kann sie nicht mehr widerstehen; sie hüllt sich verächtlich in ihren Schleier, und verfolgt von den Blicken der spottenden Menschenmenge und der Stimme Jesu, beginnt sie wütend und mit höhnischem Gelächter den Abhang hinunterzurennen und läßt ganze Fetzen ihres Kleides an den Disteln und wilden Rosensträuchern am Wegrand zurück.

Jesus fährt fort: »Das Vorkommnis hat euch entrüstet. Seit zwei Tagen wird unser Zufluchtsort, hoch über dem Schlamm, vom Zischen der Schlange heimgesucht. Daher ist er kein Zufluchtsort mehr, und wir werden ihn verlassen. Doch ich will die Darlegung des Gesetzes des „höchst Vollkommenen“ in dieser Fülle von Licht und der Weite des Horizontes zu Ende führen...

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Mord aus Eifersucht wegen Maria Magdalena - 222

Matthäus geht und kommt zurück: “Eine Rauferei, Meister. Ein Mann liegt im Sterben. Ein Jude. Der Angreifer ist geflohen, es war ein Römer . Seine Frau, die Mutter und die kleinen Kinder sind herbeigeeilt... aber er stirbt.” - “Laßt uns gehen.” - “Meister... Meister... der Vorfall hat sich im Haue einer Frau ereignet... die nicht seine Ehefrau ist.” - “Laßt uns gehen.”

Sie betreten durch die offenstehende Türe eine lange, geräumige Vorhalle, die zu einem schönen Garten führt. Es scheint, daß das Haus durch eine Art gedeckten Säulenhof aufgeteilt ist, in welchem viele Pflanzen in Gefäßen, Statuen und fein gearbeitete Möbel stehen. Eine Art Wintergarten. In einem Zimmer, dessen Tür zur Vorhalle offen steht, befinden sich weinende Frauen. Jesus geht ohne Zögern hinein, jedoch ohne seinen gewohnten Gruß zu entbieten. Unter den anwesenden Männern ist ein Händler, der Jesus kennen muß, denn kaum hat er ihn erblickt, sagt er: “Der Rabbi von Nazareth!”, und grüßt ihn respektvoll. “Josef, was ist vorgefallen?” - “ Ein Dolchstoß ins Herz, Meister ... Er stirbt.” - “Weshalb?” Eine graue und ungekämmte Frau, die neben dem Sterbenden kniet und seine schon leblose Hand hält, steht auf und kreischt mit den Augen einer Wahnsinnigen: “Ihretwegen, ihretwegen! Sie hat ihn verhext... Für ihn gab es keine Mutter, keine Frau und keine Kinder mehr! Die Hölle soll dich haben, du Teufelsweib !”

Jesus erhebt seine Augen, und sein Blick folgt der Hand, die zitternd anklagt. In der Ecke, gegen die tiefrote Wand gelehnt, erblickt er, schamlos gekleidet und anstößiger denn je, Maria von Magdala .Die Hälfte ihres Körpers ist sozusagen unbekleidet, denn ihr Oberkörper ist in eine Art feines Netz aus sechseckigen Maschen gehüllt, das mit etwas rundem, wahrscheinlich kleinen Perlen, besetzt ist. Da sie im Halbdunkel steht, sehe ich sie nicht gut. Jesus senkt die Augen. Maria, gereizt durch seine Gleichgültigkeit, richtet sich auf und nimmt Haltung an, während sie zuvor niedergeschlagen schien.

“Frau”, sagt Jesus zur Mutter, “verwünsche niemanden! Antworte mir! Warum war dein Sohn in diesem Haus?” - “Ich habe es dir schon gesagt. Weil sie ihn verrückt gemacht hat. Sie!” - “ Schweig. Auch er war ein Sünder, denn er war ein Ehebrecher und diesen unschuldigen Kindern ein unwürdiger Vater. Er verdient also seine Strafe. In diesem und in jenem Leben gibt es keine Barmherzigkeit für den, der nicht bereut. Doch ich habe Erbarmen mit deinem Schmerz, Frau, und mit diesen unschuldigen Kindern. Ist dein Haus weit entfernt?” - “Etwa hundert Meter.” - “Hebt den Mann auf und bringt ihn dorthin.” - “Das ist nicht möglich, Meister”, sagt der Händler Josef. “ Er liegt im Sterben .” - “Tue, was ich dir sage!”

Sie schieben ein Brett unter den Sterbenden, und der Zug geht langsam hinaus. Sie überqueren die Straße und betreten einen schattigen Garten. Die Frauen weinen immer noch laut. Kaum sind sie im Garten angelangt, wendet sich Jesus an die Mutter. “Kannst du verzeihen? Wenn du verzeihst, verzeiht Gott . Um einer Gnade würdig zu sein, muß man sich ein gutes Herz schaffen. Dieser Mann hat gesündigt und wird weiter sündigen. Für ihn wäre es besser zu sterben , denn wenn er zum Leben zurückkehrt, wird er erneut der Sünde verfallen, und er wird Gott, der ihn geheilt hat, auch Rechenschaft über seine Undankbarkeit ablegen müssen. Aber du und diese Unschuldigen (er zeigt auf die Frau und die Kinder), ihr würdet verzweifeln. Doch ich bin gekommen, um zu retten und nicht, um zu verderben .Mann, ich sage dir: steh auf und sei geheilt .”

Der Mann kehrt zum Leben zurück, öffnet die Augen, sieht die Mutter, die Kinder, seine Frau und senkt beschämt den Kopf. “Sohn, Sohn”, sagt die Mutter. “Du wärest gestorben, wenn er dich nicht gerettet hätte. Gehe in dich! Verliere dich nicht im Sinnen wegen einer...”

Jesus unterbricht die Alte: “Frau, schweige! Sei barmherzig, wie auch dir Barmherzigkeit widerfahren ist. Dein Haus ist durch das Wunder geheiligt, denn das Wunder ist immer ein Beweis der Gegenwart Gottes . Daher konnte ich es nicht dort wirken, wo die Sünde war. Bewahre wenigstens du dein Haus rein, wenn schon dieser hier dazu nicht fähig sein wird. Pflegt ihn nun. Es ist gerecht, daß er noch eine Zeitlang leiden muß. Sei gut, Frau! Auch du! Und ihr, Kinder, lebt wohl.”

Jesus hat den beiden Frauen die Hand auf den Kopf gelegt und auch den Kindern. Dann geht Jesus hinaus und an Magdalena vorbei , die dem Zug bis vor das Haus gefolgt und auf der angrenzenden Straße, an einen Baum gelehnt, stehen geblieben ist. Jesus geht langsamer, als warte er auf die Jünger, doch ich glaube, daß er Maria die Möglichkeit geben will, eine Geste zu machen. Aber sie tut es nicht.

Die Jünger erreichen Jesus, und Petrus kann es sich nicht verkneifen, ein auf Maria gemünztes Schimpfwort in seinen Bart zu murmeln. Diese, um ihre Haltung nicht zu verlieren, bricht in ein Gelächter aus, das sich aber alles andere als triumphierend anhört. Doch Jesus hat die Bemerkung des Petrus gehört, wendet sich streng an ihn und sagt: “ Petrus, ich beschimpfe nicht. Beschimpfe auch du nicht! Bete für die Sünder. Nichts anderes.” Maria bricht ihr schallendes Gelächter ab, senkt den Kopf und entschwindet wie eine Gazelle in Richtung ihres Hauses...

   Unter 223

“O nein, die Schamlosen haben nur das Vergnügen . Hast du das Tun der Schamlosen gesehen? Sie genießen und verursachen anderen Leid. Sie quälen sich nicht ab mit Kindergebären und Arbeit, bis sie der Rücken schmerzt. Sie bekommen keine Blasen von der Hacke und keine zerschundenen Hände vom vielen Waschen. Sie sind schön und frisch. Für sie gilt die über Eva verhängte Strafe nicht. Vielmehr werden wir durch sie bestraft, weil... die Männer... du verstehst mich schon.”

“Ich verstehe dich. Doch wisse, auch sie haben ihr schreckliches Kreuz , das schrecklichste, und ein Kreuz, das man nicht sieht . Es ist ihr Gewissen, das sie anklagt; es ist die Welt, die sie verspottet; die Familie, die sie verstößt; und es ist Gott, der sie verflucht . Sie sind nicht glücklich, glaube es mir. Sie quälen sich nicht ab mit Kindergebären und Arbeiten, keine Mühsal macht ihre Hände wund, und trotzdem sind sie zermürbt durch die Scham. Ihr Herz ist eine einzige Wunde . Beneide sie nicht um ihr Aussehen, ihre Frische, ihre vermeintliche Heiterkeit. Sie sind nur der Schleier über dem Ruin, der ihr Gewissen plagt und sie keinen Frieden finden läßt. Beneide nicht ihren Schlaf, du ehrbare Mutter, die du von deinen unschuldigen Kindern träumst... Auf ihren Kissen lastet der Alptraum, und in ihrer Sterbestunde oder in ihrem Alter werden sie einst von Gewissensbissen und Angst heimgesucht werden.” - “Das ist wahr... Verzeih... Darf ich hier bleiben?”

“Bleibe! Wir werden Benjamin ein schönes Gleichnis erzählen, und die, die keine Kinder mehr sind, werden es auf sich selbst und auf Maria von Magdala anwenden. Hört also! Ihr zweifelt an der Bekehrung Marias zum Guten, und es gibt kein Anzeichen für eine Umkehr . Frech und schamlos, ihrer gesellschaftlichen Stellung und ihrer Macht bewußt, hat sie es gewagt, die Leute herauszufordern und bis vor das Haus zu kommen, wo man durch ihr Verschulden weint. Auf die Rüge des Petrus hat sie mit Gelächter geantwortet, auf meinen einladenden Blick mit stolzer Unnahbarkeit . Ihr hättet vielleicht gewünscht - die einen aus Liebe zu Lazarus, die anderen aus Liebe zu mir - daß ich direkt zu ihr hingehe, ein langes Gespräch mit ihr führe und sie durch meine Macht bezwinge, um ihr dadurch meine Gewalt als Messias und Erlöser zu beweisen. Nein! Das alles ist nicht nötig. Ich habe dies bereits wegen einer anderen Sünderin vor vielen Monaten gesagt.

Die Seelen müssen selbst soweit kommen. Ich gehe vorüber und streue den Samen aus, und ganz im Verborgenen wirkt der Same. Die Seele soll in ihrem Wirken respektiert werden. Wenn der erste Same nicht Wurzel faßt, sät man noch einen... und noch einen, und erst dann gibt man auf, wenn man sichere Beweise für die Nutzlosigkeit des Säens hat.

Dazu betet man, denn das Gebet ist wie der Tau aufs Erdreich: er erhält es feucht und dadurch nährstoffreich, und so kann der Same sprießen. Machst du es mit deinem Gemüse nicht ebenso, Frau? Nun hört das Gleichnis vom Wirken Gottes in den Herzen, um darin das Reich Gottes zu gründen. Jedes Herz ist ein kleines Reich Gottes auf Erden. Später, nach dem Tod, werden sich all diese kleinen Reich zu einem einzigen vereinigen, zum unermeßlichen, heiligen, ewigen Himmel. Das Reich Gottes in den Herzen wird vom göttlichen Sämann gegründet. Er kommt auf sein Gut - der Mensch gehört Gott, darum ist am Anfang jeder Mensch sein Eigentum - und streut seinen Samen. Danach geht er auf andere Güter, zu anderen Herzen. Den Tagen folgen die Nächte und den Nächten die Tage. Die Tage bringen Sonne und Regen: hier die Strahlen der göttlichen Liebe und den Strom göttlicher Weisheit, die zur Seele spricht. Die Nächte lassen ihre Sterne leuchten und schenken erholsame Stille: in unserem Fall, göttliche Mahnungen und Stille für die Seelen, um sich zu sammeln und sich zu besinnen.

In dieser ständigen Aufeinanderfolge unmerklicher und kraftvoller Vorsehungen schwillt der Same an, bricht auf, treibt Wurzeln, nistet sich ein, und das junge Pflänzchen beginnt zu sprießen, bringt die ersten Blättchen hervor und wächst heran. All dies geschieht ohne menschliche Hilfe. Spontan bringt die Erde die Pflanze aus dem Samen hervor, und die Pflanze wird kräftig und trägt die aus ihr entstehende Ähre, die immer mehr nach oben strebt, anschwillt, erstarkt, gelb und hart wird, und deren Körner dann die vollkommene Reife erlangen. Da die Zeit der Vollendung für diesen Samen gekommen ist, der sich nicht noch weiter entwickeln könnte, kehrt der Sämann zurück und setzt seine Sichel zur Ernte an. In den Herzen hat mein Wort dieselbe Wirkung. Ich spreche von den Herzen, die den Samen aufnehmen. Doch nur langsam geht die Entwicklung vor sich, und man muß darauf achten, nichts zur Unzeit zu tun, denn dann würde man alles zerstören . Wie mühsam ist es doch für das kleine Samenkorn, aufzubrechen und sich in der Erde zu verwurzeln.

Auch für das harte, widerspenstige Herz bedeutet dies mühevolle Arbeit. Es muß sich erschließen, sich aufwühlen lassen, Neues aufnehmen und dies mühevoll hegen, und schließlich muß sich ein solcher Mensch von allem Prunk und der reizvollen, nutzlosen und übermäßig eleganten Bekleidung von früher lösen und sein Äußeres verändern: Er muß sich nunmehr begnügen, demütig zu arbeiten, ohne bewundert zu werden, um so ganz der Absicht Gottes zu entsprechen. Alle seine Fähigkeiten muß er nützen, um zu wachsen und Ähren hervorzubringen. In Liebe muß man erglühen, um zum Weizen zu werden.

Hat man dann einmal die so sehr, sehr leidige Menschenfurcht überwunden, sich abgemüht, gelitten, und seine neue Wesensart sogar liebgewonnen, dann muß man sich in einem Entschluß von erbarmungsloser Härte auch davon lösen. Alles muß man geben, um alles zu besitzen. Von allem muß sich der Mensch entblößen, um einst im Himmel mit der Stola der Heiligen bekleidet zu werden.

Das Leben des Sünders, der heilig wird, ist die längste, heldenhafteste und ruhmreichste Schlacht . Ich sage es euch! Ihr werdet nach dem, was ich euch gesagt habe, einsehen und verstehen, daß mein Verhalten Maria gegenüber richtig ist. Habe ich an dir etwa anders gehandelt, Matthäus?”

“Nein, mein Herr.” - “Sage mir die Wahrheit: was hat dich mehr überzeugt, meine Geduld oder die bitteren Vorwürfe der Pharisäer?”

“Deine Geduld, so wahr ich hier stehe! Die Pharisäer mit ihrer Verachtung und ihren Verwünschungen lösten in mir wiederum nur Verachtung aus, und weil ich sie verachtete, wurde ich noch schlechter als zuvor . Es geschieht folgendes: lebt man in Sünde und wird man als Sünder behandelt, dann verhärtet man sich erst recht. Doch, erhält man statt einer Beleidigung ein Wort der Liebe, ist man darüber so sehr erstaunt, daß man nur noch weinen kann... und wenn man weinen kann, zerspringt der Panzer der Sünde, der das Herz umgab und fällt ab. Entblößt steht man dann vor der Güte Gottes und fleht ihn an um ein neues Kleid - ihn selbst.”

“Das hast du gut gesagt. Benjamin, gefällt dir die Geschichte? Ja? Gut so! Und wo ist denn deine Mutter?” Jakobus des Alphäus antwortet: “Sie ist am Ende des Gleichnisses weggegangen und auf der Straße dort davongeeilt.” - “Sie wird zum See gehen, um zu sehen, ob ihr Mann zurückgekommen ist”, sagt Thomas.

“Nein, sie ist zur alten Mutter gegangen, um die Geschwisterchen zu holen. Meine Mutter bringt sie immer dorthin, damit sie arbeiten kann”, sagt das Kind, das sich vertrauensvoll an die Knie Jesu schmiegt. “Und du bist hier, kleiner Mann? Du mußt ein schöner Schlingel sein, wenn sie dich allein bei sich behält!” bemerkt Bartholomäus. “Ich bin der älteste und helfe ihr...” ...

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In Bethanien -
Meister, Maria hat Martha gerufen
- 267

Jesus geht an einem wunderschönen Sommermorgen in Begleitung des Zeloten in den Garten des Lazarus . Die Morgenröte ist noch nicht erloschen und daher ist alles noch frisch und strahlend. Der Gartendiener eilt herbei, um den Meister zu empfangen, weist auf den Zipfel eines weißen Gewandes hin, das hinter einer Hecke verschwindet, und sagt: “Lazarus geht mit Schriftrollen zur Jasminlaube, um zu lesen. Ich rufe ihn sofort.” - “Nein, ich gehe selbst zu ihm! Ganz allein.”

Und Jesus folgt behende einem Pfad, der von blühenden Hecken eingesäumt ist. Das Gras am Wegrand dämpft das Geräusch der Schritte, und Jesus sucht gerade auf diesem zu gehen, um Lazarus zu überraschen. Das gelingt ihm auch.

Lazarus steht aufrecht da, die Schriftrollen auf einem Marmortisch ausgebreitet, und betet mit lauter Stimme: “Enttäusche mich nicht, o Herr. Laß sie wachsen, diese Hoffnung, die in meinem Herzen entsprungen ist. Gewähre mir, um was ich dich unter Tränen zehn- und hundertmal gebeten habe. Das, um das ich dich auch mit meinen Handlungen, meinem Verzeihen und meinem ganzen Ich gebeten habe! Gib es mir und nimm mein Leben dafür! Gib es mir im Namen deines Jesu, der mir den Frieden versprochen hat. Kann er je die Unwahrheit sagen? Soll ich annehmen, daß sein Versprechen nur leeres Wort war? Ist denn seine Macht geringer als der Sündenabgrund meiner Schwester? Sage es mir, Herr, und ich werde mich um deiner Liebe willen damit abfinden...”

“Ja, ich sage es dir!” sagt Jesus. Lazarus wendet sich mit einem Ruck um und ruft: “Oh, mein Herr! Aber wann bist du gekommen?” Dann beugt er sich nieder, um das Gewand Jesu zu küssen. “Vor einigen Minuten.” - “Allein?” - “Mit Simon dem Zeloten. Aber hierher, wo du bist, wollte ich allein gehen. Ich weiß, daß du mir etwas Wichtiges zu sagen hast. Sage es mir also.” - “Nein! Antworte mir zuerst auf die Fragen, die ich an Gott richte. Entsprechend deiner Antwort werde ich es dir sagen.” - “Sage sie mir, sage sie mir, diese deine große Neuigkeit. Du kannst sie mir sagen...” Und Jesus lächelt, während er in einladender Weise seine Arme ausbreitet. “Allerhöchster Gott! Aber ist es wirklich wahr? Du weißt also, daß es wahr ist?!” und Lazarus sinkt Jesus in die Arme , um ihm seine wichtige Neuigkeit anzuvertrauen. “ Maria hat Martha nach Magdala gerufen . Und Martha ist besorgt abgereist, da sie fürchtete, daß etwas Schlimmes vorgefallen sei... Ich bin hier mit der gleichen Angst zurückgeblieben. Aber Martha hat mir durch den sie begleitenden Diener einen Brief zukommen lassen, der mich mit Hoffnung erfüllt . Schau, ich habe ihn hier an meiner Brust. Ich bewahre ihn hier auf, denn er ist mir der kostbarste Schatz. Es sind nur wenige Worte, aber ich lese sie immer wieder, um sicher zu sein, daß sie wirklich geschrieben worden sind. Schau...”

Lazarus nimmt eine kleine Schriftrolle, die mit einem violetten Band gebunden ist, aus seinem Gewand und öffnet sie. “Siehst du? Lies, lies! Mit lauter Stimme. Von dir vorgelesen, überzeugen die Worte mich mehr!” - “„Lazarus, mein Bruder. Friede und Segen sei über dich. Ich bin schnell und gut angekommen. Und mein Herz schlägt nicht mehr aus Furcht vor neuem Unglück, denn ich habe Maria gesehen , unsere Maria, gesund und... darf ich es dir sagen?... in ihrem Aussehen nicht mehr so zügellos wie vorher. Sie hat an meinem Herzen geweint . Heftig geweint... Und dann in der Nacht im Zimmer, in das sie mich geführt hatte, hat sie mich viele Dinge über den Meister gefragt . Ich will dir nicht mehr darüber sagen; aber da ich das Antlitz von Maria gesehen und ihre Worte gehört habe, ist in meinem Herzen eine Hoffnung erwacht. Bete, Bruder! Hoffe! Oh! Möchte es doch wahr sein! Ich bleibe noch etwas, denn ich fühle, daß sie mich in ihrer Nähe haben will, als Schutz gegen die Versuchung . Und um zu lernen... Was? Das, was wir schon kennen. Die unendliche Güte Jesu. Ich habe ihr von jener Frau erzählt, die nach Bethanien gekommen ist... Ich sehe, daß Maria nachdenkt und nachdenkt... Jesus müßte hier sein. Bete. Hoffe. Der Herr sei mit dir.”

Jesus legt die Rolle zusammen und gibt sie Lazarus zurück. “Meister...”

“Ich werde hingehen. Kannst du Martha benachrichtigen, daß sie mir in ungefähr vierzehn Tagen bis nach Kapharnaum entgegenkommen soll? ” - “Das ist möglich, Herr. Und ich?” - “Du bleibst hier, denn auch Martha werde ich hierher schicken.” - “Warum?” - “ Weil Bekehrungen mit tiefer Scham verbunden sind. Und nichts ist beschämender als das Auge der Eltern oder der Geschwister . Ich sage dir darum: „Bete, bete, bete!”

Lazarus weint an der Brust Jesu... Nachdem er sich beruhigt hat, erzählt er von seiner Aufregung und seinen Entmutigungen... “Es ist fast ein Jahr, daß ich hoffe... und verzweifle... Wie lange dauert die Zeit der Auferstehung!...” ruft er aus. Jesus läßt ihn reden, reden, reden... bis Lazarus merkt, daß er seine Pflicht der Gastfreundschaft vernachlässigt, und sich erhebt, um Jesus ins Haus zu bitten. Auf dem Weg kommen sie an einer dichten Hecke blühenden Jasmins vorbei, auf dessen sternförmigen Blüten goldfarbene Bienen schwirren.

“Ah! Ich vergaß dir zu sagen... Der alte Patriarch, den du mir geschickt hast, ist in den Schoß Abrahams zurückgekehrt . Maximinus hat ihn hier sitzend vorgefunden, das Haupt an diese Hecke gestützt, als ob er bei den Bienenstöcken eingeschlafen wäre, die er immer versorgt hat, als ob es Häuser voll goldener Kinder wären. Er nannte die Bienen Kinder. Es schien, als verständen sie sich gegenseitig. Und als Maximinus den im Frieden des guten Gewissens entschlafenen Greis fand, schien er mit einem kostbaren Schleier kleiner goldener Körper bedeckt zu sein. Alle Bienen hatten sich auf ihrem Freund niedergelassen. Die Diener hatten große Mühe, sie zu entfernen. Er war so gut, daß er den Bienen Honig zu sein schien... Er war so tugendhaft; für die Bienen wie eine unbefleckte Blüte... Es war für mich sehr schmerzhaft. Ich hätte ihn noch gerne länger in meinem Haus behalten. Er war ein Gerechter...”

“Beweine ihn nicht. Er ist im Frieden, und in seinem Frieden betet er für dich, der du ihm die letzten Tage erhellt hast. Wo ist er begraben?” - “Im Hintergrund des Gartens. Ganz in der Nähe seiner Bienenstöcke. Komm, ich will dich hinführen...” Sie gehen durch einen kleinen Wald von wachshaltigen Lorbeerbäumen zu den Bienenstöcken, von denen ein emsiges Gesumme zu ihnen dringt...

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Jesus und Martha in Kapharnaum - 271

Erhitzt und staubbedeckt kehrt Jesus mit Petrus und Johannes in das Haus von Kapharnaum zurück. Jesus hat gerade den Garten betreten und sich zur Küche gewendet, als ihm der Hausherr entgegenkommt und in vertraulichem Ton sagt: “Jesus, die Dame, von der ich dir in Bethsaida gesprochen habe, ist hierhergekommen und hat nach dir gefragt. Ich habe ihr gesagt, sie möge warten, und habe sie in den oberen Saal geführt.” - “Danke, Thomas! Ich gehe sofort zu ihr. Wenn die anderen kommen, halte sie hier zurück.”

Und Jesus steigt eilends die Treppe hoch, ohne auch nur den Mantel abzulegen. Auf der Terrasse, wohin die Treppe führt, steht Marcella, die Dienerin Marthas. “Oh, Meister! Meine Herrin ist dort drinnen. Sie wartet schon so viele Tage auf dich”, sagt die Frau, während sie niederkniet, um Jesus zu verehren. “Das habe ich mir gedacht. Ich gehe sofort zu ihr. Gott segne dich, Marcella!”

Jesus hebt den Vorhang, der einen Schutz gegen das starke Licht bildet, das immer noch sticht, obwohl die Sonne sich dem Untergang nähert und immer noch die Luft erhitzt und die weißen Häuser von Kapharnaum im rötlichen Widerschein, wie von einem gewaltigen Brandherd beleuchtet, erscheinen läßt. Im Zimmer sitzt an einem Fenster Martha in einen Mantel gehüllt und verschleiert . Vielleicht schaut sie auf den Abschnitt des Sees, wo ein bewaldeter Hügel in ihn hineinragt. Vielleicht geht sie auch nur ihren eigenen Gedanken nach. Jedenfalls ist sie ganz in sich versunken, so daß sie die leichten Schritte Jesu, der sich ihr nähert, nicht wahrnimmt. Sie fährt zusammen, als Jesus sie beim Namen nennt.

“Oh, Meister!” ruft sie aus und läßt sich auf die Knie sinken mit ausgebreiteten Armen, als wollte sie ihn um Hilfe anrufen. Dann verneigt sie sich , bis sie mit der Stirn den Boden berührt, und weint. “Aber warum? Auf, erhebe dich! Warum dieses heftige Weinen? Hast du mir ein Mißgeschick zu berichten? Ja? Welches denn? Ich bin in Bethanien gewesen. Wußtest du davon? Ja? Dort habe ich erfahren, daß es gute Nachrichten gibt. Und jetzt weinst du... Was ist denn vorgefallen?” Jesus zwingt sie, sich zu erheben und sich auf einen an der Wand stehenden Sitz zu setzen, ihm gegenüber.

“Komm, leg den Schleier ab und den Mantel; wie ich es tue. Du mußt ja darin ersticken. Und dann will ich das Gesicht dieser verstörten Martha sehen, um alle Wolken zu vertreiben, die es überschatten.” Martha gehorcht, immer noch weinend, und es erscheint ihr gerötetes Gesicht mit den geschwollenen Augen. “Also? Ich werde dir helfen. Maria hat dich kommen lassen. Sie hat viel geweint und wollte von dir viel über mich erfahren , und du hast geglaubt, es sei ein gutes Zeichen. So hast du nach mir verlangt, um das Wunder zu vervollständigen. Ich bin gekommen. Und nun?” - “ Nun ist es aus, Meister ! Ich habe mich getäuscht. Allzu lebhafte Hoffnung vermeint zu sehen, was nicht ist... schlimmer als zuvor... Nein! Was sage ich? Ich verleumde, ich lüge. Sie ist nicht schlechter, denn sie will keine Männer mehr um sich haben. Sie ist anders geworden, aber ist immer noch sehr schlecht. Sie kommt mir wahnsinnig vor ... Ich verstehe sie nicht mehr. Früher habe ich sie wenigstens noch verstanden. Aber jetzt! Wer kann sie jetzt noch verstehen?!” und Martha weint trostlos.

“Auf, beruhige dich und sage mir, was sie macht. Warum ist sie schlecht? Sie will also keine Männer mehr um sich haben. So nehme ich an, daß sie zurückgezogen im Haus lebt. Ist es so? Ja? Gut so! Das ist sehr gut . Daß sie dich in der Nähe haben wollte zum Schutz gegen die Versuchung (das sind deine eigenen Worte), daß sie die Versuchung meidet und sich die sündhaften Beziehungen vom Hals hält, oder einfach alles meidet, was sie in sündhafte Beziehungen verwickeln könnte, das ist Zeichen eines guten Willens!”

“Meinst du, daß es so ist, Meister? Glaubst du es wirklich?”

“Aber sicher. Warum sagst du, daß sie schlecht ist? Erzähle mir, was sie macht...” - “Höre.” Martha, ein wenig durch die Sicherheit Jesu ermuntert, spricht nun mit mehr Ordnung. “Vom Augenblick an, da ich angekommen bin, ist Maria nicht mehr aus dem Haus und dem Garten gegangen; nicht einmal, um mit der Barke auf den See hinauszufahren. Und ihre Amme hat mir gesagt, daß sie schon vorher nicht mehr ausgegangen ist. Seit Ostern scheint diese Veränderung im Gang zu sein . Doch vor meiner Ankunft sind immer noch Leute gekommen, sie aufzusuchen, und sie hat sie nicht immer abgewiesen. Manchmal ordnete sie an, daß niemand vorgelassen werden solle. Und es schien eine ein für allemal gegebene Anordnung zu sein. Manchmal aber, wenn sie in die Vorhalle lief, weil sie Stimmen von Besuchern gehört hatte, und diese abgewiesen worden waren, schlug sie, von einem ungerechten Zorn erfaßt, die Diener. Seit ich bei ihr war, hat sie es nicht mehr getan.

In der ersten Nacht sagte sie zu mir, und deswegen hatte ich so große Hoffnung: „Halte mich zurück, binde mich meinetwegen an; aber laß mich nicht mehr ausgehen und laß nicht zu, daß ich andere Menschen sehe als dich und die Amme. Denn ich bin krank und möchte geheilt werden . Aber diejenigen, die zu mir kommen oder wollen, daß ich zu ihnen gehe, sind Fiebertümpel. Sie machen mich immer noch kränker. Sie sind so schön, dem Äußern nach, so blühend und voller Lieder, so köstlich anzusehen! Eine süße Frucht, so daß ich nicht widerstehen kann; denn ich bin eine arme Unglückliche. Deine Schwester ist ein Schwächling, Martha. Und es gibt Menschen, die diese Schwäche nützen wollen, um sie zu schamlosen Dingen zu verführen, denen ein Rest in ihr nicht zustimmte. Das ist das Letzte, was ich noch von der Mama besitze, von meiner armen Mama ... “ und dann weinte sie haltlos. Und ich habe ihrem Willen entsprochen. Mit Güte, wenn sie vernünftige Stunden hatte; mit Entschiedenheit in den Stunden, in denen sie mir wie ein wildes Tier im Käfig vorkam. Aber sie hat sich nie gegen mich aufgebäumt.

Im Gegenteil, wenn die Stunden größter Versuchung vorüber waren, kam sie zu mir und weinte zu meinen Füßen , legte den Kopf auf meinen Schoß und sagte: „Verzeih mir, verzeih mir!“

Wenn ich sie dann fragte: „Aber was denn, Schwester? Du hast mir doch keinen Schmerz zugefügt“, dann antwortete sie mir: „Kurz zuvor oder gestern abend, als du mir gesagt hast: ‚Du gehst nicht fort von hier‘, habe ich dich in meinem Herzen gehaßt, verflucht und dir den Tod gewünscht.“

Aber ist das nicht schrecklich, Herr? Ist sie vielleicht wahnsinnig? Hat ihre Lasterhaftigkeit sie wahnsinnig gemacht? Ich denke mir, daß irgendein Liebhaber ihr einen Gifttrank gegeben hat, um sie zur Sklavin seiner Lust zu machen, und daß ihr das Gift in den Kopf gestiegen ist...” - “Nein, kein Zaubertrank! Kein Wahnsinn! Es handelt sich um etwas ganz anderes. Aber sprich weiter.”

“Also, mir gegenüber ist sie respektvoll und gehorsam. Auch die Diener hat sie nicht mehr mißhandelt. Aber nach dem ersten Abend hat sie nie mehr nach dir gefragt. Im Gegenteil, wenn ich von dir sprach, dann wich sie aus. Abgesehen von den Tagen, an denen sie stundenlang von Belvedere auf den See starrte, bis sie davon geblendet war, und mich fragte, wenn eine Barke vorüberfuhr: „Meinst du nicht, daß sie den galiläischen Fischern gehört?“

Sie nannte deinen Namen nie, noch den eines Apostels. Aber ich weiß, daß sie an dich dachte, wenn wir abends im Garten spazierten oder vor dem Schlafengehen, wenn ich mit der Näharbeit beschäftigt war und sie, die Hände in den Schoß gelegt, sagte: „So also muß man gemäß der Lehre, die du befolgst, leben?“ Und dann weinte sie manchmal oder lachte sarkastisch wie eine Verrückte oder Besessene . Andere Male hingegen löste sie das Haar auf, das immer so kunstvoll hergerichtet ist, und flocht zwei Zöpfe; zog sie eines meiner Kleider an und stellte sich vor mich hin, mit den Zöpfen über die Schultern oder vorne herunterhängend, ganz zugedeckt und schamhaft, mädchenhaft mit ihren Haaren, der Kleidung und in ihrem Gesichtsausdruck, und sagte: „So also sollte Maria wieder werden?“ Und auch dann weinte sie bisweilen und küßte ihre herrlichen, armdicken und bis an die Knie reichenden Zöpfe, dieses leuchtende Gold, das der Stolz meiner Mutter war.

Wieder andere Male brach sie in ein schreckliches Gelächter aus oder sagte mir: „Schau mal, am besten mach ich es so, und mache Schluß mit mir!“ Dann wand sie sich die Zöpfe um die Kehle und zog sie zu, bis sie blau wurde, als wolle sie sich erdrosseln . Manchmal, wohl wenn sie ihr fleischliches Verlangen stärker fühlte, bemitleidete oder mißhandelte sie sich selbst. Ich habe sie einmal vorgefunden, wie sie sich heftig auf die Brust und den Schoß schlug, sich das Gesicht zerkratzte und den Kopf gegen die Mauer schlug ; und als ich sie dann fragte: „Warum tust du das?“ da drehte sie sich wütend um und sagte: „Um mich zu vernichten, meine Eingeweide herauszureißen und den Kopf zu zerschmettern. Schädliche, verfluchte Dinge müssen zerstört werden. Ich vernichte mich!“

Und wenn ich zu ihr von der göttlichen Barmherzigkeit sprach, von dir, - denn ich spreche von dir, als ob sie deine treueste Jüngerin wäre, und ich schwöre dir, daß es mir oft schwer fällt - dann antwortete sie mir: „ Für mich gibt es keine Barmherzigkeit mehr. Ich habe das Maß überschritten .“ Darauf erfaßte sie die Verzweiflung, sie fing an zu schreien und sich blutig zu schlagen und rief: „Aber warum? Warum kommt das Ungeheuer, das mich zerfleischt? Das mir keinen Frieden läßt? Das mich mit den süßen Stimmen zum Bösen verführt, worauf ich die Stimmen des Vaters, der Mutter und auch eure höre; denn auch du und Lazarus verfluchen mich, und ganz Israel! Das alles macht mich wahnsinnig...”

Wenn sie so spricht, antworte ich ihr: „Warum denkst du an Israel, das immer nur ein Volk bleibt, und nicht an Gott? Und wenn du auch früher nur daran gedacht hast, alles mit Füßen zu treten, so denke jetzt daran, alles zu überwinden, und denke an nichts anderes als an das, was nicht die Welt ist, also an Gott, deinen Vater, deine Mutter. Sie verfluchen dich nicht, wenn du dein Leben änderst, sondern öffnen dir ihre Arme... “ Und sie hörte mich an, staunend, als ob ich ein unmögliches Märchen erzähle, und dann weinte sie... Aber sie antwortete nicht!

Manchmal ließ sie sich Wein und Betäubungsmittel von den Dienern bringen, und dann aß und trank sie diese verpantschten Nahrungsmittel und erklärte: „Um nicht daran denken zu müssen!“ Jetzt, seit sie weiß, daß du am See bist, sagt sie jedesmal, wenn sie bemerkt, daß ich zu dir komme: „Einmal werde auch ich mitkommen“, und mit ihrem sich selbst verspottenden Lachen fügte sie hinzu: „So fällt das Auge Gottes auch auf diesen Schmutz!“

Aber ich will nicht, daß sie kommt. Und jetzt warte ich mit dem Kommen, bis sie müde von ihren Zornausbrüchen, dem Wein, dem Weinen und allem anderen erschöpft einschläft. So bin ich auch heute geflohen in der Absicht, am Abend zurückzukehren, bevor sie meine Abwesenheit bemerkt. Das ist mein Leben...; und ich gebe die Hoffnung auf...” Und da beginnt sie heftiger als zuvor zu weinen; sie wird nicht mehr vom Gedanken gehemmt, alles der Reihe nach berichten zu müssen. “Erinnerst du dich, Martha, was ich dir einmal gesagt habe? „ Maria ist eine Kranke .“ Du hast es nicht glauben wollen. Jetzt siehst du es. Du nennst sie wahnsinnig. Sie selbst hält sich für eine Kranke, für eine an sündhaftem Fieber Leidende. Ich sage, sie ist krank, weil sie von einem Dämon besessen ist. Auch das ist eine Krankheit . Diese Unbeherrschtheit, die Wutausbrüche, die Weinkrämpfe, diese Trostlosigkeit und das Verlangen nach mir, sind alles Phasen ihrer Krankheit ; sie macht kurz vor ihrer Heilung die schlimmsten Krisen durch. Du tust gut daran, gut zu ihr zu sein. Du tust gut daran, mit ihr geduldig zu sein. Du tust gut daran, zu ihr von mir zu sprechen.

Habe keine Scheu, in ihrer Gegenwart meinen Namen zu nennen. Arme Seele meiner Maria! Aber auch sie ist aus der Schöpferhand meines Vaters hervorgegangen, nicht verschieden von den Seelen der anderen, der deinen, der des Lazarus, der Apostel und der Jünger. Auch sie ist in der Zahl der Seelen einbegriffen, für die ich Fleisch geworden bin, um ihr Erlöser zu sein. Ja, ich bin sogar mehr für sie gekommen als für dich, für Lazarus, die Apostel und die Jünger .

Arme, teure Seele meiner Maria, die so sehr leidet! Meiner Maria, die ein siebenfaches Gift in sich hat neben dem allgemeinen Gift des ersten Menschen! Meine arme, gefangene Maria! Aber laß sie zu mir kommen! Laß sie meinen Hauch einatmen, meine Stimme hören, meinem Blick begegnen... Sie sagt zu sich selbst: „Schmutz und Kot“... O arme, teure Maria , bei der von den sieben Dämonen der des Hochmuts am schwächsten ist. Nur deswegen wird sie gerettet werden !”

“Aber wenn sie auf dem Weg jemand begegnet, der sie von neuem zum Laster verführt? Sie selbst fürchtet sich davor...” - “Immer wird sie sich davor fürchten, bis sie soweit ist, daß sie vor dem Laster Ekel empfindet. Aber habe keine Angst! Wenn eine Seele schon dieses Verlangen hat, zum Guten zu kommen, und nur noch von dem dämonischen Feind zurückgehalten wird, der weiß, daß er seine Beute verliert, und von dem persönlichen Feind, dem eigenen Ich, das noch menschlich denkt und sich selbst menschlich beurteilt und der Meinung ist, er urteile wie Gott, um den Geist daran zu hindern, das menschliche Ich zu meistern, dann ist diese Seele schon stark geworden gegen die Angriffe des Lasters und der Lasterhaften. Sie hat den Polarstern gefunden und weicht von der Ausrichtung nicht mehr ab. So sage nicht mehr zu ihr: „Du hast nicht an Gott gedacht, aber du denkst an Israel?“ Das ist ein indirekter Vorwurf: das sollst du nicht tun.

Sie kommt aus den Flammen. Sie ist ganz mit Wunden bedeckt. Man kann ihr nur mit dem Balsam der Güte, des Verzeihens, der Hoffnung helfen . Laß sie nur zu mir kommen. Sage vielmehr zu ihr: „Wann gedenkst du zu kommen?“ Aber sage nicht zu ihr: „Komm mit mir.“ Vielmehr, wenn du merkst, daß sie zu mir kommt, dann bleibe du zurück. Kehre nach Hause zurück. Warte zu Hause auf sie. Sie wird zurückkehren, ganz überwältigt von der Barmherzigkeit. Denn ich muß sie befreien von der Macht der Bosheit, die sie gefangen hält , und sie wird für einige Stunden wie ohnmächtig sein wie eine, welcher der Arzt die Knochen entfernt hat. Aber dann wird sie sich besser fühlen. Sie wird staunen. Sie wird ein großes Bedürfnis nach Liebe und Schweigen haben. Steh ihr bei, als wärst du ihr zweiter Schutzengel: ohne Aufdringlichkeit! Und wenn du sie weinen siehst, laß sie weinen. Und wenn du hörst, daß sie sich Fragen stellt, laß sie es tun. Und wenn du siehst, daß sie lächelt und darauf ernst wird und dann wieder auf eine ganz andere Art lächelt, mit einem veränderten Blick, mit einem anderen Gesicht, dann stelle ihr keine Fragen, bringe sie nicht in Verlegenheit. Sie leidet mehr beim Aufstieg als beim Abstieg. Und sie muß sich selbst helfen, wie sie auch von selbst abgestiegen ist. Damals, beim Abstieg hat sie eure Blicke nicht ertragen, denn in euren Augen lag der Vorwurf. Auch jetzt ist sie in ihrer endlich erwachten Scham nicht fähig, euren Blick zu ertragen.

Damals war sie stark, denn sie hatte Satan und die bösen Mächte, die sie beherrschten; sie konnte der Welt trotzen; und dennoch konnte sie es nicht ertragen, in ihrer Sünde von euch gesehen zu werden. Jetzt ist Satan nicht mehr ihr Herrscher. Er ist noch Gast bei ihr , aber er wird schon vom Willen Marias an der Gurgel gepackt. Und sie hat mich noch nicht. Deshalb ist sie noch zu schwach. Sie kann die Liebe deiner schwesterlichen Augen bei ihrem Bekenntnis zu ihrem Erlöser noch nicht ertragen. Sie setzt all ihre Kräfte dafür ein, den siebenfachen Dämon zu erdrosseln. Im übrigen ist sie hilflos, entblößt. Aber ich werde sie wieder ausstatten und stark machen. Geh in Frieden, Martha, und sage ihr mit Feingefühl, daß ich morgen nach der Vesperzeit hier in Kapharnaum beim Bach der Quelle reden werde . Geh in Frieden! Geh in Frieden! Ich segne dich.”

Martha ist noch ganz verwirrt. “Verfalle nicht der Ungläubigkeit, Martha”, sagt Jesus, der sie beobachtet. “Nein, Herr. Aber ich denke... Oh! Gib mir etwas, was ich Maria geben kann, um ihr Kraft zu verleihen... Sie leidet so sehr... und ich habe große Angst, daß es ihr nicht gelingen wird, über den Dämon zu siegen!” - “Du bist ein Kind. Maria hat mich und dich. Und da sollte es ihr nicht gelingen? Doch komm her zu mir. Gib mir diese Hand , die nie gesündigt hat, die immer gut, barmherzig, tätig und fromm gewesen ist. Sie hat immer nur Taten der Liebe und der Andacht vollbracht. Nie hat sie sich dem Müßiggang hingegeben. Sie ist nie verdorben worden. Nun umfasse ich sie mit meinen Händen, um sie noch heiliger zu machen. Erhebe sie gegen den Dämon ; er wird sie nicht ertragen können. Nimm diesen meinen Gürtel . Trenne dich nie von ihm! Jedesmal, wenn du sie siehst, sage zu dir selbst: „Viel stärker als dieser Gürtel Jesu ist die Macht Jesu, und mit ihr kann man alles besiegen, die Dämonen und die Ungeheuer. Ich brauche mich vor nichts zu fürchten.“ Bist du jetzt zufrieden? Mein Friede sei mit dir! Geh nun beruhigt dahin!” Martha verneigt sich und geht hinaus. Jesus lächelt, während er sie in den Wagen, den Marcella herbeigerufen hat, steigen und nach Magdala abfahren sieht.

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Das Gleichnis vom verlorenen Schaf - 273

Jesus spricht zur Menge. Er steht am bewaldeten Ufer eines Baches vor einer Volksmenge, die sich auf einem abgemähten Acker, der mit seinen verbrannten Stoppeln einen traurigen Eindruck macht, versammelt hat. Es ist Abend. Die Dämmerung beginnt, und der Mond geht auf. Es ist ein schöner, klarer, früh- sommerlicher Abend. Herden kehren zu ihren Ställen zurück, und das Gebimmel der Glocken vermischt sich mit dem Zirpen der Grillen oder Zikaden, ein lautes: Gri, Gri!...

Jesus nimmt eine vorbeiziehende Schafherde zum Thema seiner Predigt. Er sagt: “ Euer Vater ist wie ein guter Hirte. Was tut der gute Hirte? Er sucht die guten Weideplätze für seine Schäflein, wo es keine schädlichen und giftigen Pflanzen gibt, wohl aber süßen Klee, duftende Minze und bittere, aber heilsame Kräuter. Er sucht einen Platz, wo es außer genügender Nahrung auch kühles und reines Wasser und schattenspendende Bäume gibt und wo sich keine Vipern und Schlangen im Grün der Schollen verbergen. Er gibt nicht immer den saftigsten Weiden den Vorzug, weil er weiß, daß es dort zuweilen auch Vipern und giftige Kräuter gibt. Er zieht die gebirgige Weide vor, wo der Tau das Gras rein und frisch erhält, aber die Sonne die Reptilien fernhält; wo die Luft rein und bewegt ist und nicht so schwer und ungesund wie die in der Ebene. Der gute Hirte beobachtet jedes einzelne seiner Schäflein. Er pflegt sie, wenn sie erkranken, und heilt ihre Wunden . Jene, die wegen allzu großer Gefräßigkeit krank werden könnten, ruft er zu sich, und andere, die zu lange in der Nässe oder der prallen Sonne verweilen, treibt er anderswo hin. Wenn ein Schaf wenig Appetit hat, sucht er diesen mit bitteren, aromatischen Kräutern anzuregen. Er streckt ihm die Kräuter mit der Hand entgegen, unter gutem Zureden, wie wenn es sich um einen Menschen handle.

So macht es auch der gute Vater im Himmel mit seinen auf der Erde irrenden Kindern. Seine Liebe ist der Stab , der sie sammelt, seine Stimme ist die Führung, seine Weideplätze sind sein Gesetz, und sein Schafstall ist der Himmel.

Manchmal aber läuft ein Schäflein fort. Er hatte es sehr lieb! Es war jung, rein, schön und weiß wie eine Wolke am Frühlingshimmel. Der Hirte hat ihm immer liebevolle Blicke zugeworfen und ist stets darauf bedacht gewesen, es ihm an nichts fehlen zu lassen, damit es seine Liebe erwidere. Aber das Schäflein läuft davon. Auf dem Weg am Rand der Weide hat sich ein Versucher herangemacht . Er trägt keinen einfachen Hirtenkittel, sondern ein vielfarbiges Gewand. Er hat nicht den ledernen Gürtel mit der kleinen Axt und dem herunterhängenden Messer, sondern einen goldenen Gürtel, an dem silberne Glöcklein hängen, die wie Lerchenstimmen klingen, und Gefäße mit berauschenden Essenzen... Er trägt nicht den Krummstab, mit dem der gute Hirte die Schäflein sammelt und verteidigt; und wenn der Krummstab nicht genügt, ist er bereit, sie mit Axt und Messer und auch mit dem Leben zu verteidigen. Dieser Verführer, der vorübergeht, hat in der Hand ein mit Perlen besetztes Rauchfaß, aus dem ein betörender Rauch, der gleichzeitig Duft und Gestank ist, aufsteigt, während das Glitzern der Schmuck- stücke, unechter Schmuckstücke, die Augen blendet. Er geht singend daher und streut Salz aus, das auf der dunklen Straße glitzert.

Neunundneunzig Schafe schauen ihn an und bleiben, wo sie sind. Das hundertste, das jüngste, das Lieblingsschaf, macht einen Sprung und verschwindet hinter dem Verführer. Der Hirte ruft nach ihm, aber es kehrt nicht zurück. Es läuft rascher als der Wind, um den Vorübergegangenen einzuholen; um sich beim Laufen zu stärken, kostet es von dem Salz, schlingt es in sich hinein und verspürt darauf ein Brennen und ein fremdartiges Gefühl, das es verführt, nach dem tiefen Wasser im Dunkel des Waldes zu lechzen. Und in der Wildnis verliert es sich, immer hinter dem Verführer herlaufend; es fällt, steht auf, fällt wieder... Ein-, zwei-, dreimal fühlt es an seinem Hals die Umarmung von Schlangen, und in seinem Durst trinkt es schmutziges Wasser, und da es hungrig ist, frißt es ekelerregende Blätter und Kräuter. Was tut indessen der gute Hirte? Er bringt die neunundneunzig Schafe in Sicherheit; dann macht er sich auf den Weg und sucht solange, bis er Spuren des verlorenen Schäfleins gefunden hat. Da dieses nicht zu ihm zurückkehrt und seine Einladung in den Wind schlägt, geht er zu ihm. Und er sieht es von weitem, trunken vom Geifer der Schlangen, so trunken, daß es keine Sehnsucht nach dem geliebten Antlitz verspürt, sondern darüber spottet. Und es fühlt sich schuldbewußt, gleichsam als Dieb, der in eine fremde Wohnung eingedrungen ist, so schuldbewußt, daß es keinen Mut mehr hat aufzuschauen...

Aber der Hirte wird nicht müde... Er geht weiter, sucht und sucht und folgt ihm. Er findet seine Spur. Weinend sieht er auf den Spuren des verlorenen Schäfleins Wollfetzen: Fetzen der Seele; Blutspuren; verschiedene Vergehen; Schmutz: Beweis seiner Wollust. Er geht weiter und holt es ein. Ah! Ich habe dich gefunden, geliebtes Schäflein. Ich habe dich eingeholt! Wie weit bin ich deinetwegen gelaufen, um dich in den Schafstall zurückzuholen! Neige nicht beschämt den Kopf. Deine Sünde ist in meinem Herzen begraben. Niemand außer mir, der ich dich liebe, wird es erfahren . Ich werde dich verteidigen vor fremder Kritik. Ich werde dich mit meiner Person decken und dir ein Schild sein gegen die Steinwürfe der Ankläger. Komm! Bist du verwundet?

Oh, zeige mir deine Wunden. Ich kenne sie. Aber ich möchte, daß du sie mir zeigst mit dem Vertrauen, das du hattest, als du noch rein warst und mich, deinen Hirten und Gott, mit unschuldigen Augen ansahst. Sieh, da sind sie. Sie haben alle einen Namen. Wie traurig sie doch sind! Wer hat dir so tiefe Wunden im Grunde deines Herzens geschlagen? Der Versucher, ich weiß es! Er, der keinen Hirtenstab und keine Axt hat, aber dessen vergifteter Biß in die Tiefe dringt. Und hinter ihm stachen dir die falschen Edelsteine seines Weihrauchfasses in die Augen: Sie haben dich verführt mit ihrem Glitzern... Aber es war nur Höllenschwefel, der ans Licht gezogen wurde, um dir das Herz zu verbrennen. Schau, wie viele Wunden! Welch zerrissenes Fell, wieviel Blut, wie viele Dornen! O arme, kleine, enttäuschte Seele! Aber sage mir: wenn ich dir verzeihe, wirst du mich dann wieder lieben? Sage mir: wenn ich die Arme nach dir ausstrecke, wirst du dann herbeieilen? Sage mir: hast du nicht Durst nach echter, guter Liebe?

Nun, komm und werde wieder neu geboren. Kehre auf die heiligen Weiden zurück. Weine! Deine Tränen, mit den meinen vermischt, waschen die Spuren deiner Sünde ab, und ich will dir meine Brust und meine Venen öffnen, weil du vom Übel, das dich verbrannt hat, aufgezehrt bist, und ich sage zu dir: „Nähre dich und lebe.“

Komm, daß ich dich in meine Arme nehme. Wir werden schnell auf heilige und sichere Weiden gehen. Du wirst alles von dieser Stunde der Verzweiflung vergessen. Und die neunundneunzig Schwestern, die guten, sie werden jubeln bei deiner Rückkehr; denn ich sage dir, mein verirrtes Schäflein, daß ich dich, von weither kommend, gesucht, eingeholt und gerettet habe; man feiert mehr ein verlorenes Schaf, das zurückkehrt, als die neunundneunzig Gerechten, die sich nie vom Schafstall entfernt haben.”

Jesus hat sich nie umgedreht, um auf den Weg zu blicken in seinem Rücken, auf dem im abendlichen Dämmerschein Maria von Magdala dahergekommen ist. Sie ist immer noch sehr elegant, aber wenigstens gut gekleidet, von einem dunklen Schleier bedeckt, der ihre Züge und Formen verhüllt. Und als Jesus sagt: “Ich habe dich gefunden, Geliebte”, fährt Maria mit den Händen unter den Schleier und beginnt zu weinen, leise und untröstlich. Das Volk sieht sie nicht , denn sie befindet sich auf der anderen Seite der Hecke, die den Weg einsäumt. Nur der Mond, der hoch steht, und der Geist Jesu sehen sie... Und er sagt zu mir: “Die Deutung findest du in der Vision selbst. Doch ich werde noch mit dir darüber reden. Nun ruhe dich aus! Ich segne dich, treue Maria!”

    Unter Nr. 274

„Seine Liebe spornt euch an, Verzeihung und Mitleid zu üben, um euch zu lehren, daß die Verzeihung viel nützlicher ist als der Groll und die Barmherzigkeit besser als die Unerbittlichkeit . Kommt zu dem, der verzeiht. Habt Vertrauen auf den, der mit euch fühlt.“

Eine andere Sache, die der Apostel unbedingt üben muß, ist die Nächstenliebe . Offenkundige Liebe! Nicht nur eine im Herzen verborgene Liebe den Brüdern gegenüber. Sie genügt unter guten Brüdern.

Aber der Apostel ist ein Arbeiter Gottes; er darf sich nicht damit begnügen, nur zu beten; er muß auch handeln. Er muß mit Liebe handeln. Mit großer Liebe. Härte lähmt die Arbeit des Apostels und hemmt die Hinkehr der Herzen zum Licht. Keine Härte, sondern Liebe!

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Jesus sagt zu Martha:
“Du hast den Sieg schon in deiner Hand”
- 275

Es ist ein klarer Sommermorgen, der Rosen über die seidenen Wellen des Sees entblättert. Jesus ist gerade dabei, in eine Barke zu steigen, als Martha mit ihrer Dienerin herbeieilt .

“Oh! Meister! Höre mich an, um Gottes willen!” Jesus geht von neuem an Land und sagt zu den Aposteln: “Erwartet mich beim Bach! Bereitet schon alles für die Mission nach Magedan vor. Auch die Dekapolis wartet auf das Wort. Geht!” Während die Barke vom Ufer abstößt und ausläuft, geht Jesus an der Seite Marthas , während Marcella achtungsvoll hinter ihnen folgt. Sie entfernen sich von der Ortschaft und schreiten am Ufer entlang, das sich nach einem sandigen, spärlich bewachsenen Stück in einen herrlichen, wilden Garten verwandelt. Die Küste beginnt auch anzusteigen und spiegelt sich im Wasser. Als sie an einem einsamen Ort angelangt sind, sagt Jesus lächelnd: “Was willst du mir sagen?”

“Oh, Meister... Heute Nacht, kurz nach der zweiten Nachtwache, ist Maria nach Hause gekommen . Ach! Ich habe vergessen, dir zu sagen, daß sie mir während der Mahlzeit zur sechsten Stunde gesagt hatte: „Würdest du mir dein Gewand und deinen Mantel leihen? Sie werden etwas kurz sein. Aber ich muß das Kleid nicht schürzen und den Mantel nicht hochziehen... “ Ich habe ihr erwidert: „Nimm, was du willst, meine Schwester“, und das Herz schlug mir heftig, denn zuvor hatte ich im Garten zu Marcella gesagt: „Am Abend muß ich in Kapharnaum sein, denn der Meister spricht heute zur Menge.“ Und ich hatte bemerkt, wie Maria zusammengefahren war, die Farbe wechselte und allein hin- und herging, wie jemand, der unruhig und aufgeregt ist, der eine Entscheidung treffen muß... und noch nicht weiß, was er tun und was er nicht tun soll.

Nach der Mahlzeit ist sie in mein Zimmer gegangen und hat das dunkelste Gewand genommen, das einfachste, hat es probiert und dann die Amme gebeten, den ganzen Saum herunterzulassen, denn das Kleid war zu kurz. Sie hat zuerst versucht, es selbst zu machen, mußte aber weinend bekennen: „Ich habe das Nähen verlernt. Ich habe alles vergessen, was nützlich und gut ist... “, und sie hat die Arme um meinen Hals gelegt und bat: „Bete für mich.“ Dann ist sie in die Dämmerung hinausgegangen... Wie sehr habe ich gebetet, daß sie keinem begegne, der sie hätte aufhalten können; daß sie dein Wort verstehe; daß es ihr gelinge, endgültig das Ungeheuer zu erwürgen, das sie zur Sklavin gemacht hatte...

Schau, ich habe meinen Gürtel über deinen Gürtel gelegt, und wenn ich den harten Druck des Leders auf meinen Hüften spürte, die nicht an so harte Gürtel gewöhnt sind, dann sagte ich: „Er ist stärker als alles andere.“ Dann, mit dem Wagen ging es rasch, sind wir, ich und Marcella, gefahren. Ich weiß nicht, ob sie uns in der Menge gesehen hat... Aber welcher Schmerz, welcher Dorn in meinem Herz, als ich Maria nicht sah! Ich dachte: „Sie hat es bereut. Sie ist nach Hause zurückgekehrt... oder sie ist geflohen, da sie meine Aufsicht, die sie selbst verlangt hatte, nicht mehr ertragen konnte.“

Ich habe dir zugehört und dabei unter meinem Schleier geweint. Diese Worte schienen alle für sie bestimmt zu sein... und sie konnte sie nicht hören! So dachte ich, da ich sie nicht sah. Ich bin entmutigt nach Hause gegangen. Es ist wahr, ich habe dir nicht gehorcht, denn du hattest mir gesagt: „Wenn sie kommt, dann erwarte sie zu Hause.“ Aber schau auf mein Herz, Meister! Es war meine Schwester, die zu dir ging! Durfte ich nicht dabeisein und sie bei dir sehen? Und dann!... Du hattest mir gesagt: „Sie wird zerrissen sein.“ Ich wollte sofort in ihre Nähe gehen, um sie zu stützen... Ich kniete weinend und betend in meiner Kammer, als sie lange nach der zweiten Nachtwache eintrat. So leise, daß ich sie erst bemerkte, als sie sich über mich warf, mich umschlang und sagte:

Alles, was du sagst, ist wahr, geliebte Schwester! Er ist noch viel mehr, als du glaubst. Seine Barmherzigkeit ist noch viel größer . Oh, meine Martha! Du brauchst mich jetzt nicht mehr zu halten! Du wirst mich nicht mehr zynisch und verzweifelt sehen! Du wirst mich nie mehr sagen hören: ‚Nicht denken müssen.‘ Jetzt will ich denken. Ich weiß nun, an was ich denken muß. An die menschgewordene Güte! Du hast gebetet, meine Schwester, gewiß hast du für mich gebetet . Und du hast deinen Sieg schon in der Hand. Deine Maria, die nicht wieder sündigen will, die nun wieder neu geboren wird! Siehe sie hier! Schau ihr gut ins Gesicht. Denn es ist eine neue Maria, mit einem von Tränen gewaschenen Gesicht, voller Hoffnung und Reue. Du kannst mich küssen, reine Schwester. Es ist keine Spur schamloser Liebe mehr auf meinem Gesicht. Er hat gesagt, daß er meine Seele liebt . Denn zu ihr und über sie hat er gesprochen. Das verirrte Schäflein war ich . Er hat gesagt, höre gut zu, ob ich es recht wiederhole; du kennst die Redeweise des Erlösers...“ und dann hat sie mir ganz genau dein Gleichnis erzählt.

Maria ist sehr intelligent! Viel intelligenter als ich! Sie hat ein gutes Gedächtnis. So habe ich dich zweimal gehört; und wenn die Worte auf deinen Lippen heilig und anbetungswürdig waren, dann waren sie für mich auf ihren Lippen heilig, anbetungswürdig und liebenswert; denn es waren die Lippen der Schwester, meiner wieder gefundenen Schwester, die zum häuslichen Herd zurückgekehrt ist. Wir hielten uns umarmt, während wir auf der Matte des Bodens saßen wie einst, da wir noch Kinder waren und uns zusammen im Zimmer Mamas oder im Raum, wo sie webend oder stickend ihre herrlichen Stoffe herstellte, aufhielten; sie war mir nicht mehr durch die Sünde entfremdet, und es schien mir, als ob auch Mama mit ihrem Geist anwesend wäre. Wir weinten ohne Schmerz, vielmehr in großem Frieden! Wir küßten uns voller Glückseligkeit... Dann schlief Maria , müde vom langen Gehen, von der Erregung und von vielen anderen Dingen, in meinen Armen ein; ich legte sie mit Hilfe der Amme auf mein Bett... Ich habe sie dort zurückgelassen und bin hierher geeilt...”

Und Martha küßt selig die Hände Jesu. “Nun sage auch ich dir, was Maria gesagt hat: „ Du hast deinen Sieg schon in der Hand .“ Geh hin und sei glücklich! Geh in Frieden! Sei gütig und klug im Umgang mit der Wiedergeborenen. Leb wohl, Martha! Laß es auch Lazarus wissen , der sich im Garten quält.” - “Ja, Meister! Aber wann wird Maria mit uns Jüngerinnen kommen?”

Jesus lächelt und sagt: “Der Schöpfer machte die Schöpfung in sechs Tagen, und am siebten ruhte er.” - “Ich verstehe. Man muß Geduld haben...” - “ Geduld, ja! Seufze nicht! Auch das ist eine Tugend . Der Friede sei mit euch, Frauen! Wir werden uns bald wiedersehen.” Jesus verläßt sie und geht zur Stelle am Ufer, wo bereits das Boot wartet.

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Magdalena im Haus des Pharisäers Simon - 276

Zum Trost für meine vielen Leiden und um mich die Bosheiten der Menschen vergessen zu lassen, gewährt mir mein Jesus diese Betrachtungen: Ich sehe einen reich ausgestatteten Saal. Ein großartiger Kronleuchter hängt von der Decke herab, und seine vielen Lampen sind angezündet. An den Wänden hängen kostbare Teppiche und stehen geschnitzte Sessel, die mit Elfenbein und Metall eingelegt sind. In der Mitte des Saales befindet sich eine große Tafel, die aus vier im Quadrat aufgestellten Tischen besteht. Die Tafel ist sicher für die vielen Gäste (alles Männer) so hergerichtet und mit schönen Tischdecken und kostbarem Geschirr gedeckt worden. Wertvolle Krüge und Becher stehen bereit, und viele Diener kommen und gehen und bringen Speisen und Weine. Der Fußboden ist sehr schön, und das Licht der Öllampen spiegelt sich darin. Außen um das Quadrat der vier Tische herum befinden sich die Sitzgelegenheiten, die schon alle von den Eingeladenen eingenommen worden sind. Es kommt mir vor, als wäre ich in der halbdunklen Ecke im Hintergrund des Saales, neben einer Türe, die nach außen hin geöffnet ist, vor der aber ein schwerer Teppich oder Gobelin vom Türbalken herunterhängt.

Auf der dem Eingang gegenüberliegenden Seite sitzt der Hausherr mit den wichtigsten Gästen. Er ist ein älterer Herr und trägt eine weite, weiße Tunika, die an den Hüften von einem gestickten Gürtel zusammengehalten wird. Das Gewand hat auch am Hals, am Ende der Ärmel und am unteren Saum Borten mit gestickten Motiven. Doch das Gesicht des Alten gefällt mir nicht. Es ist bösartig, kalt, hochmütig und gierig . Ihm gegenüber sitzt mein Jesus. Ich sehe ihn von der Seite, fast von hinten. Er trägt sein übliches weißes Gewand und Sandalen; die Haare sind in der Mitte gescheitelt und haben die gewohnte Länge. Ich bemerke, daß er und auch seine Tischgenossen nicht sitzen, also nicht aufrecht am Tisch sitzen, sondern liegen. Bei der Vision von der Hochzeit zu Kana habe ich nicht auf diese Besonderheit geachtet; ich habe nur gesehen, daß alle beim Essen den linken Arm aufstützten; doch schienen sie nicht zu liegen, vielleicht weil die Liegebetten weniger prächtig und viel kürzer waren. Hier stehen richtige Betten; sie gleichen modernen Diwanen.

Jesus hat neben sich Johannes, und da er seinen linken Ellbogen aufstützt (wie alle), ist Johannes zwischen dem Tisch und der Person Jesu eingekeilt. Er berührt mit seinem Ellbogen die Seite Jesu, ohne ihn jedoch beim Essen zu hindern; vielmehr erlaubt er ihm, sich vertraulich an seine Brust zu legen, wenn er will. Von den Frauen ist keine zugegen. Alle reden, und der Hausherr wendet sich ab und in voller affektierter Herablassung und offenbarer Geringschätzung Jesus zu. Er will offensichtlich ihm und den Anwesenden zeigen, daß er Jesus mit der Einladung in sein reiches Haus eine große Ehre erweise; ihm, dem armen Propheten, den viele etwas überspannt finden...

Ich sehe, daß Jesus höflich und ruhig antwortet. Er hat ein sanftes Lächeln für den, der ihm Fragen stellt, und ein leuchtendes Lächeln, wenn der, welcher mit ihm spricht oder ihn auch nur anblickt, Johannes ist. Dann sehe ich, wie der reiche Vorhang an der Türe sich bewegt und eine junge, schöne, vornehm gekleidete und sorgfältig frisierte Frau hereinkommt . Ihr reiches, blondes, kunstvoll hergerichtetes Haar bildet einen wahren Schmuck. Es scheint, als trage sie einen goldenen, verzierten Helm, so sehr glänzt ihr Haar. Wenn ich ihr Kleid mit dem Gewand vergleiche, das die Jungfrau Maria stets trägt, so ist dieses hier ungewöhnlich reich und pompös. Schnallen auf den Schultern; Schmuckstücke, die den Ausschnitt auf der Brust zusammenhalten; Goldkettchen , die die Linie der Brust unterstreichen, und ein Gürtel, der mit Gold und Edelsteinen verziert ist. Das ganze Kleid hebt die Linien des wunderschönen Körpers hervor. Auf dem Kopf hat die Frau einen Schleier, der so dünn ist, daß er absolut nichts verhüllt. Er dient nur dazu, ihren Reiz zu erhöhen. An den Füßen trägt sie kostbare Sandalen aus rotem Leder mit goldenen Schnallen, deren Riemen um die Knöchel geschnürt sind. Alle, außer Jesus, wenden sich um, sie anzuschauen. Johannes sieht nur kurz hin und wendet seinen Blick wieder Jesus zu. Die anderen starren sie mit sichtlicher, teils böswilliger Gier an. Aber die Frau schaut sie nicht an und kümmert sich nicht um das Geflüster, das sich bei ihrem Eintreten erhoben hat, und um das Zuzwinkern von seiten Anwesender. Jesus tut, als ob er nichts bemerke. Er fährt fort, mit dem Hausherrn zu reden.

Die Frau nähert sich Jesus und kniet zu Füßen des Meisters nieder. Sie stellt ein Gefäß auf den Boden, das die Form eines bauchigen Kruges hat, und nimmt den Schleier vom Haupt, indem sie eine kostbare Haarnadel entfernt, mit der er an der Haartracht befestigt war; dann streift sie auch die Ringe von den Fingern und legt alles auf das Bett zu den Füßen Jesu nieder. Schließlich nimmt sie die Füße Jesu in ihre Hände, zuerst den rechten, dann den linken, löst die Riemen der Sandalen und legt sie auf den Boden. Unter Tränen küßt sie diese Füße, legt ihre Stirn darauf und liebkost sie, und die Tränen rinnen wie Regen, der im Lampenschein glitzert, von den anbetungswürdigen Füßen Jesu herab. Jesus wendet langsam das Haupt, nur ganz wenig, und seine tiefblauen Augen ruhen einen Augenblick auf dem geneigten Kopf. Ein Blick der Vergebung!

Dann richtet er seinen Blick wiederum zur Mitte und läßt ihrem Herzenserguß freien Lauf. Aber die anderen nicht. Sie spötteln, blinzeln sich zu und grinsen. Der Pharisäer setzt sich einen Augenblick auf, um besser sehen zu können, und in seinem Blick spiegeln sich Verlangen, Ärger und Ironie. Sein Verlangen nach dieser Frau ist offenkundig. Verärgert ist er, weil die Frau so frei eingetreten ist und die anderen denken könnten, daß sie... öfters in diesem Haus zu Gast ist. Die Ironie gilt Jesus. Aber die Frau kümmert sich um nichts. Sie weint unaufhörlich und lautlos. Nur große Tränen und seltenes Schluchzen. Dann löst sie sich die Haare, zieht die goldenen Spangen heraus, die ihre Frisur halten, und legt auch sie neben Ringe und Haarnadel. Die goldenen Haarsträhnen fallen über ihre Schultern. Sie ergreift sie mit ihren beiden Händen und fährt damit über die mit Tränen benetzten Füße Jesu, solange, bis diese trocken sind. Dann taucht sie die Finger in das Gefäß und nimmt daraus eine gelbliche, wunderbar duftende Salbe . Der Duft, der an Lilien und Tuberosen erinnert, breitet sich im ganzen Saal aus. Die Frau greift ohne zu geizen in das kleine Gefäß und salbt und küßt und liebkost die Füße . Jesus schaut ab und zu mit liebevoller Barmherzigkeit auf sie.

Johannes, erstaunt über diesen Tränenausbruch, schaut hin und kann seinen Blick nicht mehr von Jesus und der Frau abwenden. Er blickt bald auf ihn, bald auf sie. Das Gesicht des Pharisäers wird immer düsterer. Ich höre hier die bekannten Worte des Evangeliums, und ich höre sie in einem Ton und von einem Blick begleitet, die den mißgünstigen Greis zwingen, das Haupt zu senken. Ich höre die Worte der Vergebung, die Jesus an die Frau richtet, die sich darauf entfernt, indem sie ihre Schmucksachen zu den Füßen Jesu zurückläßt . Sie hat sich ihren Schleier um den Kopf gewickelt und darin, so gut es ging, die aufgelösten Haare verborgen. Jesus legt ihr mit den Worten: “Geh in Frieden!” die Hände auf das gesenkte Haupt , einen Augenblick nur, doch mit überaus liebevoller Gebärde.

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“Viel wird dem verziehen, der viel liebt” - 277

Jesus sagt nun zu mir: “Was den Pharisäer und seine Freunde veranlaßt hat, das Haupt zu senken, und was nicht im Evangelium berichtet wird, sind die Worte, die mein Geist durch einen Blick wie Blitze in diese ausgetrocknete und hungrige Seele geschleudert hat. Ich habe viel mehr geantwortet als berichtet wird; denn mir war nichts von den Gedanken der Menschen verborgen. Und er hat meine wortlose Sprache verstanden, die vorwurfsvoller war, als meine Worte es hätten sein können. Ich habe ihm gesagt :

„Nein, keine niederträchtige Unterstellung, um dich vor dir selbst zu rechtfertigen. Ich habe keine Sinnenlust wie du. Die Frau kommt nicht zu mir in sinnlicher Absicht . Ich bin nicht wie du und deinesgleichen. Sie kommt zu mir, weil mein Blick und mein gelegentliches Wort ihre Seele erleuchtet haben, in der die Sinnenlust die Finsternis verursacht hatte. Sie kommt, um über ihre Sinnlichkeit Herr zu werden, und weil sie als armes Geschöpf weiß, daß sie allein nicht dazu imstande ist . Sie liebt in mir den Geist, nur den Geist, dessen übernatürliche Güte sie spürt. Nachdem sie soviel Böses von euch allen erfahren hat, die ihr ihre Schwäche für eure Laster ausgenützt und sie schließlich deswegen verachtet habt, kommt sie zu mir, weil sie fühlt, daß sie hier das Gute, die Freude, den Frieden gefunden hat, die sie im Pomp und Glanz der Welt vergeblich gesucht hatte. Bemühe dich um die Heilung deiner Seele von deinem Aussatz, du scheinheiliger Pharisäer ; bemühe dich, die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind.

Leg ab deinen Geistesstolz und deine fleischliche Wollust. Sie sind ein viel ekelerregenderer Aussatz als der körperliche. Von letzterem könnt ihr durch meine Berührung geheilt werden, wenn ihr mich darum bittet; vom Aussatz des Geistes nicht, denn ihr wollt nicht von ihm befreit werden, weil er euch gefällt. Sie aber will es! Und deswegen reinige und befreie ich sie von den Ketten ihrer Sklaverei. Die Sünderin ist tot. Sie liegt da im Schmuck, den sie mir, sich schämend, schenkt, damit ich ihn heilige, indem ich ihn für die Bedürfnisse meiner Person und meiner Jünger verwende; für die Armen, denen ich mit dem Überfluß der anderen zu Hilfe komme. Denn ich, der Herr des Weltalls, besitze jetzt nichts, ich, der Erlöser der Menschen. Sie ist dort in dem Duft, den sie auf meinen Füßen hinterlassen hat; den Füßen, denen du eine Erfrischung mit dem Wasser deines Brunnens versagt hast, nachdem ich so weit gegangen war, um auch dir das Licht zu bringen. Die Sünderin ist tot. Sie ist wieder Maria geworden, schön wie ein reines, schamhaftes Mädchen in ihrer aufrichtigen Liebe. Sie hat sich in ihren Tränen gewaschen.

Wahrlich, ich sage dir, o Pharisäer, daß ich zwischen dem, der mich mit seiner reinen Jugend liebt, und dieser, die mich in der aufrichtigen Zerknirschung eines in der Gnade wiedergeborenen Herzens liebt, keinen Unterschied mache und dem Reinen und der Reuigen den Auftrag erteile, meine Gedanken besser als die anderen zu verstehen, meinem Leib die letzten Ehrungen zu erweisen und den ersten Gruß an mich zu richten (abgesehen von dem meiner Mutter), nachdem ich auferstanden sein werde.“

Das wollte ich mit meinem Blick dem Pharisäer zu verstehen geben. Aber dich möchte ich noch auf etwas anderes hinweisen: zu deiner Freude und zur Freude vieler. Auch in Bethanien hat Maria diese Geste wiederholt , welche die Morgenröte ihrer Erlösung darstellt. Es gibt persönliche Gesten, die sich wiederholen und eine Person und ihre Eigenart kennzeichnen. Unverwechselbare Gesten! Doch, wie es sich geziemte, war die Geste in Bethanien weniger erniedrigend und vertraulicher in ihrer ehrfürchtigen Anbetung. Viele Fortschritte hat Maria seit dieser Morgendämmerung ihrer Erlösung gemacht. Viele!

Die Liebe hat sie wie ein Wirbelwind in die Höhe und vorangetrieben. Die Liebe hat in ihr wie auf einem Scheiterhaufen das unreine Fleisch verzehrt und dem gereinigten Geist die Herrschaft übergeben. Und Maria, verschieden in der wieder- gewonnenen Würde der Frau wie in der Kleidung, ist nun eine andere, einfach wie meine Mutter in der Frisur, im Blick, in der Haltung und im Reden, neu; so war es auch eine neue Art, mich zu ehren durch dieselbe Geste. Sie nimmt ihren letzten Salbtopf, den sie für mich aufbewahrt hat, und gießt ihn aus über meine Füße und mein Haupt, ohne Tränen und mit einem Blick, den die Liebe und die Sicherheit, Vergebung erlangt zu haben und gerettet zu sein, erstrahlen läßt. Jetzt kann Maria mein Haupt berühren und salben. Reue und Liebe haben sie gereinigt mit dem Feuer der Seraphim, und sie selbst ist nun ein Seraph .

Sage es dir selbst, Maria, meine „kleine Stimme“, sage es den Seelen. Geh und sage es den Seelen, die nicht zu mir zu kommen wagen, weil sie sich schuldig fühlen. Viel, ja sehr viel wird dem verziehen, der viel liebt. Der mich sehr liebt. Ihr wißt nicht, ihr armen Seelen, wie euch der Erlöser liebt ! Fürchtet euch nicht vor mir! Kommt voller Vertrauen! Voller Mut! Ich öffne euch mein Herz und die Arme. Denkt immer daran: Ich mache keinen Unterschied zwischen dem, der mich mit unversehrter Reinheit liebt, und dem, der mich mit der aufrichtigen Zerknirschung eines in der Gnade wiedergeborenen Herzens liebt . Ich bin der Erlöser. Erinnert euch immer daran! Geh in Frieden. Ich segne dich.”

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Erwägungen über die Bekehrung
Maria Magdalenas
- 278

Heute habe ich den ganzen Tag über das nachgedacht, was Jesus mir gestern abend diktiert hat, und auch darüber, was ich gesehen und verstanden habe, obwohl nicht darüber gesprochen worden ist. Bei dieser Gelegenheit möchte ich noch bemerken, daß die Gespräche der Tischgenossen, sofern ich sie verstanden habe, also besonders die jener, die Jesus zugewandt waren, Ereignisse des Tages betrafen: die Römer, das von ihnen mißachtete Gesetz, ferner die Mission Jesu als Lehrmeister einer neuen Schule. Aber unter dem Deckmantel der Höflichkeit, so konnte man verstehen, waren es boshafte und verfängliche Fragen , die Jesus in Verlegenheit bringen sollten. Doch es gelang ihnen nicht, Jesus zu verwirren, denn mit wenigen Worten gab er die richtige Antwort und machte weitere Fragen unnötig. Auf die Frage, von welcher besonderen Schule oder Sekte er ein neuer Lehrmeister sei, antwortete er schlicht: “Von der Schule Gottes. Er ist es, dessen heiliges Gesetz ich befolge, und seinetwegen bin ich darauf bedacht, daß in den Kleinen (und dabei schaute er mit Liebe auf Johannes und in Johannes auf alle, die aufrichtigen Herzens sind) das Gesetzerneuert werde in seiner ganzen Wesenheit, auf daß es wie am Tag werde, als der Herr, unser Gott, es auf Sinai kundgetan. Ich bringe die Menschen zurück zum Licht Gottes.”

Auf die Frage, was er von den Mißbräuchen und Übergriffen Cäsars denke, der sich zum Beherrscher Palästinas gemacht hatte, antwortete Jesus: “ Cäsar ist, was er ist, weil Gott es so will . Gedenkt des Propheten Jesaja. Nennt er nicht durch göttliche Erleuchtung Assur „die Zuchtrute“ seines Zorns? Die Zuchtrute, mit der das Volk Gottes bestraft wird, weil es sich von Gott abgewendet hat und sich Täuschungen hingibt? Und sagt er nicht auch, daß er ihn, nachdem er ihn zur Bestrafung benützt hat, zerbrechen wird, weil er seine Macht mißbraucht hat und zu hochmütig und grausam geworden ist?” Diese beiden Antworten haben den größten Eindruck auf mich gemacht. Heute abend sagt mein Jesus lächelnd zu mir: “Immer komme ich, Maria, wenn jemand sich bemüht, zu verstehen. Ich bin kein harter und strenger Gott. Ich bin lebendige Barmherzigkeit . Und schneller als der Gedanke bin ich bei dem, der sich an mich wendet.

Auch der armen Maria von Magdala, die in ihren Sünden versunken war, war ich sofort mit meinem Geist zu Hilfe geeilt, als sich in ihr das Verlangen regte, zu verstehen und das Licht Gottes und ihren eigenen Zustand in der Finsternis zu erkennen. Und ich bin ihr zum Licht geworden. Zu vielen habe ich an jenem Tag gesprochen, aber in Wirklichkeit galt es ihr allein. Ich hatte nur sie im Auge, die zu mir gekommen war, einem Drang der Seele folgend, in einer Auflehnung gegen das Fleisch, dessen Sklavin sie war. Ich hatte nur sie im Auge mit ihrem armen, vom Sturm gepeitschten Gesicht, mit ihrem erzwungenen Lächeln, das soviel innere Tränen unter dem Gewand der Sicherheit und lügnerischer Freude verbarg, da sie der Welt und sich selbst nicht mehr traute. Ich sah nur sie, die viel mehr in Dornen verstrickt war als das verirrte Schäflein im Gleichnis; sie, die am Ersticken war im Überdruß ihres Lebens, der an die Oberfläche gestiegen war, wie jene tiefen Wellen, die die Wasser der Tiefe in die Höhe wälzen. Ich habe keine großen Worte gebraucht; ich habe kein Thema gewählt, das auf sie, die bekannte Sünderin, hingewiesen hätte, um sie nicht zu beschämen und zur Flucht zu zwingen. Ich habe sie in Frieden gelassen. Ich ließ mein Wort und meinen Blick in sie eindringen und in ihr wirken, um aus diesem momentanen Impuls die glorreiche Zukunft einer Heiligen zu gestalten. Ich habe mit einem der lieblichsten Gleichnisse zu ihr gesprochen mit einem Strahl des Lichtes und der Güte, der gerade für sie ausgesandt wurde.

Und während sie an jenem Abend ihren Fuß in das Haus des hochmütigen Reichen setzte, in dem mein Wort nicht zu künftiger Herrlichkeit keimen konnte, weil es im pharisäischen Hochmut erstickt wäre, wußte ich schon, daß sie kommen würde, nachdem sie soviel geweint hatte in ihrer Kammer der Lasterhaftigkeit und daß im Licht dieser Tränen ihre Zukunft schon beschlossen war. Die Männer haben in ihrer Begehrlichkeit bei ihrem Eintritt in ihrem Fleisch gejubelt und ihr in Gedanken schlechte Absichten unterstellt. Alle haben nach ihr begehrt, mit Ausnahme der beiden Reinen an der Tafel: ich und Johannes ! Alle glaubten, sie sei gekommen aus einer ihrer leichtsinnigen Launen, die sie, in ihrer wahren dämonischen Besessenheit, in unvorhergesehene Abenteuer stürzten. Aber Satan war bereits besiegt. Und alle haben voller Neid beobachtet, daß sie nicht ihretwegen, sondern meinetwegen gekommen war. Der schlechte Mensch besudelt selbst die reinsten Dinge, wenn er nur für sein Fleisch und Blut lebt. Nur die Reinen sehen klar, weil die Sünde ihren Geist nicht verwirrt . Aber, daß der Mensch nicht versteht, soll dich nicht erschüttern, Maria. Gott versteht. Und das genügt für den Himmel. Die Ehre, die von den Menschen kommt, vermehrt um keinen Grad die Herrlichkeit, die den Auserwählten im Paradies zuteil wird. Bedenke das immer!

Die arme Maria Magdalena ist in ihren guten Taten immer falsch beurteilt worden. Dasselbe war nicht der Fall in bezug auf ihre sündhaften Handlungen; denn das waren Bisse der Wollust für den unersättlichen Hunger der Lasterhaften. So wurde sie kritisiert und falsch beurteilt zu Naïm im Haus des Pharisäers, kritisiert und getadelt in Bethanien, in ihrem eigenen Haus. Aber Johannes sagt ein großes Wort, das den Schlüssel zu dieser letzten Kritik gibt: „Judas... weil er ein Dieb war.“ Ich sage: „Der Pharisäer und seine Freunde, weil sie wollüstige Menschen waren.“ Siehst du? Die sinnliche Begierde und die Gier nach Geld erheben die Stimme der Kritik gegen die gute Tat. Die Guten kritisieren nicht. Niemals! Sie haben Verständnis. Aber, ich wiederhole es dir, die Kritik der Welt ist belanglos. Auf das Urteil Gottes kommt es an.

“Meister, hier ist die Frau wieder. Sie wartet seit gestern abend auf dich . Sie ist mit einem Diener gekommen”, und er fügt leise hinzu: “Sie ist sehr aufgeregt. Sie weint unaufhörlich...” - “Gut! Sage ihr, sie soll nach oben kommen. Wo hat sie geschlafen?” - “Sie wollte nicht schlafen. Aber schließlich hat sie sich gegen Morgen für einige Stunden in meine Kammer zurückgezogen. Den Diener habe ich in einem eurer Betten schlafen lassen.” - “Gut so. Dort soll er auch diese Nacht schlafen... Und du schläfst in meinem Bett.” - “Nein, Meister! Ich werde auf die Terrasse gehen und mich auf die Matten legen. Ich kann auch dort gut schlafen.” Jesus steigt zur Terrasse hinauf. Da kommt auch schon Martha .

“Der Friede sei mit dir, Martha!” Ein Seufzer ist die Antwort. “Weinst du immer noch? Bist du jetzt nicht glücklich?” Martha schüttelt den Kopf. “Aber warum denn?...” Eine lange Pause voller Seufzer. Endlich mit einem Schluchzen: “ Maria ist seit vielen Tagen nicht mehr heimgekehrt . Und wir haben sie nirgendwo finden können, weder ich noch Marcella noch die Amme. Sie war weggegangen, nachdem sie einen Wagen verlangt hatte. Sie war ganz pompös gekleidet! Oh, sie hat mein Kleid nicht wieder anziehen wollen... Sie war nicht halbnackt, aber sehr herausfordernd in ihrem Kleid... Und Schmuck und Duftstoffe hat sie mit sich genommen... und sie ist nicht mehr zurückgekehrt . Sie hat den Diener bei den ersten Häusern von Kapharnaum entlassen und ihm gesagt: „Ich werde in einer anderen Gesellschaft zurückkehren.“ Sie hat uns getäuscht! Oder sie hat sich allein gefühlt und ist vielleicht in Versuchung geführt worden... Oder es ist ihr ein Unglück zugestoßen... Sie ist nicht mehr zurückgekehrt...”

Und Martha rutscht auf die Knie und weint mit geneigtem Haupt, während sie die Arme auf einen Haufen leerer Säcke stützt. Jesus schaut sie an und sagt langsam und bestimmt, ja gebietend: “ Weine nicht! Maria ist vor drei Abenden zu mir gekommen . Sie hat meine Füße einbalsamiert und alle ihre Schmucksachen zu meinen Füßen niedergelegt. Sie hat sich so ganz und für immer mir geweiht und nimmt nunmehr einen Platz unter meinen Jüngerinnen ein. Verachte sie nun nicht in deinem Herzen. Sie hat dich übertroffen.”

Aber wo, wo ist meine Schwester jetzt? ” schreit Martha und erhebt ihr schmerz- verzogenes Gesicht. “Warum ist sie nicht nach Hause zurückgekehrt? Ist sie vielleicht überfallen worden? Hat sie etwa ein Boot genommen und ist ertrunken? Oder hat ein abgewiesener Liebhaber sie entführt? Oh, Maria, meine Maria! Ich hatte sie gefunden und sofort wieder verloren!” Martha ist wirklich ganz außer sich . Sie denkt gar nicht daran, daß man sie unten hören kann. Sie denkt gar nicht daran, daß Jesus ihr sagen kann, wo sich die Schwester befindet. Sie jammert, ohne nachzudenken. Jesus nimmt sie bei den Handgelenken und zwingt sie, sich zu beruhigen und ihn anzuhören. Er beherrscht sie durch seine hohe Gestalt und seinen magnetischen Blick. “ Genug! Ich verlange von dir, daß du meinen Worten glaubst. Ich verlange von dir Hochherzigkeit! Hast du verstanden? ” Er läßt Martha nicht los, bis sie sich endlich beruhigt hat.

“Deine Schwester ist hingegangen, um ihre Freude auszukosten, indem sie sich in eine heilige Einsamkeit zurückgezogen hat; denn sie fühlt in sich die überempfindliche Schamhaftigkeit der Erlösten. Ich hatte es dir schon im voraus gesagt. Sie kann die gütigen, aber fragenden Blicke der Angehörigen auf das neue Gewand der Braut der Gnade noch nicht ertragen. Und das, was ich sage, ist immer wahr! Du mußt mir glauben!” - “Ja, Herr! Aber meine Maria ist zu sehr vom Dämon besessen gewesen. Er hat sie sofort wieder gepackt, er...”

“Er rächt sich an dir wegen der für immer verlorenen Beute. Muß ich darauf achten, daß du, die Starke, durch ein törichtes, grundloses Jammern nicht seine Beute wirst? Muß ich zusehen, wie du nun an ihrer Stelle den schönen Glauben verlierst, den ich immer bei dir beobachtet habe? Martha, schau mich an! Höre mich an! Höre nicht auf Satan ! Weißt du nicht, daß er, wenn er nach einem Sieg Gottes gezwungen wird, eine Beute loszulassen, sofort versucht, als unermüdlicher Feind der Menschen, als unermüdlicher Räuber der Rechte Gottes, eine andere Beute zu finden? Weißt du nicht, daß die Qualen eines anderen, der seinen Angriffen widersteht, weil er gut und treu ist, die Heilung einer Seele sichert? Weißt du nicht, daß nichts auf dieser Welt aus Zufall geschieht, sondern alles einem ewigen Gesetz der Abhängigkeit und Folgerichtigkeit unterliegt, nach welchem die Tat eines Menschen weitestgehende natürliche und übernatürliche Folgen nach sich zieht? Du weinst hier; du lernst hier schreckliche Zweifel kennen und bleibst deinem Christus auch in dieser Stunde der Finsternis treu. In der Nähe, an einem dir unbekannten Ort, lösen sich in Maria die letzten Zweifel über die Unermeßlichkeit der erlangten Vergebung, und ihr Weinen wandelt sich in Lächeln und ihr Dunkel in Licht.

Es ist dein großer Kummer, der sie dorthin geführt hat, wo der Friede ist und die Seelen wiedergeboren werden: zur unbefleckten Gebärerin; zu ihr, die so sehr Leben ist, daß sie der Welt Christus schenken durfte, der das Leben ist. Deine Schwester ist bei meiner Mutter . Oh, sie ist nicht die erste, die in diesem Hafen des Friedens die Segel einzieht, nachdem der sanfte Strahl des lebendigen Sternes Maria sie durch die stumme, aber wirksame Liebe des Sohnes in diesen Schoß der Liebe gerufen hat. Deine Schwester ist in Nazareth .” - “Aber wie konnte sie sich dorthin begeben, da sie deine Mutter und dein Haus nicht kennt?... Allein... Bei Nacht... ohne Mittel... in diesem Gewand... Ein so weiter Weg... Wie?”

“Wie? So wie die müde Schwalbe Meeren und Gebirgen, Gewittern, Nebeln und feindlichen Winden trotzend, zum Nest ihrer Geburt zurückkehrt. Wie die Schwalben zu den Orten fliegen, wo sie überwintern. Durch einen Instinkt, der sie führt; durch die Wärme, die sie einlädt; durch die Sonne, die sie ruft. Auch sie ist dem rufenden Strahl entgegengeeilt... der Mutter aller Menschen. Und bei Sonnenaufgang werden wir sie glücklich heimkehren sehen; sie, die nun für immer die Finsternis verlassen hat, mit einer Mutter an der Seite ; mit meiner Mutter, um nie mehr Waise zu sein! Kannst du dies glauben?”

“Ja, mein Herr.” Martha ist wie bezaubert. Ja, Jesus ist wirklich Herrscher. Hoch aufrecht stehend und doch ein wenig zu Martha geneigt, die vor ihm kniet, hat er langsam, aber mit Nachdruck gesprochen, als wollte er sich selbst mit seiner erstaunten Jüngerin verschmelzen. Nur wenige Male habe ich ihn so mächtig gesehen, wenn er mit dem Wort einen Zuhörer überzeugte. Aber am Ende, welch ein Licht, welch ein Lächeln auf seinem Antlitz! Marthas Gesicht spiegelt dieses Licht und dieses Lächeln etwas gedämpft wider. “Und nun geh zur Ruhe. In Frieden!” Und Martha küßt seine Hände und geht beruhigt hinunter...

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In Begleitung von Maria Magdalena
unter den Jüngerinnen
- 280

“Vielleicht wird es heute ein Gewitter geben, Meister. Siehst du dort die bleiernen Wolken, die hinter dem Hermon aufsteigen? Und siehst du, wie der See sich kräuselt? Fühlst du, wie die Winde von den Bergen mit den heißen Stößen des Schirokko wechseln? Ein Wirbelwind: ein sicheres Zeichen für ein Unwetter !”

“Wann, Simon?” - “Vor dem Ende der ersten Stunde. Schau, wie die Fischer eilends zurückkehren. Sie spüren, daß der See kocht. Bald wird auch er wie Blei und Pech werden; darauf wird der Sturm ausbrechen.” - “Aber wo alles so ruhig scheint!” sagt der ungläubige Thomas . “Du verstehst etwas von Gold, und ich von Wasser. Es wird so geschehen, wie ich sage. Es wird nicht einmal ein plötzlicher, überraschender Sturm sein. Er bereitet sich mit klaren Zeichen vor. Das Wasser ist an der Oberfläche ruhig, kaum gekräuselt. Aber wenn du im Boot wärest, würdest du meinen, daß Tausende von Hölzern gegen den Bug stoßen und das Boot erschüttern. Das Wasser kocht schon in der Tiefe. Es wartet auf ein Zeichen vom Himmel, und dann werdet ihr sehen! Laßt nur den Gebirgswind mit dem Schirokko zusammenkommen. Und dann!... He, ihr Frauen, sammelt eure Wäsche ein und bringt die Tiere in Sicherheit. Bald wird es Steine regnen und eimerweise Wasser schütten.”

Der Himmel wird tatsächlich immer grünlicher, mit schieferartigen Linien, die sich vom großen Hermon her ineinanderschieben. Sie drängen die Morgenröte dorthin zurück, woher sie gekommen ist, als ob die Morgenstunde in die Nacht zurückgeschleudert würde anstatt auf den Mittag zuzugehen. Nur einem dünnen Sonnenstrahl gelingt es, die Barrikaden von pechschwarzen Wolken seitlich zu durchbrechen und ein unwirkliches, gelbgrünes Farbenspiel auf den Gipfel eines Hügels südwestlich von Kapharnaum zu werfen. Der See ist schon nicht mehr hellblau, sondern dunkelblau, und die ersten Schaumkronen erscheinen auf einzelnen Wellen und gleichen einem unwirklichen Weiß, das auf das dunkle Wasser geworfen ist.

Auf dem See ist keine einzige Barke mehr zu sehen. Die Männer beeilen sich, die Boote auf den Kies zu ziehen, um Netze, Körbe, Segel und Ruder oder, wenn es Bauern sind, Lebensmittel in Sicherheit zu bringen und die Balken und Stangen festzubinden. Sie treiben die Tiere in die Ställe, und die Frauen beeilen sich, noch zum Brunnen zu gehen, bevor der Regen beginnt, oder sie rufen die beim ersten Sonnenstrahl aufgestandenen Kinder ins Haus zurück und schließen besorgt die Türen, wie Glucken, die den bevorstehenden Hagel ahnen.

“Simon, komm mit mir. Rufe auch den Diener Marthas sowie meinen Bruder Jakobus. Nimm ein großes Segeltuch. Zwei Frauen sind unterwegs; wir müssen ihnen entgegengehen .” Petrus schaut erstaunt; doch er gehorcht, ohne Zeit zu verlieren. Während sie dann in südlicher Richtung durch die Ortschaft eilen, fragt er: “Um wen handelt es sich denn?” - “Um meine Mutter und Maria von Magdala .” Die Überraschung ist derart, daß Petrus einen Augenblick wie angenagelt stehen bleibt und dann sagt: “Deine Mutter und die Maria von Magdala? Zusammen?!... Aber seit wann denn?” - “Seit sie nichts anderes mehr ist als die Maria von Jesus. Mach schnell, Simon, es fallen schon die ersten Tropfen...”

Und Petrus beeilt sich, es seinen Kameraden gleichzutun, die größer und schneller sind als er. Der Wind, der sich von einem Augenblick zum anderen erhoben hat und immer stärker wird, wirbelt große Staubwolken von der trockenen Straße auf. Er bringt das Wasser des Sees in Bewegung und peitscht die Wellen auf, die sich mit einem ersten Brausen am Ufer brechen. Jedesmal, wenn man den See sieht, scheint er in einen großen, brodelnden Kessel verwandelt. Meterhohe Wellen steigen in entgegengesetzter Richtung auf und scheinen wie im Duell miteinander zu ringen. Schaum, Wellenberge , aufgeblähte Höcker, Dröhnen und Aufklatschen an den Häusern in der Nähe des Ufers. Wenn die Häuser den Blick auf den See verwehren, macht er sich mit einem Getöse, das das Pfeifen des Windes übertönt, bemerkbar. Der Wind beugt die Bäume, raubt ihnen die Blätter und schüttelt die Früchte ab, und trägt das dröhnende Rollen der lang anhaltenden Donnerschläge, die von immer heftigeren und mächtigeren Blitzen eingeleitet werden, weiter.

“Wer weiß, welche Furcht die Frauen haben werden!” keucht Petrus. “Meine Mutter nicht. Die andere, wer weiß. Aber wenn wir uns nicht beeilen, werden sie sicher durchnäßt sein .” Kapharnaum liegt schon einige hundert Meter hinter ihnen, als sie, in Staubwolken eingehüllt und unter dem ersten Regenguß, der schräg und mächtig vom Himmel fällt und die dunkle Luft durchschneidet und bald zu einem Wasserfall wird, der stäubt, blendet und den Atem nimmt, zwei Frauen erblicken, die unter einem dichtbelaubten Baum Schutz suchen.

“Dort sind sie! Laufen wir!” Aber wenn auch die Liebe zu Maria Petrus Flügel verleiht, so kommt er doch mit seinen kurzen Beinen, die ihn nicht zum Schnelläufer machen, erst an, als Jesus und Jakobus die Frauen bereits mit dem schweren Segeltuch bedeckt haben. “Hier können wir nicht bleiben. Hier besteht Blitzgefahr, und in Kürze wird der Weg ein Gießbach sein. Gehen wir wenigstens bis zum nächsten Haus, Meister”, sagt Petrus atemlos. Sie gehen mit den Frauen in der Mitte und halten ihnen das Segel über die Köpfe und die Rücken.

Das erste Wort, das Jesus an Magdalena richtet, die noch das Gewand trägt, mit dem sie im Haus des Simon erschienen ist, über das sie aber einen Mantel der allerseligsten Jungfrau gelegt hat, ist dieses: “ Fürchtest du dich, Maria?

Magdalena, die geneigten Hauptes und mit den unter dem Schleier aufgelösten Haaren läuft, errötet, neigt das Haupt noch tiefer und flüstert: “Nein, Herr!” Auch die Mutter Gottes hat ihre Haarnadeln verloren und gleicht einem kleinen Mädchen mit den über die Schultern fallenden Flechten. Doch sie lächelt dem Sohn zu, der an ihrer Seite geht und durch sein Lächeln ihr antwortet. “Du bist sehr naß, Maria”, sagt Jakobus des Alphäus und berührt den Schleier und den Mantel der Mutter Jesu. “Das macht nichts. Nun werden wir geschützt. Nicht wahr, Maria? Er hat uns auch vor dem Regen gerettet”, sagt Maria sanft zu Magdalena, deren schmerzvolle Verlegenheit sie wahrnimmt. “Deine Schwester wird sich freuen, dich wiederzusehen. Sie ist in Kapharnaum. Sie hat dich gesucht”, sagt Jesus.

Maria hebt einen Augenblick das Haupt und richtet die herrlichen Augen auf Jesus, der zu ihr in demselben natürlichen Ton spricht, den er für die anderen Jüngerinnen gebraucht. Doch sie sagt nichts. Sie ist in ihrer Gemütsbewegung wie stumm. Jesus fügt hinzu: “Ich bin zufrieden, daß ich sie zurückgehalten habe. Ich werde euch gehen lassen, nachdem ich euch gesegnet habe.”

Das Wort verliert sich im trockenen Knall eines Blitzes, der in der Nähe einschlägt. Maria erschrickt. Sie bedeckt das Gesicht mit den Händen, neigt sich nach vorne und bricht in ein lautes Weinen aus. “Keine Angst”, tröstet Petrus. “Nun ist es vorbei. Und mit Jesus darf man sich nie fürchten.” Auch Jakobus, der an der Seite Magdalenas geht, sagt: “Weine nicht! Die Häuser sind schon nahe.”

“Ich weine nicht aus Angst... Ich weine, weil er gesagt hat, daß er mich segnen wird... Ich... ich...” Die Jungfrau will sie beruhigen und sagt: “Du, Maria, hast dein Gewitter schon überstanden. Denk nicht mehr daran. Nun ist alles friedlich und ruhig. Nicht wahr, mein Sohn?” - “Ja, Mutter, das ist wahr. Bald wird die Sonne wieder scheinen, und alles wird viel schöner, reiner und frischer als gestern sein. So auch bei dir, Maria.”

Die Mutter nimmt wieder die Hand Magdalenas und drückt sie: “Ich werde Martha deine Worte sagen. Ich bin froh, daß ich sie sofort sehen und ihr mitteilen kann, wie sehr ihre Maria voll guten Willens ist.” Petrus, der im Schlamm watet und die Überschwemmung mit Geduld erträgt, kommt unter dem Segeltuch hervor, um zu einem Haus zu gehen und dort um Unterschlupf zu bitten. “Nein, Simon, wir möchten lieber in unsere Häuser zurückkehren. Nicht wahr?” sagt Jesus.

Alle sind damit einverstanden, und Petrus kehrt unter das Segeltuch zurück. Die Straßen von Kapharnaum sind vollkommen verlassen. In ihnen herrschen die Winde, der Regen, der Donner und die Blitze, und nun prasselt auch noch der Hagel auf die Terrassen und an die Hauswände. Der See ist in furchtbarer Bewegung . Die in seiner Nähe befindlichen Häuser werden von den Wogen gepeitscht, denn es gibt kein Ufer mehr, und die bei den Häusern angelegten Boote scheinen leck geworden zu sein, so sehr sind sie mit Wasser gefüllt, das jede neue Sturzwelle vermehrt und zum Überfließen bringt. Sie treten eilends in den Garten ein, der sich in eine riesige Pfütze verwandelt hat, auf deren bewegtem Wasser Abfälle schaukeln, und erreichen die Küche, wo alle versammelt sind.

Martha stößt einen durchdringenden Schrei aus, als sie die Schwester an der Hand Marias sieht. Sie fällt ihr um den Hals, ohne zu spüren, daß sie dabei naß wird, küßt sie und ruft aus: “Miri, Miri, meine Freude!” Vielleicht ist das der Kosename, den sie der kleinen Magdalena gegeben hatten.

Maria weint, das Haupt an die Schulter der Schwester gelegt, und bedeckt dabei das dunkle Gewand Marthas mit einem schweren, goldenen Schleier. Dieser allein leuchtet in der finsteren Küche, in der nur ein kleines Reisigfeuer brennt, das zusammen mit Lämpchen ein wenig Licht erzeugt. Die Apostel sind wie erstarrt, ebenso der Hausherr und seine Frau, die auf den Aufschrei Marthas hin erschienen sind, sich aber nach einem Augenblick begreiflicher Neugier zurückziehen. Nachdem sich der Sturm der Umarmungen gelegt hat, erinnert sich Martha der Anwesenheit Jesu und Marias. Sie wundert sich nun über ihr gemeinsames Kommen und fragt ihre Schwester, die Mutter Gottes und Jesus, und ich weiß nicht wen am nachdrücklichsten: “Aber wie kommt es, daß ihr alle zusammen seid?” - “Das Unwetter zog rasch heran. So bin ich mit Simon, Jakobus und deinem Diener den beiden Pilgerinnen entgegengegangen.”

Martha ist so erstaunt, daß sie nicht daran denkt, daß Jesus ihnen sicher entgegengegangen ist, und nicht fragt: “Hast du es denn gewußt?” Thomas richtet diese Frage an Jesus; doch er bekommt keine Antwort, da Martha im selben Augenblick zur Schwester sagt: “Wie bist du zu Maria gelangt?”

Magdalena neigt das Haupt. Die Mutter Jesu kommt ihr zu Hilfe, nimmt sie bei der Hand und sagt: “Sie ist wie eine Pilgerin zu mir gekommen, die erfahren möchte, wo der Weg ist, auf dem man zum Ziel gelangt. Sie hat zu mir gesagt: „Lehre mich, was ich tun muß, um Jesus anzugehören .“

Und da in ihr der echte und totale Wille herrscht, hat sie diese Weisheit sofort verstanden und in sich aufgenommen. Ich habe ihre Bereitwilligkeit gesehen und habe sie an der Hand genommen, um sie meinem Sohn zuzuführen und auch dir, gute Martha, und euch, ihr Brüder und Jünger, um euch zu sagen: „Seht hier die Jüngerin und Schwester, die ihrem Herrn und seinen Brüdern nur mehr übernatürliche Freude machen wird.“ Glaubt mir und liebt sie alle, wie ich und Jesus sie lieben.” Da treten die Apostel näher und grüßen die neue Schwester . Etwas Neugierde ist auch dabei... Aber wie sollte es anders sein? Sie sind ja noch Menschen...

Petrus mit seinem praktischen Sinn sagt: “Alles recht. Ihr versichert ihr Hilfe und heilige Freundschaft. Aber es wäre an der Zeit, daran zu denken, daß die Mutter und die Schwester ganz durchnäßt sind... Auch wir sind es, wahrlich... Doch für sie ist es schlimmer. Von ihren Haaren tropft das Wasser wie von den Weidenbäumen nach einem Wolkenbruch. Die Kleider sind schmutzig und naß... Wir wollen Feuer machen, andere Kleider holen und ein warmes Essen bereiten...”

Alle machen sich an die Arbeit. Martha führt die beiden durchnäßten Pilgerinnen in ein Zimmer, während das Feuer wieder angefacht wird und die Mäntel, die Schleier und die nassen Kleider zum Trocknen aufgehängt werden. Ich weiß nicht, wie sie sich da drüben zurechtfinden... Ich weiß nur, daß Martha die Energie der guten Hausfrau wieder gefunden hat , eilends kommt und geht und Schüsseln und heißes Wasser, Tassen und warme Milch, sowie von der Hausherrin ausgeliehene Kleider bringt, um den beiden Marien zu helfen...

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Margziam lehrt Magdalena das Vaterunser - 282

Der Himmel über dem See von Galiläa ist wieder heiter. Alles ist viel schöner als vor dem Gewitter, denn alles ist vom Staub befreit. Die Luft ist vollkommen klar, und das den Himmel betrachtende Auge hat den Eindruck, als habe sich die Wölbung erhoben und sei leichter geworden... ein fast durchsichtiger Schleier zwischen der Erde und den Herrlichkeiten des Paradieses. Der See spiegelt dieses reine Blau wider und lächelt mit seinen türkisblauen Wassern. Die Morgendämmerung beginnt. Jesus besteigt mit Maria, Martha und Magdalena das Boot des Petrus . Mit ihnen sind außer Petrus und Andreas auch der Zelote, Philippus und Bartholomäus. Matthäus, Thomas, die Vettern Jesu und Iskariot hingegen befinden sich in der Barke des Jakobus und Johannes. Sie segeln direkt auf Bethsaida zu . Es ist eine kurze, vom Wind begünstigte Überfahrt, die nur wenige Minuten dauert.

Vor der Ankunft sagt Jesus zu Bartholomäus und dem von ihm unzertrennlichen Philippus: “Geht, benachrichtigt eure Frauen. Heute werde ich in euer Haus kommen.” Und er schaut die beiden mit einem vielsagenden Blick an. “Wird gemacht, Meister. Willst du denn weder mir noch Philippus gestatten, dich aufzunehmen?” - “Wir werden uns nur bis Sonnenuntergang aufhalten, und ich möchte Simon Petrus nicht die Freude vorenthalten, sich mit seinem Margziam zu ergötzen.” Das Boot gleitet auf das Ufer und liegt fest. Sie steigen aus, und Philippus und Bartholomäus trennen sich von den Gefährten, um in das Dorf zu gehen.

“Wohin gehen die beiden?” fragt Petrus den Meister, der als erster ausgestiegen ist und sich an seiner Seite befindet. “Ihre Frauen zu benachrichtigen.” - “Dann werde auch ich gehen, Porphyria zu benachrichtigen.” - “Das ist nicht notwendig. Porphyria ist so gut, daß man sie auf nichts vorzubereiten braucht. Ihr Herz kann nur Güte schenken.” Simon Petrus strahlt, als er hört, wie seine Frau gelobt wird, und sagt nichts mehr. Indessen sind auch die Frauen ausgestiegen, für die man ein Brett angelegt hat. Sie gehen zum Haus Simons . Dort sehen sie Margziam, der gerade mit seinen Schäflein herauskommt, um sie auf den frischen Wiesen der ersten Abhänge von Bethsaida grasen zu lassen. Mit einem Freudenschrei meldet er die Ankunft und eilt auf Jesus zu. Er wirft sich an die Brust des Meisters, der sich gebeugt hat, um ihn zu küssen. Dann geht er zu Petrus.

Auch Porphyria eilt herbei, die Hände noch voller Mehl, und verneigt sich zum Gruß. “Der Friede sei mit dir, Porphyria. So bald hast du uns nicht erwartet, nicht wahr? Aber ich wollte dir außer dem Gruß auch meine Mutter und zwei Jüngerinnen bringen. Meine Mutter möchte den Knaben wiedersehen... Sieh, da liegt er schon in ihren Armen. Und die Jüngerinnen verlangten danach, dich kennenzulernen. Das ist die Frau Simons, die gute und schweigsame Jüngerin, die in ihrem Gehorsam mehr als viele andere tätig ist. Das sind Martha und Maria von Bethanien, zwei Schwestern. Liebt euch!” - “Alle, die du zu mir bringst, sind mir lieb, als wären sie Blutsverwandte, Meister. Komm! Mein Haus wird jedesmal schöner, wenn du deinen Fuß hineinsetzt.”

Maria nähert sich lächelnd, umarmt Porphyria und sagt: “Ich sehe, daß in dir die Mutter lebendig ist. Danke!” - “Oh, du Gebenedeite unter den Frauen! Ich weiß, daß ich durch dich die Freude habe, Mama genannt zu werden. Und du sollst wissen, daß ich mit allen meinen Kräften versuche, meine Aufgabe zu erfüllen. Komm herein, komm mit den Schwestern...”

Margziam schaut neugierig auf Magdalena. Viele Gedanken erfüllen seinen kleinen Kopf. Schließlich sagt er: “In Bethanien aber bist du nicht dabei gewesen...” - “Ich war nicht dabei. Aber von nun an werde ich immer dabei sein”, sagt Magdalena errötend und mit einer Spur von Lächeln. Sie liebkost das Kind und sagt: “Wirst du mich gern haben, auch wenn wir uns erst jetzt kennen lernen?” - “Ja, weil du gut bist. Du hast geweint, nicht wahr? Und deshalb bist du gut. Und du heißt Maria, nicht wahr? Auch meine Mutter hat so geheißen, und sie war gut. Alle Frauen, die Maria heißen, sind gut. Aber...” schließt er, um Porphyria und Martha nicht zu betrüben, “es gibt auch gute, die einen anderen Namen tragen. Deine Mutter, wie hat sie geheißen?” - “Eucheria... und sie war sehr gut”, und zwei dicke Tränen quellen aus den Augen Marias von Magdala. “Weinst du, weil sie tot ist?” fragt das Kind und streichelt die wunderschönen Hände, die sie auf dem dunklen Gewand gefaltet hält; das Kleid ist sicher von Martha, denn man sieht, daß der Saum herab- gelassen worden ist. Dann fügt er hinzu: “Weine nicht. Wir sind nicht allein, weißt du? Unsere Mütter sind uns immer nahe. Jesus hat es mir gesagt. Sie sind für uns wie Schutzengel. Auch das sagt Jesus. Und wenn man gut ist, kommen sie einem entgegen, wenn man stirbt, und man steigt in den Armen Mamas zu Gott auf. Und das ist wahr, weißt du? Er hat es gesagt!”

Maria Magdalena umarmt den kleinen Tröster, küßt ihn und sagt: “Dann bete also, daß ich auch so gut werde.” - “Aber bist du es denn nicht? Mit Jesus gehen nur solche, die gut sind... Und wenn man es noch nicht ganz ist, dann wird man es, um ein Jünger Jesu sein zu dürfen; denn man kann nicht lehren, was man nicht kennt. Man kann nicht sagen: „Verzeih“, wenn man selbst nicht verziehen hat. Man kann nicht sagen: „Du sollst deinen Nächsten lieben“, wenn man ihn vorher nicht selbst liebt. Kennst du das Gebet Jesu?” - “Nein.”

“Ach ja, du bist ja erst seit kurzem bei ihm. Es ist sehr schön, weißt du? Es spricht von all diesen Dingen. Höre nur, wie schön es ist.” Und Margziam sagt langsam mit Gefühl und Glauben das Vaterunser . “Wie gut du es kannst!” sagt Maria von Magdala bewundernd. “Meine Mutter hat es mich in der Nacht gelehrt, und die Mama Jesu bei Tag. Wenn du willst, werde ich es dich lehren. Willst du mit mir kommen? Die Schafe blöken. Sie haben Hunger. Ich bringe sie jetzt auf die Weide. Komm mit mir. Ich werde dich beten lehren , und so wirst du ganz gut werden”, und er nimmt sie bei der Hand. “Aber ich weiß nicht, ob der Meister es will.” - “Geh nur, Maria. Du hast einen Unschuldigen als Freund und die Schäflein... Geh und sei beruhigt!” Maria von Magdala geht mit dem Knaben hinaus, und sie entfernen sich, während die drei Schäflein vorauslaufen. Jesus blickt ihnen nach... und auch die anderen. “Meine arme Schwester!” sagt Martha. “Bemitleide sie nicht. Sie ist eine Blume, die nach dem Unwetter ihren Stengel wieder aufrichtet. Hörst du sie?... Sie lacht... Die Unschuld ist der beste Trost .”

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Jesus zu Philippus:
“Ich bin der machtvolle Liebhaber”
- 283

- Das Gleichnis von der verlorenen Drachme

Das Boot fährt am Ufer entlang von Kapharnaum nach Magdala. Ich sehe Maria von Magdala zum ersten Mal in der gewohnten Haltung als Bekehrte: sie befindet sich im Hintergrund der Barke, Jesus zu Füßen, der ernst auf einer der Bänke des Bootes sitzt. Das Gesicht Magdalenas ist heute ganz anders als gestern. Es ist noch nicht das strahlende Gesicht Magdalenas, die ihrem Jesus entgegeneilt, wenn er nach Bethanien kommt; aber es ist schon ein Gesicht frei von Ängsten und Unruhe, und das Auge, das vorher beschämt war ob seiner früheren Dreistigkeit, ist jetzt ernst und sicher, und in seinem würdevollen Ernst erstrahlt von Zeit zu Zeit ein Funke der Freude, wenn sie Jesus zuhört, der mit den Aposteln oder mit seiner Mutter und Martha spricht. Sie reden von der Gutmütigkeit der Porphyria, die so schlicht und liebevoll ist; sie sprechen von der herzlichen Aufnahme bei Salome und den Frauen des Bartholomäus und des Philippus, und letzterer sagt: “Wenn sie nicht noch immer wie junge Mädchen wären, die die Mutter nicht gerne auf der Straße sieht, würden auch sie dir folgen, Meister.” - “Ihre Seelen folgen mir, und es handelt sich ebenfalls um eine heilige Liebe. Philippus, höre! Deine ältere Tochter steht vor der Verlobung, nicht wahr?”

“Ja, Meister. Ein würdiges Verlöbnis, und ein guter Bräutigam. Nicht wahr, Bartholomäus?” - “Ja, das ist wahr. Ich garantiere für ihn, denn ich kenne die Familie. Ich hätte ihn selbst vorgeschlagen, wenn ich nicht beim Meister zurück- gehalten worden wäre, mit der Sicherheit, eine heilige Familie zu bilden.” - “Aber das Mädchen hat mich gebeten, dir zu sagen, nichts zu unternehmen.” - “Gefällt ihr der Bräutigam nicht? Dann täuscht sie sich. Nun, die Jugend ist töricht. Ich hoffe, daß sie sich belehren läßt. Es liegt kein Grund vor, einen so ausgezeichneten Bräutigam abzuweisen. Es sei denn, daß... Aber das ist nicht möglich!” sagt Philippus. “Es sei denn, daß? Sprich zu Ende, Philippus”, ermuntert ihn Jesus. “ Es sei denn, daß sie einen anderen liebt. Aber das ist unmöglich . Sie verläßt nie das Haus, und im Haus lebt sie sehr zurückgezogen. Es ist nicht möglich.”

“Philippus, es gibt aber auch Liebhaber, die in verschlossene Häuser eindringen, die trotz aller Schranken und Beaufsichtigungen mit denen, die sie lieben, zu reden vermögen; solche, die alle Hindernisse der gut behüteten Witwenschaft oder Kindheit niederreißen, oder... sonstiges noch, und sich nehmen, was sie wollen. Und es gibt auch Liebhaber, die nicht zurückgewiesen werden können, denn sie sind mächtig in ihrem Wollen . Sie überwinden mit ihrer Verführungskunst jeglichen Widerstand, sogar den des Teufels. Deine Tochter liebt einen solchen. Und noch dazu den Mächtigsten unter ihnen.” - “Aber wen denn? Einen vom Hof des Herodes?” - “Da ist keine Macht!” - “Einen... einen vom Haus des Prokonsuls, einen römischen Patrizier. Das werde ich auf keinen Fall zulassen. Das reine Blut Israels darf nicht mit dem unreinen Blut in Berührung kommen. Und sollte dies auch den Tod meiner Tochter bedeuten. Lache nicht, Meister! Ich leide darunter!”

“Ich lache, weil du wie ein unzähmbares Pferd bist; weil du Schatten siehst, wo nur Licht ist. Aber beruhige dich. Auch der Prokonsul ist nichts als ein Diener, und Diener sind seine Patrizierfreunde, und auch Cäsar ist nur ein Knecht.” - “Aber du scherzest wohl, Meister! Du hast mir Furcht einflößen wollen. Es gibt keinen Größeren als Cäsar und keinen Mächtigeren als ihn.”

“Aber ich bin da, Philippus.” - “Du? Du willst meine Tochter heiraten?!” - “Nein, ihre Seele. Ich bin der Liebhaber , der in die wohl verschlossenen Häuser eindringt und in die Herzen, die noch stärker verschlossen sind als mit sieben mal sieben Schlüsseln. Ich bin es, der trotz Schranken und Beaufsichtigungen mit ihnen zu sprechen weiß. Ich bin es, der alle Hindernisse niederreißt und sich das nimmt, was er will: Reine und Sünder, Jungfrauen und Witwen, solche, die von Lastern frei sind, und solche, die deren Sklaven sind. Und allen gebe ich eine neue Seele, die wiedergeboren, beseligt und jung, ewig jung ist. Das sind meine Verlöbnisse. Und niemand kann mir meine süße Beute entreißen, weder Vater noch Mutter noch Söhne, nicht einmal Satan. Sei es, daß ich zur Seele eines Mädchens spreche, das wie deine Tochter ist, sei es, daß ich zur Seele eines Sünders spreche, der in die Sünde verstrickt und von Satan mit sieben Ketten gefesselt ist: die Seele kommt zu mir. Und nichts und niemand kann sie mir entreißen. Kein Reichtum, keine Macht, keine Freude der Welt kann die vollkommene Freude verleihen, die jene empfinden, welche sich mit meiner Armut, meiner Selbstverleugnung vermählen. Aller armseligen Güter entblößt, bekleidet mit allen himmlischen Gütern. Freudig und heiter, Gott zu gehören, Gott allein... Sie besitzen die Erde und den Himmel. Die erste, weil sie diese beherrschen; den zweiten, weil sie ihn erwerben.”

“Aber in unserem Gesetz hat es so etwas noch nicht gegeben!” ruft Bartholomäus aus. “Entblöße dich des alten Menschen, Natanaël. Als ich dich zum ersten Mal gesehen habe, habe ich dich begrüßt und dich einen vollkommenen Israeliten ohne Falsch genannt. Aber jetzt mußt du Christus gehören, nicht Israel . Sei ohne Fehl und Fesseln. Bekleide dich mit dieser neuen Geisteshaltung, sonst wirst du nicht alle Herrlichkeiten der Erlösung kennen lernen, die ich der ganzen Menschheit zu schenken gekommen bin.”

Philippus unterbricht ihn und sagt: “Du hast gesagt, daß meine Tochter von dir gerufen worden ist? Was will sie jetzt tun? Ich will sie dir gewiß nicht entziehen; aber ich will wissen, schon um ihr zu helfen, worin ihre Berufung besteht...”

Sie soll Lilien jungfräulicher Liebe in den Garten Christi tragen . Es wird deren viele geben in den kommenden Jahrhunderten!... Sehr viele!... Beete von Weihrauch als Gegenstück zu den Pfaden der Laster. Betende Seelen als Gegengewicht zu den Fluchenden und Gottlosen, als Hilfe für alle menschliche Unglückseligkeit, und Freude Gottes.”

Magdalena öffnet die Lippen, um eine Frage zu stellen; sie errötet noch dabei, spricht aber schon unbefangener als in den vergangenen Tagen: “Und aus uns, den Ruinen, die du wieder aufbaust, was wird aus uns?”

“Das, was die jungfräulichen Schwestern sind...” - “Oh, das kann nicht sein! Wir sind zu sehr im Schlamm gewatet, und... es kann nicht sein.” - “Maria, Maria! Jesus verzeiht nie halb . Er hat dir gesagt, daß er dir verziehen hat. Und so ist es! Du und alle, die wie du gesündigt haben und denen meine Liebe verzeiht, ihr werdet duften, beten, lieben und trösten. Ihr, die ihr des Bösen bewußt geworden seid, seid befähigt, zu heilen. Eure Seelen sind in den Augen Gottes Märtyrerseelen, und deshalb seid ihr ihm teurer als die Jungfrauen .”

“Märtyrer? In was, Meister?” - “Euch selbst und den Erinnerungen der Vergangenheit gegenüber und durch euren Durst nach Liebe und Sühne.” - “Darf ich das glauben?...” Magdalena schaut alle an, die im Boot sind; sie will um Bestätigung bitten für ihre keimende Hoffnung. “Frage Simon! Ich habe an einem sternenklaren Abend in deinem Garten von dir und von den Sündern im allgemeinen gesprochen. Und deine Geschwister können dir sagen, ob mein Wort nicht für alle Erlösten die Wunder der Barmherzigkeit und der Bekehrung verkündet hat.”

“Davon hat mir auch der Knabe mit der Engelsstimme gesprochen. Diese seine Lektion ist eine Erfrischung für meine Seele gewesen. Er hat mich dich noch besser kennen lernen lassen als meine Schwester, so daß ich mich heute stärker fühle, Magdala die Stirne zu bieten. Jetzt, da du mir dies sagst, fühle ich in mir die Kraft wachsen. Ich bin der Welt zum Ärgernis geworden. Aber ich gehöre dir, mein Herr. Wenn die Welt mich jetzt sieht, wird sie begreifen, worin deine Macht besteht.”

Jesus legt ihr für einen Augenblick die Hand aufs Haupt , während Maria, die Hochheilige, ihr zulächelt, wie nur sie es kann: mit ihrem paradiesischen Lächeln. Sie erreichen Magdala , das am Ufer des Sees liegt, vor sich die aufgehende Sonne, im Rücken den Berg von Arbela, der das Städtchen vor den Winden schützt, und das enge, abschüssige, verwilderte Tal, aus dem sich ein Sturzbach in den See ergießt. Der See breitet sich mit seinen steil abfallenden Ufern voll bezaubernder, strenger Schönheit nach Westen aus.

“Meister”, ruft Johannes aus dem anderen Boot. “Sieh das Tal unserer Einsamkeit und Einkehr...” Er strahlt über das ganze Gesicht, als ob eine Sonne sich in seinem Inneren entzündet hätte. “Ja, unser Tal. Du hast es sofort wieder erkannt.” - “Man kann die Orte nicht vergessen, wo man Gott kennen gelernt hat”, antwortet Johannes. “Dann werde ich mich auch immer dieses Sees erinnern; denn auf ihm habe ich dich kennen gelernt. Weißt du, Martha, daß ich hier eines Morgens den Meister gesehen habe?...”

“Und beinahe wären wir allesamt untergegangen! Frau, glaube mir, deine Ruderer waren rein nichts wert”, sagt Petrus, der das Landungsmanöver beginnt. “Sie waren nichts wert, weder die Ruderer, noch die anderen im Boot... Aber es war jedenfalls die erste Begegnung, und sie hat eine große Bedeutung. Und danach habe ich dich auf dem Berg gesehen und darauf in Magdala und schließlich in Kapharnaum. So viele Begegnungen, so viele zerbrochene Ketten... Aber Kapharnaum ist der schönste Ort gewesen. Dort hast du mich befreit ...”

Sie gehen an Land, wo sich schon alle aus dem anderen Boot befinden, und begeben sich in die Stadt. Die einfache oder... nicht einfache Neugier der Bewohner von Magdala muß für Magdalena eine Qual sein. Aber sie erträgt es heroisch und folgt dem Meister, der inmitten seiner Apostel vorangeht, während die drei Frauen dahinter folgen. Ein lautes Geflüster, in dem der Spott nicht fehlt , begleitet sie. Alle, die Maria, solange sie die mächtige Herrin von Magdala war, wenigstens nach außen hin aus Furcht vor Vergeltungsmaßnahmen geachtet haben und die nun wissen, daß sie sich für immer von ihren mächtigen Freunden losgelöst hat und nun demütig und keusch ist, erlauben sich jetzt, ihre Verachtung zu äußern und ihr wenig schmeichelhafte Worte zuzurufen.

Martha, die mit ihr leidet, fragt sie: “Möchtest du dich ins Haus zurückziehen?” - “Nein, ich verlasse den Meister nicht. Und bevor das Haus nicht von jeder Spur der Vergangenheit gesäubert ist, werde ich ihn nicht dorthin einladen .”

“Aber du leidest, Schwester!” - “Ich habe es verdient.” Und sie muß wirklich leiden, denn der Schweiß, der ihr Antlitz bedeckt, und die Röte, die sich bis zum Hals ausdehnt, rühren nicht allein von der Hitze her. Sie durchqueren ganz Magdala und gelangen ins Armenviertel zu dem Haus, in dem sie das letztemal Aufenthalt genommen haben. Die Frau erstarrt als sie den Kopf von der Waschbütte erhebt, um zu sehen, wer sie begrüßt hat, und Jesus vor sich sieht und neben ihm die wohlbekannte Herrin von Magdala, nicht mehr pompös und mit Schmuck behangen, sondern das Haupt mit einem leichten Linnen bedeckt, violett gekleidet , mit einem hochgeschlossenen, engen Gewand, gewiß nicht ihr eigenes, sondern ein umgearbeitetes, und in einen schweren Mantel eingehüllt, der bei dieser Hitze eine Qual sein muß. “Erlaubst du mir, mich in deinem Haus aufzuhalten und von hier aus zu den Menschen, die mir folgen, zu sprechen?” Also zu ganz Magdala, denn die ganze Bevölkerung ist der Gruppe der Apostel gefolgt.

“Und du fragst mich, Herr? Mein Haus ist dein Haus.” Und sie beginnt, Bänke und Stühle für die Frauen und die Apostel zu bringen. Als sie bei Magdalena vorbeikommt, verneigt sie sich wie eine Sklavin. “Friede sei mit dir, Schwester”, antwortet jene. Die Überraschung der Frau ist so groß, daß sie den Schemel, den sie gerade in der Hand hält, zu Boden fallen läßt. Doch sie sagt nichts. Aus diesem Vorfall kann ich schließen, daß Maria ihre Untergebenen früher sehr von oben herab behandelt hat. Als sie sich schließlich sogar danach erkundigt, wie es den Kindern gehe, wo sie sich befinden und ob der Fischfang gut gewesen sei, kennt ihr Staunen keine Grenzen mehr. “Gut geht es ihnen... Sie sind in der Schule oder bei meiner Mutter. Nur der Kleine schläft in der Wiege. Der Fischfang war gut. Mein Mann wird dir den Zehnten bringen...” - “Das ist nicht mehr nötig. Verwende ihn für deine Kinder . Darf ich den Säugling sehen?”

“Komm”... Viel Volk hat sich auf der Straße angesammelt.

Jesus beginnt zu reden: “ Eine Frau hatte zehn Drachmen in ihrem Beutel. Aber bei einer Bewegung fiel ihr der Beutel von der Brust, öffnete sich, und die Münzen rollten auf den Boden. Sie sammelte sie mit Hilfe der Umstehenden und zählte sie. Es waren neun. Die zehnte war nicht zu finden. Da es Abend war, zündete die Frau eine Lampe an, stellte sie auf den Boden, nahm einen Besen und begann sorgfältig zu kehren, um zu sehen, ob die Drachme weit weggerollt war. Doch die Drachme war nicht zu finden. Die Freundinnen gingen, des Suchens müde, davon. Die Frau rückte nun die Truhe, die Bank und den schweren Kasten beiseite, sie verschob die Krüge und Töpfe in der Mauernische; doch die Drachme war nicht zu finden. Da suchte sie auf allen vieren im Kehrichthaufen vor der Türe, um zu sehen, ob die Drachme aus dem Haus gerollt sei und sich unter die Abfälle gemischt habe. Dort fand sie schließlich die Drachme, ganz schmutzig und unter dem auf sie gefallenen Kehricht begraben . Die Frau nahm sie jubelnd in die Hand, wusch sie und trocknete sie. Jetzt war sie schöner als zuvor, und sie zeigte sie ihren Nachbarinnen, die sie mit lauter Stimme zurückgerufen hatte.

Sie sagte: „Seht her! Seht her! Ihr habt mir geraten, mich nicht weiter zu mühen. Doch ich habe beharrlich weitergesucht und die verlorene Drachme schließlich wieder gefunden. Freut euch daher mit mir, da ich nun nicht mehr befürchten muß, einen Teil meines Schatzes verloren zu haben.“

Auch euer Meister und mit ihm seine Apostel machen es so wie die Frau im Gleichnis. Gott weiß, daß eine Bewegung den Fall eines Schatzes zur Folge haben kann. Jede Seele ist ein Schatz, und Satan, der neidisch auf Gott ist, verursacht unglückliche Bewegungen, um die armen Seelen zu Boden fallen zu lassen . Manche fallen nicht weit von der Börse, entfernen sich also nicht allzu sehr vom Gesetz Gottes, das die Seelen im Schutz der Gebote zusammenhält. Andere aber entfernen sich weit von Gott und seinen Geboten, und einige gelangen bis zum Kehricht, zum Abfall, zum Schmutz. Und dort würden sie in das ewige Feuer geworfen und zugrunde gehen, ebenso wie Abfälle an besonderen Plätzen verbrannt werden. Der Meister weiß dies und sucht unermüdlich die verlorenen Münzen. Er sucht liebevoll an allen Orten nach ihnen. Es sind seine Schätze. Und er wird nicht müde und empfindet vor nichts Ekel, sondern durchstöbert, kehrt und verschiebt, bis er sie findet. Und wenn er sie gefunden hat, dann wäscht er die wieder gefundene Seele mit seiner Verzeihung und ruft seine Freunde, das ganze Paradies und alle Guten der Erde, und sagt: „Freut euch mit mir, denn ich habe wieder gefunden, was sich verirrt hatte, und es ist schöner als zuvor, denn meine Verzeihung hat es erneuert!“ Wahrlich, ich sage euch, im Himmel ist ein großes Fest, und die Engel Gottes und die Guten der Erde jubeln, wenn sich ein Sünder bekehrt.

Wahrlich, ich sage euch, es gibt nichts Schöneres als die Tränen der Reue. Wahrlich, ich sage euch, nur die Dämonen können sich nicht über die Bekehrungen freuen , die ein Sieg Gottes sind. Und weiter sage ich euch, daß die Art, die Bekehrung eines Sünders aufzunehmen, ein Maßstab für die Güte eines Menschen und seine Vereinigung mit Gott ist. Der Friede sei mit euch!”

Die Menschen verstehen die Lektion und schauen auf Magdalena, die sich, den Säugling auf dem Arm, an der Türe niedergesetzt hat, vielleicht um sich Haltung zu geben. Dann verläuft sich die Menge langsam, und es bleiben nur die Herrin des kleinen Hauses und deren Mutter, die mit den Kindern herbeigekommen ist, zurück. Es fehlt Benjamin, der noch in der Schule ist.

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“Wissen ist nicht Verderben,
wenn es Religion ist”
- 284

Als die Barke in den kleinen Hafen von Tiberias einfährt, laufen gleich einige neugierige Müßiggänger, die in der Nähe der Mole spazieren, herbei. Es handelt sich um Menschen jeglichen Standes und verschiedener Nationen. Die langen hebräischen Gewänder in allen Farben, die Mähnen und die mächtigen Bärte der Israeliten vermischen sich mit den weißen Wollgewändern, die kürzer und ärmellos sind, und den glatten Gesichtern mit den kurzen Haaren der robusten Römer und den noch kürzeren Gewändern der schlanken und eitlen Griechen, die in jeder Bewegung die Kunst ihrer fernen Nation ausdrücken, als ob sie Göttergestalten wären, die in menschlichen Körpern zur Erde herabgekommen sind: in weichen Tuniken, mit klassischen Gesichtszügen unter dem gekräuselten und parfümierten Haar, die Arme beladen mit Armbändern, die bei ihren überlegten Gesten aufleuchten. Viele Freudenmädchen befinden sich unter den beiden letzten Personengruppen; denn die Römer und die Griechen schämen sich nicht, ihre Liebschaften auf Plätzen und Straßen zur Schau zu stellen , während die Palästinenser dies vermeiden, dafür aber die freie Liebe mit den Freudenmädchen in ihren Häusern praktizieren. Dies erscheint offensichtlich, weil die Dirnen, obwohl ihnen die Angesprochenen warnende Blicke zuwerfen, verschiedene Juden, unter denen auch ein reicher, mit Fransen behangener Pharisäer nicht fehlt, ganz familiär mit Namen rufen.

Jesus begibt sich zur Stadt, gerade dahin, wo die elegante Gesellschaft sich verdichtet. Sie besteht zum großen Teil aus Griechen und Römern; aber es sind auch Höflinge des Herodes und andere darunter, die ich für reiche Händler von der Küste Phöniziens, aus Sidon und Tyrus, halte; denn sie sprechen von diesen Städten, von Warenlagern und Schiffen. Die äußeren Säulenhallen der Thermen sind voll von diesen eleganten und müßigen Menschen, die ihre Zeit mit belanglosem Klatsch totschlagen . So diskutiert man zum Beispiel darüber, wer der beste Diskuswerfer oder wer bei den griechisch-römischen Spielen der hervorragendste Kämpfer gewesen sei. Andere schwätzen über Mode und Gastmähler und verabreden sich für fröhliche Ausflüge, zu denen sie die schönsten Hofdamen oder auch die Frauen einladen, die wohlriechend und gelockt aus den Thermen oder den Palästen kommen und sich in den Mittelpunkt von Tiberias begeben, der mit seinen Kunstwerken aus Marmor etwas von einem Salon hat.

Natürlich erregt der Durchzug der Gruppe Neugierde, die fast krankhaft wird, wenn der eine oder andere Jesus erkennt, weil er ihn schon in Cäsarea gesehen hat, oder Magdalena bemerkt, obgleich sie sich in einen Mantel gehüllt und den Schleier über die Stirn und die Wangen gezogen hat und überdies den Kopf sehr gesenkt hält, so daß von ihrem Gesicht kaum etwas zu sehen ist.

“Das ist der Nazarener, der das kleine Mädchen Valerias geheilt hat”, sagt ein Römer. “Ich würde gern ein Wunder sehen”, erklärt ein anderer Römer. “Ich möchte ihn reden hören. Man sagt, er sei ein großer Philosoph. Sollen wir ihm sagen, daß er reden soll?” fragt ein Grieche. “Bemühe dich nicht darum, Theodotus. Er redet zu den Wolken. Das würde dem Tragödianten für eine Satire gefallen”, antwortet ein anderer Grieche. “Nur keine Sorge, Aristobulus! Es scheint, daß er jetzt aus den Wolken herabsteigt und auf die Erde kommt. Siehst du nicht, daß er in seinem Gefolge schöne, junge Frauen hat?” scherzt ein Römer.

Aber das ist doch Maria von Magdala! ” schreit ein Grieche und ruft dann: “Lucius, Kornelius, Titus! Schaut dort, Maria!” - “Aber das kann sie doch nicht sein! Maria, so? Bist du betrunken?” - “Sie ist es, ich sage es dir! Sie kann mich nicht täuschen, auch wenn sie so bekleidet ist.” Römer und Griechen umringen die Gruppe der Apostel, die quer über den an Säulenhallen und Springbrunnen reichen Platz schreiten. Auch Frauen gesellen sich zu diesen Neugierigen, und eine Frau geht gerade ganz nah zu Maria hin, um sie besser sehen zu können; bleibt wie versteinert stehen, als sie sieht, daß es wirklich Magdalena ist. Sie fragt: “Was machst du in dieser Verkleidung?” und lacht spöttisch.

Maria bleibt stehen. Sie richtet sich auf, hebt eine Hand und enthüllt ihr Gesicht, indem sie den Schleier zurückwirft. Es ist Maria von Magdala, die mächtige Frau über alles, was niederträchtig war und schon Herrin, ja Herrin, über ihre Wandlung. “ Ja, ich bin es ”, sagt sie mit ihrer herrlichen Stimme, während ihre wunderschönen Augen aufblitzen. “ Ich bin es! Und ich schlage den Schleier zurück, damit ihr nicht denkt, daß ich mich schäme mit diesen Heiligen zusammen zu sein .”

 “Oh! Oh! Maria mit den Heiligen! Aber laß sie doch sein. Erniedrige dich nicht!” sagt die Frau. “Erniedrigt habe ich mich bis jetzt. Damit ist nun Schluß!”

“Bist du denn wahnsinnig geworden? Oder ist es nur eine deiner Launen?” fragt sie. Ein Römer zwinkert mit den Augen und sagt scherzend: “Komm mit mir! Ich bin schöner und lustiger als dieses Klageweib mit dem Schnurrbart, das das Leben tötet und einen Leichenzug aus ihm macht. Schön ist das Leben! Ein Triumph! Eine Orgie der Freude! Komm, ich werde alles aus dem Weg räumen, um dich glücklich zu machen.” Der braunhaarige Jüngling, der mit seinem Fuchsgesicht dennoch schön ist, will sie berühren.

Zurück! Berühre mich nicht! Du hast richtig gesagt: euer Leben ist eine Orgie. Und zwar eine der schamlosesten! Mich ekelt es an.

“Oh! Oh! Bis vor kurzem war es aber dein Leben”, antwortet der Grieche. “Nun spielt sie die Jungfrau!” grinst ein Herodianer. “Du verdirbst die Heiligen! Dein Nazarener verliert den Heiligenschein mit dir. Komm mit uns”, drängt ein Römer.

Kommt ihr mit mir zu ihm! Hört auf, Tiere zu sein , und werdet wenigstens Menschen!” Ein Chor von höhnischem Gelächter ist die Antwort. Nur ein alter Römer sagt: “Achtet eine Frau. Sie ist frei zu tun, was sie will. Ich verteidige sie.”

“Der Demagoge! Hört ihn! Ist dir der Wein von gestern abend nicht gut bekommen?” fragt ein Jüngling. “Nein, er ist nur schwermütig, weil ihm das Rückgrat wehtut”, entgegnet ein anderer. “Geh zum Nazarener, laß dich von ihm kratzen!”

“Ich gehe, um mir den Schlamm abkratzen zu lassen, der durch die Berührung mit euch an mir hängt”, antwortet der alte Mann. “Oh, Krispus, der sich mit sechzig Jahren noch verderben läßt!” sagen viele lachend und umringen ihn. Doch der mit Krispus angesprochene Mann kümmert sich nicht um den Spott, sondern macht sich daran, Magdalena zu folgen, die dem Meister gehorcht; dieser hat sich in den Schatten eines sehr schönen Gebäudes begeben, das halbkreisförmig einen Platz umgibt. Jesus ist schon mit einem Schriftgelehrten im Gespräch, der ihm vorwirft, sich in Tiberias aufzuhalten in dieser Gesellschaft.

“Und du, warum bist du hier? Aber ich sage dir auch: selbst in Tiberias, und hier mehr als anderswo, gibt es Seelen zu retten ”, antwortet Jesus. “Sie sind nicht zu retten! Es sind Heiden, Ungläubige, Sünder!” - “Für die Sünder bin ich gekommen. Um sie den wahren Gott erkennen zu lassen. Alle! Auch für dich bin ich gekommen.” - “Ich brauche keine Lehrer und keinen Erlöser. Ich bin rein und gelehrt!” - “Wenn du wenigstens so gelehrt wärst, deinen Zustand zu erkennen!” - “Und du solltest wissen, wie du in Gesellschaft einer Dirne zu beurteilen bist.” - “Ich verzeihe dir auch in ihrem Namen. Sie vernichtet durch ihre Demut ihre Sünde. Du verdoppelst durch deinen Hochmut deine Sünden.” -“Ich bin fehlerlos !”

Du hast die Hauptsünde. Dir fehlt die Liebe! ” Der Schriftgelehrte sagt: “Raka! (Dummkopf)”, und wendet sich um. “Durch meine Schuld, Meister!” sagt Magdalena. Und als sie die Blässe der Jungfrau Maria sieht, jammert sie: “Verzeih mir! Meinetwegen wird dein Sohn beleidigt! Ich werde mich zurückziehen...”

“Nein, du bleibst, wo du bist. Ich will es”, sagt Jesus mit Nachdruck und einem solchen Leuchten in den Augen, einem derart majestätischen Ausdruck in seiner ganzen Person, daß man kaum hinsehen kann. Dann wiederholt er sanft: “ Du bleibst, wo du bist. Und wenn jemand deine Nähe nicht ertragen kann, dann soll er gehen .”

Und Jesus begibt sich nun in den westlichen Teil der Stadt. “Meister!” ruft der beleibte alte Römer, der Magdalena verteidigt hatte. Jesus wendet sich um. “Sie nennen dich Meister. Auch ich nenne dich so. Ich habe danach verlangt, dich reden zu hören. Ich bin ein halber Philosoph und ein halber Lebemann. Doch du könntest aus mir vielleicht einen anständigen Menschen machen.” Jesus blickt ihn fest an und sagt: “Ich verlasse die Stadt, wo die Niedrigkeit des Tierischen im Menschen herrscht und der Spott Herrscher ist.” Und er geht weiter.

Der Mann folgt ihm schwitzend und keuchend, denn Jesus schreitet rasch vorwärts; der Mann aber ist dick und alt und vom Laster gekennzeichnet. Petrus, der zurück- schaut, macht Jesus darauf aufmerksam. “Laß ihn nur kommen. Kümmere dich nicht um ihn.” Bald darauf meint Iskariot: “Der Mann läuft uns nach. Das ist nicht gut!” - “Warum? Aus Mitleid oder einem anderen Grund?”

“Mitleid mit ihm? Nein! Aber weiter hinten folgt uns der Schriftgelehrte von vorhin mit anderen Juden.” - “Laß sie nur! Es wäre jedoch besser, wenn du mit ihm Mitleid hättest anstatt mit dir selbst.” - “Mit dir, Meister!” - “Nein, mit dir, Judas! Sei aufrichtig in der Erkenntnis deiner Gefühle und dem Bekenntnis derselben.”

“Ich habe, in Wahrheit, auch Mitleid mit dem Alten. Es ist nicht leicht, mit dir Schritt zu halten, weißt du”, sagt Petrus schwitzend. “Der Vollkommenheit zu folgen, ist immer mühevoll, Simon!” Der Mann folgt ihnen unermüdlich. Er versucht in der Nähe der Frauen zu bleiben, an die er jedoch nie ein Wort richtet.

Magdalena weint lautlos unter ihrem Schleier. “Weine nicht, Maria”, tröstet sie die Mutter Gottes und nimmt sie bei der Hand. “Später wird die Welt dich achten. Diese ersten Tage sind die mühsamsten.” - “Oh! Nicht meinetwegen! Seinetwegen leide ich! Wenn ich ihm Schaden zufügen sollte, würde ich es mir nie verzeihen. Hast du gehört, was der Schriftgelehrte gesagt hat? Ich schade dem Meister!” - “Armes Kind! Aber weißt du denn nicht, daß diese Worte schon wie Schlangen herum zischten, als du noch nicht daran gedacht hattest, zu ihm zu kommen? Simon hat mir gesagt, daß sie ihn bereits im vergangenen Jahr angeklagt haben, weil er eine Aussätzige geheilt hat, die früher eine Sünderin war, und sie im Augenblick des Wunders gesehen hat, dann aber nie mehr. Und sie war älter als ich, die ich seine Mutter bin. Weißt du nicht, daß er vom „Trügerischen Gewässer“ fliehen mußte, weil eine deiner unglücklichen Schwestern sich dorthin begeben hatte, um von ihm erlöst zu werden? Wie können sie ihn anklagen, da er ohne Sünde ist? Nur mit Lügen! Und worin finden diese Lügen ihre Nahrung? In seiner Mission unter den Menschen. Die gute Tat wird als Beweis seiner Schuld dargestellt. Was mein Sohn auch tun wird, sie werden es immer als Sünde bezeichnen. Wenn er als Eremit in die Einsamkeit ginge, würden sie ihn anklagen, das Volk Gottes zu vernachlässigen. Geht er unter das Volk Gottes, ist es sündhaft, das zu tun. Für sie ist er immer schuldig!” - “Sie sind häßlich und böse zu ihm!”

Nein, sie haben sich hartnäckig dem Licht verschlossen. Er, mein Jesus, ist der ewig Unverstandene. Und er wird es immer und immer mehr sein.” - “Und leidest du nicht darunter? Du scheinst mir immer so heiter.”

“Schweigen wir darüber. Mir ist es, als sei mein Herz mit spitzen Dornen umgeben. Bei jedem Atemzug spüre ich die Stiche. Aber er soll es nicht wissen. Ich gebe mich so, um ihn durch meinen Frohsinn zu unterstützen. Wenn seine Mutter ihn nicht tröstet, wo könnte mein Jesus Trost finden? An welche Brust könnte er sein Haupt legen, ohne verwundet oder verleumdet zu werden? Es ist daher nicht mehr als recht, daß ich über die Dornen, die mein Herz verwunden, und die Tränen, die ich in den Stunden der Einsamkeit vergieße, einen weichen Mantel der Liebe, ein Lächeln breite, und zwar um jeden Preis, um ihn zu beruhigen, zu beruhigen bis... bis die Wellen des Hasses so hoch sein werden, daß alles nichts mehr nützen wird, auch die Liebe der Mama nicht...” Zwei Tränen laufen über das Antlitz Marias . Die beiden Schwestern blicken gerührt auf sie.

“Aber er hat doch uns, die wir ihn lieben. Und auch die Apostel...” sagt Martha, um sie zu trösten. “Er hat euch, ja... Er hat die Apostel... die ihrer Aufgabe noch nicht gewachsen sind... Mein Schmerz ist um so größer, weil ich weiß, daß ihm nichts verborgen bleibt ...” - “Dann wird er auch wissen, daß ich ihm gehorchen will bis zur vollkommenen Aufopferung, wenn es nötig ist?” fragt Magdalena.

“Er weiß es. Du bist eine große Freude auf seinem Weg .” - “Oh! Mutter!” Und Magdalena ergreift die Hände Marias und küßt sie inbrünstig.

Tiberias endet mit den Obstgärten der Vorstadt. Dann folgt die staubige Straße nach Kana, die auf der einen Seite von Obstgärten, auf der anderen von Wiesen und abgeernteten Feldern begrenzt wird. Jesus betritt einen Obstgarten und verweilt im Schatten der dichtbelaubten Bäume. Die Frauen holen ihn ein, und dann kommt auch der schwitzende Römer, der jetzt wirklich am Ende seiner Kräfte ist. Er setzt sich ein wenig abseits, ohne zu reden; er schaut nur.

“Während wir uns ausruhen, wollen wir etwas essen”, sagt Jesus. “Dort ist ein Brunnen, und auch ein Bauersmann ist in der Nähe. Geht und bittet ihn um Wasser.” Johannes und Thaddäus gehen zu ihm. Sie kehren mit einem von Wasser triefenden Krug zurück, gefolgt vom Bauersmann, der herrliche Feigen anbietet. “Gott vergelte es dir mit Gesundheit und einer reichen Ernte.” - “Gott beschütze dich. Du bist der Meister, nicht wahr?” - “Ich bin es!” - “Wirst du hier sprechen?”

“Niemand verlangt hier danach.” - “Ich, Meister! Mehr als nach Wasser, das so gut für den Durstigen ist”, schreit der Römer . “Hast du Durst?” - “Sehr. Ich bin die ganze Zeit hinter dir hergelaufen.” - “In Tiberias fehlt es nicht an Quellen kühlen Wassers.” - “Du sollst mich nicht mißverstehen, Meister, oder so tun, als ob du mich mißverstehen würdest. Ich bin dir nachgefolgt, um dein Wort zu vernehmen.” - “Aber warum?”

“Ich weiß nicht was und warum. Es war, weil ich jene gesehen habe (und er zeigt dabei auf Magdalena). Ich weiß nicht, irgend etwas hat in mir gesagt: „Er wird dir sagen, was du nicht weißt“, und so bin ich gekommen.”

“Gebt dem Mann Wasser und Feigen, daß er zuerst seinen Körper stärke.” - “Und den Geist?” - “Der Geist erquickt sich an der Wahrheit.” - “Gerade deswegen bin ich dir nachgelaufen. Ich habe die Wahrheit im Wissen gesucht; ich habe die Verdorbenheit gefunden . Auch in den besten Wissenschaften ist immer etwas weniger Gutes enthalten. Ich habe den Mut verloren und bin angeekelt. Ich bin ein ekliger Mensch geworden, der nur noch in den Tag hinein lebt.”

Jesus blickt ihn scharf an, während er das Brot und die Feigen ißt, die die Apostel ihm gebracht haben. Das Mahl ist bald beendet. Jesus bleibt sitzen und beginnt zu sprechen, als wolle er nur seine Apostel unterrichten. Auch der Bauersmann bleibt in der Nähe. “ Zahlreich sind sie, die ihr ganzes Leben lang nach der Wahrheit suchen, ohne sie zu finden . Sie gleichen Wahnsinnigen, die sehen wollen, obwohl sie sich selbst ein Bronzestück vor die Augen halten; die so verkrampft und verworren in ihrem Suchen sind, daß sie sich immer mehr von der Wahrheit entfernen oder sie unter Dingen begraben, die sie selbst bei ihrem wahnsinnigen Suchen auf sich fallen lassen, weil sie dort suchen, wo die Wahrheit nicht sein kann. Um die Wahrheit zu finden, muß man Verstand und Liebe miteinander verbinden ; muß man die Dinge nicht nur mit klugen, sondern auch mit gütigen Augen anschauen. Denn die Güte ist mehr wert als die Gelehrtheit .

Wer liebt, wird immer eine Spur Wahrheit finden. Lieben heißt nicht, sich des Fleisches erfreuen und für das Fleisch zu leben. Das ist keine Liebe. Das ist Sinnlichkeit. Liebe ist Zuneigung des höheren Menschen zum höheren Menschen . Durch die Liebe sieht man in der Gefährtin nicht die Sklavin, sondern die Mutter der Kinder, also die andere Hälfte, die mit dem Mann ein Ganzes bildet, das fähig ist, ein Leben oder mehrere Leben zu erschaffen; also die Gefährtin, die dem Mann Mutter, Schwester und Tochter ist, der schwächer ist als ein neugeborenes Kind, aber auch stärker sein kann als ein Löwe, je nach den Umständen; und der die Mutter, Schwester und Tochter mit vertrauensvoller und beschützender Achtung lieben soll. Alles andere ist nicht Liebe, sondern Laster. Und es führt nicht in die Höhe, sondern in die Tiefe; nicht in das Licht, sondern in die Finsternis ; nicht zu den Sternen, sondern in den Schmutz.

Man liebt die Frau, um zu lernen, den Nächsten zu lieben! Man liebt den Nächsten, um zu lernen, Gott zu lieben . Und damit haben wir den Weg zur Wahrheit gefunden. Die Wahrheit ist hier, o Menschen, die ihr sie sucht! Die Wahrheit ist Gott. Der Schlüssel, das Wissbare zu begreifen, ist hier. Die Lehre, die ohne Fehler ist, kann nur die Lehre Gottes sein. Wie kann der Mensch auf sein Warum eine Antwort geben, wenn er nicht Gott hat, der ihm antwortet? Wer kann die Geheimnisse der Schöpfung enthüllen, auch nur die einfachsten, wenn nicht der höchste Schöpfer, der alles erschaffen hat? Wie können wir das lebendige Wunderwerk begreifen, das der Mensch ist, das Wesen, in dem sich die tierische Vollkommenheit mit der unsterblichen Vollkommenheit, welche die Seele ist, verbindet, wodurch wir gleichsam Götter werden, wenn wir eine lebendige Seele in uns haben, die frei von jenen Sünden ist, die einen Unmenschen besudeln würden, und die der Mensch aber begeht, und derer er sich sogar rühmt? Ich wiederhole euch die Worte Jobs, o ihr Sucher der Wahrheit: „Frage die Ochsen, und sie werden dich unterrichten; die Vögel, und sie werden es dir zeigen. Sprich zur Erde, und sie wird dir antworten; zu den Fischen, und sie werden es dich wissen lassen.“

Ja, die Erde, die grünende und blühende Erde, die Früchte, die auf den Bäumen immer mehr anschwellen, die Vögel, die sich vermehren, die Winde, die die Wolken zerteilen, die Sonne, die seit Jahrhunderten und Jahrtausenden immer zur rechten Zeit aufgeht: alles spricht von Gott, alles erklärt Gott, alles enthüllt und offenbart Gott. Wenn die Wissenschaft sich nicht auf Gott stützt, wird sie zum Irrtum, der nicht erhöht, sondern erniedrigt . Das Wissen ist keine Verdorbenheit, wenn es Religion ist. Wer in Gott sein Wissen hat, der fällt nicht; denn er fühlt seine Würde, weil er an seine ewige Zukunft glaubt. Aber man muß den wirklichen Gott suchen; nicht Geister, die keine Götter sind, sondern Traumbilder der Menschen, die noch in die Windeln der geistigen Unwissenheit eingehüllt sind, weshalb ihre Religionen keine Spur von Weisheit und ihr Glaube keine Spur von Wahrheit aufweist. Man kann in jedem Alter weise werden. Auch Job sagt es: „Beim Einbrechen des Abends wird in dir ein Mittagslicht aufgehen, und wenn du glaubst, am Ende zu sein, wirst du aufsteigen wie der Morgenstern. Du wirst voll sein von Vertrauen durch die Hoffnung, die dich erwartet.“

Es genügt der gute Wille, die Wahrheit zu finden. Früher oder später läßt sie sich gewiß finden. Hat einer sie aber gefunden, dann wehe ihm, wenn er ihr nicht folgt und die Starrköpfigen Israels nachahmt, die schon den Leitfaden in der Hand halten, der Gott finden läßt: alles, was über mich im Buch geschrieben steht! Sie wollen sich dennoch nicht der Wahrheit ergeben, die sie hassen, indem sie auf ihren Verstand und ihr Herz das Gewicht des Hasses und der äußeren Formen häufen. Sie wissen nicht, daß sich die Erde wegen der allzu großen Last unter ihren Schritten öffnen wird, die sie für siegreich halten, die aber nichts anderes sind als die Schritte eines Sklaven der Formeln, der Hinterlist und der Selbstsucht, und daß sie verschlungen und dort hinabstürzen werden, wo die sich ihrer Schuld an einem Heidentum Bewußten hingehören.

Sie sind schuldiger als die Völker, die sich ihr Heidentum selbst gegeben haben, um eine Religion zu haben, nach der sie sich richten können. Nein, so wie ich unter den Kindern Israels nicht zurückweise, wer reumütig ist, so weise ich auch jene Götzendiener nicht zurück, die das glauben, was man sie gelehrt hat, und innerlich seufzen: „Gebt uns die Wahrheit!“ Ich habe gesprochen. Nun wollen wir uns hier im Grünen ausruhen, wenn der Bauer damit einverstanden ist. Am Abend wollen wir uns nach Kana begeben .”

“Herr, ich gehe. Da ich aber das Wissen, das du mir gegeben hast, nicht entweihen möchte, will ich noch heute abend von Tiberias aufbrechen. Ich werde dieses Land verlassen und mich mit meinem Diener an die Küste von Lukanien zurückziehen. Dort habe ich ein Haus. Du hast mir viel gegeben. Mehr konntest du einem alten Epikureer nicht geben . Aber mit dem mir Gegebenen habe ich genug, um den rechten Weg zu finden. Und... du bete zu deinem Gott für den alten Krispus, deinen einzigen Zuhörer in Tiberias. Bete, daß ich dich vor der Enge von Libitina noch einmal hören kann, dich und deine Wahrheit durch deine Worte, die mich dazu befähigen werden, besser zu begreifen. Sei gegrüßt, Meister!”

Er grüßt auf römische Art. Dann aber, als er bei den abseits sitzenden Frauen vorbeikommt, verneigt er sich vor Maria von Magdala und sagt ihr: “Danke, Maria! Es war gut, daß ich dich gekannt habe . Du hast deinem alten Gefährten der Feste den gesuchten Schatz geschenkt. Wenn ich dahin gelange, wo du schon bist, dann verdanke ich es dir. Leb wohl!”

Dann geht er. Magdalena, erstaunt und mit strahlendem Gesichtsausdruck, drückt die Hände an die Brust. Darauf bewegt sie sich auf den Knien zu Jesus hin. “Oh, Herr! Herr! Es ist also wahr, daß ich zum Guten führen kann? Oh, mein Herr! Das ist zuviel Güte!” Und sie verneigt sich, küßt mit dem Gesicht im Gras die Füße Jesu und benetzt sie von neuem mit ihren Tränen: Tränen der Dankbarkeit der großen Liebenden von Magdala...

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Der strenge Judas - Unter Nr. 285

“Oh, Judas! Judas! Wie wärest du streng mit den Sündern, mit den Menschen ! Auch die Menschen wissen, daß sie ein Leben und noch ein anderes Leben haben, und sie hüten sich nicht davor, das eine wie das andere der Gefahr auszusetzen.”

Haben wir zwei Leben? ” - “ Das des Leibes und das der Seele , das weißt du doch.” - “Ach so! Ich dachte, du hättest die Seelenwanderung gemeint. Es gibt ja Leute, die an sie glauben.”

Es gibt keine Seelenwanderung . Aber es gibt zwei Leben. Und doch setzt der Mensch beide der Gefahr aus. Wenn du Gott wärest, wie würdest du die Menschen beurteilen, die außer dem Instinkt auch Vernunft besitzen?”

“Sehr streng. Es sei denn, daß es sich um Schwachsinnige handelt.” “ Würdest du nicht die Umstände in Betracht ziehen, die sie in moralischer Hinsicht wie Schwachsinnige handeln lassen?” - “Ich würde sie nicht in Betracht ziehen.” - “Du würdest also mit einem Menschen, der Gott und seine Gesetze kennt und dennoch sündigt, kein Mitleid haben?” - “Ich würde kein Mitleid haben; denn der Mensch muß wissen, wie er sich zu verhalten hat.” - “Er müßte es wissen.”

“Er muß, Meister! Es ist eine unverzeihliche Schande, wenn ein Erwachsener in gewisse Sünden fällt; besonders, wenn er nicht dazu gezwungen wird.” - “Welche Sünden meinst du damit?” - “Vor allen die der Sinnlichkeit. Es handelt sich um eine hoffnungslose Erniedrigung...” Maria Magdalena neigt das Haupt .

Judas fährt fort: “Und es ist auch für die anderen eine Verführung; denn vom Körper der Unreinen geht ein Gärungsgeruch aus, der auch die Reinsten verwirrt und zur Nachahmung treibt...” Während Maria Magdalena den Kopf immer tiefer sinken läßt, sagt Petrus: “Oh! Sei nicht so streng! Die erste, welche diese unverzeihliche Schande begangen hat, war Eva . Und du willst mir wohl nicht sagen, sie sei vom Gärungsgeruch verdorben worden, der von einem Lüstling ausgegangen ist. Außerdem sollst du wissen, daß sich in mir nichts regt, auch wenn ich neben einem Wollüstigen sitze. Das sind seine Angelegenheiten...”

“Die Nähe beschmutzt immer. Wenn nicht das Fleisch, so die Seele, und das ist schlimmer.” - “Du scheinst mir ein Pharisäer zu sein! Aber entschuldige: man müßte sich also in einen Kristallturm einschließen und dort versiegelt leben.”

“Glaube nicht, Simon, daß solches dir etwas nützen würde. In der Einsamkeit sind die Versuchungen viel schlimmer”, sagt der Zelote .

“Gut! Doch sie würden Träume bleiben und könnten nicht schaden”, antwortet Petrus. “Nicht schaden? Weißt du denn nicht, daß die Versuchung zum Denken anregt, der Gedanke zur Suche nach einem Mittel, um den heulenden Instinkt irgendwie zu befriedigen; und daß das Mittel den Weg ebnet zur raffinierten Sünde, bei der die Sinnlichkeit sich zum Gedanken gesellt?” fragt der Iskariot.

“Davon verstehe ich nichts, teurer Judas. Vielleicht weil ich nie über gewisse Dinge nachgedacht habe, wie du sagst. Ich meine, daß wir uns weit von den Fledermäusen entfernt haben und daß es gut ist, daß du nicht Gott bist. Sonst würdest du ganz allein im Paradies bleiben mit deiner ganzen Strenge. Was sagst du dazu, Meister?”

Ich sage, man soll nicht so streng sein; denn die Engel des Herrn hören die Worte der Menschen und schreiben sie in die ewigen Bücher ein , und es könnte peinlich sein, eines Tages hören zu müssen: „Es soll dir geschehen nach deinem eigenen Urteil!“ Ich sage: Wenn Gott mich gesandt hat, dann geschah dies, damit all denen, die bereuen, verziehen werde; denn Gott weiß, wie sehr ein Mensch Satans wegen schwach sein kann. Judas, antworte mir: Gibst du zu, daß Satan sich einer Seele so bemächtigen und einen solchen Zwang auf sie ausüben kann, daß sich die Sünde in den Augen Gottes verringert?” - “Das gebe ich nicht zu! Satan kann nur den niedrigen Teil des Menschen angreifen.”

“Aber du lästerst ja, Judas des Simon!” sagen fast gleichzeitig der Zelote und Bartholomäus. “Wieso? Inwiefern?” - “Weil du Gott und die Schrift Lügen strafst. Darin liest man, daß Luzifer auch den höheren Teil des Menschen angreift, und Gott hat es durch den Mund seines Wortes schon unzählige Male gesagt”, antwortet Bartholomäus. “Es steht auch geschrieben, daß der Mensch seinen freien Willen hat. Das bedeutet, daß Satan auf die Freiheit des Menschen, seine Gedanken und Gefühle keine Macht ausüben kann. Nicht einmal Gott tut das!”

“Gott nicht, denn er ist Ordnung und Treue; doch Satan, denn er ist Unordnung und Haß”, entgegnet der Zelote. “Der Haß ist nicht das Gefühl, das der Treue entgegengesetzt ist. Du sagst es schlecht.” - “Ich sage es richtig; denn wenn Gott Gerechtigkeit ist und sein gegebenes Wort, dem Menschen in seinen Handlungen die Freiheit zu lassen, nicht bricht, dann kann Satan dieses Wort nicht leugnen, da er dem Menschen nicht die freie Entscheidung versprochen hat. Aber es ist wohl wahr, daß Satan Haß ist und daß er deswegen Gott und den Menschen angreift, indem er den Menschen nicht nur im Fleisch, sondern auch in seiner intellektuellen Freiheit angreift. Er führt diese Freiheit des Gedankens in die Knechtschaft , weshalb der Mensch schließlich Dinge vollführt, die er nicht tun würde, wenn er frei von Satan wäre”, meint Simon der Zelote.

“Das gebe ich nicht zu!” - “Aber die Besessenen, was ist mit ihnen? Du leugnest offensichtliche Tatsachen”, schreit Judas Thaddäus. “Die Besessenen sind taub oder stumm oder wahnsinnig, nicht wollüstig.” - “Hast du nur dieses Laster im Kopf?” fragt Thomas ironisch. “Es ist das meistverbreitete und niedrigste.” - “Aha! Ich dachte schon, es wäre das, welches du am besten kennst”, sagt Thomas lachend. Judas springt auf, als wolle er sich wehren. Aber er beherrscht sich, geht die Stufen hinunter und entfernt sich auf die Felder. Es folgt ein tiefes Schweigen...

Dann sagt Andreas: “Er hat nicht ganz unrecht. Man könnte meinen, daß Satan tatsächlich nur über die Sinne Macht hat: die Augen, die Ohren, die Zunge und das Gehirn. Aber, Meister, wie erklären sich dann gewisse Arten von Bosheit? Handelt es sich da nicht um Besessenheit? Ein Doras zum Beispiel?...”

“Ein Doras, wie du sagst, um in der Liebe gegen niemand zu fehlen, und Gott möge dich dafür belohnen, oder eine Maria , wie wir alle denken, sie als erste, nach den klaren und lieblosen Anspielungen des Judas, sind die am vollkommensten von Satan Besessenen; denn in ihnen dehnt Satan seine Macht über die drei Grade des Menschen aus . Es handelt sich um die am meisten tyrannisierenden und subtilsten Besessenheiten, von denen sich nur jene befreien, die immer nur wenig im Geist erniedrigt worden sind, so daß sie noch die Einladung des Lichtes verstehen. Doras war nicht wollüstig; aber dennoch hat er es nicht verstanden, zum Erlöser zu kommen. Darin liegt der Unterschied: während bei den durch satanische Einwirkung Mondsüchtigen, Stummen, Tauben oder Blinden die Ange- hörigen daran denken, sie zu mir zu bringen, kann in diesen im Geist Besessenen nur der Geist danach trachten, die Freiheit zu suchen. Deswegen wird ihnen verziehen, und sie werden befreit. Denn ihr Wille hat damit begonnen, sich aus der Besessenheit durch Satan zu befreien. Aber jetzt gehen wir zur Ruhe.

Maria, die du weißt, was es heißt, besessen zu sein, bete für alle, die sich selbst der Gewalt des Feindes aussetzen, indem sie sündigen und Schmerz verursachen.” - “Ja, mein Meister, und das ohne Groll!”

“Der Friede sei mit allen! Lassen wir die Ursache aller Diskussion hier zurück. Finsternis in der Finsternis der Nacht. Wir wollen uns zurückziehen, um unter dem Blick der Engel zu schlafen.” ... dann zieht er sich mit den Aposteln in den oberen Saal zurück, und die Frauen und die Hausleute begeben sich ins Erdgeschoß.

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Jesus in Nazareth - 287

Den ersten Halt in Nazareth macht Jesus im Haus des Alphäus. Während er gerade den Garten betreten will, begegnet er Maria des Alphäus , die mit zwei Kupferkrügen herauskommt, um zur Quelle zu gehen. “Der Friede sei mit dir, Maria!” sagt Jesus und umarmt die Verwandte, die ihn herzlich wie immer mit einem Freudenausruf küßt. “Es wird sicher ein Tag des Friedens und der Freude sein, mein Jesus, da du gekommen bist! Oh, meine allerliebsten Söhne! Welch eine Freude für eure Mama, euch zu sehen!” und sie küßt herzlich ihre beiden großen Söhne , die unmittelbar hinter Jesus standen. “Ihr bleibt heute bei mir, nicht wahr? Ich habe soeben den Ofen für das Brot angezündet und war dabei, Wasser zu holen, um gleich mit dem Backen beginnen zu können.”

“Mama, wir holen dir das Wasser”, sagen die Söhne und bemächtigen sich der Krüge. “Wie gut sie sind! Ist es nicht so, Jesus?” - “Sehr gut”, bestätigt Jesus. “Aber auch mit dir sind sie gut, nicht wahr? Denn wenn sie dich weniger lieben würden als mich, hätte ich sie weniger lieb.” - “Habe keine Sorge, Maria, sie sind für mich reine Freude.” - “Bist du allein? Maria ist so plötzlich weggegangen... Ich wäre auch mitgegangen; aber mit ihr war eine Frau... Eine Jüngerin?” - “Ja, sie ist die Schwester Marthas .” - “Oh! Gott sei gepriesen! Ich habe so sehr für sie gebetet ! Wo ist sie nun?”

“Dort kommt sie mit meiner Mutter, Martha und Susanna.” Tatsächlich biegen die Frauen soeben in den Weg ein, gefolgt von den Aposteln. Maria des Alphäus eilt ihnen entgegen und ruft aus: “Wie glücklich bin ich, dich als Schwester zu sehen! Ich müßte dich „Tochter“ nennen, denn du bist jung und ich bin alt. Doch du trägst den Namen, der mir so teuer ist, seit ich ihn meiner Maria gegeben habe. Teure, komm! Du wirst müde sein... Aber bestimmt auch glücklich”, und sie küßt Magdalena und hält ihre Hand, um sie noch mehr fühlen zu lassen, daß sie sie gern hat. Die frische Schönheit Magdalenas erstrahlt noch mehr neben der verblühten, aber herzensguten Maria des Alphäus.

“Heute bleiben alle bei mir. Ich lasse euch nicht gehen”, und mit einem tiefen, ganz unfreiwilligen Seufzer entflieht ihr das Geständnis: “Ich bin immer so allein. Wenn meine Schwägerin nicht hier ist, verbringe ich traurige, einsame Tage.” - “Sind deine Söhne abwesend?” fragt Martha. Maria errötet und seufzt: “Mit der Seele, ja. Immer noch. Jünger zu sein, vereint und trennt... Aber wie du, Maria, gekommen bist, so werden auch sie kommen”, und sie trocknet sich eine Träne ab. Sie blickt auf Jesus, der sie mitleidig ansieht, bemüht sich zu lächeln und fragt: “Das sind lange Geschichten, nicht wahr?” - “Ja, Maria; aber du wirst es noch erleben.” - “Ich hoffe es... Nachdem Simon... Aber dann hat er andere Dinge erfahren... und wurde wieder wankend. Liebe ihn trotzdem, Jesus!” - “Kannst du daran zweifeln?”

Während Maria redet, bereitet sie die Erfrischung für die Pilger vor, taub gegen die Versicherungen aller, daß sie nichts benötigen. “

Lassen wir die Jüngerinnen in Frieden”, sagt Jesus, “und gehen wir ins Dorf.” - “Gehst du schon fort? Vielleicht kommen auch die anderen Söhne.” - “Ich bleibe noch den ganzen morgigen Tag. Wir werden daher zusammen sein. Ich gehe nun, die Freunde zu besuchen. Der Friede sei mit euch, Frauen! Mutter, leb wohl!”

Nazareth ist bereits in Aufregung wegen der Ankunft Jesu und auch wegen der Anwesenheit Maria Magdalenas. Der eine stürzt zum Haus der Maria des Alphäus, der andere zum Haus Jesu, um nachzusehen, und da man das letztere geschlossen vorfindet, strömen alle zu Jesus, der gerade auf das Zentrum von Nazareth zugeht.

Die Stadt ist dem Meister gegenüber immer noch verschlossen . Teils ironisch, teils ungläubig bis zur offenkundigen Feindseligkeit, die sich in bissigen Redensarten Luft macht, folgt sie ihm aus Neugierde, aber ohne Liebe für ihren großen Sohn, den sie nicht versteht. Auch aus den Fragen, die man an ihn richtet, spricht nicht Liebe, sondern nur Unglaube und Spott. Aber er sieht darüber hinweg und antwortet sanft und liebevoll denen, die ihn ansprechen.

“Du gibst allen; aber du scheinst keine Bindung zur Heimat zu verspüren, denn ihr schenkst du dich nicht.” - “Ich bin hier, um euch das zu geben, um was ihr mich bittet.” - “Aber du ziehst es vor, nicht hier zu sein. Sind wir vielleicht größere Sünder als die anderen?” - “Es gibt keinen noch so großen Sünder, den ich nicht bekehren möchte. Und ihr seid nicht schlimmer als die anderen.”

“Du sagst aber auch nicht, daß wir besser sind als die anderen. Ein guter Sohn sagt immer, daß seine Mutter besser ist als alle anderen Mütter, auch wenn es in Wirklichkeit nicht so ist. Ist Nazareth vielleicht für dich eine Stiefmutter?”

“Ich sage nichts. Schweigen ist eine Regel der Liebe sich selbst und den anderen gegenüber , wenn man einerseits nicht sagen kann, daß sie gut seien, und andererseits auch nicht lügen möchte. Aber mein Lob würde sogleich erklingen, wenn ihr euch zu meiner Lehre bekenntet.” - “Du willst also bewundert werden?” - “Nein! Ich will nur, daß ihr mich anhört und mir glaubt, zum Wohl eurer Seelen.”

“Dann sprich doch! Wir werden dir zuhören.” - “Sagt mir, worüber ich zu euch sprechen soll.” Ein Mann von etwa 40 bis 45 Jahren sagt: “Ich möchte dich zu mir einladen und dich um eine Aufklärung bitten.” - “Ich komme sofort, Levi.”

Sie gehen in die Synagoge, während sich das Volk hinter dem Meister und dem Synagogenvorsteher in die Synagoge drängt. Der Vorsteher nimmt eine Schriftrolle und liest: “Er ließ die Tochter Pharaos aus der Stadt Davids kommen und in das Haus führen, das er für sie hatte erbauen lassen; denn er sagte: „Meine Gemahlin darf nicht im Haus Davids, des Königs von Israel, wohnen, denn es wurde geheiligt, als die Bundeslade des Herrn dort einkehrte.“

Sieh, ich möchte von dir wissen, ob dies eine gerechte Maßnahme war oder nicht, und du sollst dein Urteil auch begründen.” - “Ohne Zweifel war es eine gerechte Maßnahme; die Ehrfurcht vor dem Haus Davids erforderte es, weil in ihm die Bundeslade des Herrn eingekehrt war.” - “Aber gab nicht die Tatsache, daß sie die Gemahlin Salomons war, der Tochter des Pharao das Recht, im Haus Davids zu leben? Wird die Gemahlin nicht nach dem Wort Adams „Bein von Bein“ des Gemahls „Fleisch von seinem Fleisch?“ Wenn dem so ist, wie kann sie dann entweihen, wenn der Gatte selbst nicht entweiht?” - “Im ersten Buch Esra heißt es: „Ihr habt gesündigt durch die Heirat mit fremden Frauen und habt diese Sünde zu den vielen anderen Israels hinzugefügt.“

Und eine der Ursachen der Abgötterei Salomons ist in dieser Vermählung mit fremden Frauen zu suchen. Gott hatte gesagt: „Sie, die fremden Frauen, können eure Herzen so sehr verderben, daß ihr fremden Göttern anhangt.“ Die Folgen sind uns bekannt.” - “Aber obwohl er die Tochter des Pharao geheiratet hatte, war er doch nicht verdorben; denn seine Weisheit sagte ihm, daß sie nicht in dem geheiligten Haus bleiben durfte.”

“Die Güte Gottes läßt sich nicht messen mit der unsrigen. Der Mensch verzeiht eine einmal begangene Sünde nicht, obwohl er selbst nie von Sünden frei ist. Gott ist nicht unerbittlich, wenn die Sünde zum ersten Mal begangen wird; aber er läßt den Sünder nicht unbestraft, wenn dieser in seiner Sünde verharrt . Er bestraft nicht nach dem ersten Fall; er spricht zuerst zum Herzen. Doch wenn seine Güte nicht die Bekehrung bewirkt, sondern vielmehr als Schwachheit angesehen wird, dann trifft die Strafe den Menschen; denn Gott läßt seiner nicht spotten. Bein von seinem Bein und Fleisch von seinem Fleisch, hatte die Tochter des Pharao die ersten Keime der Verderbnis in das Herz des Weisen gesenkt; und ihr wißt, daß eine Krankheit nicht gleich ausbricht, wenn ein einziger Keim im Blut ist, sondern erst, wenn das Blut durch viele Keime verdorben ist , die sich aus dem ersten vervielfacht haben. Der Fall des Menschen in die Tiefe beginnt immer mit einer harmlos scheinenden Kleinigkeit . Dann nimmt der Hang zum Bösen zu. Man achtet nicht mehr auf die Stimme des Gewissens und vernachlässigt seine Pflichten und den Gehorsam Gott gegenüber, und allmählich kommt es dann zur großen Sünde, bei Salomon sogar zur Götzendienerei, und damit zum Schisma*, dessen Folgen heute noch andauern.” *[Spaltung Israels]

“Somit sagst du, daß es äußerster Aufmerksamkeit und höchster Ehrfurcht für die heiligen Dinge bedarf?” - “Ohne Zweifel.” - “Dann erkläre mir noch folgendes. Du nennst dich das Wort Gottes, nicht wahr?” - “Das bin ich! Er hat mich auf die Erde gesandt, damit ich allen Menschen die Frohe Botschaft bringe und sie von allen Sünden erlöse.” - “ Wenn du das nun bist, was du sagst, dann bist du mehr als die Bundeslade . Denn nicht in der Herrlichkeit, die über der Bundeslade thront, sondern in dir selbst wäre dann Gott.” - “Du sagst es, und es ist die Wahrheit.” - “Warum entheiligst du dich aber?” - “Und um mich das zu fragen, hast du mich hierher gebracht? Ich bedaure dich und jene, die dich zu ihrem Sprecher gemacht haben. Ich bräuchte mich nicht zu rechtfertigen, denn jede Rechtfertigung wird von eurer Mißgunst zersetzt. Aber ich werde mich rechtfertigen vor euch, die ihr mir Lieblosigkeit gegen euch und Entheiligung meiner eigenen Person vorwerft. Hört! Ich weiß, worauf ihr anspielt. Aber ich antworte euch:

„Ihr seid im Irrtum!“ Seht, so wie ich den Sterbenden die Arme öffne, um sie zum Leben zurückzuführen, so öffne ich auch den wahrhaft Sterbenden die Arme: den Sündern, um sie dem ewigen Leben zuzuführen und sie aufzuwecken, wenn sie schon verwest sind, damit sie nie mehr sterben.

Aber ich will euch ein Gleichnis erzählen. Ein Mensch wird wegen vieler Laster aussätzig. Die menschliche Gesellschaft entfernt ihn aus ihrer Lebensgemeinschaft, und der Mensch betrachtet in seiner schrecklichen Einsamkeit seinen Zustand und seine Sünde, die ihn in diesen Zustand versetzt hat. Lange Jahre vergehen, und obwohl er es nicht mehr erwartet, wird er gesund. Der Herr hat ihm Barmherzigkeit erwiesen wegen seiner vielen Gebete und Tränen. Was tut dieser Mensch nun? Kann er nach Hause zurückkehren, weil Gott ihm Barmherzigkeit erwiesen hat? Nein! Er muß sich dem Priester vorstellen, der ihn eine Zeitlang genau beobachtet und ihn dann nach einem ersten Opfer von zwei Sperlingen sich reinigen läßt. Und nach einer oder vielmehr zwei Waschungen der Kleider kehrt der Geheilte zum Priester zurück mit den makellosen Lämmern, dem Mutterschaf, Mehl und Öl. Der Priester führt ihn zur Türe des Tempels. Somit wird der Mensch wieder offiziell in die Gemeinschaft des Volkes Israels aufgenommen.

Aber sagt mir: Wenn er das erste Mal zum Priester geht, warum geht er zu ihm?” - “Um ein erstes Mal gereinigt zu werden, damit er dann die größere Reinigung vollziehen kann, nach der er wieder in das heilige Volk aufgenommen wird.” - “Das habt ihr gut gesagt. So ist er also noch nicht vollkommen gereinigt?” - “Aber nein! Es fehlt ihm noch viel, um es zu sein; sowohl was den Leib als auch was die Seele betrifft.” - “Wie kann er es dann wagen, sich das erste Mal dem Priester zu nähern, wenn er noch vollständig unrein ist, und dann sogar den Tempel betreten?”

“Weil der Priester das notwendige Mittel ist, um wieder unter die Lebenden aufgenommen zu werden.” - “Und warum kann er sich dem Tabernakel nähern?” - “Weil Gott allein die Schuld nachlassen kann und wir glauben, daß hinter dem heiligen Vorhang Gott in seiner Herrlichkeit thront und daß er von dort aus Verzeihung gewährt.” - “Dann ist also der geheilte Aussätzige noch nicht ohne Schuld, wenn er sich dem Priester und dem Tabernakel nähert?” - “Nein, gewiß nicht!”

Ihr Menschen mit verdrehten Gedanken und unklarem Herzen, warum klagt ihr mich dann an , wenn ich als Priester und Tabernakel die Aussätzigen im Geist zu mir kommen lasse? Warum gebraucht ihr zwei Maße, wenn ihr richtet? Ja, die Frau, die verloren war wie Levi, der hier anwesend ist mit seiner neuen Seele und seiner neuen Aufgabe, und andere, die schon vor ihnen gekommen sind, sind jetzt an meiner Seite. Es ist ihnen erlaubt, denn sie sind wieder ins Volk des Herrn aufgenommen worden. Sie wurden durch Gottes Willen zu mir geführt; jenes Gottes, der mir die Gewalt gegeben hat, zu richten und freizusprechen, zu heiligen und aufzuerwecken. Entheiligung wäre es also nur, wenn in ihnen die Abgötterei andauern würde, wie es bei der Tochter des Pharao der Fall war. Hier aber liegt keine Profanierung vor, weil sie die Lehre angenommen haben, die ich der Welt bringe, und durch sie zur Gnade des Herrn gelangt sind.

Ihr Männer von Nazareth, die ihr mir Schlingen legt, weil es euch unmöglich scheint, daß in mir die wahre Weisheit und die Gerechtigkeit des Wortes des Vaters wohnt, ich sage euch: „Ahmt die Sünder nach!“ Wahrlich, sie sind euch überlegen, denn sie verstehen, zur Wahrheit zu gelangen. Und ich sage euch auch: „Nehmt nicht eure Zuflucht zur Hinterlist, um mir zu widersprechen.“ Tut es nicht! Bittet, und ich werde euch geben, was ich jedem gebe, der zu mir, zum lebendigen Wort, kommt. Nehmt mich auf als einen Sohn dieses eures Landes. Ich trage euch keinen Groll nach. Meine Hände sind voller Liebkosungen, und mein Herz verlangt danach, euch zu unterweisen und zufrieden zustellen. Deswegen bin ich auch bereit, wenn ihr es gestattet, einen Sabbat bei euch zuzubringen, um euch im neuen Gesetz zu unterweisen.”

Die Menge ist sich nicht einig in ihren Ansichten, aber die Neugierde oder die Liebe gewinnen die Oberhand, und viele rufen: “Ja, ja! Bleibe morgen hier! Wir werden dich anhören!” - “Ich werde beten, auf daß in der Nacht die Kruste, die euer Herz umgibt, abfalle. Möge alle Voreingenommenheit euch verlassen, damit ihr frei seid, die Stimme Gottes zu vernehmen. Ich bin gekommen, der ganzen Welt die Frohe Botschaft zu verkünden, und ich bin vom Wunsch beseelt, daß die erste Gegend, die diese Botschaft annimmt, die Stadt sei, in der ich aufgewachsen bin. Der Friede sei mit euch allen!”

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Die Mutter Maria unterrichtet Magdalena - 289

“Wo werden wir haltmachen, mein Herr?” fragt Jakobus des Zebedäus, während sie ein Tal durchschreiten, das von zwei Hügeln gesäumt ist, die vom Fuß bis zum Kamm bepflanzt und grün sind. “Nach Bethanien in Galiläa. Aber in den heißen Stunden werden wir auf dem Berg, der Marala überragt, Rast machen. So wird dein Bruder die Freude haben, wiederum das Meer zu sehen”, sagt Jesus und lächelt. Dann fügt er hinzu: “ Wir Männer hätten weiter gehen können; aber die Jüngerinnen folgen uns. Sie beklagen sich zwar nie, doch wir dürfen sie nicht über Gebühr ermüden .”

“Sie beklagen sich nie, das ist wahr. Wir sind viel mehr zum Jammern geneigt”, stimmt Bartholomäus zu. “Sie sind doch viel weniger an ein solches Leben gewöhnt als wir...” sagt Petrus. “Vielleicht tun sie es deswegen besonders gern”, sagt Thomas. “Nein, Thomas! Sie tun es aus Liebe gern. Glaube mir, Maria, meine Mutter, und ebenso die anderen Frauen, wie Maria des Alphäus, Salome und Susanna, verlassen nur ungern das Haus, um auf die Straßen der Welt und unter die Menschen zu gehen. Und Martha und Johanna, sobald auch sie dabei ist, tun es nicht gern, da sie nicht an die Mühen gewohnt sind; aber sie werden durch die Liebe angetrieben. Was Maria von Magdala betrifft, kann nur eine große Liebe ihr die Kraft geben, diese Strapazen zu ertragen”, sagt Jesus.

“Warum hast du sie ihr auferlegt, wenn du weißt, daß sie eine Qual für sie sind?” fragt Iskariot . “Es ist weder für sie noch für uns gut.” - “Nichts anderes als ein offenkundiger Beweis kann die Welt von ihrer inneren Wandlung überzeugen. Ihre Lossagung von der Vergangenheit war und ist vollkommen.” - “Das wird sich zeigen. Es ist noch zu früh, um dies zu sagen. Wenn man an eine Lebensweise gewohnt ist, sagt man sich nur schwer von allem los. Freundschaften und Sehnsucht führen uns wieder zu ihr zurück”, sagt Iskariot. “Hast du also Sehnsucht nach deinem früheren Leben?” fragt Matthäus.

“Ich... nein! Ich sage nur so. Ich bin ich: ein Mensch, der den Meister liebt und... Nun ja, ich habe Kräfte in mir, die mich befähigen, meinem Vorsatz treu zu bleiben. Aber sie ist eine Frau, und was für eine Frau ! Und wenn sie auch fest entschlossen ist, so ist es dennoch unangenehm, sie bei uns zu haben . Wenn uns einer der Rabbis, der Priester oder großen Pharisäer begegnen würde, glaube mir, es wäre unangenehm, ihre Bemerkungen anhören zu müssen. Ich erröte schon, wenn ich nur daran denke!” - “ Widersprich dir nicht, Judas ! Wenn du wirklich alle Brücken zur Vergangenheit abgebrochen hast, wie du behauptest, warum kränkt es dich dann, daß diese arme Seele uns folgt, um ihre Bekehrung zum Guten zu vervollständigen?” - “Aber aus Liebe, Meister! Auch ich tue alles aus Liebe, aus Liebe zu dir!” - “Dann vervollkommne dich in dieser Liebe! Eine Liebe, die wirklich eine solche sein will, darf niemals andere ausschließen. Wenn jemand nur einen Menschen zu lieben vermag und keinen anderen, so beweist dies, daß er nicht die wahre Liebe besitzt, selbst wenn er vom Menschen geliebt wird, den er liebt. Die vollkommene Liebe erstreckt sich mit den nötigen Stufungen auf das ganze Menschengeschlecht, auf Tiere und Pflanzen, Sterne und Gewässer; denn, wer sie besitzt, sieht alles in Gott. Er liebt Gott, wie es sich gehört, und liebt alles in Gott. Bedenke, daß die ausschließliche Liebe oft Egoismus ist. Lerne daher einen Grad der Liebe zu erreichen, der auch andere in deine Liebe einschließt.”

“Ja, Meister!” Die Person, über die gesprochen wird, geht in der Gruppe der Frauen ahnungslos neben Maria einher; sie denkt nicht daran, Grund solcher Auseinandersetzungen zu bilden. Das Dorf Jafia wird erreicht, durchschritten und bleibt zurück, ohne daß auch nur ein Bewohner das Verlangen gezeigt hätte, dem Meister zu folgen oder ihn aufzuhalten. Sie gehen weiter. Die Apostel sind beunruhigt über die Gleichgültigkeit der Bewohner; Jesus sucht sie zu beruhigen.

Die Ebene dehnt sich gegen Westen aus, und an ihrem Ende liegt eine andere Ortschaft, am Fuß eines anderen Berges. Auch dieses Dorf, das ich Marala nennen höre, zeigt kein Interesse. Nur die Kinder nähern sich den Aposteln, während diese bei einem Haus an einem Brunnen Wasser schöpfen. Jesus liebkost die Kinder und fragt sie nach ihrem Namen. Die Kinder fragen nach dem seinen; sie wollen wissen, wer er ist, wohin er geht, was er macht.

Auch ein halbblinder Bettler nähert sich gebeugt und streckt die Hand nach einem Almosen aus, das er auch empfängt. Der Marsch wird wieder aufgenommen. Sie besteigen einen Hügel, der das Tal abschließt, in das sich die Wasser der Bäche ergießen, die nun zu Wasserfäden geworden sind oder nur noch aus an der Sonne getrockneten Steinen bestehen. Aber die Straße ist gut. Sie führt zuerst durch einen Olivenhain, dann durch Obstgärten, deren Bäume ihre Äste ineinander flechten und so einen grünen Tunnel über der Straße bilden. Sie erreichen eine Höhe, die von einem rauschenden Eschenwäldchen, wenn ich nicht irre, gekrönt ist. Dort lassen sie sich nieder, um auszuruhen und etwas zu essen.

Mit Speise und Rast genießen sie auch die schöne Aussicht. Das Panorama ist herrlich, mit der Bergkette des Karmel zur Linken, und dort, wo die Kette des Karmel in einer grünen Kette, in der alle Schattierungen von Grün vertreten sind, endet, glitzert das offene, endlose Meer, das sich mit seinem durch leichte Wellen bewegten Seidentuch nach Norden ausdehnt, um die Küsten zu bespülen, die sich von dem ins Meer vorstoßenden Karmel bis nach Ptolemaïs erstrecken und andere Orte, bis sie sich in einem leichten Nebel gegen Syro-Phönizien verlieren. Im Süden des Vorgebirges des Karmel kann man das Meer nicht sehen, da die Kette, die höher ist als der Hügel, auf dem sie sich befinden, die Aussicht versperrt. So verbringen sie die Stunden im Schatten des rauschenden, luftigen Wäldchens. Die einen schlafen , die anderen sprechen mit leiser Stimme, ein anderer schaut umher. Johannes entfernt sich etwas von den Kameraden und steigt so hoch wie möglich hinauf, um noch mehr zu sehen. Jesus zieht sich in ein Dickicht zurück, um zu beten und zu betrachten. Die Frauen haben sich ihrerseits hinter einen Vorhang zurückgezogen, der aus blühenden Geißblattzweigen besteht, und haben sich dort an einer kleinen Quelle erfrischt. Diese ist zu einem dünnen Faden geworden, der am Boden eine Pfütze bildet und dem es nicht gelingt, sich zu einem Bächlein zu entwickeln. Dann sind die älteren eingeschlafen, während die allerseligste Jungfrau Maria, Martha und Susanna von ihren fernen Häusern reden.

Maria sagt, daß sie gerne den schönen, blühenden Strauch hätte, um damit ihre kleine Grotte zu schmücken. Magdalena , die ihre Haare aufgelöst hatte, da sie deren Last nicht mehr ertragen konnte, sammelt sie von neuem und sagt: “Ich gehe zu Johannes, da er jetzt mit Simon zusammen ist, um mit ihnen das Meer zu betrachten.” - “Ich komme mit”, sagt Maria, die heiligste Mutter. Martha und Susanna bleiben bei den schlafenden Gefährtinnen. Um die beiden Apostel zu erreichen, müssen sie an dem Dickicht vorbeigehen, in das sich Jesus zurückgezogen hat, um zu beten. “Mein Sohn findet seine Ruhe im Gebet”, sagt Maria leise.

Magdalena antwortet: “Ich glaube, daß es ihn zwingt, sich zu isolieren, um die wunderbare Selbstbeherrschung aufrechtzuerhalten, die er besitzt und die die Welt auf eine so harte Probe stellt. Weißt du, Mutter, ich habe getan, was du mir gesagt hast. Jede Nacht ziehe ich mich eine kürzere oder längere Weile zurück, um in mir selbst wieder die Ruhe zu finden , die durch so viele Dinge gestört wird. Danach fühle ich mich viel stärker .”

“Vorerst fühlst du dich stärker. Später wirst du dich selig fühlen. Glaube mir, Maria, sowohl in der Freude wie im Schmerz, sowohl im Frieden wie im Kampf, hat unser Geist das Bedürfnis, sich vollkommen in den Ozean der Betrachtung zu versenken , um das wieder aufzurichten, was die Welt und ihre Wechselfälle niedergeworfen haben; um neue Kräfte zu sammeln und immer höher emporzusteigen. In Israel gebrauchen und mißbrauchen wir das mündliche Gebet. Ich will damit nicht sagen, daß es wertlos ist und von Gott ungern gesehen wird; aber ich muß sagen , daß dem Geist die Betrachtung dienlicher ist, bei der man zum wirklichen Gebet, das heißt zur Liebe, gelangt , indem man die Vollkommenheit Gottes bewundert und seine eigene Niedrigkeit erwägt und auch die so vieler anderer Seelen, nicht um sie zu kritisieren, sondern um sie zu bemitleiden und zu verstehen und um sich Gott dankbar zu erweisen, der uns aufgerichtet hat, damit wir nicht sündigen, oder uns verziehen hat, um uns nicht am Boden liegen zu lassen.

Denn wenn das Gebet wirklich Gebet sein soll, muß es Liebe sein. Sonst ist es nur ein Geplapper der Lippen, an dem die Seele nicht teilnimmt.” - “Aber ist es erlaubt, mit Gott zu sprechen, wenn die Lippen noch unrein sind von so vielen bösen Worten? Ich mache es in den Stunden der Sammlung so, wie du mich gelehrt hast, du mein süßester Apostel. Aber ich tue meinem Herzen Gewalt an, das Gott sagen möchte: „Ich liebe dich.” - “Nein! Aber warum denn?” - “Weil ich fürchte, ein Sakrileg zu begehen, wenn ich ihm mein Herz anbiete...”

“Nein, meine Tochter, das sollst du nicht denken. Tue das nicht! Dein Herz ist vor allem durch die Verzeihung des Sohnes wieder geweiht, und der Vater sieht nichts anderes als diese Verzeihung. Auch wenn Jesus dir noch nicht verziehen hätte und du in einer unbekannten Einsamkeit, die materiell wie auch moralisch sein könnte, zu Gott schreien würdest: „Ich liebe dich! Vater, verzeihe mir meine Armseligkeit, denn sie mißfällt mir wegen der Schmerzen, die sie dir bereitet!“, würde der Vater dir von sich aus verzeihen, glaube es mir, Maria! Dein Schrei der Liebe wäre ihm wohlgefällig. Überlasse dich der Liebe. Tue ihr keine Gewalt an! Laß sie nur mächtig werden wie einen lodernden Feuerbrand. Der Brand verzehrt alles, was materiell ist; aber er zerstört kein einziges Molekül der Luft. Denn die Luft ist körperlos. Das Feuer reinigt sie von den kleinsten Stäubchen, die Winde in ihr säen, und macht sie leichter. So macht es die Liebe mit dem Geist. Sie verzehrt das Materielle im Menschen noch rascher, wenn Gott es erlaubt, aber sie zerstört nicht den Geist. Im Gegenteil, sie vermehrt seine Lebendigkeit und läßt ihn rein und beweglich werden für seine Erhebungen zu Gott.

Siehst du dort Johannes? Er ist noch jung; aber er ist schon ein Adler. Er ist der stärkste von allen Aposteln, denn er hat das Geheimnis der geistigen Stärke, der geistigen Bildung erfaßt: die liebende Betrachtung. Ich...” - “Aber er ist rein. Ich... Er ist ein Knabe. Ich...” - “Dann schau den Zeloten an! Er ist nicht mehr jung. Er hat gelebt, gekämpft, gehaßt. Er bekennt es offen. Aber er hat gelernt zu betrachten. Und auch er, glaube es mir, ist schon weit voran. Siehst du, die beiden suchen sich gegenseitig; denn sie fühlen sich ähnlich. Sie haben dasselbe Alter im Geist erreicht und mit demselben Mittel: dem betrachtenden Gebet! Dadurch ist der Jüngling männlich im Geist geworden, und der schon betagte und müde Mann ist zu einer starken Männlichkeit zurückgekehrt. Und du kennst einen anderen, der, ohne Apostel zu sein, bereits weit vorangeschritten ist durch seine natürliche Neigung zur Betrachtung, die für ihn, seit er der Freund Jesu geworden, eine geistige Notwendigkeit ist. Dein Bruder!”

“Mein Lazarus?... Oh, Mutter! Du weißt ja so viele Dinge, weil Gott sie dir zeigt . Sage mir, wie wird mich Lazarus bei der ersten Begegnung behandeln? Früher hat er entrüstet geschwiegen. Aber er hat dies getan, weil ich keine Rügen ertragen konnte. Ich bin sehr grausam gegen meine Geschwister gewesen... Jetzt verstehe ich ihn. Was wird er jetzt, da er weiß, daß er reden darf, zu mir sagen? Ich fürchte seinen offenen Vorwurf. Sicherlich wird er mir all das Leid vorwerfen, dessen Ursache ich gewesen bin. Ich möchte zu Lazarus fliegen; aber ich habe auch Furcht vor ihm. Früher bin ich zu ihm gegangen, und nicht einmal das Andenken an meine verstorbene Mutter und ihre Tränen, die sie meinetwegen vergossen hatte, und die sich noch auf den von ihr benützten Gegenständen befanden, störten mich. Mein Herz war zynisch, unverschämt und jeder Stimme verschlossen, die nicht „schlecht“ war. Nun aber bin ich nicht mehr in der Macht der Bösen und zittere... Was wird mir Lazarus antun?

“Er wird dir seine Arme öffnen und dir mehr mit dem Herzen als mit den Lippen zurufen: „Meine vielgeliebte Schwester!“ Er ist nun schon so in Gott geformt, daß er nur mehr auf diese Art handeln kann. Fürchte dich nicht! Er wird dir kein Wort über die Vergangenheit sagen . Er ist in Bethanien, ich meine ihn vor mir zu sehen, und die Tage des Wartens sind ihm lang geworden. Er wartet auf dich, um dich an sein Herz zu drücken ; um seine Liebe als Bruder zu sättigen. Du brauchst ihn nur zu lieben, so wie er dich liebt, und die Wonne zu genießen, aus dem gleichen Schoß geboren zu sein.” - “Ich würde ihn auch lieben, wenn er mir Vorwürfe machen würde, denn ich habe sie verdient.” - “Aber er wird dich nur lieben! Dies allein!”

Sie haben Johannes und Simon erreicht, die von künftigen Reisen sprechen und sich ehrfurchtsvoll erheben, als die Mutter des Herrn ankommt. “Auch wir kommen, um den Herrn ob der schönen Werke seiner Schöpfung zu loben.” - “Hast du das Meer noch nie gesehen, Mutter?” - “Oh, ich habe es gesehen. Es war damals ruhiger im Sturm als mein Herz und weniger salzig als meine Tränen, während ich dem Gestade entlang von Gaza zum Roten Meer fliehen mußte, mit meinem Kind auf den Armen und der Furcht vor Herodes. Ich habe es auch bei der Rückkehr gesehen. Aber da war es Frühling auf Erden und in meinem Herzen. Der Frühling der Rückkehr in die Heimat. Und Jesus klatschte in die Händchen, glücklich darüber, neue Dinge zu sehen... Ich und Josef waren ebenfalls glücklich, denn die Güte des Herrn hatte uns das Exil in Matarea auf tausenderlei Art erleichtert.” Ihre Unterhaltung dauert weiter an, während bei mir die Fähigkeit zu sehen und zu hören nachläßt.

     Unter 292

Nun bitte ich euch, euch eines jeden unlauteren Urteils über die Anwesenheit einer Schwester zu enthalten, die das alte Israel niemals als Jüngerin anerkennen könnte. Ich habe den Frauen gesagt, sie sollen zur Ruhe gehen. Aber nicht so sehr um ihnen Ruhe zu gönnen, als vielmehr, um die Gelegenheit zu haben, eine Bekehrung in heiliger Weise zu erklären und euch vor einer Sünde gegen die Nächstenliebe und die Gerechtigkeit zu schützen, habe ich diesen Befehl gegeben, der die Jüngerinnen gewiß betrübt hat.

Maria von Magdala, die große Sünderin in Israel, die keine Entschuldigung für ihre Sünde hat, ist zum Herrn zurückgekehrt. Und von wem soll sie Vertrauen und Barmherzigkeit erwarten, wenn nicht von Gott und den Dienern Gottes? Ganz Israel, und mit Israel die Fremden, die unter uns sind, die sie sehr gut kennen und sie jetzt verdammen, da sie nicht mehr an ihren Ausschweifungen teilnimmt, tadeln und verspotten diese Auferstehung. Jede Seele ist ein heiliges Feuer, das von Gott auf den Altar des Herzens gelegt wird und dazu dient, das Opfer des Lebens mit der Liebe zum Schöpfer zu verbrennen.

Jedes Leben ist ein Brandopfer, wenn es gut angelegt wird; jeder Tag ist ein Opfer, wenn er in Heiligkeit zugebracht wird. Aber es kommen die Räuber, die Bedrücker der Menschen und der Seelen der Menschen. Das Feuer verbirgt sich im tiefen Brunnen, nicht aus heiliger Notwendigkeit, sondern aus elender Torheit. Und dort, überschwemmt vom Abwasser der Lasterhöhlen, wird es zum schmutzigen und schweren Schlamm, bis ein Priester in diese Tiefe hinabsteigt und den Schlamm zum Sonnenlicht bringt und ihn mit seinem eigenen Opfer vereinigt.

Denn, das sollt ihr wissen: es genügt nicht der Heldenmut des Reumütigen. Es braucht auch den Heroismus dessen, der bekehrt. Er muß sogar dem anderen vorausgehen, denn die Seelen werden durch unsere Opfer gerettet . Nur so bewirkt man, daß der Schlamm sich in Flamme verwandelt, und Gott das dargebrachte Opfer als vollkommen und seiner Heiligkeit genehm ansieht.

    Unter 293

Aber das gefundene Gold muß sich selbst, um schön und für den Goldschmied brauchbar zu sein, ausdauernd bearbeiten lassen. Wenn das Gold nach der Ausgrabungsarbeit keine Bearbeitung mehr erdulden wollte, würde es ein grobes, unnützes Metall bleiben . Ihr seht also, es genügt nicht die erste Begeisterung , um ans Ziel zu gelangen, sei es als Apostel, sei es als Jünger oder als Gläubiger. Es braucht Beharrlichkeit ! Ermastheus hatte viele Kameraden. In der ersten Begeisterung hatten alle versprochen zu kommen. Er allein ist gekommen. Zahlreich sind meine Jünger, und es werden ihrer immer mehr. Aber nur der dritte Teil der Hälfte wird bis zum Ende bleiben. Ausharren! Das ist das große Wort. Für alle guten Dinge.

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Zu den Jüngern von Sykaminon:
“Der Glaube”
- unter 294

Das Volk von Sykaminon hat, von der Neugierde getrieben, den Ort, wo die Jünger die Rückkehr des Meisters erwarten, den ganzen Tag belagert. Die frommen Frauen haben inzwischen keine Zeit verloren und die verstaubten und verschwitzten Kleider gewaschen , so daß auf dem Strand eine lustige Ausstellung dieser Kleider, die im Wind und an der Sonne trocknen, sichtbar ist. Nun, da der Abend sich nieder senkt und die Feuchtigkeit des Salzwassers hochsteigt, beeilen sie sich, die noch feuchten Wäschestücke zu schütteln und nach allen Richtungen zu ziehen, bevor sie sie zusammenlegen, damit sie ordentlich dem entsprechenden Eigentümer ausgehändigt werden können. “Bringen wir Maria sofort ihre Kleidungs- stücke”, sagt Maria des Alphäus. Und sie fügt hinzu: “Sie hat sich gestern und heute im Kämmerchen ohne Luft aufhalten müssen!...”

Ich erfahre so, daß die Abwesenheit Jesu länger als einen Tag gedauert hat und Maria von Magdala, die nur ein einziges Gewand besaß, verborgen bleiben mußte , bis ihr geliehenes Kleid wieder trocken war. Susanna antwortet: “Glücklicher- weise beklagt sie sich nie. Ich glaubte nicht, daß sie so gut ist.”

... Fast gleichzeitig kehrt Maria Magdalena zurück und sagt: “Sie kommen! Es sind die fünf Boote, die gestern beim Morgengrauen abgefahren sind. Ich habe sie gut erkannt.” - “Sie werden müde und durstig sein. Ich will noch mehr Wasser holen. Die Quelle ist sehr frisch!” Und Maria des Alphäus verläßt mit ihren Krügen das Haus. “Gehen wir Jesus entgegen. Kommt”, sagt die Jungfrau. Und sie geht mit Magdalena und Johannes von En-Dor, während Martha und Susanna mit ihren geröteten Gesichtern beim Herd bleiben und sich bemühen, die Abendmahlzeit fertig zu bereiten.

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Jesus zu Magdalena: “Ich werde dich schmieden mit Feuer und Amboß” - 295

Es ist noch Nacht, eine sehr schöne Nacht mit abnehmendem Mond, als Jesus sich mit den Aposteln und den Frauen sowie Johannes von En-Dor und Ermastheus leise von Isaak verabschiedet, dem einzigen, der wach ist. Sie nehmen den Weg längs der Küste. Das Geräusch der Schritte hört sich an wie ein leichtes Gleiten der Sandalen über die Kiesdecke; niemand spricht, bis das letzte Häuslein einige Meter hinter ihnen liegt. Wer in diesen Häuschen oder in den vorhergehenden schläft, hat die stille Abreise des Herrn und seiner Freunde gewiß nicht bemerkt. Das Schweigen ist vollkommen. Nur das Meer spricht mit dem Mond, der jetzt untergeht und dem Morgen Platz macht, und erzählt dem Sand die Geschichte der Tiefe mit seinen großen Wellen der Hochflut, die sich erhebt und einen immer schmäleren trockenen Rand am Ufer zurückläßt.

Dieses Mal gehen die Frauen mit Johannes, dem Zeloten, Judas Thaddäus und Jakobus des Alphäus voraus, die den Jüngerinnen helfen, kleine Klippen zu überwinden, die da und dort auftauchen und mit salziger und glitschriger Nässe bedeckt sind. Der Zelote ist mit Magdalena, Johannes mit Martha , während Jakobus des Alphäus sich um die Mutter und Susanna kümmert, und Thaddäus niemand die Ehre überläßt , in seine starke, schmale Hand, die der Hand Jesu ähnelt, die kleine Hand Marias zu nehmen , um ihr bei den schwierigen Schritten zu helfen. Jeder spricht leise mit seiner Gefährtin. Es scheint, als ob alle den Schlaf der Erde achten wollten. Der Zelote spricht sehr eifrig mit Maria Magdalena, und ich sehe mehrmals, daß Simon die Arme ausbreitet, als ob er sagen wollte: “So ist es, und daran ist nichts zu ändern.” Aber ich kann nicht hören, was sie reden, da sie am weitesten vorne sind.

Maria von Magdala weint und flüstert: “Und ich habe meiner Mutter diese Qual schon auf Erden verursacht!” Martha weint und sagt: “Der Schmerzder Trennung von Mutter und Kind ist gegenseitig.” ...

“Wir werden Dora erreichen, bevor die Sonne brennt, und dann bei Sonnenuntergang weitergehen. Morgen in Cäsarea wird eure Mühe ein Ende haben, Schwestern. Und auch wir werden uns ausruhen. Euer Wagen wird euch sicher dort erwarten.

Wir werden uns trennen... Warum weinst du, Maria? Muß ich denn heute alle Marien weinen sehen?” sagt Jesus zu Magdalena.

Sie ist traurig, weil sie dich verlassen muß ”, entschuldigt sie Martha. “Es ist nicht gesagt, daß wir uns nicht bald wiedersehen.” Maria macht ein Zeichen der Verneinung mit dem Kopf. Sie weint nicht deswegen. Der Zelote erklärt: “Sie fürchtet, ohne deine Gegenwart nicht gut sein zu können... Sie fürchtet zu sehr versucht zu werden, wenn du nicht in der Nähe bist, um den Dämon fernzuhalten . Sie hat soeben mit mir darüber gesprochen.” - “ Fort mit dieser Furcht ! Ich nehme nie eine Gnade zurück, die ich gewährt habe. Willst du sündigen? Nein? Dann sei beruhigt! Sei wachsam, das ja, aber habe keine Furcht!”

“Herr... ich weine auch, weil in Cäsarea... Cäsarea ist voll von meinen Sünden . Jetzt erkenne ich sie alle... Ich werde viel zu leiden haben in meiner Menschlichkeit.”

“Das gefällt mir. Je mehr du leidest, um so besser. Denn später wirst du nicht mehr leiden unter diesen unnützen Qualen. Maria des Theophilus, ich erinnere dich daran, daß du die Tochter eines Starken bist . Du bist eine starke Seele, und ich will dich noch stärker machen. Ich bemitleide die Schwächen der anderen; denn sie waren immer sanfte und schüchterne Frauen, deine Schwester inbegriffen. Bei dir ertrage ich sie nicht. Ich werde dich schmieden mit Feuer und Amboß, denn du hast eine Natur, die so bearbeitet werden muß , damit das Wunder deines und meines Willens nicht zerstört wird. Das sollst du wissen, und alle Anwesenden oder Abwesenden, die denken könnten, daß ich durch meine große Liebe zu dir, dir gegenüber schwach geworden bin. Ich gestatte dir, aus Reue und aus Liebe zu weinen; aber aus keinem anderen Grund. Hast du verstanden?”

Jesu Stimme ist eindringlich und streng. Maria von Magdala bemüht sich, die Tränen und Seufzer zu unterdrücken. Sie gleitet auf die Knie, küßt die Füße Jesu und versucht, mit fester Stimme zu sagen: “Ja, mein Herr, ich werde tun, was du willst.” - “Dann steh auf und sei ohne Sorge!”

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Im Garten Maria Magdalenas - 320

Jesus ist nicht mehr dort, wo er bei der letzten Vision war. Er befindet sich jetzt in einem großen Garten , der bis zum See reicht und in dessen Mitte ein Haus liegt. Dieser Garten dehnt sich hinter dem Haus dreimal so weit aus wie davor und an den Seiten. Es gibt dort Blumen, aber vor allem Bäume und grüne Winkel, die teils kostbare Marmorbecken umrahmen, teils steinerne Tische und Sitze bergen. Da und dort, bei Lorbeer- und Buchsstauden und Wasserbecken, in deren klarem Wasser sie sich einst spiegelten, müssen auch Statuen gestanden haben, von denen nur noch die Sockel übrig geblieben sind. Die Anwesenheit Jesu mit den Seinen und die der Leute von Magdala, darunter auch der kleine Benjamin, der gewagt hatte, Iskariot zu sagen, daß er böse sei, läßt mich vermuten, daß es die Gärten um das Haus Magdalenas sind... gereinigt und hergerichtet für ihre neue Aufgabe; alle Dinge, die Anstoß erwecken oder an ihre Vergangenheit erinnern könnten, sind weggeräumt worden.

Das graublaue Gekräusel des Sees spiegelt den Himmel wider, an dem Wolken voll der ersten Herbstregen dahin ziehen, doch ist er auch so schön, in diesem ruhigen und friedlichen Licht eines Tages, der nicht heiter, aber auch noch nicht regnerisch ist. An den Ufern des Sees gibt es nicht mehr viele Blumen, aber dafür hat sie der größte Maler, der Herbst, mit seinen ockerfarbenen und purpurnen Pinselstrichen bemalt, während das sterbende Laub der Bäume und Reben sich verfärbt, bevor sie der Erde ihre lebenden Gewänder überlassen. Eine Stelle im Garten einer Villa, die wie diese hier am See liegt, ist von so flammendem Rot, als wolle sich Blut ins Wasser ergießen; es ist eine Hecke aus biegsamen Zweigen, die der Herbst in eine feurige Kupferfarbe getaucht zu haben scheint, während am Ufer die Weiden mit ihren schmalen, blausilbernen Blättern schimmern, die nun vor dem Sterben blasser sind als sonst.

Jesus schaut nicht auf das, was ich sehe. Er schaut auf die armen Kranken, denen er Heilung gewährt. Er schaut auf die armen Bettler, an die er Almosen verteilt. Er schaut auf die Kinder, die ihm von den Müttern entgegengehalten werden, damit er sie segne.

Und er schaut auf eine Gruppe von Schwestern, die ihm von ihrem einzigen Bruder berichten, dessen Benehmen die Mutter an Herzeleid hat sterben lassen und der das ganze Vermögen verpraßt hat; sie bitten Jesus, ihnen einen Rat zu erteilen und für sie zu beten. “Gewiß will ich beten. Ich will Gott bitten, daß er euch den Frieden gebe, daß euer Bruder sich bekehre und sich eurer erinnere; daß er euch erstatte, was recht ist, und vor allem, daß er euch wieder liebe. Denn wenn er euch liebt, wird er auch alles andere tun. Ihr aber, liebt ihr ihn oder empfindet ihr Groll gegen ihn? Verzeiht ihr ihm von Herzen, oder sind eure Tränen mit Haß gemischt? Auch er ist unglücklich. Mehr als ihr! Trotz der Reichtümer ist er ärmer als ihr, und man muß Mitleid mit ihm haben. Er besitzt die Liebe nicht mehr , und auch Gott liebt ihn nicht mehr. Seht ihr, wie unglücklich er ist? Ihr und eure Mutter, die schon als erste vorangegangen ist, werdet mit dem Tod jubelnd das traurige Leben beenden, zu dem er euch gezwungen hat. Er aber nicht. Einen falschen Genuß würde er für eine schreckliche, ewige Qual eintauschen. Kommt näher zu mir! Ich will zu allen sprechen, indem ich zu euch spreche.” Und Jesus begibt sich in die Mitte einer mit Blütensträuchern bewachsenen Wiese, wo früher eine Statue stand. Ihr Sockel ist von einer niedrigen Myrthenhecke und Zwergröschen umgeben.

Jesus stellt sich vor diese Hecke und gibt zu verstehen, daß er reden möchte. Alle schweigen und scharen sich um ihn. “Der Friede sei mit euch! Hört! Es steht geschrieben: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ Aber wer ist der Nächste? Das ganze Menschengeschlecht im allgemeinen. Dann, im engeren Sinn, alle Landsleute; im noch engeren, alle Mitbürger; dann alle Verwandten, und schließlich der letzte Kreis dieses Kranzes der Liebe, der wie Rosenblätter das Innere der Blume umgibt, die Liebe zu den Brüdern dem Blut nach: den am nächsten Stehenden. Das Zentrum des Herzens der Blume der Liebe ist Gott . Die Liebe zu ihm ist die erste, die wir haben müssen. Danach kommt die Liebe zu den Eltern , denn Vater und Mutter bilden sozusagen den kleinen „Gott“ auf Erden; sie haben bei unserer Erschaffung mitgewirkt und unermüdlich für uns gesorgt. Um diesen Fruchtknoten herum, dessen Blütenstempel und Staubgefäße schimmernd und die Düfte der Liebe ausströmen, schließen sich die Kreise der verschiedenen Liebesarten an. Der erste ist der Kreis der Geschwister , die aus dem gleichen Schoß stammen und vom gleichen Blut sind wie wir. Aber warum soll man den Bruder lieben? Nur weil er vom gleichen Fleisch und Blut stammt wie wir? So machen es auch die Vöglein, die im gleichen Nest versammelt sind. Sie haben tatsächlich nichts anderes gemeinsam als dies: daß sie aus der gleichen Brut stammen und daß sie auf der Zunge den gleichen Geschmack des Speichels von Vater und Mutter verspüren.

Wir Menschen sind mehr als die Vögel. Wir haben mehr als ein Fleisch und Blut. Wir haben noch einen Vater außer dem irdischen Vater und der Mutter. Wir haben eine Seele, und wir haben Gott, den Vater aller Menschen. Daher müssen wir den Bruder als Bruder lieben, dem unser Vater und unsere Mutter das Leben geschenkt haben, und als Bruder, der Gott zum Vater hat. Wir müssen ihn also auch geistig lieben, nicht nur menschlich. Wir müssen ihn lieben nicht allein wegen des Fleisches und des Blutes, sondern wegen des Geistes, den wir gemeinsam haben. Es ist unsere Pflicht, unseren Bruder mehr dem Geist als dem Fleisch nach zu lieben , denn der Geist ist mehr als das Fleisch. Und der himmlische Vater ist mehr als der menschliche. Der Geist hat einen höheren Wert als das Fleisch, und unser Bruder wäre viel unglücklicher, wenn er den himmlischen Vater verlieren würde, als wenn er den irdischen entbehren müßte. Ein irdisches Waisenkind zu sein ist herzzerreißend, aber es ist nur eine halbe Vaterlosigkeit. Sie beeinträchtigt nur das, was irdisch ist, unser Bedürfnis nach Beistand und Liebe.

Wenn aber der Geist zu glauben weiß, wird er nicht durch den Tod des Vaters getrübt, sondern vielmehr steigt der Geist des Sohnes, wie von der Kraft der Liebe angezogen, empor, um sich dorthin zu begeben, wo sich der Gerechte befindet. Und ich sage euch, daß das Liebe ist, Liebe zu Gott und zum Vater, der mit seiner Seele aufgestiegen ist zum Ort der Weisheit. Auch der Sohn steigt zu diesem Ort auf, wo er näher bei Gott ist. Es fehlt ihm nicht an echter Hilfe, an den Gebeten des Vaters, der nunmehr vollkommen zu lieben versteht. Gezügelt von der Gewißheit, daß der Vater jetzt sein Tun besser als zu Lebzeiten sieht, und dem Wunsch, sich durch ein heiliges Leben wieder mit ihm zu vereinigen, führt er nun ein redlicheres Leben. Deswegen muß man sich mehr um die Seele als um den Körper des eigenen Bruders kümmern. Armselig wäre die Liebe, die sich nur um das kümmert, was vergänglich ist, während sie vernachlässigt, was nicht verdirbt; diese Vernachlässigung zieht den Verlust der ewigen Glückseligkeit nach sich.

Gar zahlreich sind jene, die sich mit unnützen Dingen abmühen und sich aufreiben für etwas, was nur relativen Wert hat, während sie aus dem Auge verlieren, was wirklich notwendig ist. Die guten Schwestern und die guten Brüder sollen nicht nur dafür sorgen, daß die Kleider in Ordnung sind, daß Speise und Trank bereitstehen, oder daß sie mit ihrer Arbeit den Brüdern helfen, sondern sie müssen sich auch über die Seelen der Brüder neigen und deren Stimmen lauschen, ihre Fehler sehen und sich mit liebevoller Geduld bemühen, ihnen einen gesunden und heiligen Geist zu vermitteln, wenn sie in ihren Reden oder Fehlern eine Gefahr für ihr ewiges Leben erkennen. Und sie müssen, wenn der Bruder gegen sie fehlt, ihm zu verzeihen suchen und die Verzeihung Gottes erbitten durch seine Rückkehr zur Liebe, ohne die Gott nicht verzeihen kann.

Im Buch Levitikus heißt es: „Du sollst deinen Bruder nicht in deinem Herzen hassen, sondern ihn öffentlich zur Rede stellen, um seinetwegen keine Schuld auf dich zu laden.“ Aber vom Nichthassen bis zum Lieben ist ein weiter Weg . Es könnte euch scheinen, daß Abneigung, Abkehr und Gleichgültigkeit keine Sünden sind, da sie ja nicht Haß sind. Nein! Ich komme, um die Liebe und notwendigerweise auch den Haß in ein neues Licht zu rücken; denn je mehr die erstere sich erhebt, um so tiefer fällt der andere.

Meine Lehre ist Vollkommenheit. Sie ist Feinheit des Fühlens und des Urteilens. Sie ist die Wahrheit, nicht Metapher und Umschreibung. Und ich sage euch, daß Abneigung, Abkehr und Gleichgültigkeit schon Haß sind, und zwar aus dem einfachen Grund, weil sie nicht Liebe sind.

Das Gegenteil von Liebe ist Haß. Könnt ihr der Abneigung einen anderen Namen geben? Der Abkehr von einem Menschen? Der Gleichgültigkeit? Wer liebt, empfindet Zuneigung zum Geliebten; wenn er ihm also abgeneigt ist, liebt er ihn nicht mehr. Wer liebt, bleibt ihm, auch wenn das Leben ihn räumlich vom Geliebten entfernt, geistig nah. Wer sich daher geistig von jemandem trennt, liebt ihn nicht mehr.

Wer liebt, kennt keine Gleichgültigkeit gegen den Geliebten, sondern er interessiert sich für alles, was ihn betrifft. Wenn daher jemand einem anderen gegenüber gleichgültig wird, so ist dies ein Zeichen dafür, daß er keine Liebe mehr für ihn empfindet. Ihr seht also, daß diese drei Dinge Äste eines einzigen Baumes sind: des Hasses. Was geschieht, sobald uns jemand, den wir lieben, beleidigt? In neunzig von hundert Fällen empfinden wir, wenn auch nicht gleich Haß, so doch Abneigung oder Gleichgültigkeit. Nein, handelt nicht so. Laßt euer Herz nicht erkalten in diesen drei Formen des Hasses. Liebt! Aber ihr werdet euch fragen: „Wie können wir das?“ Ich antworte euch: „So wie Gott es kann, der auch den liebt, der ihn beleidigt. Eine schmerzliche, aber immer gute Liebe!“ Ihr fragt weiter: „Und wie sollen wir es machen?“ Ich gebe euch das neue Gesetz über die Beziehungen zum schuldigen Bruder und sage: „ Wenn dein Bruder dich beleidigt, dann kränke ihn nicht durch öffentlichen Tadel , sondern gehe in deiner Liebe so weit, daß sie vor den Augen der Welt den Fehler verbirgt.“ Denn es wird dir als großes Verdienst in den Augen Gottes angerechnet, wenn du deinem Stolz jegliche Genugtuung vorenthältst.

Oh! Wie sehr gefällt es dem Menschen, andere wissen zu lassen, daß er beleidigt wurde und darunter leidet! Wie ein törichter Bettler geht er nicht zum König, um eine Goldmünze zu erbitten, sondern zu anderen törichten Bettlern, um sich eine Handvoll Asche, Schmutz und einen giftigen, brennenden Trunk zu erbetteln. Denn das gibt die Welt dem Beleidigten, der sich beklagt und um Trost bettelt. Gott, der König, aber gibt dem pures Gold, der nach einer Beleidigung ohne Groll zu seinen Füßen weint und von ihm, der Liebe und Weisheit ist, Kraft der Liebe und Unterweisung erbittet. Wenn ihr also getröstet werden wollt, dann geht zu Gott und handelt mit Liebe . Ich sage euch und vervollständige damit das alte Gesetz: „Wenn dein Bruder gegen dich gefehlt hat, geh und versuche, ihn unter vier Augen auf seinen Fehler aufmerksam zu machen . Wenn er dich anhört, hast du deinen Bruder wieder gewonnen. Und gleichzeitig hast du viele Segnungen Gottes erworben.

Wenn er dich aber nicht anhört, sondern zurückweist und in seiner Schuld verharrt, dann hole, damit er nicht glaube, du seist mit der Beleidigung einverstanden oder der brüderlichen Liebe gegenüber gleichgültig, zwei oder drei Zeugen, die ernst, gut und vertrauenswürdig sind, und wiederhole in ihrer Gegenwart deinen Versuch, damit diese Zeugen bestätigen können, daß du alles getan hast, um deinen Bruder heiligmäßig zu bessern. Denn das ist die Pflicht eines guten Bruders, da das dir zugefügte Unrecht seiner Seele schadet und du dich um seine Seele kümmern mußt. Wenn er dann immer noch nicht hört, lasse es die Synagoge wissen, damit sie ihn im Namen Gottes zur Ordnung rufe. Wenn er sich auch jetzt nicht bessert und die Synagoge oder den Tempel zurückweist, wie er dich zurückgewiesen hat, so sei er dir wie ein Zöllner und Heide!“

Verfahrt auch so mit euren Brüdern dem Blut und der Liebe nach. Auch eure entferntesten Nächsten müßt ihr mit Heiligkeit behandeln, ohne Habsucht, ohne Unerbittlichkeit, ohne Haß. Ist es notwendig, das Gericht anzurufen und du gehst mit deinem Gegner dorthin, so versuche, o Mensch, der du dich oft durch deine eigene Schuld in schlimmeren Situationen befindest, dich noch auf dem Weg mit ihm auszusöhnen, ob du nun im Recht oder Unrecht bist. Denn die menschliche Gerechtigkeit ist immer unvollkommen , und gewöhnlich siegt die Verschlagenheit über die Gerechtigkeit; und der Schuldige kann als Unschuldiger aus dem Prozeß hervorgehen, während du, Unschuldiger, selbst für schuldig erkannt wirst. In diesem Fall würde dir nicht nur dein Recht verweigert werden, sondern du müßtest, obgleich unschuldig, infolge der Verleumdung die Rolle des Schuldigen übernehmen, und der Richter würde dich dem Vollstrecker des Urteils überliefern, der dich nicht freilassen würde, bis du den letzten Pfennig bezahlt hättest. Sei versöhnlich .

Leidet dein Stolz darunter? Sehr gut! Schrumpft dein Beutel dabei? Noch besser! Die Hauptsache ist, daß deine Heiligkeit zunimmt . Habt kein Verlangen nach Gold. Seid nicht auf Lob bedacht. Handelt so, daß Gott euch loben kann. Bereitet euch einen guten Platz im Himmel vor! Und betet für die, die euch beleidigen, damit sie bereuen . Wenn euch dies gelingt, werden sie selbst euch Ehre erweisen und euch Gutes tun. Tun sie es nicht, wird Gott daran denken! Geht nun, denn es ist Essenszeit. Nur die Armen sollen hier bleiben und sich an den Tisch der Apostel setzen. Der Friede sei mit euch!”

Sie sind beim Haus der Maria von Magdala angelangt, machen sich bemerkbar und treten alle ein. Die Frauen eilen dem Meister, der gekommen ist, sich in ihrem Heim auszuruhen, freudig entgegen... Nach dem Abendessen, als die müden Apostel sich bereits zurückgezogen haben, unterrichtet Jesus die um ihn herum sitzenden Jüngerinnen von seinem Wunsch, daß sie so bald als möglich abreisen mögen. Im Gegensatz zu den Aposteln protestiert keine einzige von ihnen. Sie neigen ihr Haupt zum Zeichen der Zustimmung und gehen hinaus, um ihre Sachen zu packen. Doch Jesus ruft Magdalena zurück, als sie die Schwelle erreicht hat.

 “Nun, Maria? Warum hast du mir bei der Ankunft zugeflüstert: „Ich muß allein mit dir sprechen?” - “ Meister, ich habe die Edelsteine verkauft . In Tiberias. Marcella hat sie mit Hilfe Isaaks verkauft. Ich habe die Summe in meinem Zimmer. Ich wollte, daß Judas nichts davon sieht ...” und sie errötet lebhaft. Jesus schaut sie fest an, sagt aber kein Wort. Magdalena geht und kommt mit einer schweren Tasche zurück, die sie Jesus übergibt. “Hier”, sagt sie. “Man hat gut dafür bezahlt.” - “Danke, Maria.” - “Ich danke dir, Meister, daß du mich um diesen Gefallen gebeten hast. Hast du weitere Aufträge für mich?” - “Nein, Maria, und du, hast du mir sonst noch etwas zu sagen?” - “Nein, Herr. Segne mich, mein Meister!” - “Ja, ich segne dich... Maria... freut es dich, zu Lazarus zurückzukehren? Wenn ich nicht mehr in Palästina wäre, würdest du dann gerne nach Hause zurückkehren?”

Ja, Herr, aber...” - “Sprich zu Ende, Maria. Fürchte dich nie, mir deine Gedanken zu eröffnen.” - “ Aber ich wäre noch lieber zurückgekehrt, wenn uns anstelle von Judas von Kerijot Simon der Zelote, der gute Freund unserer Familie, begleitet hätte .” - “Ich brauche ihn für eine wichtige Sendung.”

“Aber deine Brüder, oder Johannes mit dem Herzen einer Taube. Alle, außer ihm... Herr, schaue mich nicht so streng an... Wer die Unzucht kennen gelernt hat, fühlt ihre Nähe ... Ich fürchte sie nicht. Ich weiß auch Dinge fernzuhalten, die schlimmer sind als Judas, nämlich meine Angst, daß mir nicht verziehen worden ist; mein Ich; Satan, der sicher um mich herumschleicht, und die Welt... Aber wenn Maria des Theophilus sich vor niemandem fürchtet, so hat Maria des Jesu Abscheu vor dem Laster, dem sie ergeben war, und das... Herr... Der Mensch, der sich nur für das Sinnliche entzündet, ekelt mich an ...” - “Du wirst auf der Reise nicht allein sein, Maria, und wenn du dabei bist, bin ich sicher, daß er nicht zurückkehren wird... Denk daran, daß ich Syntyche und Johannes nach Antiochia* bringen lassen muß und daß man es einen Unbesonnen nicht wissen lassen darf...”

“Das ist wahr. Dann werde ich also gehen... Meister, wann werden wir uns wieder sehen?” - “Ich weiß es nicht, Maria, vielleicht erst wieder am Paschafest. Geh nun in Frieden. Ich segne dich heute abend und jeden Abend, und mit dir deine Schwester und den guten Lazarus.” Maria verneigt sich, um die Füße Jesu zu küssen, und geht dann hinaus und läßt Jesus allein im stillen Zimmer zurück. *[Lazarus hatte ein Gut in Antiochia. Dorthin konnte Jesus diese heidnischen Jünger in Sicherheit bringen und dort konnten später auch die Christen sein. Magdalena spürte, daß Judas Iskariot verdorben war, daher brauchte er auch Geld...]

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Während des Rüsttages - 419

Im Palast des Lazarus, dessen Räume für diese Nacht als Schlafsäle eingerichtet worden sind, sieht man überall schlafende Männer. Frauen sind nicht zu sehen. Vielleicht verweilen sie in höher gelegenen Räumen. Ein klares Morgengrauen erhellt allmählich die Stadt, dringt in die Höfe des Palastes ein, und schon hört man das erste zaghafte Gezwitscher im Laub der Bäume und das erste Gurren der Tauben, die in den Nischen der Gesimse schlafen. Nur die Menschen erwachen nicht, denn müde vom Essen und von den aufregenden Erlebnissen, schlafen sie und träumen... Jesus geht ganz still in die Vorhalle und von dort in den Ehrenhof.

 Er wäscht sich an einem klaren Brunnen in der Mitte des Hofes, in einem Viereck aus Myrten, an deren Fuß kleine Lilien wachsen, die den sogenannten französischen Maiglöckchen ähnlich sind. Er bringt sein Haar und sein Gewand in Ordnung und kehrt ganz leise zur Treppe zurück, die zu den oberen Stockwerken und auf die Terrasse des Hauses führt, um zu beten und sich in Betrachtung zu vertiefen. Langsam geht er auf und ab, und nur die Tauben sehen ihn, recken den Hals und gurren, als fragten sie sich gegenseitig: „Wer ist dieser?“ Dann lehnt sich Jesus an die Mauer und bleibt in sich versunken unbeweglich stehen.

Schließlich erhebt er sein Haupt, vielleicht getroffen von den ersten Strahlen der Sonne, die hinter den Hügeln, die Bethanien und das Jordantal verbergen, aufgeht, und betrachtet das Panorama. Der Palast des Lazarus, fast im Zentrum der Stadt, doch etwas mehr nach Südwesten gelegen, steht wohl auf einer der zahlreichen Anhöhen, durch die die Straßen Jerusalems, und besonders die weniger gepflegten, ein ständiges Auf und Ab sind. An einer schönen Straße gelegen, die in den Xystos mündet und mit diesem ein „T“ bildet, beherrscht der Palast den unteren Teil der Stadt, wobei vor ihm Bezeta, Morija und Ofel und jenseits davon der Kamm des Ölberges liegen; hinter ihm erhebt sich der Berg Zion, während man gegen Süden Hügel sieht. Im Norden verdeckt Bezeta einen großen Teil des Panoramas, doch jenseits des Gihontals erhebt sich die kahle Höhe von Golgota gelblich in der rosigen Morgenröte, doch selbst in diesem heiteren Licht traurig. Jesus schaut dorthin...

Obwohl sein Blick jetzt fester und gedankenvoller ist, erinnert er mich an den der weit zurückliegenden Vision vom zwölfjährigen Jesus beim Streitgespräch mit den Schriftgelehrten. Aber heute wie damals ist es kein angstvoller Blick, nein, es ist der würdevolle Blick des Helden, der sein letztes Schlachtfeld betrachtet. Dann wendet er seine Augen den Hügeln im Süden der Stadt zu und sagt: “Das Haus des Kajaphas!” Von jenem Punkt wandert sein Blick nach Getsemani, dann zum Tempel und schließlich, jenseits der Stadtmauer, bis zum Kalvarienberg...

Die Sonne ist unterdessen vollends aufgegangen, und die Stadt erstrahlt in ihrem Schein. Am Tor des Palastes wird stark und ohne Unterbrechung geklopft. Jesus neigt sich vornüber, um zu sehen; aber das Gesims springt weit vor, während das Tor in massiven Mauern verborgen liegt, so daß man nicht sieht, wer anklopft. Dagegen hört er sofort das Stimmengewirr der Schläfer, die nun erwachen, während das von Levi geöffnete Tor wieder lärmend ins Schloß zurückfällt. Viele Männer und Frauenstimmen rufen seinen Namen... Jesus beeilt sich, hinab zu steigen und ruft: “ Hier bin ich. Was wollt ihr? ” Jene, die ihn gerufen haben, stürmen schreiend auf die Treppe zu, als sie ihn hören. Es sind die ältesten Apostel und Jünger, und mitten unter ihnen ist Jona, der Verwalter von Getsemani .

Sie alle sprechen gleichzeitig, und man versteht kein Wort. Jesus muß ihnen gebieten, stehen zu bleiben, wo sie sind, und zu schweigen, damit sie sich beruhigen. Dann nähert er sich ihnen und fragt: “Was ist geschehen?” Ein neues, unnützes, unverständliches Stimmengewirr folgt. Hinter den Schreienden erscheinen traurige oder erstaunte Gesichter von Frauen und Jüngern... “Einer nach dem anderen soll sprechen! Zuerst du, Petrus!” - “Jona ist gekommen... Er hat gesagt, daß es viele waren und daß sie dich überall gesucht haben . Er hat die ganze Nacht gelitten, und als die Tore geöffnet wurden, ist er zu Johanna gegangen und hat erfahren, daß du hier bist. Aber was machen wir nun? Wir müssen doch Pascha feiern!”

Jona von Getsemani bekräftigt diese Worte und sagt: “Ja, sie haben mich auch mißhandelt . Ich habe erklärt, daß ich nicht wüßte, wo du seist, und daß du vielleicht nicht zurückkehren würdest. Aber sie haben eure Gewänder entdeckt und daraus geschlossen, daß ihr nach Getsemani zurückkehren werdet. Füge mir keinen Schaden zu, Meister! Ich habe dich immer mit Liebe beherbergt, und diese Nacht habe ich deinetwegen gelitten. Aber... aber...” - “Hab keine Angst! Ich werde dich von jetzt an nicht mehr in Gefahr bringen und mich nicht mehr in deinem Haus aufhalten. Ich werde mich darauf beschränken, in der Nacht vorbeizukommen, um zu beten... Das kannst du mir nicht verbieten...”

Jesus spricht sehr sanft zu dem erschrockenen Jona von Getsemani. Doch Maria Magdalena unterbricht ihn mit ihrer hellen Stimme: “Seit wann vergißt du, o Mann, daß du ein Diener bist, und weshalb verleitet dich unser Entgegenkommen dazu, so ein herrschaftliches Auftreten anzunehmen? Wem gehört das Haus und der Olivengarten? Nur wir wären berechtigt, dem Rabbi zu sagen: „Geh nicht hin, um unser Eigentum nicht zu gefährden“, aber wir sagen es nicht, denn es wäre immer noch ein großes Glück, selbst wenn seine Feinde auf der Suche nach ihm Bäume und Mauern beschädigen würden und selbst die Hänge zum Abrutschen brächten. Alles würde nur deshalb zerstört werden, weil wir die Liebe beherbergt hätten; und die Liebe würde uns Liebe geben, uns, seinen treuen Freunden. Sie sollen nur kommen! Sie sollen nur zerstören! Sie sollen nur zertrampeln! Was macht das schon aus? Es genügt, daß er uns liebt und unversehrt bleibt.”

Jona fühlt sich gleichzeitig von der Angst vor den Feinden und der Furcht vor der feurigen Herrin bedrängt und flüstert: “Und wenn sie meinem Sohn Böses zufügen?...” Jesus tröstet ihn: “Fürchte dich nicht. Ich werde mich nicht mehr bei dir aufhalten. Du kannst allen sagen, die dich fragen, daß der Meister nicht mehr in Getsemani wohnt... Nein, Maria! Es ist schon gut so . Laß mich nur machen! Ich bin dir für deine Hochherzigkeit dankbar... Aber es ist nicht meine Stunde. Meine Stunde ist noch nicht gekommen ! Ich nehme an, daß es Pharisäer gewesen sind...”

“Und Synedristen, Herodianer und Sadduzäer... und Soldaten des Herodes... und... alle... Ich zittere immer noch vor Angst... Aber du siehst, Herr, ich bin sofort gelaufen, dich zu benachrichtigen... erst zu Johanna... dann hierher...”

Der Mann will zeigen, daß er auf Kosten seines Friedens dem Meister gegenüber seine Pflicht getan hat. Jesus lächelt mitleidig und gütig und sagt: “Ich sehe es! Ich sehe es! Gott möge es dir vergelten. Jetzt geh in Frieden nach Hause. Ich werde dir mitteilen lassen, wohin du die Taschen bringen lassen kannst, oder ich werde jemanden schicken, um sie abzuholen.”

Der Mann geht, und niemand, abgesehen von der allerheiligsten Jungfrau Maria und Jesus, verschont ihn mit Vorwürfen oder Spott. Gesalzen ist der Vorwurf des Petrus, am gesalzensten der des Iskariot, ironisch jener des Bartholomäus. Judas Thaddäus spricht nicht, schaut ihn jedoch vielsagend an. Flüstern und vorwurfsvolle Blicke begleiten ihn auch durch die Reihen der Frauen, und zum Schluß kommt wie ein Knall der Ruf von Maria von Magdala, die auf die Verneigung des Knechtes erwidert : “Ich werde Lazarus sagen, daß er für das Festmahl... die gut gemästeten Hühner vom Getsemani herbeischaffen lassen soll. ” - “Ich habe keine Hühner, Herrin.” - “Du, Markus und Maria; drei herrliche Kapaune!”

Alle lachen wegen des erregten und... bezeichnenden Ausbruchs der Maria des Lazarus, die zornig ist, weil sie die Furcht ihrer Angestellten und das Unbehagen des Meisters, der seines friedlichen Nestes in Getsemani beraubt wird, bemerken muß. “Beunruhige dich nicht, Maria! Friede! Friede! Nicht alle haben ein Herz wie du!” - “O nein, leider nicht! Hätten doch alle mein Herz, Rabbuni! Nicht einmal auf mich gerichtete Lanzen und Pfeile könnten mich von dir trennen!”

Ein Geflüster erhebt sich unter den Männern... Maria vernimmt es und antwortet sofort: “ Ja, wir werden sehen, und hoffentlich recht bald, wenn das dazu dienen kann, euch Mut zu lehren ! Nichts kann mich erschrecken, wenn es darum geht, meinem Rabbi zu dienen! Dienen! Ja, dienen! Und man dient in den gefahr- vollen Stunden, Brüder ! In den anderen... Oh , in den anderen ist es kein Dienen! Da ist es Genießen !... Und dem Messias folgt man nicht, um zu genießen!”

Die Männer lassen, betroffen von dieser Wahrheit, ihre Köpfe hängen. Maria geht durch die Reihen und bleibt vor Jesus stehen. “Was hast du vor, Meister? Es ist Rüsttag. Wo wirst du dein Paschafest feiern? Befiehl... und wenn ich Gnade bei dir gefunden habe, dann gewähre mir, dir einen meiner Speisesäle anzubieten und an alles zu denken...” - “Du hast Gnade gefunden beim Vater im Himmel, Gnade daher auch beim Sohn des Vaters, dem jede Regung des Vaters heilig ist. Aber wenn ich auch den Speisesaal annehme, so laß mich erst als guter Israelit zum Tempel gehen, um das Lamm zu opfern...” - “Und wenn sie dich gefangen nehmen?” sagen viele. “Sie werden mich nicht gefangen nehmen. In der Nacht, in der Dunkelheit könnten sie es wagen wie die Räuber, aber umgeben von Menschen, die mich verehren, nicht. Werdet nicht feige!...”

“Oh, jetzt ist ja auch Claudia mit uns!” ruft Iskariot. “Der König und das Reich sind nicht mehr in Gefahr!...” - “ Judas, ich bitte dich ! Laß es nicht in dir zusammen- brechen! Bereite ihm in dir keine Hinterhalte . Mein Reich ist nicht von dieser Welt. Ich bin kein König wie jene, die auf Thronen sitzen. Mein Reich ist ein Reich des Geistes. Wenn du es zur Armseligkeit eines menschlichen Reiches erniedrigst, bereitest du ihm in dir selbst Hinterhalte und läßt es zusammenbrechen.”

“Aber Claudia?...” - “ Claudia ist eine Heidin. Sie kann daher den Wert des Geistes nicht kennen . Viel ist es schon, wenn sie fühlt und bereit ist, den zu unterstützen, der für sie ein Weiser ist... Viele in Israel halten mich nicht einmal für einen Weisen! Doch du bist kein Heide, mein Freund! Deine von der Vorsehung gewollte Begegnung mit Claudia möge dir nicht zum Schaden gereichen; und hüte dich, damit nicht die Geschenke Gottes, die Glauben und Willen, dem Herrn zu dienen, stärken sollen, zu einem geistigen Unglück für dich werden.”

“Wie könnte das geschehen, mein Herr?” - “Ganz einfach. Und nicht nur für dich. Wenn eine Gabe Gottes, die gegeben wird, um dem schwachen Menschen zu helfen, ihn zu stärken und sein Verlangen nach übernatürlichem oder auch nur sittlichem Gut zu vermehren, dazu dient, ihn mit menschlichen Begierden zu beschweren, ihn vom rechten Weg abzubringen und auf abschüssige Wege zu geleiten: dann wird diese Gabe zum Schaden. Es genügt der Hochmut, damit man durch eine Gabe Schaden erleidet . Es genügt die Verwirrung, die durch die Begeisterung über die Gabe hervorgerufen wird und derentwegen man das gute und höchste Ziel aus den Augen verliert, und man wird durch die Gabe zu Schaden kommen. Bist du davon überzeugt?

Das Kommen Claudias darf dir nur zu einer Erwägung Anlaß geben, und zwar zu dieser: Wenn schon eine Heidin die Erhabenheit meiner Lehre und die Notwendigkeit, daß sie triumphiere, empfunden hat, mußt du, und mit dir alle Jünger, all das noch viel stärker empfinden und dich dafür einsetzen. Ich spreche aber immer nur vom Geist. Immer...

Und nun wollen wir beschließen, wo wir das Paschamahl einnehmen werden. Ich möchte, daß euer Geist bei diesem rituellen Mahl im Frieden sei, denn ein unruhiger Geist spürt Gott nicht. Wir sind viele. Aber es wäre mir lieb, wenn wir alle beisammen sein könnten, damit ihr einst sagen könnt: „Wir haben ein Paschamahl mit ihm gefeiert.“ Wählt daher einen Ort, an dem wir uns gemäß dem Ritual verteilen und genügend Gruppen bilden können, von denen jede das eigene Lamm verzehrt, so daß man überdies sagen kann: „Wir waren vereint, und jeder hörte die Stimme des anderen Bruders.” Die einen nennen diesen, die anderen jenen Ort, doch die Schwestern des Lazarus siegen .

“O Herr! Hier! Wir werden jemanden aussenden, um unseren Bruder zu holen. Hier! Hier gibt es viele Säle und Räume, und wir werden so Zusammensein, wie es dem Ritus entspricht. Nimm es an, Herr! Der Palast mit seinen Räumen faßt mindestens zweihundert Personen , die in Gruppen von je zwanzig aufgeteilt sind, und so viele sind wir nicht. Bereite uns diese Freude, Herr! Tue es für unseren Lazarus, der so traurig... so krank ist... daß man nicht hoffen kann, daß er beim nächsten Paschafest noch dabei sein wird...” schließen weinend die beiden Schwestern. “Was sagt ihr, sollen wir den guten Schwestern nachgeben?” fragt Jesus und wendet sich damit an alle. “Ich würde sagen, ja”, erwidert Petrus.

“Ich auch”, sagen Iskariot und viele andere. Wer nicht spricht, gibt schweigend seine Zustimmung. “Dann bereitet alles vor. Wir werden zum Tempel gehen, um allen zu zeigen, daß der, der sicher ist, dem Allerhöchsten zu gehorchen, keine Angst hat und nicht feige ist . Laßt uns gehen. Den Zurückbleibenden meinen Frieden.” Jesus steigt die letzten Stufen der Treppe hinab, durchschreitet die Vorhalle und geht mit den Jüngern hinaus auf die von Menschen überfüllte Straße.

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Der Sabbat der ungesäuerten Brote - 423

Viele Jünger und Jüngerinnen haben Abschied genommen und sind zu den gastlichen Häusern zurückgekehrt. Andere gehen auf den Wegen zurück, auf denen sie gekommen sind. An dem strahlenden Nachmittag dieses schon fortgeschrittenen Aprils sind im Haus des Lazarus nur noch die eigentlichen Jünger anwesend, besonders jene, die für die Verkündigung der Frohen Botschaft bestimmt sind, also die Hirten , Hermas und Stephanus , der Priester Johannes, Timoneus, Ermastheus, Josef von Emmaus, Salomon, Abel von Betlehem in Galiläa, Samuel und Abel von Chorazin, Agapus, Ascher und Ismael von Nazareth, Elija von Chorazin, Philippus von Arbela, Josef, der Fährmann von Tiberias, Johannes von Ephesus und Nikolaus von Antiochia. Von den Frauen sind außer den bekannten Jüngerinnen Annalia, Dorkas, die Mutter des Judas, Myrta, Anastasica und die Töchter des Philippus geblieben. Weder Mirjam des Jaïrus, noch Jaïrus selbst sehe ich. Vielleicht sind sie schon in das Haus zurückgekehrt, in dem sie zu Gast sind. Die Männer spazieren langsam in den Höfen oder auf der Terrasse des Hauses hin und her, während fast alle Frauen und Jüngerinnen um Jesus versammelt sind, der am Bett des Lazarus sitzt . Sie hören ihm zu, während er mit Lazarus spricht und die Gegenden beschreibt, die sie in den letzten Wochen vor der Reise nach Jerusalem durchquert haben.

“Du bist gerade rechtzeitig gekommen, um den Kleinen zu retten”, bemerkt Lazarus nach dem Bericht über die Burg in Cäsarea Philippi, indem er auf den Säugling weist, der selig in den Armen seiner Mutter schläft, und fügt hinzu: “Es ist ein schöner Knabe! Frau, läßt du mich ihn aus der Nähe sehen?” Dorkas erhebt sich und überläßt ihren Neugeborenen schweigend, aber triumphierend der Bewunderung des Kranken. “Ein schöner Knabe! Wirklich schön! Der Herr möge ihn dir beschützen und gesund und heilig heranwachsen lassen.” - “Und dem Heiland treu. Wenn er das nicht sein sollte, würde ich ihn lieber sterben sehen, auch sofort. Alles, nur nicht, daß der Gerettete dem Herrn gegenüber undankbar sei”, sagt Dorkas entschieden und kehrt an ihren Platz zurück.

“Oh, der Herr kommt immer zur rechten Zeit, um zu retten”, sagt Myrta, die Mutter Abels aus Betlehem. “Der meinige war dem Tod nicht so nahe wie der Kleine der Dorkas. Und welch einem Tod! Aber Jesus ist gekommen... und hat ihn gerettet. Welch schreckliche Stunde!...” Myrta wird schon allein bei der Erinnerung daran bleich... “Dann wirst du auch zur rechten Zeit zu mir kommen, nicht wahr? Um mir Frieden zu schenken...” sagt Lazarus und streichelt die Hand Jesu .

“Aber geht es dir denn nicht etwas besser, mein Bruder?” fragt Martha. “Seit gestern scheinst du erleichtert zu sein...” - “Ja, und darüber wundere ich mich selbst. Vielleicht hat Jesus...” - “Nein, Freund .Es ist, weil ich dir meinen Frieden einflöße. Deine Seele ist davon durchdrungen, und so spürst du auch die Schmerzen in den Gliedern weniger. Es ist Gottes Beschluß, daß du leiden mußt .” - “ Und sterben . Sag es nur. Nun gut... es geschehe sein Wille , wie du lehrst. Von jetzt an werde ich nicht mehr um Heilung, noch um Erleichterung bitten. Ich habe so viel von Gott erhalten (er schaut unwillkürlich auf Maria, seine Schwester ), daß es nur recht ist, ihm als Entgelt dafür meine Ergebung anzubieten...”

 “Tue noch mehr, mein Freund. Es ist schon viel, ergeben zu sein und den Schmerz zu ertragen. Aber du sollst ihm einen noch höheren Wert verleihen.”

“Welchen, mein Herr?” - “ Opfere ihn für die Erlösung der Menschen auf .” - “Ich bin nur ein armer Mensch, Meister. Ich kann mir nicht anmaßen, ein Erlöser zu sein.” - “Das sagst du. Aber du bist im Irrtum. Gott ist Mensch geworden, um den Menschen zu helfen. Aber auch die Menschen können Gott helfen . Die Werke der Gerechten, der vor Jahrhunderten verstorbenen, der heutigen und der zukünftigen, werden in der Stunde der Erlösung mit den meinigen vereint. Du, vereine die deinen schon von jetzt an mit den meinen. Es ist so schön, sich der unendlichen Güte hinzugeben, ihr hinzuzufügen, was wir mit unserer begrenzten Güte geben können, und zu sagen: „Auch ich wirke mit, o Vater, am Wohl der Brüder.“ Es gibt keine größere Liebe zum Herrn und zum Nächsten, als das Wissen darum, daß man für die Herrlichkeit Gottes und für das ewige Heil der Brüder leidet und stirbt . Sich selbst retten? Das ist wenig. Das ist das Mindeste an Heiligkeit. Schön ist es zu retten. Sich hinzugeben, um zu retten . So sehr lieben, daß man zur lodernden Flamme wird, um zu retten. Dann ist die Liebe vollkommen, und die Heiligkeit des Hochherzigen wird großartig sein.” - “Wie schön ist dies alles, nicht wahr, meine Schwestern?” sagt Lazarus mit einem verträumten Lächeln auf dem schmalen Antlitz. Martha nickt gerührt.

Maria, die zu Füßen Jesu auf einem Kissen sitzt, in ihrer gewohnten Haltung einer demütigen, glühenden Anbeterin, sagt: “Vielleicht ist das Leiden meines Bruders der Preis für meine Seele? Sag es mir, Herr, damit mein Seelenschmerz vollkommen sei!...” Lazarus ruft aus: “Nein, Maria. Nein... Ich würde... so oder so sterben müssen. Durchbohre dein Herz nicht mit Dornen.” Aber Jesus, aufrichtig bis zum letzten, sagt: “Gewiß, so ist es. Ich habe den guten Bruder mit seinen Gebeten und seinem Flehen gehört. Aber das soll dir keinen Kummer machen, der dich beschwert, sondern es soll dich anspornen, um jeden Preis vollkommen zu werden; und freue dich, freue dich, weil Lazarus dich dem Dämon entrissen hat...” - “Nicht ich, du, Meister!” - “... weil er dich dem Dämon entrissen hat, hat er einen künftigen Lohn Gottes verdient, von dem Völker und Engel sprechen werden. Und wie von Lazarus, so werden sie auch von anderen reden; besonders von den Frauen, die durch ihren Heldenmut Satan die Beute entrissen haben...”

“Wer sind sie? Wer sind sie?” fragen die Frauen neugierig, und vielleicht hofft jede von ihnen, daß sie gemeint ist. Maria des Judas sagt nichts. Aber sie schaut, schaut auf den Meister... Jesus schaut sie ebenfalls an. Er könnte sie täuschen. Er tut es nicht. Er demütigt sie nicht, aber er täuscht sie auch nicht. Er antwortet allen: “ Ihr werdet es im Himmel erfahren .”

Die immer verängstigte Mutter des Judas fragt: “Und wenn es einer von ihnen nicht gelingen sollte, obwohl sie möchte? Was wäre dann ihr Los?” - “Das, das ihre gute Seele verdient.” - “Der Himmel? O Herr, aber eine Frau, eine Schwester oder eine Mutter, die... nicht imstande gewesen ist, die zu retten, die sie liebt, und sie verdammt sehen muß, könnte sie sich des Paradieses erfreuen, obwohl sie nicht im Paradiese sind? Glaubst du nicht, daß es für sie keine Freude mehr geben kann, weil... das Fleisch von ihrem Fleisch und das Blut von ihrem Blut die ewige Verdammnis verdient hat? Ich denke, daß sie sich nicht freuen kann, wenn sie geliebte Menschen in schrecklicher Pein weiß...”

“Du bist im Irrtum, Maria. Die Anschauung Gottes, der Besitz Gottes sind Quellen einer so unendlichen Glückseligkeit, daß es keinen Schmerz mehr für die Seligen geben kann. Wirkend und aufmerksam, um jenen zu helfen, die noch gerettet werden können, leiden sie nicht mehr wegen denen, die von Gott getrennt sind, und daher auch von ihnen selbst, die sie in Gott sind. Die Gemeinschaft der Heiligen ist für die Heiligen.”

“Aber wenn sie denen helfen, die noch gerettet werden können, so ist das ein Zeichen, daß die Unterstützten noch nicht heilig sind”, entgegnet Petrus.

“Aber sie haben den Willen, wenigstens den passiven, es zu werden. Die Heiligen in Gott helfen auch in materiellen Bedürfnissen, um sie von einem passiven zu einem aktiven Willen zu führen. Verstehst du mich?” - “Ja und nein! Schau, wenn ich zum Beispiel im Himmel wäre und eine flüchtige Regung der Güte in... Eli, dem Pharisäer, sagen wir, sähe, was würde ich dann tun?” - “Du würdest mit allen Mitteln versuchen, seine guten Regungen zu vermehren.” - “Und wenn es nichts nützen würde? Was würde ich danach tun?” - “Danach, wenn er verdammt wäre, hättest du kein Interesse mehr an ihm.” - “Und wenn er, wie jetzt, der Verdammung würdig wäre, und ich ihn aber lieben würde - etwas, was nie der Fall sein wird - was müßte ich dann tun?”

Vor allen Dingen sollst du wissen, daß du Gefahr läufst, selbst verdammt zu werden, wenn du sagst, daß du ihn nie lieben wirst . Im Himmel aber, wo man ganz eins mit der Liebe ist, würdest du für ihn und seine Rettung beten, bis zum Augenblick seines Gerichtes. Es gibt Seelen, die im letzten Augenblick gerettet werden, weil das ganze Leben lang für sie gebetet worden ist .”

Ein Diener tritt ein und sagt: “Manaen ist gekommen. Er möchte den Meister sehen.” - “Er soll kommen! Gewiß will er über ernste Dinge reden.” Die Frauen ziehen sich diskret zurück, und die Jünger folgen ihnen. Aber Jesus ruft Isaak, den Priester Johannes, Stephanus, Hermas, Matthias und Josef, die Hirtenjünger, zu sich und sagt: “Es ist gut, wenn auch ihr ihn hört, die ihr Jünger seid.”

Manaen kommt herein und verneigt sich. “Der Friede sei mit dir”, grüßt Jesus. “Der Friede sei mit dir, Meister. Die Sonne geht unter, und die ersten Schritte nach dem Sabbat führen mich zu dir, mein Herr.” - “Hast du das Paschafest gut verbracht?” - “Gut?! Nichts Gutes kann dort sein, wo sich Herodes und Herodias befinden. Ich versichere dir, daß ich das letzte Mal das Lamm mit ihnen gegessen habe! Selbst wenn es mich das Leben kosten sollte, werde ich nicht länger bei ihnen bleiben!” - “Ich glaube, du machst einen Fehler. Du könntest dem Meister dienen, wenn du dort bleibst...” erwidert Iskariot.

“Das ist wahr, und das war es auch, was mich bisher zurückgehalten hat. Aber welch ein Ekel! Chuza könnte mich ersetzen...” Bartholomäus hält ihm entgegen: “Chuza ist nicht Manaen. Chuza ist... Ja... Er weicht Schwierigkeiten aus und würde seinen Herrn nie verraten. Du bist aufrichtiger.” - “Nun, das ist wahr, und es stimmt auch, daß Chuza Höfling ist und dem Zauber des Königtums unterliegt. Königtum! Was sage ich? Dem königlichen Schlamm! Aber er glaubt, König zu sein, weil er beim König ist... und zittert vor der königlichen Ungnade. Vor einigen Tagen glich er einem geprügelten Hund, als er abends fast kriechend vor Herodes erschien. Der König hatte ihn rufen lassen, nachdem er sich die Klagen Salomes, die von dir verjagt worden war, angehört hatte. Chuza war in einer schlimmen Klemme. Der Wunsch, sich unter allen Umständen herauszuwinden, selbst indem er dich anklagte und dir unrecht gab, war ihm ins Gesicht geschrieben. Aber Herodes!...

Er wollte nur hinter dem Rücken des Mädchens lachen, denn er ist ihrer überdrüssig, wie er auch ihrer Mutter überdrüssig ist. Er lachte wie ein Verrückter, als ihm Chuza deine Worte wiederholte, und sagte immer wieder: „Zu sanft, zu sanft noch für dieses Mädchen... (er gebrauchte ein so anstößiges Wort, daß ich es dir nicht wiedergeben kann). Er hätte sie in ihren erregten Leib treten sollen... Aber damit hätte er sich verunreinigt!“ und er lachte. Danach sagte er aber ernst: „Allerdings... die Beleidigung, die das Frauenzimmer durchaus verdient hat, darf er sich der Krone gegenüber nicht erlauben. Ich bin großzügig (das ist eine seiner fixen Ideen, und da es ihm niemand sagt, wiederholt er es sich selbst immer wieder) und verzeihe dem Rabbi, auch weil er Salome die Wahrheit gesagt hat . Jedoch will ich, daß er an den Hof kommt, damit ich ihm gänzlich verzeihen kann. Ich will ihn sehen, hören und ihn Wunder wirken lassen. Er soll kommen, und ich werde sein Beschützer sein. Dies sagte er vor einigen Tagen am Abend. Chuza wußte nicht, was er antworten sollte, und „nein“, wollte er dem Monarchen nicht sagen, „ja“ konnte er nicht sagen, weil du den Wünschen des Herodes selbst- verständlich nicht entsprechen könntest.

Heute hat er zu mir gesagt: „Du gehst ganz gewiß zu ihm... Teile ihm meinen Willen mit.“ Ich sage es dir, doch kenne ich schon die Antwort. Aber sage sie mir, damit ich sie ihm überbringen kann.” - “Nein!” Ein Nein wie ein Blitz. “Machst du ihn dir damit nicht zum gefährlichen Feind?” fragt Thomas. “Auch zum Henker. Aber ich kann nur mit einem „Nein“ antworten.” - “Er wird uns verfolgen...”

“Oh, in drei Tagen wird er schon wieder alles vergessen haben”, sagt Manaen und zuckt die Schultern. Dann fügt er hinzu: “Sie haben ihm Schauspielerinnen versprochen... Sie sollen morgen eintreffen... und er wird alles vergessen!...”

Der Diener kehrt zurück: “Herr, Nikodemus, Josef, Eleasar und andere Pharisäer und Älteste des Hohen Rates sind da und möchten dich begrüßen .” Lazarus schaut Jesus fragend an. Jesus versteht ihn: “Sie sollen kommen, ich werde sie gerne begrüßen.” Kurz danach treten Josef, Nikodemus, Eleasar (der Gerechte beim Festmahl Ismaels), Johannes (der einst beim Festmahl in Arimathäa war), ein anderer, den ich Josua nennen höre, ein Philippus, ein Judas und zuletzt Joachim ein. Die Begrüßungen nehmen kein Ende. Zum Glück ist der Raum sehr groß, sonst wüßte ich nicht, wie so viele Verneigungen und Umarmungen darin Platz gehabt hätten. Aber so groß der Raum auch ist, er ist nun so überfüllt, daß die Jünger ihn verlassen. Es bleiben nur Lazarus und Jesus .

Vielleicht scheint es den Jüngern nicht ganz geheuer, unter dem Feuer so vieler Augen des Hohen Rates zu stehen! “Wir haben erfahren, daß du in Jerusalem bist, o Lazarus. Daher sind wir gekommen”, sagt der Mann namens Joachim. “Das verwundert und freut mich zugleich. Im ersten Augenblick habe ich mich gar nicht mehr an dein Gesicht erinnert...” sagt Lazarus etwas ironisch. “Aber weißt du... Ich wollte immer schon kommen. Doch... du warst verschwunden...”

“Und es schien auch nicht wahr zu sein, daß ich hier bin! Es bedarf nämlich einer großen Überwindung, zu einem Unglücklichen zu gehen!” - “Nein, sag das nicht! Wir... haben deinen Wunsch geachtet. Aber jetzt... jetzt, da... Nicht wahr, Nikodemus?” - “Ja, Lazarus! Die alten Freunde kehren zurück, auch weil sie das Bedürfnis haben, von dir Neues zu erfahren und den Rabbi zu ehren.”

“Welche Neuigkeiten bringt ihr mir?” - “Hm... Nun ja... Das Übliche... Die Welt... Ja...” sie schielen zu Jesus hinüber, der steif und etwas in sich versunken auf seinem Stuhl sitzt. “Wie kommt es, daß ihr heute alle hier vereint seid, da der Sabbat kaum zu Ende ist?” - “ Es hat eine außerordentliche Sitzung stattgefunden .” - “Heute? Das muß wohl eine sehr dringende Angelegenheit gewesen sein?...” Die Besucher blicken in bezeichnender Weise auf Jesus. Aber er ist ganz in Gedanken vertieft... “Es gab viele Gründe dafür...” antworten sie schließlich. “Und betreffen sie nicht den Rabbi?” - “Ja, Lazarus, auch ihn. Aber auch ein schlimmes Ereignis wurde besprochen, da die Festtage uns alle in der Stadt vereint haben...” erklärt Josef von Arimathäa. “Ein schlimmes Ereignis? Um was handelt es sich?”

“Ein... ein Jugendfehler... Hm! Nun ja! Eine schlimme Streitfrage, denn... Rabbi, höre uns zu. Du bist unter aufrichtigen Menschen. Wenn wir auch nicht deine Jünger sind, so sind wir doch nicht deine Feinde. Im Haus Ismaels hast du mir gesagt, daß ich nicht fern von der Gerechtigkeit bin”, sagt Eleasar. “Das ist wahr, und ich bestätige es.” - “Ich habe dich während des Festmahls bei Josef gegen Felix verteidigt”, sagt Johannes. “Auch das ist wahr.” - “Und diese hier denken wie wir. Heute wurden wir zusammengerufen, um eine Entscheidung zu treffen... Aber was beschlossen wurde, befriedigt uns nicht, denn die Mehrheit stimmte gegen uns . Du, der du weiser bist als Salomon, höre uns an und urteile!”

Jesus durchbohrt sie mit seinem ernsten Blick. Dann sagt er: “So redet.” - “Sind wir sicher, daß uns niemand hört? Denn es ist... eine schreckliche Sache...” sagt einer, der Judas heißt. “Schließe die Tür und ziehe den Vorhang vor, dann werden wir wie in einem Grab sein”, antwortet ihm Lazarus. “Meister, gestern morgen hast du zu Eleasar des Hannas gesagt, daß er sich durch nichts beflecken lassen soll. Warum hast du das gesagt?” fragt Philippus. “Weil es gesagt werden mußte. Er befleckt sich. Aber nicht ich sage es, sondern die heiligen Bücher.” - “Das ist wahr. Aber woher weißt du, daß er sich befleckt? Hat das Mädchen vor seinem Tod mit dir gesprochen?” fragt Eleasar.

Welches Mädchen?” - “Es ist nach der Vergewaltigung gestorben. Auch seine Mutter ist gestorben, und man weiß nicht, ob der Schmerz sie getötet hat, ob sie sich selbst umgebracht haben oder ob sie vergiftet worden sind, damit sie nichts mehr sagen können .” - “Ich weiß nichts vor alledem. Ich sah die verdorbene Seele des Sohnes des Hannas. Ich roch den Gestank und habe gesprochen, sonst wußte und sah ich nichts.” - “Aber was ist denn geschehen?” fragt Lazarus interessiert. “ Eleasar des Hannas ist einem Mädchen, der einzigen Tochter einer Witwe, begegnet und... hat sie unter dem Vorwand, ihr einen Arbeitsauftrag zu erteilen, angelockt, denn sie arbeitete als Schneiderin, um sich den Lebensunterhalt zu verdienen... Er hat sie vergewaltigt, und das Mädchen ist... drei Tage danach gestorben, und mit ihm die Mutter . Aber bevor sie gestorben sind, haben sie trotz aller Drohungen alles ihrem einzigen Verwandten erzählt... und dieser ist zu Hannas gegangen, um Klage einzureichen, und nicht zufrieden damit, hat er es Josef, mir und anderen berichtet... Hannas hat ihn festnehmen und ins Gefängnis werfen lassen. Von dort wird er dem Henker überliefert oder nie mehr freigelassen werden. Heute wollte Hannas wissen, was wir darüber denken ”, sagt Nikodemus. “Er hätte es nicht getan, wenn er nicht gewußt hätte, daß wir bereits informiert waren...” brummt Josef zwischen den Zähnen.

“Ja... Nun, mit einer Scheinabstimmung, mit einem Scheinurteil ist über die Ehre und das Leben der drei Unglücklichen und über die Strafe für den Schuldigen entschieden worden”, schließt Nikodemus. “Und?” - “Selbstverständlich hat man uns, die wir uns für die Freiheit des Mannes und für die Bestrafung Eleasars entschieden hatten, gedroht und uns wie Ungerechte davongejagt. Was sagst du dazu?” - “ Ich sage, daß Jerusalem mich anekelt und daß in Jerusalem der Tempel das ekelhafteste Geschwür ist”, sagt Jesus bedächtig und in anklagendem Ton, und schließt: “Berichtet das nur denen vom Tempel.”

Und Gamaliël, was hat er getan? ” fragt Lazarus. “Sobald er von dem Geschehnis erfahren hatte, verhüllte er sein Gesicht, ging hinaus und sagte: „Möge doch bald der neue Simson kommen und die verdorbenen Philister vernichten.”

“Das hat er gut gesagt! Bald wird er kommen!” Es herrscht Schweigen. “Und von ihm wurde nicht gesprochen?” fragt Lazarus und deutet auf Jesus. “O doch! Vor allen anderen Dingen. Jemand berichtete, du hättest das Reich Israel „armselig“ genannt. Darum hat man dich einen Gotteslästerer genannt ; denn das Reich Israel stammt von Gott.” - “Ach, wirklich? Und wie wurde der Schänder einer Jungfrau vom Hohenpriester genannt? Der Beschmutzer seines Amtes? Antwortet!” fragt Jesus. “Er ist der Sohn des Hohenpriesters. Hannas ist immer noch der wahre König dort”, sagt, eingeschüchtert von der hoheitsvollen Erscheinung Jesu, Joachim. Jesus steht hoch aufgerichtet und mit ausgebreiteten Armen vor ihm...

“Ja, der König der Verderbtheit, und ich soll ein Land nicht „armselig“ nennen, in dem wir einen schmutzigen und mörderischen Tetrarchen und einen Hohenpriester haben, der Komplize eines Schänders und Mörders ist?...” fragt Jesus. “Vielleicht hat das Mädchen Selbstmord begangen oder ist vor Gram gestorben?” flüstert Eleasar. “Trotzdem hat sie ihr Schänder ermordet... Wird jetzt nicht auch der eingekerkerte Verwandte umgebracht werden, damit er nicht spricht? Und wird der Altar nicht entweiht, wenn sich ihm ein mit so vielen Verbrechen Beladener nähert? Wird die Gerechtigkeit nicht erstickt durch die Schweigepflicht, die den allzu wenigen Gerechten des Hohen Rates auferlegt wird? Ja, möge nur bald der neue Simson kommen und diesen entweihten Ort niederreißen, vernichten, um Neues zu schaffen... Bis zum Erbrechen angewidert durch den Ekel, den ich empfinde, nenne ich diesen unglücklichen Ort nicht nur armselig, sondern entferne mich von seinem verkommenen Herzen voller namenloser Verbrechen, von dieser Höhle Satans... Ich gehe. Nicht aus Furcht vor dem Tod. Ich werde euch zeigen, daß ich keine Furcht habe. Aber ich gehe, weil meine Stunde noch nicht gekommen ist und ich den Schweinen Israels keine Perlen vorwerfen will; ich werde sie den Demütigen bringen, die in elenden Hütten auf den Bergen und in den Tälern der ärmlichen Ortschaften verstreut sind. Dort, wo man noch zu glauben und zu lieben imstande ist, wenn jemand da ist, der sie es lehrt. Dort, wo unter rauhen Gewändern Seelen sind, während hier die Tuniken und die heiligen Mäntel, ja sogar der Efod und das Brustschild dazu dienen, unreines Aas zu bedecken und mörderische Waffen zu verbergen. Sagt ihnen, daß ich sie im Namen des wahren Gottes der Verdammnis übergebe und sie als neuer Michael aus dem Paradies verjage, und zwar für immer ! Jene, die Götter sein wollen, aber Dämonen sind. Sie brauchen nicht zu sterben, um gerichtet zu werden, sie sind es schon, und ohne Gnade.”

Die mächtigen Synedristen und Pharisäer scheinen ganz klein zu werden , so sehr sinken sie vor dem schrecklichen Zorn des Christus in sich zusammen. Jesus scheint ihnen gegenüber ein Riese zu werden, so flammend sind seine Blicke und so gewaltig seine Gesten. Lazarus seufzt: “Jesus! Jesus! Jesus!”

Jesus hört ihn, und indem er Ton und Gesichtsausdruck ändert, fragt er: “Was hast du, mein Freund?” - “Oh, sei nicht so furchtbar! Du bist nicht mehr du selbst! Wie kann man auf deine Barmherzigkeit hoffen, wenn du dich so furchtbar zeigst?” - “Und doch werde ich so und noch gewaltiger sein, wenn ich die zwölf Stämme Israels richten werde . Aber habe Mut, Lazarus! Wer an Christus glaubt, hat das Gericht schon überstanden...” Jesus setzt sich wieder. Es folgt ein Schweigen. Endlich fragt Johannes: “Und wir, die wir es vorgezogen haben, Schmähungen auf uns zu nehmen, anstatt der Gerechtigkeit zu spotten, wie werden wir gerichtet werden?” - “Mit Gerechtigkeit. Harrt aus, und ihr werdet dorthin gelangen, wo Lazarus bereits ist: zur Freundschaft mit Gott.” Sie stehen auf.

“Meister, wir ziehen uns zurück. Der Friede sei mit dir und auch mit dir, Lazarus!” - “Der Friede sei mit euch!” - “Was hier gesagt worden ist, möge unter uns bleiben”, bitten einige. “Fürchtet euch nicht! Geht nur, und Gott möge euch bei jeder weiteren Handlung leiten.” Sie gehen hinaus. Jesus und Lazarus bleiben allein zurück. Nach einer Weile sagt Lazarus: “Wie schrecklich!” - “Ja, wie schrecklich!... Lazarus, ich gehe, um die Abreise von Jerusalem vorzubereiten. Ich werde in Bethanien bis zum Ende der Ungesäuerten Brote dein Gast sein.” Und Jesus geht hinaus.

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Martha, Martha, du machst dir Sorge
und Unruhe um vieles
- 424

Ich begreife sofort, daß es wieder um die Person der Magdalena geht, denn ich sehe sie als erste, in einem einfachen Gewand von einem Rosalila, das mich an eine Malvenblüte erinnert. Sie trägt keinen kostbaren Schmuck, ihr Haar ist in einfachen Zöpfen im Nacken zusammengesteckt. Sie scheint viel jünger als früher, da sie noch ein Meisterwerk der Schönheitspflege war. Sie hat nicht mehr den herrischen Blick aus jener Zeit, als sie die „Sünderin“ war, und auch nicht den niedergeschlagenen Blick von damals, als sie das Gleichnis vom verlorenen Schäflein hörte. Sie hat nicht mehr den beschämten, tränenfeuchten Blick, wie dazumal im Saal des Pharisäers... Jetzt ist ihr Auge ruhig und wieder klar wie das eines Kindes, und ein friedliches Lächeln strahlt von ihm aus. Sie hat sich an der Grenze des Besitztums von Bethanien an einen Baum gelehnt und schaut zur Straße hin. Sie wartet. Dann stößt sie einen Freudenschrei aus.

Sie wendet sich zum Haus und ruft laut, um gehört zu werden; sie ruft mit ihrer herrlichen, samtenen, leidenschaftlichen, unverwechselbaren Stimme: “ Er kommt!... Martha, sie haben recht gehabt. Der Rabbi ist hier !” und sie beeilt sich, das schwere quietschende Tor zu öffnen. Sie läßt den Dienern keine Zeit, es zu tun, und wie ein Kind zur Mutter eilt, läuft sie mit ausgestreckten Armen auf die Straße hinaus. In liebevoller Freude ruft sie: “O mein Rabbuni!” und wirft sich zu Jesu Füßen nieder, die sie trotz des Staubs des Weges küßt. “Der Friede sei mit dir, Maria. Ich komme, um mich unter deinem Dach auszuruhen.”

“O mein Meister!” wiederholt Maria, indem sie ihr von Ehrfurcht und Liebe erfülltes Antlitz erhebt, in dem so vieles geschrieben steht: Segenswünsche, Freude, die Einladung, einzutreten, und der Jubel, weil er einkehrt... Jesus hat ihr die Hand aufs Haupt gelegt und es ist, als ob er ihr noch einmal die Absolution erteilen würde . Maria erhebt sich und kehrt an der Seite Jesu auf ihren Besitz zurück. Inzwischen sind einige Diener und Martha herbeigeeilt. Die Diener mit Krügen und Schüsseln,

Martha nur mit ihrer Liebe, aber diese ist groß. Die erhitzten Apostel trinken kühle Getränke, die ihnen von den Dienern eingeschenkt werden. Sie möchten sie zuerst Jesus reichen, aber Martha ist ihnen schon zuvorgekommen. Sie hat einen Becher voll Milch genommen und ihn Jesus angeboten. Sie muß wohl wissen, daß Jesus Milch sehr gern hat .

Nachdem die Jünger sich erfrischt haben, sagt Jesus zu ihnen: “Geht und benachrichtigt die Gläubigen. Ich werde heute abend zu ihnen sprechen.” Kaum haben sie den Garten verlassen, zerstreuen sich die Apostel in verschiedene Richtungen. Jesus geht mit Martha und Maria weiter. “Komm, Meister!” sagt Martha. “Bis Lazarus kommt, kannst du dich ausruhen und stärken.”

Während sie einen kühlen Raum hinter der schattigen Vorhalle betreten, kommt Maria zurück, die sich eiligen Schrittes entfernt hatte. Sie kommt mit einem Krug Wasser, gefolgt von einem Diener, der ein Waschbecken trägt. Aber Maria will Jesus die Füße waschen. Sie löst ihm die staubigen Sandalen und gibt sie dem Diener, damit er sie reinige, zusammen mit dem Mantel, der ebenfalls vom Staub befreit werden soll. Dann taucht sie seine Füße ins Wasser , das durch eine aromatische Zugabe leicht rosa gefärbt ist, trocknet sie ab und küßt sie . Daraufhin wechselt sie das Wasser und bietet Jesus reines für seine Hände an. Während sie auf den Diener mit den Sandalen wartet, kauert sie sich zu den Füßen Jesu auf den Teppich nieder, streichelt sie, und bevor sie die Sandalen anlegt, küßt sie die Füße noch einmal und sagt: “ Heilige Füße, die ihr so viel gewandert seid, um mich zu suchen !”

Martha, die praktischer veranlagt ist, geht zum menschlich Nützlichen über und fragt: “Meister, wer wird außer deinen Jüngern noch kommen?” Jesus sagt: “Ich weiß es noch nicht genau. Aber du könntest noch für fünf weitere Vorbereitungen treffen.” Jesus geht in den kühlen, schattigen Garten. Er trägt nur sein dunkelblaues Gewand. Der Mantel, sorgfältig von Maria zusammengefaltet, bleibt auf einer Truhe im Zimmer liegen. Maria begleitet Jesus . Sie gehen auf gepflegten Wegen zwischen blühenden Beeten bis zum Fischteich, der einem ins Grüne gefallenen Spiegel gleicht. Die klare Reglosigkeit des Wassers wird nur hie und da durch das silberne Aufschnellen eines Fisches und durch den Regen des feinen, hohen Wasserstrahls in der Mitte unterbrochen. Bei dem großen Becken, das einem kleinen See gleicht, von dem kleine Bewässerungskanäle ausgehen, stehen Sitzbänke. Ich glaube, daß einer der Kanäle den Fischteich speist und die anderen, kleineren, die von ihm abzweigen, zur Bewässerung dienen. Jesus setzt sich auf eine Bank neben dem Becken, und Maria setzt sich zu seinen Füßen auf den grünen, wohl gepflegten Rasen. Anfangs sprechen sie nicht. Jesus genießt sichtlich die Stille und Ruhe in der Kühle des Gartens. Maria erfreut sich an seinem Anblick. Jesus spielt mit dem klaren Wasser des Beckens. Er taucht seine Finger hinein, kämmt es, so daß sich viele kleine Kielwasser bilden, und taucht dann die ganze Hand in die reine Frische. “Wie schön ist dieses klare Wasser!” sagt er.

Und Maria: “Gefällt es dir so sehr, Meister?” - “Ja, Maria. Weil es so klar ist. Schau, es ist keine Spur von Schlamm zu sehen. Es ist Wasser, aber es ist so rein, daß es fast scheint, als wäre es nicht ein Element, sondern nur Geist, auf dessen Grund man die Worte lesen kann, die sich die Fischlein sagen...”

“Wie man in der Tiefe der reinen Seelen lesen kann. Nicht wahr, Meister?” und Maria seufzt mit einem geheimen Bedauern. Jesus bemerkt den zurückgehaltenen, mit einem Lächeln verschleierten Seufzer und heilt sofort das Leid Marias. “ Die reinen Seelen, wo gibt es die, Maria? Eher wird sich ein Berg in Bewegung setzen, als daß ein Geschöpf die dreifache Reinheit zu erlangen vermag. Viele, allzu viele Dinge umgeben einen Erwachsenen und gären. Es läßt sich nicht immer verhindern, daß sie ins Innere eindringen. Nur Kinder haben eine engelgleiche Seele, eine Seele, die in ihrer Unschuld vor Erkenntnissen bewahrt bleibt, die sich in Schlamm verwandeln können. Daher liebe ich sie so sehr. Ich sehe in ihnen einen Widerschein der unendlichen Reinheit. Sie sind die einzigen, die diese Erinnerung an den Himmel mit sich tragen . Meine Mutter ist die Frau mit der Seele eines Kindes. Mehr noch. Sie ist die Frau mit der Seele eines Engels, so wie Eva war, als sie aus der Hand des Vaters hervorging. Kannst du dir vorstellen, Maria, wie diese erste blühende Lilie im irdischen Garten war? So schön auch diese hier sein mögen, an denen das Wasser vorbeifließt, die erste, die aus der Hand des Schöpfers hervorgegangen ist, war sie Blume oder Diamant? Waren es Blütenblätter oder Blätter aus reinstem Silber? Und doch ist meine Mutter noch reiner als jene erste Lilie , die ihren Duft mit den Winden verströmte. Ihr Duft der unversehrten Jungfrau erfüllt Himmel und Erde, und ihm werden von Jahrhundert zu Jahrhundert die Guten folgen. Das Paradies ist Licht, Duft und Harmonie. Aber wenn der Vater sich nicht der Wunderbaren erfreuen könnte, die aus der Erde ein Paradies macht, und wenn das Paradies in Zukunft nicht diese lebendige Lilie hätte, in deren Schoß die drei Blütenstengel des Feuers der göttlichen Dreifaltigkeit, Licht, Duft und Harmonie, sind, so wäre die Glückseligkeit des Paradieses um die Hälfte vermindert. Die Reinheit der Mutter wird der Edelstein des Paradieses sein. Aber das Paradies ist unendlich !

Was würdest du von einem König sagen, der nur eine Perle in seinem Schatz hat? Auch wenn es die allerschönste wäre? Wenn ich die Pforten des Himmelreiches geöffnet habe - seufze nicht, Maria, denn dazu bin ich gekommen - dann werden viele Seelen von Gerechten und von Kindern hineingehen. Eine Schar der Reinheit folgt dem Purpur des Erlösers nach. Aber es werden immer noch zu wenige sein, um den Himmel mit Perlen zu schmücken und die Bürgerschaft des Ewigen Jerusalem zu bilden. Doch später... wenn die Lehre der Wahrheit und Heiligung bei den Menschen bekannt sein wird, später, wenn mein Tod den Menschen die Gnade wieder geschenkt haben wird, wie würden die Erwachsenen wohl den Himmel erwerben können, wenn das arme Menschenleben immer nur Schlamm wäre, der unrein macht? Wird mein Paradies also nur den Kindern gehören? O nein! Wie die Kinder müßten sie werden, dann steht auch den Erwachsenen das Reich offen . Wie die Kinder... So ist die Reinheit . Siehst du dieses Wasser? Es scheint ganz klar zu sein. Aber beobachte: es genügt, daß ich mit diesem Zweig den Grund aufwühle, und schon trübt es sich. Abfälle und Schlamm kommen an die Oberfläche. Das kristallklare Wasser wird gelblich, und niemand würde mehr davon trinken. Aber wenn ich den Zweig herausziehe, kehrt der Friede zurück und das Wasser wird langsam wieder klar und schön. Der Zweig ist die Sünde. So ist es bei den Seelen. Die Reue, glaube mir, ist das, was reinigt...” [Kinder leben wie Engel ohne Sex!]

Martha kommt bekümmert hinzu: “ Bist du immer noch hier, Maria? Und ich mühe mich so sehr ab!... Die Zeit vergeht ... Bald werden die Geladenen kommen, und es ist noch so vieles zu tun. Die Dienerinnen sind beim Brotbacken, die Diener bereiten und kochen das Fleisch. Ich sorge für die Gedecke, die Tische und die Getränke. Aber es sind noch Früchte zu pflücken und Pfefferminz- und Honigwasser herzurichten...” Maria hört sich die Klagen ihrer Schwester mehr oder weniger an. Mit einem seligen Lächeln schaut sie unentwegt auf Jesus, ohne sich zu bewegen. Martha wendet sich an Jesus: “ Meister, schau, wie erhitzt ich bin . Scheint es dir recht, daß ich mich allein für die Bewirtung abmühe? Sag ihr doch, sie soll mir helfen .” Martha ist wirklich aufgeregt. Jesus schaut sie mit einem halb milden, halb wissendes, oder vielmehr scherzhaften Lächeln an. Martha wird etwas ungeduldig: “Ich sage es im Ernst, Meister. Schau nur, wie faul sie ist, während ich arbeite, und sie sieht doch, daß...” Jesus wird ernster: “ Das ist nicht Müßiggang, Martha. Es ist Liebe . Müßiggang war es einmal, und du hast über diesen unwürdigen Müßiggang so viel geweint. Deine Tränen haben meinen Bemühungen, sie mir zu retten und sie deiner ehrlichen Liebe wiederzugeben, Flügel verliehen. Willst du ihr nun ihre Liebe zu ihrem Erlöser streitig machen? Möchtest du sie lieber fern von hier sehen, damit sie dich nicht arbeiten sieht, aber auch fern von mir? Martha, Martha! Muß ich nun sagen, daß sie (Jesus legt ihr die Hand aufs Haupt), die von so weit her gekommen ist, dich in der Liebe übertroffen hat?

Muß ich nun sagen, daß sie, die nicht ein einziges gutes Wort zu sagen wußte, nun eine Gelehrte in der Wissenschaft der Liebe ist? Laß sie doch in ihrem Frieden! Sie war so krank, und nun ist sie eine Genesende, die gesundet, indem sie Getränke trinkt, die sie kräftigen. Sie war so sehr gequält ... Und nun, aus dem Alptraum erwacht, schaut sie um sich und in sich und entdeckt sich neu und entdeckt eine neue Welt. Lasse sie sich darin sicher fühlen. Mit diesem ihrem „neuen“ Leben muß sie die Vergangenheit vergessen und sich das ewige erwerben... Dieses wird nicht allein durch Arbeit erworben, sondern auch durch Anbetung. Wer dem Apostel und dem Propheten ein Brot gereicht hat, wird dafür belohnt werden, aber doppelt belohnt werden jene, die sogar vergessen haben, Speise zu sich zu nehmen, um mich zu lieben; denn mehr als das Fleisch wird dann der Geist gekostet haben, dessen Stimme stärker war als selbst die berechtigten menschlichen Bedürfnisse, Du machst dir Sorge und Unruhe um vieles, Martha. Diese hier hat nur eine Sorge, die jedoch genügt für ihren Geist, und vor allem für ihren und deinen Herrn. Laß die unnützen Dinge beiseite.

Ahme deine Schwester nach. Maria hat den besseren Teil erwählt, und er wird ihr nicht genommen werden. Wenn alle anderen Tugenden verblaßt sind, weil sie für die Bürger des Reiches entbehrlich sein werden, wird als einzige Tugend die Liebe bleiben. Sie wird als ewig Einzige bestehen und herrschen: Maria hat diese zu ihrem Schild und Wanderstab erwählt und mit ihr wird sie wie auf Engelsflügeln in meinen Himmel gelangen.”

Martha senkt beschämt den Kopf und geht weg. “Meine Schwester liebt dich sehr, und sie müht sich ab, um dir Ehre zu erweisen”, sagt Maria, um Martha zu entschuldigen. “Ich weiß es, und es wird ihr vergolten werden... Aber sie bedarf der Läuterung in ihrem menschlichen Denken, so wie dieses Wasser jetzt rein geworden ist. Schau, wie klar es wieder geworden ist, während wir gesprochen haben. Martha wird sich durch die Worte, die ich zu ihr gesagt habe, reinigen. Du... du durch die Aufrichtigkeit deiner Reue...” - “Nein, durch deine Vergebung, Meister. Meine Reue hätte nicht genügt, um meine große Sünde abzuwaschen...”

“Sie genügt, und sie wird deinen Schwestern genügen, die es dir nachtun werden, all den armen Kranken im Geist. Die aufrichtige Reue ist ein Filter, der reinigt; die Liebe ist dann das Mittel, das vor jeglicher neuen Befleckung bewahrt. Dadurch können jene, die das Leben zu Erwachsenen und Sündern gemacht hat, wieder unschuldige Kinder werden und wie sie in mein Reich eintreten.

Wir wollen jetzt zum Haus gehen, damit Martha nicht zu lange in ihrem Schmerz verweilt. Bringen wir ihr unser Lächeln, das Lächeln eines Freundes und einer Schwester.” Jesus sagt: “Eine diesbezügliche Erläuterung ist nicht nötig. Das Gleichnis des Wassers erklärt die Wirksamkeit der Buße in den Seelen.

So hast du nun den vollständigen Zyklus der Magdalena vom Tod zum Leben. Sie ist die größte der Auferstandenen meines Evangeliums . Sie ist vom siebenfachen Tod auferstanden. Sie ist wiedergeboren worden. Du hast gesehen, wie der Stengel sich aus dem Schlamm erhoben hat und die Blüte immer höher gewachsen ist, um für mich zu erblühen, zu duften und zu sterben. Du hast sie als Sünderin gesehen; dann dürstend der Quelle sich zuwendend; dann als Büßerin, als Tochter, der verziehen worden ist, als Liebende, als Trauernde über den Leichnam ihres Herrn gebeugt, als Dienerin der Mutter, die sie liebt, weil sie meine Mutter ist; schließlich als Büßerin auf der Schwelle ihres Paradieses. Ihr furchtsamen Seelen, lernt, euch nicht vor mir zu fürchten, lest das Leben der Maria Magdalena. Ihr liebenden Seelen, lernt von ihr die seraphische Liebe. Seelen, die ihr gefehlt habt, lernt von ihr die Weisheit, die auf den Himmel vorbereitet. Ich segne euch alle, um euch Hilfe zum Aufstieg zu geben. Geh nun in Frieden.”

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In Bethanien - 461

Der Sonnenuntergang rötet den Himmel, als Jesus Bethanien erreicht . Erhitzt und staubbedeckt folgen ihm die Seinen. Jesus und die Apostel sind die einzigen, die der Hitze des Weges trotzen. Die vom Gebiet des Ölbergs bis zu den Hängen um Bethanien verstreuten Bäume, bieten nur wenig Schatten. Der Sommer kennt keine Gnade. Mehr noch wütet der Haß. Die Felder sind öde und versengt und gleichen Backöfen, aus denen einem die Gluthitze entgegenströmt. Aber die Herzen der Feinde Jesu sind noch öder; sie sind nicht nur der Liebe, sondern jeglicher Rechtschaffenheit und menschlicher Sittlichkeit bar und von Haß ausgebrannt...

Es gibt nur noch ein Haus, eine Zuflucht für Jesus: Bethanien . Dort erwarten ihn Liebe, Erquickung, Schutz und Treue... Dorthin begibt sich der verfolgte Pilger im weißen Gewand, mit seinem schmerzerfüllten Antlitz und dem müden Schritt dessen, der sich nicht aufhalten darf, weil ihm die Feinde auf den Fersen sind. Er schreitet einher mit dem fügsamen, widerspruchslosen Blick eines Mannes, der schon den Tod vor Augen hat, der jede Stunde und bei jedem Schritt näher kommt und den er im Gehorsam gegen Gott angenommen hat... Das Haus in seinem großen Garten ist verschlossen und stumm, in Erwartung frischerer Stunden. Auch im leeren Garten herrscht tiefe Stille, und nur die Sonne brennt unbarmherzig auf alles herab. Thomas macht sich mit seiner kräftigen Baritonstimme bemerkbar. Ein Vorhang wird zur Seite geschoben, und ein Gesicht guckt hervor... dann ertönt ein Ruf: “Der Meister!” und die Diener laufen hinaus, gefolgt von den erstaunten Herrinnen, die Jesus gewiß nicht zu dieser Stunde der größten Hitze erwartet haben. “Rabbuni!” - “Mein Meister!” Martha und Maria grüßen von weitem , schon verneigt und bereit, sich vor ihm niederzuwerfen. Sie tun dies, sowie die Gartentür offen ist und nichts mehr sie vom Herrn trennt. “Maria, Maria, der Friede sei mit euch und eurem Haus.” - “Der Friede sei mit dir, Meister und Herr... Aber wieso zu dieser Stunde?” fragen die Schwestern und entlassen die Diener, damit Jesus ungestört mit ihnen reden kann. “ Um Leib und Seele an einem Ort, an dem man mich nicht haßt, Ruhe zu gönnen ...” sagt Jesus traurig und breitet seine Arme aus, als wolle er sagen: “Ihr nehmt mich an.” Er zwingt sich zu lächeln, aber es ist ein sehr trauriges Lächeln, dem der schmerzliche Ausdruck seiner Augen widerspricht. “Hat man dir ein Leid zugefügt?” fragt Maria, glühend vor Erregung. “Was ist dir zugestoßen?” fragt Martha und fügt mütterlich hinzu: “Komm und erquicke dich. Seit wann bist du unterwegs, daß du so müde bist?”

“Seit der Morgendämmerung... und ich kann sagen: ohne Unterbrechung, denn der kurze Aufenthalt im Haus des Hilkija, des Synedristen, war anstrengender als ein langer Marsch .” - “Haben sie dich dort bedrängt?” - “Ja... und zuerst im Tempel...” - “Aber warum bist du zu dieser Schlange gegangen?” fragt Martha. “Wäre ich nicht hingegangen, dann hätte ihm das dazu gedient, seinen Haß zu rechtfertigen, und mich anzuklagen, daß ich die Mitglieder des Hohen Rates verachte. Aber... ob ich gehe oder nicht, das Maß des Hasses der Pharisäer ist voll, und es wird keine Ruhe mehr geben...” - “Sind wir schon so weit? Dann bleibe bei uns, Meister. Hier werden sie dir nichts Böses antun...” - “Ich würde gegen meine Sendung fehlen... Viele Seelen warten auf ihren Erlöser. Ich muß gehen...”

“Aber sie werden dich hindern, zu gehen!” - “Nein, sie werden mich verfolgen und jeden meiner Schritte beobachten; sie werden mich veranlassen zu reden, um jedes Wort zu zerpflücken; sie werden mich wie Spürhunde überwachen, um irgend eine Schuld an mir zu finden... und alles wird ihnen dann dienen...”

Die immer so zurückhaltende Martha ist so von Mitleid gerührt, daß sie die Hände erhebt, als wolle sie seine abgemagerte Wange liebkosen, aber sie beherrscht sich, errötet und spricht: “Verzeih! Du hast mir dieselbe Pein verursacht wie unser Lazarus! Verzeih mir, Herr, daß ich dich geliebt habe wie einen leidenden Bruder!”

“Ich bin der leidende Bruder... Liebt mich mit reiner Schwesterliebe... Aber Lazarus, was macht er? ” - “Er siecht dahin, Herr...” antwortet Maria und läßt ihren Tränen freien Lauf bei diesem Bekenntnis, das sich zu der Pein gesellt, ihren Meister so betrübt zu sehen. “ Weine nicht, Maria . Weder meinet- noch seinetwegen. Wir tun den göttlichen Willen . Weinen muß man über den, der diesen Willen nicht zu erfüllen vermag...” Maria neigt sich, um Jesu Hände zu ergreifen, und küßt die Fingerspitzen. Inzwischen sind sie beim Haus angelangt, gehen hinein und begeben sich sofort zu Lazarus, während die Apostel in der Vorhalle verweilen, um sich mit dem zu erfrischen, was die Diener ihnen reichen.

Jesus neigt sich über den so sehr abgezehrten Lazarus und küßt ihn lächelnd, um ihm in seiner Traurigkeit Erleichterung zu bringen. “Meister, wie sehr du mich liebst. Nicht einmal den Abend hast du abgewartet, um zu mir zu kommen. Bei dieser Hitze...” - “ Mein Freund, ich freue mich über dich, und du freust dich über mich. Alles andere zählt nicht .” - “Das ist wahr. Auch mein Leiden bedeutet mir nichts mehr... Jetzt weiß ich, weshalb ich leide und was ich durch mein Leiden wirken kann”, und Lazarus hat ein inniges, vergeistigtes Lächeln auf seinem Antlitz.

“So ist es, Meister. Man könnte fast sagen, unser Lazarus betrachte sein Leiden mit Wohlgefallen und...” Martha unterbricht sich mit einem Schluchzen und schweigt. “Ja, sag es nur: und auch den Tod. Meister, sag ihnen, daß sie mir helfen sollen, wie die Leviten den Priestern.” - “Wobei, mein Freund?” - “Das Opfer zu vollenden...” - “Und doch hast du noch vor kurzem vor dem Tod gezittert! Liebst du uns also nicht mehr? Liebst du den Meister nicht mehr? Willst du ihm nicht dienen?...” fragt Maria eindringlicher und bleich vor Schmerz, während sie die gelbliche Hand ihres Bruders streichelt. “Das fragst du, ausgerechnet du, du glühende, hochherzige Seele? Bin ich nicht dein Bruder? Bin ich nicht vom selben Blut und habe ich nicht dieselbe heilige Liebe für Jesus, für die Seelen und auch für euch, geliebte Schwestern?... Aber am Paschafest hat meine Seele ein großes Wort aufgenommen, und nun liebe ich den Tod. Herr, ich biete dir mein Leben an nach deiner Meinung .” - “Du bittest mich also nicht mehr um Heilung?” - “Nein, mein Rabbuni. Ich bitte um deinen Segen, um leiden und... sterben zu können... und, wenn ich nicht zu viel verlange, um erlösen zu können... Du hast es gesagt...”

“Ich habe es gesagt und ich segne dich, um dir die nötige Kraft zu geben.” Er legt ihm die Hände auf und küßt ihn. “Bleiben wir zusammen, dann kannst du mich unterweisen...” - “Nicht jetzt, Lazarus. Ich kann mich nicht lange aufhalten. Ich bin nur für einige Stunden gekommen. Sobald es dunkel wird, breche ich wieder auf.” - “Aber warum?” fragen die drei Geschwister enttäuscht. “Weil ich mich nicht aufhalten kann... Im Herbst werde ich wiederkommen. Und dann... werde ich öfters hier sein und wirken... hier und in der Umgegend...”

Es folgt ein trauriges Schweigen. Dann bittet Martha: “So ruhe dich wenigstens ein bißchen aus und erquicke dich...”

Nichts erquickt mich mehr als eure Liebe . Laßt meine Apostel ruhen und mich hier bei euch bleiben, in diesem Frieden...” Martha geht weinend hinaus, um kurz darauf mit Tassen kalter Milch und frischen Erstlingsfrüchten zurückzukehren...

“Die Apostel haben gegessen und sind vor Müdigkeit eingeschlafen. Mein Meister, willst du wirklich nicht ruhen?” - “Bestehe nicht darauf, Martha. Noch vor der Morgendämmerung werden sie mich hier suchen , in Getsemani, bei Johanna, in jedem gastlichen Haus. Aber um diese Zeit werde ich schon weit fort sein.” - “Wohin gehst du, Meister?” fragt Lazarus. “ In Richtung Jericho , aber nicht auf dem gewöhnlichen Weg... Ich werde auf Tekoa zugehen und dann nach Jericho zurückkehren.” - “Das ist ein beschwerlicher Weg in dieser Jahreszeit...” murmelt Martha. “Gerade deswegen ist er so einsam. Wir werden bei Nacht wandern. Die Nächte sind hell, schon bevor der Mond aufgeht... und das Morgengrauen läßt nicht lange auf sich warten...” - “Und dann?” fragt Maria. “ Dann werde ich in das Gebiet jenseits des Jordan gehen , und nördlich davon, auf der Höhe von Samaria, werde ich den Fluß überqueren und auf diese Seite kommen.” - “Geh schnell nach Nazareth, du bist müde...” sagt Lazarus. “Zuerst muß ich die Küste des Meeres erreichen, dann erst gehe ich nach Galiläa . Aber auch dort werden sie mich verfolgen...” - “Dort wirst du aber deine Mutter haben, die dich tröstet...” sagt Martha. “Ja, arme Mutter!” - “Meister, Magdala ist dein. Du weißt es”, erinnert Maria. “Ich weiß, Maria... Alles Gute und alles Böse weiß ich ...”

“So getrennt zu sein... Für so lange Zeit! Wirst du mich lebendig wiedersehen, Meister?” - “Zweifle nicht daran. Weint nicht... Auch an die Trennungen muß man sich gewöhnen. Sie dienen dazu, zu prüfen, wie stark eine Zuneigung ist . Man versteht die geliebten Herzen besser, wenn man sie aus der Ferne mit dem geistigen Auge betrachtet. Wenn man nicht durch die menschliche Freude über die Nähe eines geliebten Menschen beeinflußt wird und über seinen Geist und seine Liebe nachdenken kann, dann versteht man das „Ich“ des Fernen besser... Ich bin sicher, daß ihr euren Meister noch besser verstehen werdet, wenn ihr mein Wirken und meine Zuneigung in Ruhe betrachten könnt.”

“O Meister, aber wir zweifeln nicht an dir!” - “Noch ich an euch. Ich weiß Bescheid. Aber ihr werdet mich noch besser verstehen. Ich brauche euch nicht zu sagen, daß ihr mich lieben sollt, denn ich kenne eure Herzen. Ich sage nur: Betet für mich .” Die drei Geschwister weinen ... Jesus ist so traurig!... Wie könnte man da nicht weinen? “Was wollt ihr? Gott hat den Menschen die gegenseitige Liebe gegeben. Aber die Menschen haben sie durch den Haß ersetzt... Und der Haß trennt nicht nur die Feinde, sondern schleicht sich auch ein, um Freunde zu trennen.” Es folgt ein langes Schweigen. Dann sagt Lazarus: “ Meister, verlasse Palästina für einige Zeit ...” - “Nein, mein Platz ist hier. Hier muß ich leben, die Frohe Botschaft verkünden und sterben.” - “Aber du hast doch für Johannes und die Griechin auch vorgesorgt. Geh zu ihnen.” - “Nein, sie mußten gerettet werden, ich aber muß retten. Das ist der Unterschied, der alles erklärt . Der Altar ist hier, und hier ist auch der Lehrstuhl. Ich kann nicht anderswo hingehen, und überhaupt... glaubt ihr, es würde etwas an dem ändern, was bestimmt ist? Nein, weder auf Erden noch im Himmel. Es würde nur das Bild von der geistigen Reinheit des Messias trüben. Ich wäre „der Feige“, der sich durch die Flucht rettet. Ich muß der gegenwärtigen und zukünftigen Menschheit ein Beispiel geben, daß man in den Dingen Gottes, in den heiligen Dingen, nicht feige sein darf...” - “Du hast recht, Meister”, seufzt Lazarus. Martha schiebt den Vorhang beiseite und sagt: “Du hast recht... Es wird Abend. Die Sonne scheint nicht mehr...”

Maria beginnt bitterlich zu weinen, als ob diese Worte ihr die seelische Widerstandskraft genommen hätten, mit der sie ihr Weinen auf stille Tränen beschränkt hat. Sie weint noch viel herzzerreißender als im Haus des Pharisäers, als sie den Erlöser unter Tränen um Verzeihung bat... “Warum weinst du so?” fragt Martha. “Weil du die Wahrheit gesagt hast, Schwester! Die Sonne scheint nicht mehr... Der Meister geht fort... und für mich... für uns gibt es keine Sonne mehr...”

“Seid gut. Ich segne euch, und mein Segen möge über euch bleiben. Und nun laßt mich allein mit Lazarus, der müde ist und der Stille bedarf. Während ich über meinen Freund wache, ruhe ich mich aus . Sorgt für die Apostel und sagt ihnen, sie sollen sich für die Nacht bereithalten.” Die Jüngerinnen ziehen sich zurück und Jesus bleibt schweigend und ich sich selbst versunken neben seinem kranken Freund sitzen, der, beruhigt durch seine Anwesenheit, mit einem leichten Lächeln auf dem Antlitz einschläft.

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Jesus in Bethanien zum Laubhüttenfest - 537

... Nach einem langen, mühsamen Weg sind sie endlich am Ziel . Doch obwohl sie todmüde sind, scheinen sie sich schon allein durch die Nähe des gastfreundlichen Hauses von Bethanien wieder zu beleben. Das Städtchen ist ruhig, fast menschenleer. Viele Bewohner müssen schon zum Fest nach Jerusalem gezogen sein. So gelangt Jesus unbemerkt bis in die Nähe des Hauses des Lazarus .

Erst als er den verwilderten Garten erreicht, in dem alle die Vögel waren, begegnet er zwei Männern, die ihn erkennen und grüßen. Dann fragen sie: “ Gehst du zu Lazarus, Meister? Du tust gut daran, denn es geht ihm sehr schlecht . Wir haben ihm gerade Milch von unseren Eselinnen gebracht, die einzige Nahrung, die sein Magen noch verträgt, zusammen mit etwas Fruchtsaft und Honig. Die Schwestern weinen dauernd. Sie sind ganz erschöpft von den Wachen und vor Schmerz... und er hat nur den einen Wunsch, dich zu sehen . Ich glaube, er wäre schon gestorben; aber die brennende Sehnsucht, dich zu sehen, hat ihn bis heute am Leben erhalten.” - “Ich gehe sofort zu ihm. Gott sei mit euch.” - “Und... wirst du ihn heilen?” fragen sie neugierig. “Der Wille Gottes wird sich an ihm offenbaren und mit ihm die Macht des Herrn”, antwortet Jesus. Die beiden bleiben unschlüssig zurück, während Jesus eilig zum Gittertor des Gartens geht.

Ein Diener sieht ihn kommen und eilt herbei, um zu öffnen, aber ohne jeglichen Ausruf der Freude. Kaum hat er das Gittertor geöffnet, wirft er sich zu Boden, um Jesus zu huldigen, und sagt mit schmerzerfüllter Stimme: “Gut, daß du kommst, Herr! Und möge deine Ankunft ein Zeichen der Freude sein für dieses trauernde Haus. Lazarus, mein Herr...” - “Ich weiß. Ergebt euch alle in den Willen des Herrn. Er wird das Opfer eures Willens belohnen. Geh und rufe Martha und Maria . Ich erwarte sie im Garten.” Der Diener eilt fort, und Jesus folgt ihm langsam, nachdem er den Aposteln gesagt hat: “ Ich gehe zu Lazarus . Ruht euch aus, denn ihr habt Ruhe nötig...” Und während auf der Schwelle des Hauses die beiden Schwestern erscheinen und fast Mühe haben, den Herrn zu erkennen - so müde sind ihre Augen vom Wachen und Weinen, und die Sonne scheint ihnen direkt ins Gesicht und erschwert noch das Sehen - eilen aus einer anderen Tür weitere Diener den Aposteln entgegen und nehmen sie mit sich.

Martha! Maria! Ich bin es. Erkennt ihr mich nicht? ” - “Oh, Meister!” rufen die beiden Schwestern aus und beginnen, ihm entgegenzueilen. Sie werfen sich zu seinen Füßen nieder und können nur mühsam ihr Schluchzen unterdrücken. Küsse und Tränen bedecken die Füße Jesu, wie damals im Haus Simons des Pharisäers. Aber diesmal steht Jesus nicht einfach da, um sich von den Tränen Marthas und Marias die Füße waschen zu lassen. Diesmal beugt er sich nieder und berührt ihre Häupter. Er streichelt und segnet sie mit dieser Geste und fordert sie auf, sich zu erheben mit den Worten: “Kommt, wir gehen in die Jasminlaube. Könnt ihr Lazarus alleinlassen?” Mehr durch Zeichen als mit durch Schluchzen unterbrochenen Worten sagen sie: “Ja”, und dann gehen sie in die schattige Laube, in deren dichtem, dunklem Laub einige späte Jasminsterne leuchten und duften. “Sprecht also...”

“Oh, Meister, du kommst in ein wahrhaft trauriges Haus. Wir sind ganz von Sinnen vor Schmerz. Als der Diener uns berichtete: „Da ist einer, der euch sucht“, haben wir gar nicht an dich gedacht. Als wir dich gesehen haben, haben wir dich nicht erkannt. Aber siehst du? Unsere Augen brennen vom vielen Weinen. Lazarus stirbt!...” Und das Weinen beginnt von neuem und unterbricht die Worte der Schwestern, die abwechselnd gesprochen haben. “Und ich bin gekommen...” - “Ihn zu heilen? Oh! Mein Herr!” sagt Maria, strahlend vor Hoffnung, trotz der Tränenspuren. “Ah! Ich habe es doch gesagt! Wenn er kommt...” sagt Martha und faltet freudig die Hände. “Oh, Martha, Martha! Was weißt du von den Plänen und Beschlüssen Gottes? ” - “O weh, Meister! So wirst du ihn also nicht heilen?” rufen sie zusammen aus und versinken wieder in Schmerz.

“Ich sage euch: Habt ein grenzenloses Vertrauen auf den Herrn. Bewahrt es trotz aller Einflüsterungen und Ereignisse, und ihr werdet große Dinge sehen, wenn euer Herz keinen Grund zur Hoffnung mehr hat, sie zu erleben. Was sagt Lazarus?” - “Ein Echo deiner Worte erklingt in den seinen. Er sagt uns: „Zweifelt nicht an der Güte und der Macht Gottes. Was auch immer geschehen mag, er wird eingreifen zu eurem und meinem Wohl und für das Wohl vieler , all jener, die wie ich und ihr in der Treue zum Herrn ausharren.“

Immer, wenn es sein Zustand erlaubt, erklärt er uns die Hl. Schrift. Er liest nur diese noch und spricht uns von dir. Er sagt auch, daß er in einer glücklichen Zeit sterben wird, da nun das Zeitalter des Friedens und der Verzeihung angebrochen ist. Aber du wirst es hören... denn er sagt auch noch andere Dinge, die uns noch trauriger stimmen als die Leiden unseres Bruders...” sagt Martha.

“Komm, Herr. Jede Minute, die verfließt, ist der Hoffnung des Lazarus geraubt. Er zählt die Stunden... Er sagte: „Gewiß wird er anläßlich des Festes in Jerusalem sein und hierher kommen... “ Wir, die wir vieles wissen, was wir Lazarus nicht erzählen, um ihm nicht noch mehr Schmerz zu bereiten, hatten weniger Hoffnung; denn wir dachten, du würdest nicht kommen, um deinen Verfolgern zu entgehen... Martha war davon überzeugt. Ich weniger, weil... ich, wenn ich an deiner Stelle wäre, den Feinden trotzen würde. Ich gehöre nicht zu denen, die die Menschen fürchten. Und jetzt fürchte ich nicht einmal mehr Gott, denn ich weiß, wie gut er ist zu den Büßerseelen...” sagt Maria und schaut mit ihrem liebevollen Blick zu Jesus auf. “Vor nichts hast du Angst, Maria?” fragt Jesus.

Vor der Sünde... und vor mir selbst... Ich habe immer Angst, wieder in das Böse zurückzufallen . Ich glaube, daß mich Satan sehr hassen muß.” - “Du hast recht. Du bist eine der von Satan am meisten gehaßten Seelen ;aber du bist auch eine von denen, die von Gott am meisten geliebt werden . Vergiß das nicht.” - “Oh, ich denke immer daran und gerade daraus schöpfe ich meine Kraft. Ich erinnere mich an das, was du im Haus des Simon gesagt hast: „Vieles ist ihr verziehen, weil sie viel geliebt hat“, und zu mir: „Deine Sünden sind dir vergeben. Dein Glaube hat dich gerettet. Geh hin in Frieden.“ Du hast gesagt „deine Sünden“. Nicht viele. Alle. Und daher glaube ich, daß du mich grenzenlos geliebt hast, o mein Gott. Wenn nun mein geringer Glaube von damals, der einer schuldbeladenen Seele entsprungen war, so viel von dir zu erlangen vermochte, sollte mich dann mein jetziger Glaube nicht gegen das Böse verteidigen können?”

“Ja, Maria. Sei wachsam und wache über dich selbst. Dies ist Demut und Klugheit. Aber vertraue auf den Herrn, er ist mit dir.” Sie betreten das Haus. Martha begibt sich zu ihrem Bruder. Maria möchte Jesus bedienen. Aber Jesus will zuerst zu Lazarus. Sie betreten das abgedunkelte Zimmer, in dem er sein Opfer vollendet. “ Meister!” - “Mein Freund! ” Lazarus erhebt seine zum Skelett abgemagerten Arme, die Arme Jesu senken sich, um den Körper des kranken Freundes zu umarmen. Eine lange Umarmung. Dann legt Jesus den Kranken auf die Kissen zurück und betrachtet ihn voller Mitleid. Aber Lazarus lächelt. Er ist glücklich. In seinem eingefallenen Antlitz strahlen nur die tiefliegenden Augen in der Freude, Jesus wieder zu sehen. “Siehst du? Ich bin gekommen, und um lange bei dir zu bleiben.” - “Oh, das kannst du nicht, Herr. Mir sagt man nicht alles, aber ich weiß doch so viel, daß ich dir sage: „Du kannst nicht.“ Zu dem Schmerz, den sie dir verursachen, fügen sie auch noch den meinigen hinzu, meinen Teil, da sie mir nicht erlauben, mein Leben in deinen Armen auszuhauchen. Aber ich, der ich dich liebe, kann dich nicht aus Eigenliebe bei mir behalten, der Gefahr ausgesetzt. Du... ich habe schon vorgesorgt... Du mußt immer wieder den Aufenthaltsort wechseln.

Alle meine Häuser stehen dir offen. Die Aufseher haben die entsprechenden Befehle erhalten, ebenso die Verwalter meiner Güter. Aber halte dich nicht in Getsemani auf. Der Ölberg wird ständig überwacht. Ich meine das Haus, denn in die Olivenhaine, besonders den oberen Teil, kannst du gehen, und auf vielen Wegen, ohne daß sie es merken.

Weißt du, daß Margziam schon hier ist? Margziam wurde von einigen ausgefragt, während er mit Markus in der Ölmühle war. Sie wollten wissen, wo du bist und ob du kommen würdest. Der Knabe hat sehr gut geantwortet: „Er ist Israelit und wird kommen. Auf welchem Weg, weiß ich nicht, denn ich habe ihn schon am Meronsee verlassen.“ So hat er verhindert, daß sie dich einen Sünder nennen, und hat auch nicht gelogen.” - “Ich danke dir, Lazarus. Ich werde tun, wie du gesagt hast. Aber dennoch werden wir uns oft sehen.” Er betrachtet ihn immer noch. “Du schaust mich an, Meister? Siehst du, wie ich von Kräften gekommen bin? Wie ein Baum, der im Herbst seine Blätter verliert, verliere ich immer mehr an Gewicht und an Kraft und werde nicht mehr lange leben. Aber es ist die Wahrheit, wenn ich sage, daß es mir zwar leid tut, nicht lange genug leben zu können, um deinen Triumph zu erleben, daß ich mich aber freue, diese Welt zu verlassen, um nicht sehen zu müssen, wie der Haß zunimmt, ohne daß ich, ohnmächtig wie ich jetzt bin, etwas dagegen tun könnte.”

“Du bist nicht untätig und ohnmächtig; nie bist du es. Du sorgst schon vor für deinen Freund, noch bevor er kommt. Ich habe zwei Häuser, die mir Frieden schenken und, ich könnte sagen, die mir gleich teuer sind: jenes von Nazareth und dieses hier . Wenn ich dort meine Mutter habe, die himmlische Liebe, die für den Sohn Gottes fast so viel wie der Himmel bedeutet, so erfahre ich hier die Liebe der Menschen für den Menschensohn, die freundschaftliche, gläubige, ehrfürchtige Liebe... Danke, meine Freunde!”

“Wird deine Mutter nie mehr kommen?” - “Zu Beginn des Frühlings.” - “Oh! Dann werde ich sie nicht mehr sehen...” - “ Doch, du wirst sie sehen . Ich sage es dir, und du mußt mir glauben.” - “In allem, Herr, auch in dem, was die Tatsachen Lügen strafen.” - “Wo ist Margziam?” - “Mit den Jüngern in Jerusalem. Aber am Abend wird er hier sein, jetzt bald. Und deine Apostel? Sind sie nicht bei dir?” - “Sie sind drüben bei Maximinus, der ihnen in ihrer Müdigkeit und ihrer Erschöpfung beisteht.”

“Seid ihr viel gewandert?” - “Sehr viel, ohne Unterlaß. Ich werde es dir noch erzählen... Ruhe dich nun aus. Ich segne dich.” Jesus segnet ihn und zieht sich zurück. Die Apostel sind nun mit Margziam und mit fast allen Hirten zusammen, die über die hartnäckigen Versuche der Pharisäer berichten, etwas über Jesus zu erfahren, so daß die Jünger schließlich Verdacht geschöpft und an allen Straßen, die nach Jerusalem führen, Wache gehalten haben, um den Meister zu warnen.

“In der Tat”, berichtet Isaak, “sind wir, einige Stadien vor den Toren, auf allen Wegen zerstreut und wachen abwechselnd in der Nacht. Heute sind wir dran.” - “Meister”, lacht Judas, “sie sagen, daß heute am Jaffator das halbe Synedrium versammelt war und herumrätselte; denn einige erinnerten sich an meine Worte von En-Gannim, andere schworen, erfahren zu haben, daß du in Dotan warst, und wieder andere sagten, sie hätten dich in der Nähe von Efraim gesehen. Das machte sie rasend, da sie nun nicht wissen, wo du bist...” und er lacht über den Streich, den er den Feinden Jesu gespielt hat. “Morgen werden sie mich sehen.” - “Nein, morgen gehen nur wir hin. Wir haben das schon beschlossen. Wir werden alle in einer Gruppe gehen und dafür sorgen, daß wir gesehen werden.”

“Das will ich nicht. Du würdest lügen.” - “Ich schwöre dir, daß ich nicht lügen werde. Wenn sie mir nichts sagen, sage ich auch nichts. Wenn sie uns fragen, ob du bei uns bist, werde ich sagen: „Seht ihr denn nicht, daß er nicht da ist?“ Und wenn sie wissen wollen, wo du bist, werde ich antworten: „Sucht ihn selbst. Wie soll ich wissen, wo der Meister in diesem Augenblick ist?“ Tatsächlich werde ich ja sicher nicht wissen können, ob du im Haus hier, im Obstgarten oder sonst wo bist.” - “Judas! Judas, ich habe dir gesagt ...” - “Und ich sage dir, daß du recht hast. Aber ich besitze nicht die Einfalt der Tauben, sondern die Klugheit der Schlangen. Du bist die Taube und ich die Schlange, und zusammen sind wir so vollkommen, wie du uns gelehrt hast.”

Er spricht in demselben Ton wie Jesus, wenn er lehrt und sagt in perfekter Nachahmung des Meisters: “Ich sende euch wie Schafe unter die Wölfe. Seid daher klug wie die Schlangen und einfältig wie die Tauben... Sorgt euch nicht, wie ihr antworten sollt; denn in jener Stunde werden euch die Worte auf die Lippen gelegt. Denn nicht ihr seid es, die dann reden, sondern der Geist... Wenn sie euch verfolgen in der einen Stadt, dann flieht in eine andere, bis das Reich des Menschensohnes kommt... Ich erinnere mich dieser Worte, und jetzt ist es an der Zeit, sie anzuwenden.” - “Ich habe sie nicht so gesagt, und nicht nur diese allein”, entgegnet Jesus. “Oh, vorerst brauchen wir uns nur an diese zu erinnern und können sie so sagen. Ich weiß, was du sagen willst. Aber solange der Glaube an dich sich nicht festigt - und dieser ist ja gerade der Grundstein deines Reiches - ist es nicht ratsam, sich den Feinden auszuliefern... Später werden wir das Übrige sagen und tun...”

Dabei strahlt das Gesicht des Judas so vor Intelligenz und Schelmerei, daß er alle erobert, mit Ausnahme von Jesus, der nur seufzt. Er ist wirklich der Menschenverführer, dem nichts fehlt, um über die Menschen zu triumphieren. Jesus seufzt und denkt nach... Aber er gibt nach, da er fühlt, daß nicht alles Bosheit ist in der Vorsorge des Judas. Dieser beschreibt nun triumphierend seinen ganzen Plan. “Wir werden also morgen, übermorgen und bis zum Tag nach dem Sabbat hingehen und uns in einer Laubhütte im Tal des Kidron aufhalten, wie vollkommene Israeliten. Sie werden des Wartens auf dich müde werden... Und dann wirst du kommen. Inzwischen kannst du hier bleiben und dich in Frieden ausruhen. Du bist erschöpft, mein Meister, und das wollen wir nicht. Die Türen werden verschlossen bleiben, und einer von uns wird kommen und dir berichten, was sie machen, Oh, es wird schön sein zu sehen, wie enttäuscht sie sind!”

Alle stimmen ihm zu, und Jesus leistet keinen Widerstand. Vielleicht ist es wirklich seine große Müdigkeit, vielleicht der Wunsch, Lazarus Trost zu spenden, allen nur möglichen Trost vor dem Endkampf, die dazu beitragen, daß Jesus nachgibt. Vielleicht ist es auch die echte Notwendigkeit, frei zu bleiben, bis alle erforderlichen Werke getan sind, damit Israel kein Zweifel an seiner Natur bleibt, bevor man ihn für schuldig erklärt... Gewiß ist, daß er sagt: “So sei es denn. Aber sucht keinen Streit und vermeidet Lügen. Schweigt lieber, aber lügt nicht . Nun laßt uns gehen, denn Martha ruft uns. Komm, Margziam. Ich finde, daß du besser aussiehst...” Jesus entfernt sich und spricht dabei, einen Arm um die Schultern des jugendlichen Jüngers gelegt.

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Auf dem Weg nach Bethanien
- Im Haus des Lazarus
- 573

Jesus entläßt die Jünger Levi, Josef, Matthias und Johannes, die er, ich weiß nicht wo, getroffen und denen er den neuen Jünger Sidonias, genannt Bartolmai, anvertraut hat. Das geschieht bei den ersten Häusern von Bethanien . Die Hirten- Jünger gehen mit dem neu Angekommenen und sieben anderen Männern, die schon bei ihnen waren, weg. Jesus blickt ihnen nach, dann schaut er die Apostel an und sagt: “Und jetzt warten wir hier auf Judas des Simon...” -

“Ah! Du hast also bemerkt, daß er fort gegangen ist!” sagen die anderen erstaunt. “Wir dachten, du hättest es nicht beachtet, denn so viel Volk war da. Und du hast immer gesprochen, zuerst mit dem Jüngling und dann mit den Hirten...”

“Ich habe sofort bemerkt, daß er sich entfernt hat. Nichts entgeht mir. Deshalb bin ich in die Häuser der Freunde gegangen und habe dort gesagt, man solle Judas nach Bethanien schicken, wenn er nach mir fragt...” - “Wollte Gott, daß er es nicht tut”, knurrt der andere Judas grantig. Jesus blickt ihn an, scheint jedoch dem Satz keine Bedeutung beizumessen und spricht weiter zu allen, da er sieht, daß alle der Ansicht des Thaddäus sind - manchmal drücken Gesichter mehr aus als Worte.

“Diese Ruhe in Erwartung seiner Rückkehr wird gut sein und uns bekommen. Dann werden wir nach Tekoa gehen. Es ist recht frisch, aber der Himmel heitert sich auf. Ich will in dieser Stadt die Frohe Botschaft verkünden, und danach werden wir wieder an Jericho vorbei hinaufsteigen und den Fluß überqueren. Die Hirten haben mir gesagt, daß viele Kranke mich suchen, und ich habe ihnen sagen lassen, daß sie nicht die Mühen der Reise auf sich nehmen, sondern mich in den Orten dort erwarten sollen.” - “Gehen wir also”, seufzt Petrus.

“Gehst du nicht gern zu Lazarus?” fragt Thomas. “Doch, ich gehe gern.” - “Du sagst das in so eigenartigem Ton.” - “Nicht wegen Lazarus, sondern wegen Judas...” - “Du bist ein Sünder, Petrus”, mahnt Jesus. “Ich bin es. Aber er... Judas von Kerijot, der einfach fortläuft, der unverschämt ist, eine Qual für uns alle, oder etwa nicht? ” fährt der unruhige Petrus auf, der sich nicht mehr beherrschen kann.

“Es ist wahr. Aber wenn er es ist, sollst du es nicht auch sein. Keiner von uns soll so sein. Erinnert euch daran, daß Gott einst Rechenschaft von uns fordern wird - ich sage uns, da der Vater diesen Menschen noch vor euch vor allem mir anvertraut hat - was wir zu seiner Rettung getan haben.” - “Und du hast Hoffnung auf Erfolg, Bruder? Ich kann es nicht glauben. Du, das glaube ich sicher, kennst die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft. Daher kannst du dich nicht täuschen in deinem Urteil über diesen Menschen. Und... Aber es ist besser, wenn ich den Rest nicht sage.”

“Wahrlich, schweigen zu können, ist eine große Tugend . Wisse jedoch, daß die mehr oder weniger genaue Kenntnis der Zukunft eines Herzens niemanden der Verpflichtung enthebt, sich bis zuletzt für seine Rettung einzusetzen. Verfalle nicht auch du dem Fatalismus der Pharisäer, die die Ansicht vertreten, daß das, was bestimmt ist, sich erfüllen muß und nichts das Vorherbestimmte verhindern kann . Mit diesem Argument rechtfertigen sie selbst ihre Sünden, und auch das letzte Werk ihres Hasses gegen mich werden sie damit rechtfertigen. Oft wartet Gott auf das Opfer eines Herzens, das seinen Abscheu und seinen Widerwillen, seine berechtige Abneigung überwindet, um eine Seele dem Sumpf zu entreißen, in dem sie versinkt. Ja, ich sage es euch. Oft wartet Gott, der Allmächtige, der alles ist, ab, ob ein Geschöpf, ein Nichts, ein Opfer bringt oder nicht, ein Gebet verrichtet oder nicht, um die Verdammung einer Seele zu besiegeln oder nicht. Es ist nie spät, nie zu spät, um zu hoffen und zu versuchen, eine Seele zu retten . Und ich werde euch Beweise dafür geben. Selbst an der Schwelle des Todes, wenn sowohl der Sünder als auch der um ihn besorgte Gerechte im Begriff sind, die Erde zu verlassen, um vor das erste Gericht Gottes zu treten, kann man immer noch retten oder gerettet werden. Zwischen dem Becher und den Lippen, sagt das Sprichwort, ist immer noch Raum für den Tod. Ich hingegen sage: Zwischen dem sich seinem Ende nähernden Todeskampf und dem Tod ist immer noch Zeit, Verzeihung zu erlangen für uns selbst oder für die, die wir retten wollen.”

Keiner hat etwas zu entgegnen. Jesus ist nun an dem schweren Gartentor angelangt. Er ruft einen Diener herbei, um sich öffnen zu lassen, geht hinein und fragt nach Lazarus . “O Herr! Siehst du? Ich habe gerade Lorbeerblätter, Kampfer, Beeren von Zypressen, andere Blätter und duftende Früchte gepflückt, um sie mit Wein und Harz zu kochen und ein Bad für den Hausherrn zu bereiten. Sein Fleisch verfällt, und der Gestank ist unausstehlich. Du bist gekommen, aber ich weiß nicht, ob man dich zu ihm hineinlassen wird...”

Aus Furcht, daß selbst die Luft Ohren haben könnte, flüstert der Diener ganz leise: “Jetzt, da es sich nicht mehr verheimlichen läßt, daß Wunden vorhanden sind, weisen die Herrinnen alle ab ... aus Furcht... Du weißt... Lazarus ist nur bei wenigen beliebt und viele würden sich aus mancherlei Gründen freuen, wenn... Oh! Laß mich nicht an das denken, was die Angst des ganzen Hauses ist.” - “Sie tun gut daran. Aber fürchtet euch nicht. Dieses Unglück wird euch nicht treffen.”

“Aber... kann er gesund werden? Durch ein Wunder von dir?...”

Er wird nicht geheilt werden. Aber dies wird zur Verherrlichung des Herrn dienen .” Der Diener ist enttäuscht... Jesus, der alle heilt, tut hier nichts!... Aber er äußert seine Gedanken nur durch einen Seufzer. Dann sagt er: “Ich gehe zu den Herrinnen und kündige dich an.”

Die Apostel umgeben Jesus. Sie interessieren sich für das Befinden des Lazarus und sind niedergeschlagen, als Jesus sie aufklärt. Aber da kommen schon die beiden Schwestern . Ihre blühende und verschiedenartige Schönheit scheint beeinträchtigt durch den Schmerz und die Mühen der langen Nachtwachen. Bleich, niedergeschlagen, abgemagert, mit erloschenen Augen, die doch bei beiden einst wie Sterne glänzten, ohne Ringe und Armbänder und in dunkle, aschgraue Gewänder gekleidet, scheinen sie eher Dienerinnen als Herrinnen zu sein. Sie knien in einer gewissen Entfernung von Jesus nieder und bieten ihm als einzigen Gruß ihre Tränen an . Es ist ein ergebenes, stummes Weinen, das wie aus einer inneren Quelle aufsteigt, die nicht versiegen kann. Jesus nähert sich ihnen, doch Martha streckt die Hände aus und flüstert: “Bleib stehen, Herr! Wir fürchten wahrhaftig, schon gegen das Gesetz über den Aussatz verstoßen zu haben. Aber wir können nicht, o Gott, wir können nicht zulassen, daß man mit Lazarus entsprechend den Vorschriften dieses Gesetzes verfährt. Du jedoch nähere dich nicht, denn wir sind unrein, da wir nur noch Wunden berühren. Wir allein. Alle anderen halten wir von ihm fern und alles, was wir brauchen, legt man uns auf die Schwelle, und wir nehmen es und wachen und verbrennen dann alles im Raum neben dem unseres Bruders. Siehst du unsere Hände? Sie sind verbrannt von dem ungelöschten Kalk, den wir für die Gefäße verwenden, die wir den Dienern zurückgeben. Dadurch glauben wir, weniger schuldig zu sein.” Und sie weint.

Maria von Magdala, die bisher geschwiegen hat, seufzt nun ihrerseits schwer: “Wir sollten den Priester rufen. Aber... Ich, ich bin die Schuldigere von beiden, denn ich will es nicht, weil ich glaube, daß es nicht die schreckliche, von Israel verfluchte Krankheit ist. Sie ist es nicht, nein! Aber so viele hassen uns , und sie würden es so nennen. Wegen viel weniger wurde Simon, dein Apostel, für aussätzig erklärt.” - “Du bist weder Priester noch Arzt”, schluchzt Martha.

“Ich bin es nicht. Aber du weißt, was ich getan habe, um sicher zu sein, was ich sage. Herr, ich bin durch das ganze Hinnom-Tal, ganz Schiloach, zu allen Gräbern bei En-Rogel gegangen, als Magd gekleidet, verschleiert , im ersten Licht des Morgens, mit Lebensmitteln, Arzneien, Verbänden und Kleidung bepackt. Und ich habe gegeben, gegeben... Ich sagte, es sei ein Gelübde für den, den ich liebe. Und es war wahr. Ich wollte nur die Wunden der Aussätzigen sehen .

Sie müssen mich für verrückt gehalten haben... Wer will denn schon etwas so Entsetzliches sehen?! Aber nachdem ich meine Gaben am Fuß des Hanges niedergelegt hatte, bat ich sie, ihre Wunden sehen zu dürfen. Und ich habe geschaut, sie oben, ich unten, sie voll Verwunderung, ich erfüllt von Ekel.

Und sie weinten und ich weinte, aber ich schaute, schaute, schaute. Ich schaute die Körper an mit ihren Schuppen, Krusten, Wunden, die zerfressenen Gesichter, die weißen, borstigen Haare, die verfaulten Löcher der Augen, die Wangen, durch die man die Zähne sah, die nackten Schädel auf lebendigen Körpern, die Klauenhände von Ungeheuern, die Füße wie knotige Äste, den Gestank, das Entsetzen, die Fäulnis. Oh! Wenn ich gesündigt habe durch die Anbetung des Fleisches, wenn ich mit Augen, Geruch, Gehör und Gefühl genossen habe, was schön, duftend, harmonisch weich und glatt ist, oh, ich versichere dir, meine Sinne sind nun geläutert durch das Grauen dieses Anblicks. Meine Augen haben beim Betrachten dieser Ungeheuer die verführerische Schönheit des Mannes vergessen, meine Ohren haben beim Hören dieser rauhen, schon nicht mehr menschlichen Stimmen für meine frühere Freude an der Stimme des Mannes gebüßt, mein Fleisch hat geschaudert, mein Geruchssinn war angewidert... und jeglicher Überrest des Kultes meiner selbst ist erstorben; denn ich habe gesehen, was wir nach dem Tod sind... Doch ich habe nun die Gewißheit, daß Lazarus nicht aussätzig ist . Seine Stimme ist nicht gebrochen, sein Haar ist gesund und seine Wunden sind anders! Er ist nicht aussätzig! Nein! Aber Martha betrübt mich, weil sie mir nicht glaubt und Lazarus nicht ermutigt, indem sie ihn überzeugt, daß er nicht unrein ist. Siehst du? Er will dich nicht sehen, obwohl er weiß, daß du hier bist, um dich nicht zu verunreinigen. Die törichten Befürchtungen meiner Schwester berauben ihn auch deines Trostes...!”

Ihre ungestüme Natur läßt sie zornig werden. Doch als sie sieht, daß ihre Schwester in ein untröstliches Weinen ausbricht, beherrscht sie sich sofort. Sie umarmt Martha und küßt sie mit den Worten: “Oh, Martha, verzeih, verzeih mir! Es ist der Schmerz, der mich so ungerecht werden läßt. Meine Liebe zu dir und zu Lazarus möchte euch überzeugen. Meine arme Schwester! Was sind wir doch für arme Frauen!”

Auf! Weint nicht so ! Ihr habt Frieden und gegenseitiges Vertrauen nötig, für euch selbst und für ihn. Lazarus ist übrigens nicht aussätzig, ich sage es euch.”

“Oh, dann komm zu ihm, Herr. Wer kann es besser beurteilen als du, ob er aussätzig ist?” fleht Martha. “Habe ich dir nicht schon gesagt, daß er es nicht ist?” - “Aber wie kannst du das sagen, wenn du ihn nicht siehst?”

“Oh, Martha, Martha! Gott verzeiht dir, weil du leidest und fast von Sinnen bist! Ich habe Mitleid mit dir und werde zu Lazarus gehen. Ich werde seine Wunden aufdecken und...” - “Und ihn heilen!” schreit Martha und springt auf.

Ich habe dir schon andere Male gesagt, daß ich es nicht tun kann ... Aber ich werde euch den Frieden geben zu wissen, daß ihr nicht gegen das Gesetz über die Aussätzigen verstoßen habt. Gehen wir...”

Und er geht als erster auf das Haus zu, wobei er den Aposteln ein Zeichen gibt, ihm nicht zu folgen. Martha eilt voraus, öffnet eine Tür, läuft durch einen Korridor, öffnet eine zweite Tür zu einem kleinen inneren Hof, macht noch einige Schritte und betritt dann ein halbdunkles Zimmer voller Schüsseln, Gefäße, Krüge und Verbandzeug... Ein Gemisch von duftenden Aromen und Verwesungsgeruch dringt in die Nase. Maria öffnet eine weitere Tür auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes und ruft mit einer Stimme, die hell und freudig klingen möchte:

“Der Meister ist da! Er kommt, dir zu sagen, daß ich recht habe, mein Bruder. Auf! Freue dich, denn unsere Liebe und unser Friede kommt!” Und sie neigt sich über den Bruder, richtet ihn auf seinen Kissen auf und küßt ihn, ohne auf den Geruch zu achten, der ihr trotz aller Gegenmittel von diesem Körper voller Wunden entgegenströmt. Während sie noch über ihn gebeugt ist und ihn zurechtmacht, erklingt schon der liebevolle Gruß Jesu in dem dunklen Raum, der sich durch die Gegenwart des erhabenen Sohnes Gottes zu erhellen scheint.

“Meister, hast du keine Angst? Ich bin...” - “Krank! Nicht mehr als das. Lazarus, die so umfassenden und strengen Vorschriften sind gegeben worden aus verständlicher Klugheit. Es ist besser, zu vorsichtig als zu unvorsichtig zu sein in gewissen Fällen,

z. B. bei ansteckenden Krankheiten. Aber deine Krankheit ist nicht ansteckend, mein armer Freund . Du bist nicht unrein, so daß ich nicht gegen die Vorsicht im Interesse der Brüder fehle, wenn ich dich umarme und küsse.”

Und er nimmt seinen abgemagerten Körper in die Arme und küßt ihn.

“Du bist wahrhaft der Friede! Aber du hast mich noch nicht gesehen. Maria, decke diesen Graus auf. Ich bin schon ein Toter, Herr. Ich weiß nicht, wie meine Schwestern dies ertragen können...” Auch ich könnte es nicht ertragen, so erschreckend und abstoßend sind die Wunden entlang den Krampfadern der Beine. Die herrlichen Hände Marias pflegen sie behutsam, während sie mit ihrer wunderbaren Stimme entgegnet: “Deine Wunden sind Rosen für deine Schwestern. Dornige Rosen, nur weil du unter ihnen leidest. Siehst du, Meister? Dies ist kein Aussatz!” - “Nein, es ist keiner. Es ist ein böses Übel, und es verzehrt dich, aber es stellt keine Gefahr dar . Glaube deinem Meister. Decke ihn wieder zu, Maria. Ich habe es gesehen.” - “Und... berührst du ihn wirklich nicht?” seufzt Martha, die die Hoffnung nicht aufgibt. “Besser nicht. Nicht aus Abscheu, sondern um die Wunden nicht zu reizen.” Martha neigt sich, ohne weiter zu drängen, über ein Becken mit Wein oder wohlriechendem Essigwasser und taucht Tücher hinein, die sie dann ihrer Schwester reicht. Stumme Tränen fallen in die rötliche Flüssigkeit... Maria umwickelt die wunden Glieder und breitet wieder die Decken über die Füße, die schon steif und gelblich sind wie die eines Toten.

“Bist du allein?” - “Nein, alle sind bei mir mit Ausnahme des Judas von Kerijot, der in Jerusalem geblieben ist und noch kommen wird... Wenn ich also schon fern sein sollte, so schickt ihn nach Betabara. Ich werde dort sein. Und er soll mich dort erwarten.” - “So gehst du gleich wieder fort...” - “Und bald werde ich zurückkehren, denn bald ist das Tempelweihfest. Und an diesen Tagen werde ich bei dir sein.” - “Werde ich am Lichterfest nicht die Ehre haben, dich...”

“An diesem Tag werde ich in Betlehem sein. Ich möchte die Stätte meiner Geburt wieder sehen...” - “Du bist traurig... Ich weiß es... Oh! Nichts tun zu können!” - “Ich bin nicht traurig. Ich bin der Erlöser... Aber du bist müde. Kämpfe nicht gegen den Schlaf an, mein Freund.” - “Ich habe es dir zu Ehren getan...” - “Schlafe, schlafe. Wir werden uns noch sehen...” Und Jesus zieht sich lautlos zurück.

“Hast du gesehen, Meister?” fragt Martha draußen im Hof. “Ich habe gesehen. Meine armen Jüngerinnen... Ich weine mit euch ... Aber in Wahrheit muß ich euch gestehen, daß mein Herz viel mehr verwundet ist als euer Bruder. Mein Herz wird von Schmerzen gemartert...” Und er schaut sie mit einer so tiefen Traurigkeit an, daß die beiden ihren eigenen Schmerz vergessen, um an dem seinen Anteil zu nehmen. Da sie ihn als Frauen nicht umarmen können, küssen sie seine Hände und sein Gewand und dienen ihm wie liebevolle Schwestern. Sie bedienen ihn in einem kleinen Saal und umgeben ihn mit liebevoller Aufmerksamkeit. Die kräftigen Stimmen der Apostel sind jenseits des Hofes zu hören... alle, außer der des bösen Apostels. Jesus lauscht ihnen und seufzt... Er seufzt und wartet geduldig auf den Flüchtigen.

   Unter 590

“Seht, da sind Maximinus und Sara. Es muß Lazarus sehr schlecht gehen , wenn seine Schwestern dir nicht entgegenkommen!” bemerkt der Zelote. Die beiden eilen herbei und werfen sich zu Boden. Auch ihre Gesichter und selbst die Gewänder haben das bedrückte Aussehen, das der Schmerz und die Mühen bei den Mitgliedern der Familien hinterlassen, in denen man mit dem Tod kämpft. Sie sagen nichts als: “Meister, komm...”; dies aber so betrübt, daß es mehr sagt als eine lange Rede. Sie führen Jesus sofort zur Tür des kleinen Zimmers von Lazarus, während andere Diener sich um die Apostel kümmern.

Auf das leichte Klopfen eilt Martha herbei, öffnet die Tür ein wenig und schaut mit ihrem abgemagerten und bleichen Antlitz durch den Spalt: “Meister! Oh, komm, Gesegneter!” Jesus tritt ein, geht durch einen Vorraum und begibt sich in das Zimmer des Kranken. Lazarus schläft . Lazarus? Ein Skelett, eine gelbgraue Mumie, die noch atmet... Sein Gesicht ist schon fast ein Knochengesicht, und im Schlaf ist der Verfall noch deutlicher sichtbar, der es zum Totenkopf werden läßt. Die wächserne, gespannte Haut glänzt an den scharfen Kanten der Backenknochen und des Kiefers, auf der Stirn und um die so tiefen Augenhöhlen, daß keine Augen mehr darin zu sein scheinen. Die spitze Nase scheint übermäßig gewachsen durch das gänzliche Abmagern der Wangen. Die Lippen sind so blaß, daß sie fast nicht mehr zu erkennen sind, und es scheint, als könnten sie sich nicht mehr schließen über den beiden halb entblößten Zahnreihen des geöffneten Mundes... Ein Bild des Todes . Jesus beugt sich nieder und schaut ihn an. Dann richtet er sich wieder auf. Er blickt auf die beiden Schwestern, die ihn ihrerseits mit ihrer ganzen Seele in den Augen ansehen, der schmerzerfüllten Seele, der hoffnungsvollen Seele.

Er gibt ihnen ein Zeichen und geht geräuschlos hinaus in den kleinen Hof, der vor den beiden Zimmern liegt. Martha und Maria folgen ihm und schließen die Tür hinter sich. Sie sind allein, die drei zwischen den vier Mauern mit dem blauen Himmel über den Häuptern, und schauen sich an. Die Schwestern sind nicht mehr fähig, ihn um etwas zu bitten, sie bringen nicht einmal ein Wort heraus. Doch Jesus spricht: “Ihr wißt, wer ich bin. Ich weiß, wer ihr seid. Ihr wißt, daß ich euch liebe. Ich weiß, daß ihr mich liebt. Ihr kennt meine Macht . Ich kenne euren Glauben an mich. Ihr wißt auch, besonders du, Maria, daß man um so mehr erhält, je mehr man liebt. Es ist Liebe, wenn man über alle Maßen hoffen und glauben kann, und trotz einer Wirklichkeit, die den Glauben und die Hoffnung sinnlos erscheinen läßt. Nun, und aufgrund alles dessen sage ich euch: Wißt zu hoffen und zu glauben trotz des Widerspruchs der Wirklichkeit . Versteht ihr mich?

Ich sage: Wißt zu hoffen und zu glauben trotz aller widersprechenden Wirklichkeit . Ich kann mich nur wenige Stunden aufhalten. Der Allerhöchste weiß, wie sehr ich als Mensch hier bleiben möchte, hier bei euch, um ihm beizustehen und ihn zu trösten, um euch beizustehen und euch zu stärken. Aber als Sohn Gottes weiß ich um die Notwendigkeit, daß ich gehe... Daß ich mich entferne... um nicht hier zu sein, wenn... ihr nach mir verlangen werdet, mehr als nach der Luft, die ihr atmet. Eines Tages, bald, werdet ihr die Gründe verstehen, die euch jetzt grausam erscheinen mögen . Es sind göttliche Gründe, schmerzlich für mich als Mensch, ebenso wie für euch. Schmerzlich jetzt, da ihr noch nicht ihre ganze Schönheit und Weisheit erfassen und betrachten könnt; noch ich sie euch enthüllen kann. Wenn alles erfüllt ist, werdet ihr verstehen und euch freuen... Hört. Wenn Lazarus... gestorben ist... Weint nicht so!... Dann laßt mich sofort rufen . Inzwischen bereitet ihr ein Begräbnis mit vielen Einladungen vor, wie es sich für Lazarus und euer Haus gebührt. Er ist ein großer Mann Judäas. Wenige schätzen ihn um dessentwillen, was er ist. Aber er überragt viele in den Augen Gottes... Ich lasse euch wissen, wo ich bin, so daß ihr mich immer finden könnt.”

“Aber warum wirst du nicht wenigstens in jenem Augenblick hier sein? Wir ergeben uns, ja, in seinen Tod... Aber du... Aber du... Aber du...” Martha schluchzt, kann nicht mehr sprechen und erstickt ihr Weinen in ihrem Gewand ... Maria hingegen schaut Jesus fest, sehr fest, wie hypnotisiert, an ... und weint nicht. “Wißt zu gehorchen, wißt zu glauben, zu hoffen... Wißt Gott gegenüber immer „Ja“ zu sagen... Lazarus ruft euch... Geht. Ich werde gleich kommen... Und wenn ich keine Gelegenheit mehr haben sollte, mit euch allein zu sprechen, so erinnert euch an das, was ich euch gesagt habe.” Und während die Frauen schnell ins Haus zurückkehren, setzt sich Jesus auf ein steinernes Bänkchen und betet...

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Die Juden im Haus des Lazarus - 595

Eine zahlreiche Gruppe Juden zieht auf edlen Pferden mit großem Pomp in Bethanien ein. Es sind Schriftgelehrte und Pharisäer, sowie einige Sadduzäer und Herodianer, die ich schon früher einmal gesehen habe, wenn ich nicht irre beim Festmahl im Haus des Chuza, als sie Jesus versuchen wollten, sich zum König ausrufen zu lassen. Diener folgen der Gruppe zu Fuß. Die Reiter durchqueren langsam das Städtchen, und die auf dem harten Boden klappernden Hufe, das Klirren der Geschirre und die Stimmen der Männer locken die Bewohner aus ihren Häusern. Sie blicken sichtlich erstaunt auf die Vorbeireitenden, verneigen sich tief zum Gruß und richten sich dann wieder auf, um flüsternde Gruppen zu bilden. “Habt ihr gesehen?” - “ Alle Synedristen von Jerusalem !” - “Nein, Josef vom Ältestenrat, Nikodemus und andere waren nicht dabei!” - “Und die bekanntesten Pharisäer.” - “Und die Schriftgelehrten.” - “Und wer war jener auf dem Pferd?” - “Gewiß gehen sie zu Lazarus.” - “Er muß im Sterben liegen.”

“Ich kann nicht verstehen, warum der Meister nicht hier ist.” - “Was willst du, die von Jerusalem versuchen ihn doch umzubringen!” - “Du hast recht. Sicher kommen diese Schlangen, die gerade vorbei geritten sind, nachsehen, ob der Rabbi dort ist.” - “Gott sei gepriesen, daß er nicht da ist!” - “Weißt du, was sie auf dem Markt von Jerusalem meinem Mann gesagt haben? Wir sollten uns bereithalten, da er sich bald zum König ausrufen lassen wird und wir ihm dann alle helfen müssen... Wie haben sie gesagt? Ach! Ein Wort, das soviel bedeutet, als wenn ich sagen würde, daß ich alle aus dem Haus jage und mich selbst zur Herrin mache...” - “Ein Komplott...? Eine Verschwörung...? Ein Aufstand...?” fragen und mutmaßen sie. Ein Mann sagt: “Ja, das haben sie auch mir gesagt. Aber ich glaube nicht daran.” - “Immerhin, es sind Jünger des Rabbi, die das sagen...!” “Hm... Daß der Rabbi Gewalt anwendet und den Tetrarchen absetzt, daß er einen Thron an sich reißt, der, ob rechtens oder nicht, den Herodianern gehört, das glaube ich nicht. Du tätest gut daran, Joachim zu sagen, daß er nicht alles glauben soll, was er hört...”

“Aber weißt du, daß alle, die ihm helfen, auf Erden und im Himmel belohnt werden? Ich wäre sehr glücklich, wenn mein Mann unter ihnen wäre. Ich habe viele Kinder, und das Leben ist schwer. Wenn er ein Diener des Königs von Israel werden könnte...” - “Höre, Rahel, ich halte es für besser, mich um meinen Garten und meine Datteln zu kümmern. Wenn er selbst es mir sagen würde... oh, dann würde ich alles zurücklassen und ihm folgen. Aber solange es andere sagen...”

“Aber es sind doch seine Jünger.” - “Ich habe sie nie bei ihm gesehen, und außerdem... Nein. Sie spielen sich als Lämmer auf, haben aber Spitzbubengesichter, die mich gar nicht überzeugen .” - “Das ist wahr. Seit einiger Zeit geschehen eigenartige Dinge, und immer heißt es, daß es die Jünger des Rabbi seien, die da handeln. Am Vortag des vergangenen Sabbat mißhandelten einige von diesen eine Frau, die Eier auf den Markt brachte, und sagten zu ihr: „Wir wollen deine Eier im Namen des galiläischen Rabbi!” - “Und du glaubst, daß er so etwas verlangen könnte? Er, der nur gibt und nicht nimmt? Er, der unter den Reichen leben könnte und es vorzieht, bei den Armen zu sein? Er, der seinen Mantel hergibt, wie es die geheilte Aussätzige allen erzählt hat, der Jakobus begegnet ist?”

Ein anderer Mann, der sich zu der Gruppe gesellt und zugehört hat, sagt: “Du hast recht. Und diese andere Sache, die man auch noch erzählt? Daß der Rabbi großes Unheil über uns bringen wird, weil die Römer uns alle bestrafen werden wegen des Aufruhrs, den er unter den Leuten stiftet? Glaubt ihr daran? Ich sage - und ich irre mich sicher nicht, denn ich bin alt und kenne mich in der Welt aus - ich glaube, daß sowohl die, die uns armen Leuten weismachen wollen, daß der Rabbi mit Gewalt den Thron an sich reißen und dann auch die Römer verjagen will - ach, wenn es nur so wäre...! wenn es möglich wäre, dies zu tun - als auch die, die in seinem Namen Gewalt anwenden und uns aufwiegeln durch Versprechen künftigen Gewinns, ebenso wie die, die uns dazu bringen wollen, den Meister zu hassen als einen gefährlichen Menschen, der Unglück über uns bringen wird; ich meine, daß sie alle Feinde des Meisters sind, die ihm schaden wollen, um selbst herrschen zu können . Glaubt ihnen nicht! Glaubt nicht den falschen Freunden der armen Leute! Habt ihr gesehen, wie hochmütig sie vorüber geritten sind? Mich hätten sie beinahe verprügelt, weil ich Mühe hatte, die Schafe, die ihnen den Weg versperrten, in das Gehege zu treiben... Und diese sollen unsere Freunde sein? Niemals! Sie saugen uns das Blut aus und - Gott möge es verhüten - auch ihm.”

“Du wohnst doch bei den Feldern des Lazarus.Weißt du vielleicht, ob er schon gestorben ist?” - “Nein, er ist noch nicht gestorben. Er schwebt zwischen Leben und Tod... Ich habe mich bei Sara erkundigt, die Kräuter für die Waschungen gesammelt hat.” - “Aber weshalb sind sie dann gekommen?” - “Hm... Sie haben sich das Haus von allen Seiten angeschaut, von hinten, von der Seite, sind auch um das Haus des Aussätzigen herumgegangen und dann in Richtung Betlehem weiter geritten.”

“Ich habe es doch gesagt! Sie wollten sehen, ob der Rabbi da ist ; um ihm Böses anzutun. Weißt du, was es für sie bedeutet, ihm etwas Böses antun zu können? Und noch dazu im Haus des Lazarus? Sag, Natan... Dieser Herodianer, war er nicht früher der Liebhaber von Maria des Theophilus? ” - “Er war es. Vielleicht wollte er sich auf diese Weise an Maria rächen...”

Ein Knabe kommt gerannt. Er schreit: “Wie viele Leute im Haus des Lazarus! Ich kam soeben mit Levi, Markus und Jesaja vom Bach, und wir haben sie gesehen. Die Diener haben ihnen das Tor geöffnet und die Reittiere abgenommen. Und Maximinus ist den Juden entgegengeeilt, und auch andere sind mit tiefen Verbeugungen herbeigelaufen. Dann sind Martha und Maria mit ihren Dienerinnen zur Begrüßung aus dem Haus gekommen. Wir hätten gern noch mehr gesehen, aber da haben sie das Tor geschlossen, und alle sind ins Haus gegangen...”

Der Junge ist ganz erregt über die Nachricht, die er bringt, über das, was er gesehen hat... Die Leute machen ihre Bemerkungen.

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Die Juden bei Martha und Maria - 596

Wenngleich durch Schmerz und Anstrengung erschöpft, ist Martha doch immer die Frau, die es versteht, zu empfangen, zu bewirten und Ehre zu erweisen mit jener vollkommenen Vornehmheit einer wahren Dame. So erteilt sie jetzt, nachdem sie die Gesellschaft in einen der Säle geleitet hat, Anweisungen, damit den Gästen die üblichen Erfrischungen angeboten und sie mit allem versorgt werden, was ihnen zur Erquickung dienen kann. Die Diener gehen umher, schenken warme Getränke oder vortrefflichen Wein ein und bieten herrliche Früchte an, gelbe Datteln wie Topase, getrocknete Weinbeeren von wundervollen, makellosen Trauben, die an unsere Rosinen erinnern, und flüssigen Honig, alles in Amphoren, Kelchen, Tellern und kostbaren Schüsseln. Und Martha wacht aufmerksam über alles, damit auch niemand vernachlässigt wird. Vielmehr läßt sie die Diener die Speisen entsprechend dem Alter und vielleicht auch entsprechend den individuellen Wünschen jedes Einzelnen, die ihr wohl bekannt sind, anbieten. So hält sie einen Diener zurück, der sich soeben Hilkija mit einem gefüllten Weinkrug und einem Kelch nähert: “Tobias, keinen Wein, sondern Honigwasser und Dattelsaft.” Und zu einem anderen sagt sie: “Johannes zieht gewiß den Wein vor. Biete ihm den weißen von der Spätlese an.”

Und ganz persönlich bringt sie dem alten Schriftgelehrten Hananja heiße Milch, die sie reichlich mit goldgelbem Honig süßt, während sie sagt: “Dies wird deinen Husten lindern! Du hast dir an diesem kalten Tag die Mühe gemacht, hierher zu kommen, obwohl du leidend bist. Ich bin gerührt, euch so eifrig zu sehen.” - “Es ist unsere Pflicht, Martha. Eucheria stammte aus unserem Geschlecht . [Die Mutter Lazarus, Marias und Marthas.] Eine echte Jüdin, die uns allen Ehre machte.” - “Dein Gedenken an meine geliebte Mutter ehrt und rührt mich zutiefst. Ich werde Lazarus diese Worte wiederholen.”

“Aber wir wollen ihn selbst grüßen. Einen so guten Freund!” sagt falsch wie immer Hilkija, der hinzugekommen ist. “Ihn grüßen? Das ist nicht möglich. Er ist zu sehr erschöpft.” - “Oh, wir werden ihn nicht stören. Nicht wahr, ihr alle? Es genügt uns ein Lebewohl von der Schwelle seines Zimmers aus...” sagt Felix. “Ich kann nicht, ich kann wirklich nicht. Nikomedes [der Arzt] hat jede Anstrengung und Aufregung verboten.” - “Ein Blick auf den sterbenden Freund kann ihn nicht töten, Martha”, sagt Callascebona. “Zu sehr würde es uns schmerzen, ihn nicht gegrüßt zu haben.” Martha ist erregt und zögert. Sie schaut zur Tür, ob nicht vielleicht Maria ihr zu Hilfe kommt. Aber Maria ist nicht da. Die Juden bemerken diese Erregung, und Zadok, der Schriftgelehrte, sagt zu Martha: “Man könnte meinen, daß unser Kommen dich beunruhigt hat, Frau...”

“Nein, nein, gewiß nicht. Aber habt Verständnis für meinen Schmerz. Seit Monaten lebe ich an der Seite eines Sterbenden und... ich kann nicht... Ich kann mich nicht mehr wie früher bei den Festen benehmen...”

“Oh, dies ist kein Fest! Wir wollten nicht einmal, daß du uns mit solchen Ehren empfängst! Aber vielleicht... vielleicht willst du uns etwas verbergen und läßt uns deshalb Lazarus nicht sehen, läßt uns nicht in sein Zimmer. Ja, ja, wer weiß! Aber hab keine Angst! Das Zimmer eines Kranken ist eine heilige Zufluchtsstätte für wen auch immer, glaube mir...” sagt Hilkija. “Es gibt im Zimmer meines Bruders nichts zu verbergen. Nichts ist dort versteckt. Das Zimmer beherbergt nur einen Sterbenden, dem man aus Mitleid jede quälende Erinnerung ersparen sollte”, sagt mit ihrer herrlichen, dem Klang einer Orgel gleichenden Stimme Maria , die auf der Schwelle erscheint und den Purpurvorhang mit der Hand beiseite schiebt.

Und du, Hilkija, und ihr alle seid quälende Erinnerungen für Lazarus !” - “Maria!” seufzt Martha bittend, um sie zum Schweigen zu bringen. “Nichts, Schwester. Laß mich reden...” Sie wendet sich den anderen zu: “Und um euch jeden Zweifel zu nehmen, soll einer von euch - so wird es nur eine schmerzvolle Erinnerung an die Vergangenheit, die zurückkehrt, sein - mit mir kommen, wenn der Anblick und der Geruch eines Sterbenden ihn nicht abstößt und der Gestank des verfallenden Fleisches ihm nicht Übelkeit bereitet.” - “Und du... bist du nicht selbst eine schmerzliche Erinnerung?” fragt spöttisch der Herodianer, den ich schon einmal, ich weiß nicht wo, gesehen habe, wobei er aus seiner Ecke kommt und sich vor Maria stellt. Martha stöhnt. Maria hat den Blick eines erregten Adlers. Ihre Augen blitzen.

Sie richtet sich stolz auf, vergißt die Müdigkeit und den Schmerz, die sie gebeugt haben, und sagt mit dem Ausdruck einer gekränkten Königin: “ Ja, auch ich bin eine Erinnerung. Aber keine schmerzliche, wie du sagst. Ich bin die Erinnerung an Gottes Barmherzigkeit ... Und bei meinem Anblick stirbt Lazarus in Frieden, denn er weiß, daß er seinen Geist in die Hände der unendlichen Barmherzigkeit zurückgibt.” - “Ha, ha, ha! So hast du nicht gesprochen in alten Zeiten! Deine Tugend! Die kannst du nur jemandem vor Augen stellen, der dich nicht kennt...”

“Aber nicht dir, nicht wahr? Gerade dir stelle ich sie vor Augen, um dir zu zeigen, daß man so wird wie die, mit denen man verkehrt. Früher bin ich zu meinem Unglück mit dir verkehrt und war so wie du. Nun verkehre ich mit dem Heiligen und werde ehrbar...” - “Trümmer kann man nicht wiederherstellen, Maria.” - “In der Tat, die Vergangenheit: du, ihr alle, ihr könnt sie nicht wiederherstellen. Ihr könnt nicht wiederherstellen, was ihr zerstört habt. Du nicht, den ich verabscheue. Ihr nicht, die ihr in der Zeit des Schmerzes meinen Bruder beleidigt habt und euch jetzt in übler Absicht als seine Freunde ausgebt.”

“Oh, du bist kühn, Frau! Der Rabbi mag dir viele Teufel ausgetrieben haben, aber sanftmütig hat er dich nicht gemacht!” sagt ein etwa Vierzigjähriger. “Nein, Jonatan Ben-Hannas. Er hat mich nicht schwach gemacht, sondern stärker. Er hat mir die Kühnheit eines ehrbaren Menschen gegeben, der wieder ehrbar werden wollte und alle Bindungen an die Vergangenheit gelöst hat, um sich ein neues Leben aufzubauen. Auf! Wer kommt mit zu Lazarus?”

Sie ist gebieterisch wie eine Königin und beherrscht sie alle mit ihrer Offenheit, die auch kein Selbstmitleid kennt. Martha hingegen ist verängstigt. Mit Tränen in den Augen blickt sie flehentlich Maria an, um sie zum Schweigen zu bringen. “Ich werde kommen”, sagt mit dem Seufzer eines Opfers Hilkija, der immer falsch wie eine Schlange ist. Sie gehen zusammen hinaus.

Die anderen wenden sich Martha zu: “Deine Schwester...! Immer derselbe Charakter. Sie sollte nicht so sein. Für so vieles müßte sie um Verzeihung bitten”, sagt Uriël , der Rabbi, den ich in Gischala gesehen habe und der dort Steine auf Jesus geworfen hat . Marthas Kräfte kehren bei dem Peitschenhieb dieser Worte zurück und sie entgegnet: “Gott hat ihr verziehen, und jede andere Verzeihung hat nach der seinen keine Bedeutung mehr. Ihr jetziges Leben ist ein Beispiel für die Welt...”

Doch der Mut verläßt Martha gleich wieder, und sie schluchzt unter Tränen: “Ihr seid grausam! Gegen sie... und gegen mich... Ihr habt kein Mitleid, weder mit unserem vergangenen noch mit unserem gegenwärtigen Schmerz. Warum seid ihr gekommen? Um zu beleidigen und zu verletzen?

“Nein, Frau. Nein. Einzig und allein, um den großen Juden zu grüßen, der im Sterben liegt. Aus keinem anderen Grund. Keinem anderen. Du darfst unsere guten Absichten nicht mißverstehen. Wir haben durch Josef und Nikodemus von der Verschlechterung seines Zustandes erfahren und sind gekommen... wie sie, die beiden guten Freunde des Rabbi und des Lazarus. Warum wollt ihr uns anders behandeln, uns, die wir wie sie den Rabbi und Lazarus lieben? Ihr seid ungerecht. Willst du etwa behaupten, daß sie, und auch Johannes, Eleasar, Philippus, Josua und Joachim nicht gekommen sind, um sich nach Lazarus zu erkundigen, und daß auch Manaen nicht gekommen ist...?” - “Ich behaupte gar nichts. Ich staune nur, daß ihr alles so genau wißt. Ich dachte nicht, daß ihr auch das Innere der Häuser überwacht .Ich wußte nicht, daß es außer den 613 Vorschriften noch eine neue gibt, die besagt, die privaten Angelegenheiten der Familien auszuforschen und auszuspionieren ... Oh, verzeiht! Ich beleidige euch. Der Schmerz beraubt mich der Sinne, und ihr vergrößert ihn noch.”

“Oh, wir verstehen dich, Frau! Und da wir angenommen haben, daß ihr wie von Sinnen seid, sind wir gekommen, um euch einen guten Rat zu geben. Laßt den Meister holen. Auch gestern sind wieder sieben Aussätzige gekommen, um den Herrn zu preisen, da der Rabbi sie geheilt hat. Ruft ihn doch auch für Lazarus!” - “Mein Bruder ist nicht aussätzig”, schreit Martha außer sich. “Deshalb wolltet ihr ihn sehen? Dazu seid ihr gekommen? Nein, er ist nicht aussätzig! Seht meine Hände an. Seit Jahren pflege ich ihn und habe keinen Aussatz an mir. Meine Haut ist gerötet von den Essenzen, aber ich habe keinen Aussatz. Ich habe nicht...”

“Friede! Beruhige dich, Frau. Wer behauptet denn, daß Lazarus aussätzig ist? Und wer verdächtigt euch einer so schrecklichen Sünde wie der, einen Aussätzigen zu verbergen? Glaubst du denn, daß wir euch ungeachtet eurer Macht nicht bestraft hätten, wenn ihr gesündigt hättet? Wir achten weder des Vaters noch der Mutter, weder der Gattin noch der Kinder, wenn es gilt, den Vorschriften Gehorsam zu verschaffen. Das versichere ich dir. Ich, Jonatan des Uziel.”

“Aber gewiß! So ist es! Und jetzt sagen wir dir, weil wir es gut mit dir meinen und weil wir deine Mutter geliebt haben und Lazarus lieben: Laßt den Meister rufen. Du schüttelst den Kopf? Willst du damit sagen, daß es schon zu spät ist? Wie? Hast du kein Vertrauen zu ihm, du, Martha, die treue Jüngerin? Das ist schlimm! Beginnst auch du schon an ihm zu zweifeln?” sagt Archelaos. “Du lästerst, Schrift- gelehrter! Ich glaube an den Meister als an den wahren Gott!” - “Warum willst du es dann nicht versuchen? Er hat Tote auferweckt... Man sagt wenigstens so... Vielleicht weißt du nicht, wo er ist? Wenn du willst, suchen wir ihn für dich, helfen wir dir...” schlägt Felix vor. “Aber nein! Im Haus des Lazarus weiß man gewiß, wo der Rabbi ist. Sage es offen, Frau, und wir brechen sofort auf, suchen ihn und bringen ihn zu dir. Und dann werden wir alle Zeugen des Wunders sein und uns mit dir, mit euch allen freuen”, sagt der Versucher Zadok.

Martha ist unsicher geworden und erliegt beinahe der Versuchung nachzugeben. Die anderen drängen, während sie sagt: “Wo er ist, weiß ich nicht... wirklich nicht... Er ist vor einigen Tagen aufgebrochen und hat sich verabschiedet wie einer, der für lange Zeit fortgeht. Es wäre mir ein großer Trost, wenn ich wüßte, wo er ist... Wenn ich es wenigstens wüßte... Aber ich weiß es wirklich nicht...” - “Arme Frau! Aber wir werden dir helfen... Wir werden ihn zu dir bringen”, sagt Kornelius.

“Nein, das ist nicht nötig! Der Meister... Ihr sprecht doch von ihm, nicht wahr? Der Meister hat gesagt, wir sollen hoffen wider alle Hoffnung, und auf Gott allein. Und wir tun es ...” ruft Maria aus, die gerade mit Hilkija zurückkehrt. Dieser läßt sie sofort stehen und unterhält sich gebeugt mit drei Pharisäern. “Aber er stirbt doch, wie ich höre!” sagt einer von ihnen, nämlich Doras. “Und? Soll er sterben! Ich werde mich dem Beschluß Gottes nicht widersetzen und dem Rabbi gehorsam sein.” - “Worauf willst du nach dem Tod noch hoffen? Du bist völlig von Sinnen!” spottet der Herodianer. “Worauf? Auf das Leben!” Die Stimme ist ein Schrei bedingungslosen Glaubens. “Auf das Leben? Ha, ha! Sei ehrlich. Du weißt, daß vor einem echten Toten seine Macht nichtig ist, und in deiner törichten Liebe zu ihm willst du das verbergen.” - “ Hinaus mit euch allen ! Es wäre Marthas Aufgabe, euch hinauszuwerfen, aber sie fürchtet euch. Ich fürchte nur, Gott zu beleidigen, der mir verziehen hat. Daher tue ich es an Marthas Stelle. Geht alle! Es ist kein Platz in diesem Haus für solche, die Jesus Christus hassen . Hinaus! Kehrt in eure finsteren Höhlen zurück! Alle hinaus! Oder ich lasse euch durch die Diener hinauswerfen wie einen Haufen schmutziger Landstreicher.”

Sie ist großartig in ihrem Zorn . Die Juden machen sich aus dem Staub, und ihre ganze Feigheit zeigt sich hier, vor dieser Frau. Dieser Frau, die aber auch wirklich einem zürnenden Erzengel gleicht... Der Saal leert sich, und der Blick Marias ist für jeden der an ihr Vorübergehenden ein caudinisches Joch*, unter das sich der Hochmut der besiegten Juden beugen muß, während einer nach dem anderen die Schwelle überschreitet. Endlich ist der Saal leer. *321 vor Christus besiegten die Samniten die Römer bei Caudium. Die Truppen Roms wurden durch das Joch, ein aus drei Lanzen gebildetes niedriges Tor, geschickt. Das bedeutete eine Entehrung.

Martha sinkt auf den Teppich und bricht in Tränen aus. “Warum weinst du, Schwester? Ich sehe keinen Grund dazu...” - “ Oh, du hast sie beleidigt... und sie haben dich... sie haben uns beleidigt... und jetzt werden sie sich rächen ... und...” - “ So schweig doch, du dummes Frauenzimmer ! An wem sollen sie sich denn rächen? An Lazarus? Erst müssen sie sich beraten, und bevor sie etwas beschlossen haben... Oh! An einem Gulal rächt man sich nicht! Und an uns?... Haben wir denn ihr Brot zum Leben nötig? Unseren Besitz werden sie nicht anrühren. Rom hält seine Hand schützend darüber. Wie also? Und wenn sie es auch tun könnten, sind wir beide denn nicht jung und kräftig? Können wir nicht arbeiten? Ist Jesus vielleicht nicht arm? Ist unser Jesus denn nicht selbst ein Arbeiter gewesen? Würden wir ihm nicht ähnlicher sein, wenn wir arm wären und arbeiten würden? Freue dich doch, arm zu werden! Hoffe darauf! Bitte Gott darum!” - “Aber was sie zu dir gesagt haben...” - “Ha, ha! Was sie zu mir gesagt haben, ist die reine Wahrheit. Ich selbst sage sie. Ich bin eine Unreine gewesen. Doch nun bin ich das Lamm des Hirten! Und die Vergangenheit ist tot. Auf, gehen wir zu Lazarus.”

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Martha läßt den Meister benachrichtigen - 597

Ich befinde mich noch im Haus des Lazarus und sehe, daß Martha und Maria einen schon etwas älteren Mann sehr würdevollen Aussehens in den Garten begleiten, der, ich würde sagen, kein Hebräer ist, da sein Gesicht glatt rasiert ist wie bei den Römern. In einiger Entfernung vom Haus fragt ihn Maria: “Nun, Nikomedes ? Was sagst du zu unserem Bruder? Wir halten ihn für sehr... krank... Sprich.”

Der Mann breitet in einer Geste des Bedauerns die Arme aus, gleichsam als Bestätigung der Hoffnungslosigkeit des Falles, bleibt stehen und sagt: “Er ist schwer krank. Ich habe euch nie darüber im unklaren gelassen, seit ich ihn in Behandlung genommen habe. Ich habe alles versucht, ihr wißt es, aber es hat nichts genützt. Ich habe gehofft... ja, ich habe gehofft, daß er wenigstens am Leben bleiben und der Entkräftung durch die Krankheit widerstehen würde durch die gute Ernährung und die Herzmittel, die ich zubereitet habe. Ich habe es auch mit Giften versucht, die das Blut vor der Zersetzung bewahren und seine Kräfte erhalten sollten, entsprechend der alten Schule der großen Meister der Medizin. Aber das Übel ist stärker als die zu seiner Heilung zur Verfügung stehenden Mittel.

Diese Krankheiten sind eine Art Zersetzung. Und wenn sie äußerlich sichtbar werden, ist das Knochenmark schon zerstört. Wie der Saft in einem Baum von der Wurzel bis zum Gipfel steigt, so hat sich hier die Krankheit von den Füßen aus in den ganzen Körper ausgebreitet.” - “Aber es sind doch nur seine Füße krank...” jammert Martha. “Ja, aber das Fieber zerstört dort, wo ihr glaubt, daß alles gesund sei. Seht dieses vom Baum gefallene Zweiglein. Es scheint nur an der Bruchstelle wurmstichig zu sein. Aber seht... (Er zerbröselt es zwischen den Fingern.) Seht ihr? Unter der noch glatten Rinde ist die Fäulnis bis nach oben gedrungen, wo das Ästchen noch gesund zu sein scheint, weil Blätter daran sind. Lazarus... liegt nun im Sterben, bedauernswerte Schwestern!

Der Gott eurer Väter und die Halbgötter unserer Medizin konnten oder wollten nichts tun. Ich spreche von eurem Gott... Und daher... Ja, ich sehe, daß der Tod sich nähert, da auch das Fieber steigt, ein Symptom des Verfalls, der das Blut ergriffen hat; ich sehe es an den unregelmäßigen Herzschlägen und dem Fehlen jeglicher Reaktion des Kranken und seiner Organe auf irgendwelche Reize. Ihr seht... Er kann nicht mehr essen . Er kann nicht mehr das Wenige behalten, das er zu sich nimmt, und was in seinem Magen bleibt, wird nicht verdaut. Es geht dem Ende zu... Und -glaubt einem Arzt , der euch zu Dank verpflichtet ist im Gedenken an euren Vater -das Wünschenswerteste wäre nunmehr der Tod ... Es handelt sich um eine schreckliche Krankheit. Seit Tausenden von Jahren zerstört sie den Menschen, und der Mensch ist nicht imstande, mit ihr fertig zu werden. Nur die Götter könnten helfen, wenn...” Er hält inne, sieht die Schwestern an und reibt sich mit den Fingern das rasierte Kinn. Er denkt nach.

Dann sagt er: “ Warum ruft ihr nicht den Galiläer? Er ist euer Freund. Er kann... denn er vermag alles. Ich habe Leute untersucht, die unheilbar waren und nun gesund sind. Eine eigenartige Kraft geht von ihm aus. Ein geheimnisvolles Fluidum, das belebt, die ungeordneten Abläufe im Körper ordnet und sie zwingt, gesunden zu wollen... Ich verstehe es nicht, aber ich weiß es... denn ich bin ihm gefolgt, habe mich unter das Volk gemischt und wunderbare Dinge gesehen... Ruft ihn. Ich bin ein Heide. Aber ich verehre den geheimnisvollen Wundertäter eures Volkes . Und ich wäre glücklich, wenn er zustande brächte, wozu ich nicht fähig gewesen bin.” - “Er ist Gott, Nikomedes. Daher kann er es. Die Kraft, die du Fluidum nennst, ist sein göttlicher Wille”, sagt Maria.

“Ich lache nicht über euren Glauben. Vielmehr will ich euch ermutigen, ihn ins Unendliche anwachsen zu lassen. Übrigens... liest man, daß die Götter schon andere Male zur Erde herabgestiegen sind. Ich... wollte das nie glauben. Aber nach bestem Wissen und Gewissen als Mensch und Arzt muß ich sagen, daß es so ist, denn der Galiläer wirkt Heilungen, die nur ein Gott wirken kann.”

“Nicht ein Gott, Nikomedes. Der wahre Gott”, berichtigt Maria. “Gut, wie du willst. Ich will an ihn glauben und sein Jünger werden, wenn ich sehe, daß Lazarus aufersteht... Denn nun muß man mehr von Auferstehung als von Heilung sprechen. Ruft ihn also, und schnellstens... denn wenn ich mich nicht täusche, wird Lazarus spätestens am dritten Tag nach dem heutigen sterben. Ich habe gesagt „spätestens“... Es könnte aber auch früher geschehen, jetzt.” - “Oh, könnten wir doch! Aber wir wissen nicht, wo er ist...” sagt Martha. “Ich weiß es. Einer seiner Jünger hat es mir gesagt. Er war auf dem Weg zu ihm, zusammen mit einigen Kranken, von denen zwei zu meinen Patienten gehören. Er ist am anderen Ufer des Jordan, bei der Furt . So hat er gesagt. Ihr kennt den Ort vielleicht besser.”

“Ah, er ist sicher im Haus des Salomon!” sagt Maria. “Ist es sehr weit?” - “Nein, Nikomedes.” - “Dann schickt sofort einen Diener zu ihm und laßt ihm ausrichten, daß er kommen soll. Ich werde später wiederkommen und hier bleiben, um sein Wunder an Lazarus mitzuerleben. Salve, domine. Und vergeßt nicht, euch gegenseitig Mut zu machen.” Er verneigt sich vor ihnen und geht auf den Ausgang zu, wo ihn ein Diener mit seinem Pferd erwartet und ihm das Tor aufhält.

“Was sollen wir tun, Maria?” fragt Martha, nachdem sie den Arzt hat fort reiten sehen. “ Wir gehorchen dem Meister. Er hat befohlen, ihn nach dem Tod des Lazarus rufen zu lassen . Und das werden wir tun...” - “Aber wenn er tot ist... was nützt dann der Meister noch hier? Für unser Herz wird es ein Trost sein, das schon. Aber für Lazarus...? Ich schicke einen Diener und lasse ihn rufen.”

“Nein, du würdest das Wunder vereiteln. Er hat gesagt, wir sollen hoffen und glauben, auch wenn die Situation hoffnungslos erscheint. Und wenn wir dies tun, werden wir das Wunder erleben, dessen bin ich sicher. Wenn wir aber nicht glauben können, dann wird Gott uns unserer Anmaßung, es besser machen zu wollen als er, überlassen und uns nichts gewähren.” - “Aber siehst du denn nicht, wie sehr Lazarus leidet? Hörst du denn nicht, wie er in den Augenblicken, in denen er bei Bewußtsein ist, nach dem Meister verlangt? Hast du denn kein Herz, daß du unserem armen Bruder eine letzte Freude versagen willst? Unser armer Bruder! Bald werden wir keinen Bruder mehr haben! Keinen Vater, keine Mutter und keinen Bruder mehr! Das Haus zerstört, und wir beide allein, wie zwei Palmen in der Wüste.” Martha wird vom Schmerz übermannt und gerät in eine, ich würde sagen, typisch orientalische Nervenkrise: sie wirft sich hin und her, schlägt sich ins Gesicht und rauft sich die Haare. Maria packt sie und befiehlt ihr: “Schweig! Schweig, sage ich dir! Er kann es hören. Ich liebe ihn mehr als du und kann mich beherrschen. Du gleichst einer kranken Frau. Schweig, sage ich dir! Mit solchen Ausbrüchen ändert man das Schicksal nicht und rührt nicht einmal die Herzen .

Und wenn du es tust, um meines umzustimmen, so hast du dich geirrt. Mir bricht das Herz im Gehorsam, aber ich harre in ihm aus.” Martha ergibt sich der Kraft der Schwester und ihren Worten. Sie beruhigt sich einigermaßen und ruft aber in ihrem Schmerz nun jammernd nach der Mutter: “Mutter, o meine Mutter, tröste du mich! Kein Friede ist mehr in mir, seit du tot bist. Wenn du doch hier wärst, Mutter! Wenn die Schmerzen dich nicht getötet hätten! Wenn du hier wärst, dann würdest du uns sagen, was wir tun sollen, und wir würden dir gehorchen zum Wohl aller... Oh...!” Maria wechselt die Gesichtsfarbe, weint lautlos mit angstvollem Gesicht und ringt schweigend die Hände. Martha betrachtet sie und sagt: “Als unsere Mutter im Sterben lag, mußte ich ihr versprechen, daß ich zeitlebens für Lazarus eine Mutter sein würde. Wenn sie hier wäre...”

“Dann würde sie dem Meister gehorchen, denn sie war eine gerechte Frau. Umsonst bemühst du dich, mich umzustimmen. Sage mir nur, daß ich die Mörderin meiner Mutter gewesen bin durch das Leid, das ich ihr zugefügt habe. Ich werde dir sagen: „Du hast recht.“ Aber wenn du mich dazu bringen willst zu sagen, daß du recht tust, den Meister zu rufen, so sage ich dir: „Nein.“ Und ich werde immer „Nein“ sagen. Ich bin sicher, daß die Mutter mir vom Schoß Abrahams aus recht gibt und mich segnet. Gehen wir ins Haus.” - “Ich sage nichts mehr! Ich sage nichts mehr!” - “Alles, alles sollst du sagen! Du hörst dem Meister zu und scheinst aufmerksam zu sein, während er spricht, aber dann erinnerst du dich nicht mehr an seine Worte. Hat er denn nicht immer gesagt, daß Lieben und Gehorchen uns zu Kindern Gottes und Erben seines Reiches macht?

Wie kannst du dann sagen, daß uns nichts mehr bleibt, wenn wir Gott und sein Reich für unsere Treue besitzen werden? Oh! Wahrlich, man muß wie ich schrankenlos gewesen sein im Bösen, um es auch im Guten, im Gehorsam, in der Hoffnung, im Glauben und in der Liebe zu sein, es sein zu können und sein zu wollen...!” “Du läßt es zu, daß die Juden den Meister verspotten und anklagen. Hast du sie vorgestern nicht gehört?” - “Denkst du immer noch an das Gekrächze dieser Raben, an das Kreischen dieser Geier? Laß sie doch ausspucken, was in ihnen ist! Was kümmert dich die Welt? Was ist die Welt im Vergleich zu Gott? Schau: weniger als diese lästige Fliege, die erstarrt oder vergiftet ist, weil sie Schmutz gefressen hat, und die ich jetzt zertrete.” Und sie tritt energisch mit dem Absatz auf eine Bremse, die langsam über den Kies des Weges kriecht. Dann nimmt sie Martha beim Arm und sagt: “Auf. Komm ins Haus und...”

“Lassen wir es den Meister doch wenigstens wissen. Schicken wir jemanden zu ihm, der ihm sagt, daß Lazarus im Sterben liegt, mehr nicht...” - “ Als ob er es nötig hätte, das von uns zu erfahren . Nein, habe ich gesagt. Es ist nutzlos. Er hat gesagt: „Wenn er tot ist, dann laßt es mich wissen.“ Das werden wir tun. Vorher nicht.” - “Niemand, aber auch gar niemand hat Mitleid mit meinem Schmerz! Du am allerwenigsten...” - “Höre auf, so zu weinen. Ich kann es nicht ertragen...” In ihrem Schmerz beißt sie sich in die Lippen, um der Schwester Mut zu machen und nicht selbst zu weinen.

Marcella kommt aus dem Haus gerannt, gefolgt von Maximinus. “Martha, Maria, lauft! Schnell! Lazarus geht es schlecht . Er antwortet nicht mehr...” Die beiden Schwestern eilen ins Haus... und bald darauf hört man die laute Stimme Marias Anweisungen für die nötigen Hilfeleistungen geben. Diener laufen mit Herzmitteln und dampfenden Kesseln mit kochendem Wasser vorbei, man hört sie flüstern und sieht ihre Gesten des Schmerzes... Langsam kehrt nach so viel Aufregung die Ruhe wieder. Man sieht die Diener miteinander reden, nicht mehr so erregt, aber sichtlich ratlos und betrübt, wie ihren Gesprächen zu entnehmen ist.

Die einen schütteln den Kopf. Andere heben den Blick zum Himmel und breiten die Arme aus, als wollten sie sagen: “So ist es nun einmal.” Andere weinen, und wieder andere hoffen immer noch auf ein Wunder. Nun kommt Martha wieder, leichenblaß. Sie schaut hinter sich, um zu sehen, ob ihr jemand folgt.

Sie blickt auf die Diener, die sie ängstlich umringen. Noch einmal dreht sie sich um, ob jemand aus dem Haus kommt und ihr folgt. Dann sagt sie zu einem der Diener: “Du, komm mit mir!” Der Diener löst sich aus der Gruppe und folgt ihr in die Jasminlaube. Martha spricht, den Blick immer auf das Haus gerichtet, das man durch das dichte Geflecht der Zweige sehen kann. “Höre gut zu. Wenn alle Diener wieder hineingegangen sind und ich ihnen Anweisungen gegeben habe, damit sie im Haus beschäftigt sind, dann begib dich in den Stall, nimm eines der schnellsten Pferde und sattle es... Sollte dich jemand dabei beobachten, dann sage, daß du den Arzt holen mußt... Du lügst nicht, und ich lehre dich nicht zu lügen, denn ich schicke dich wahrlich zu dem gesegneten Arzt... Nimm Futter für das Tier und Nahrung für dich selbst mit. Hier hast du auch eine Börse für alles, was du vielleicht brauchst. Geh zum kleinen Tor hinaus und reite über die gepflügten Felder, damit man das Klappern der Hufe nicht hört. Dann schlage den Weg nach Jericho ein und reite im Galopp, ohne je anzuhalten , nicht einmal in der Nacht! Hast du verstanden? Ohne auch nur einen einzigen Halt! Der neue Mond wird dir den Weg erhellen, falls du noch nicht am Ziel bist, wenn es Nacht wird. Bedenke, daß das Leben deines Herrn in deinen Händen liegt und von deiner Schnelligkeit abhängt. Ich verlasse mich auf dich.” - “Herrin, ich will dir dienen wie ein treuer Sklave.” - “Geh zur Furt von Betabara. Überquere sie und reite zum Dorf hinter Bethanien jenseits des Jordan. Weißt du, welches ich meine? Dort, wo Johannes anfangs getauft hat.” - “Ich weiß. Auch ich bin damals hingegangen, um mich zu reinigen.”

“In diesem Dorf ist der Meister. Alle werden dir das Haus zeigen können, in dem er sich aufhält. Aber wenn du statt der Hauptstraße dem Fluß folgst, ist es besser. Du wirst so weniger gesehen und kannst das Haus allein finden. Es ist das erste an der einzigen Straße des Ortes, die von den Feldern zum Fluß führt. Du kannst es nicht verfehlen. Ein niedriges Haus ohne Terrasse oder oberes Zimmer, mit einem Garten, der vom Fluß aus gesehen vor dem Haus liegt. Es ist ein Garten mit einem Gartentor aus Holz und einer Weißdornhecke, glaube ich... auf jeden Fall mit einer Hecke. Hast du verstanden? Dann wiederhole.” Der Diener wiederholt alles geduldig. “So ist es recht. Du bittest, mit ihm sprechen zu dürfen, mit ihm allein, und sagst ihm, daß deine Herrinnen dich schicken, daß Lazarus sehr krank ist und im Sterben liegt, daß wir es nicht länger ertragen und daß Lazarus nach ihm verlangt. Er möge sofort kommen, sofort, um Gotteswillen! Hast du verstanden?” - “Ich habe verstanden, Herrin.” - “Danach kehrst du sogleich zurück, damit hier niemand deine Abwesenheit bemerkt. Nimm eine Fackel mit für die dunklen Stunden. Geh, lauf, galoppiere, gib dem Pferd die Sporen, aber komm bald mit der Antwort des Meisters zurück!”

“Ich werde es tun, Herrin.” - “Geh, geh! Siehst du? Sie sind schon alle im Haus. Geh sofort. Niemand wird dich bei den Vorbereitungen sehen. Ich selbst werde dir etwas zu essen bringen. Geh! Ich werde es auf die Schwelle des kleinen Tores legen. Geh! Und Gott sei mit dir... Geh!” Sie drängt ihn voller Unruhe und läuft dann eiligst, aber sehr vorsichtig ins Haus. Bald darauf verläßt sie es durch eine Hintertür an der Südseite mit einer kleinen Tasche in der Hand, geht an einer Hecke entlang bis zur ersten Öffnung, biegt dort ab und verschwindet...

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Der Tod des Lazarus - 598

Alle Türen und Fenster im Zimmer des Lazarus stehen weit offen, um ihm das Atmen zu erleichtern. Um ihn herum, der im Koma liegt - einem tiefen Koma, das sich vom Tod nur durch die schwache Atembewegung unterscheidet - stehen die beiden Schwestern, Maximinus, Marcella und Noomi, und achten auf jede geringste Bewegung des Sterbenden. Jedesmal, wenn ein Krampf den Mund verzieht und es aussieht, als ob er sprechen wolle, oder wenn die Lider sich einen Spalt öffnen, neigen sich die beiden Schwestern über ihn, um ein Wort oder einen Blick zu erhaschen... Doch es ist vergebliche Mühe. Es sind nur unkontrollierte Bewegungen , unabhängig von Willen und Verstand, die beide nun erstorben sind; Bewegungen, die von den Schmerzen des Fleisches herrühren, ebenso wie der auf dem Antlitz des Sterbenden glänzende Schweiß und das Zittern, das von Zeit zu Zeit die abgemagerten Finger befällt und sie zu Krallen verkrampft.

Die beiden Schwestern rufen ihn immer wieder beim Namen und legen ihre ganze Liebe in ihre Stimme. Aber der Name und die Liebe prallen ab an seinem Unvermögen, etwas wahrzunehmen, und Grabesstille ist die einzige Antwort auf ihr Rufen. Noomi fährt unter Tränen fort, an die sicherlich eiskalten Füße in Wollstreifen gewickelte angewärmte Ziegelsteine zu legen. Marcella hält einen Becher in der Hand, dem sie ein feines Leinenstückchen entnimmt, das Martha benützt, um die trockenen Lippen des Bruders anzufeuchten. Maria trocknet mit einem anderen Linnen den starken Schweiß, der in Strömen über das abgemagerte Antlitz und die Hände des Sterbenden rinnt. Maximinus hat sich neben dem Bett an einen hohen, dunklen Schrank gelehnt und betrachtet, hinter dem Rücken der über den Bruder gebeugten Maria stehend, den Sterbenden. Sonst ist niemand anwesend.

Tiefstes Schweigen herrscht, wie in einem leeren Haus oder an einem verlassenen Ort. Die Dienerinnen, die die heißen Ziegelsteine bringen, gehen barfuß und erzeugen auf dem Marmorboden keinerlei Geräusch. Sie gleichen Spukgestalten.

Plötzlich sagt Maria: “ Mir scheint, die Hände werden wieder warm . Schau, Martha, seine Lippen sind nicht mehr so blutleer.” - “Ja, auch der Atem geht freier. Ich beobachte ihn schon eine Weile”, bemerkt Maximinus. Martha neigt sich über den Bruder und ruft leise, aber mit Nachdruck: “Lazarus! Lazarus! Oh! Schau, Maria, er hat ein wenig gelächelt und die Lider bewegt. Es geht ihm besser, Maria! Es geht ihm besser! Wie spät ist es?” - “Die Vesper ist schon vorbei.” - “Ah!” Martha richtet sich auf, faltet die Hände über der Brust und hebt den Blick zum Himmel, eine Geste stillen, aber vertrauensvollen Gebetes. Ein Lächeln erhellt ihr Gesicht. Die anderen schauen sie erstaunt an, und Maria sagt zu ihr: “Ich verstehe nicht, warum du so glücklich bist, daß die Vesper schon vorbei ist.” Dabei forscht sie argwöhnisch und ängstlich im Gesicht der Schwester. Doch Martha antwortet nicht und nimmt wieder die vorige Stellung ein. Eine Dienerin tritt ein mit Ziegelsteinen, die sie Noomi übergibt. Maria befiehlt ihr: “Bring zwei Lampen! Es wird dunkel, und ich will ihn sehen.” Die Dienerin geht leise hinaus und kehrt kurz darauf mit zwei brennenden Lampen zurück. Eine von ihnen stellt sie auf den Schrank, an den sich Maximinus gelehnt hat, und die andere auf ein Tischchen voller Binden und kleinen Krügen auf der anderen Seite des Bettes.

“Oh, Maria! Maria! Schau, er ist tatsächlich nicht mehr so bleich.” - “Er sieht auch nicht mehr so erschöpft aus. Er kommt wieder zu sich!” sagt Marcella. “ Gebt ihm noch ein paar Tropfen von dem Gewürzwein , den Sara zubereitet hat. Er hat ihm gut getan”, schlägt Maximinus vor. Maria nimmt von dem Schrank einen kleinen Schnabelkrug mit sehr schlankem Hals und träufelt vorsichtig einige Tropfen Wein zwischen die halbgeöffneten Lippen. “Langsam, Maria, damit er nicht erstickt!” rät Noomi. “Oh, er schluckt! Er verlangt danach! Schau, Martha! Schau! Er sucht mit der Zunge danach...” Alle beugen sich über ihn, um besser sehen zu können, und Noomi ruft ihm zu: “Mein Kleinod! Sieh deine Amme an, heilige Seele!” und sie tritt näher, um ihn zu küssen. “Schau! Schau, Noomi, er trinkt deine Tränen. Sie sind auf seine Lippen gefallen, und er hat sie gespürt und geschluckt.” - “Oh, du meine Freude! Hätte ich doch Milch wie einst! Ich würde sie dir Tropfen für Tropfen in den Mund träufeln, mein Lämmlein, und wenn ich mein Herz ausquetschen und dann sterben müßte.”

Ich nehme an, daß Noomi, die Amme Marias, auch die Nährmutter des Lazarus gewesen ist. “Herrinnen, Nikomedes ist zurückgekehrt”, sagt ein auf der Schwelle erscheinender Diener. “Er soll hereinkommen! Er soll hereinkommen! Er wird uns helfen, ihm Linderung zu verschaffen.” - “Schaut! Schaut! Er öffnet die Augen und bewegt die Lippen”, sagt Maximinus. “Er drückt meine Hand mit der seinen!” schreit Maria und beugt sich nieder und sagt: “Lazarus, hörst du mich? Wer bin ich?” Lazarus öffnet tatsächlich die Augen und schaut. Es ist ein unsicherer, verschleierter Blick, aber immerhin ein Blick. Er bewegt auch mühsam die Lippen und sagt: “Mama!” - “Ich bin Maria. Maria, deine Schwester!” - “Mama!”

“Er erkennt dich nicht. Er ruft seine Mutter. Die Sterbenden tun es immer ”, sagt Noomi mit tränenüberströmtem Antlitz. “Aber er spricht! Nach so langer Zeit spricht er endlich. Das ist schon viel... Bald wird es ihm besser gehen. Oh, mein Herr, belohne deine Dienerin!” sagt Martha, wiederum in der Haltung innigen und vertrauensvollen Gebetes. “Aber was hast du denn? Hast du etwa den Meister gesehen? Ist er dir erschienen? Antworte mir, Martha! Nimm mir die Angst!” sagt Maria. Das Eintreten des Nikomedes verhindert die Antwort. Alle wenden sich ihm zu und erzählen ihm, wie sich der Zustand des Lazarus nach seinem Weggang immer mehr verschlechterte bis zu dem Punkt, da sie ihn schon tot glaubten, und wie sie ihn dann mit allen möglichen Mitteln wenigstens wieder zum Atmen brachten. Und wie er seit kurzem, nachdem eine der Frauen einen Gewürzwein zubereitet hatte, wieder warm geworden sei und geschluckt und zu trinken versucht habe, wie er sogar die Augen geöffnet und gesprochen habe... Alle reden sie gleichzeitig in ihrer wieder auflebenden Hoffnung auf den Arzt ein, der sie mit skeptischer Ruhe und ohne ein Wort zu sagen reden läßt.

Endlich sind sie fertig, so daß er zu Wort kommt: “Nun gut. Laßt mich einmal sehen.” Und er geht um sie herum zu dem Lager, wobei er anordnet, daß die Lampen näher gebracht und die Fenster geschlossen werden, da er den Kranken aufdecken will. Er neigt sich über ihn, ruft ihn, stellt ihm Fragen und bewegt die Lampe hin und her vor dem Gesicht des Lazarus, der nun mit offenen Augen daliegt und anscheinend erstaunt um sich blickt; dann nimmt er die Decke weg, prüft den Atem, den Puls, die Temperatur und die Steifheit seiner Glieder... Alle warten sehnsüchtig auf ein Wort von ihm.

Nikomedes deckt den Kranken wieder zu, sieht ihn nochmals an und denkt nach. Dann wendet er sich um, schaut die Anwesenden an und sagt: “Man kann nicht leugnen, daß er wieder etwas zu Kräften gekommen ist. Momentan geht es ihm besser als bei meinem letzten Besuch. Aber macht euch keine falschen Hoffnungen . Es ist nur die scheinbare Besserung vor dem Tod. Ich bin dessen ebenso sicher, wie ich sicher war, daß es dem Ende zugeht. Denn ihr seht, daß ich sofort wiedergekommen bin, nachdem ich meine anderen Pflichten erfüllt hatte, um ihm den Tod weniger schmerzlich zu machen, soweit dies in meiner Macht steht... Oder um das Wunder zu sehen, wenn... Habt ihr vorgesorgt?” - “Ja, ja, Nikomedes!” unterbricht ihn Martha. Und um ihn am Weiterreden zu hindern, sagt sie rasch: “Aber hast du nicht gesagt, daß er innerhalb von drei Tagen... Ich...”

Sie weint. “Ich habe es gesagt. Ich bin Arzt. Ich lebe zwischen Tod und Tränen. Aber der gewohnte Anblick des Schmerzes hat mein Herz noch nicht verhärtet. Und heute... habe ich euch vorbereitet... und euch eine ziemlich lange... und Ungewisse Frist genannt. Aber meine Wissenschaft sagte mir, daß das Ende näher bevorstünde, und mein Herz ließ mich euch aus Mitleid täuschen... Auf! Seid stark... Geht hinaus... Man kann nie wissen, wie viel die Sterbenden verstehen ...” Der Arzt schickt die tränenüberströmten Frauen hinaus und wiederholt: “Seid stark! Seid stark!” Maximinus bleibt bei dem Sterbenden zurück.

Auch der Arzt entfernt sich, um Arzneien zu bereiten, die den Todeskampf mildern sollen, der nach seinen Worten “sehr schmerzlich sein wird”. “Erhalte ihn am Leben! Erhalte ihn am Leben, wenigstens bis morgen! Es ist schon fast Nacht, du siehst es, Nikomedes. Was ist es schon für deine Wissenschaft, ein Leben um weniger als einen Tag zu verlängern? Erhalte ihn am Leben!”

“Domina, ich tue, was ich kann. Aber wenn der Docht zu Ende ist, kann nichts mehr die Flamme erhalten!” antwortet der Arzt und geht. Die beiden Schwestern umarmen sich und weinen untröstlich, und wer nun stärker weint, ist Maria. Die andere hat ihre Hoffnung im Herzen... Die Stimme des Lazarus dringt aus dem Zimmer. Sie ist kräftig, herrisch und erschreckt, denn sie kommt völlig unerwartet nach so viel Schwäche. Lazarus ruft: “Martha! Maria! Wo seid ihr? Ich will aufstehen! Mich anziehen! Ich will dem Meister sagen, daß ich gesund bin! Ich muß zum Meister gehen. Einen Wagen! Rasch! Und ein schnelles Pferd. Ganz gewiß ist er es, der mich geheilt hat.” Er spricht schnell und rhythmisch. Fieberglühend sitzt er im Bett und versucht herauszuspringen. Er wird von Maximinus daran gehindert, der zu den herbeieilenden Frauen sagt: “ Er redet im Delirium .” - “Nein! Laß ihn gehen! Das Wunder! Das Wunder! Oh, ich bin glücklich, der Anlaß zu sein! Gleich nachdem Jesus es erfahren hat! Gott der Väter, sei gelobt und gepriesen für deine Macht und deinen Messias...”

Martha ist auf die Knie gesunken und trunken vor Freude... Lazarus, der immer heftiger fiebert - was aber Martha nicht als die Ursache der ganzen Szene erkennt - spricht inzwischen weiter: “Er ist so oft zu mir gekommen, während ich krank war. Es ist nur recht, daß ich zu ihm gehe und ihm sage: „Ich bin geheilt“ Ich bin geheilt! Ich habe keine Schmerzen mehr! Ich bin stark. Ich will aufstehen und gehen... Gott wollte meine Ergebung prüfen. Man wird mich den neuen Job nennen!” Er spricht in feierlichem Ton und unterstreicht seine Worte mit ausladenden Gesten: “Gott ließ sich rühren durch die Bußgesinnung des Job... und gab ihm doppelt so viel von allem, was er besessen hatte. Und der Herr segnete die letzten Jahre des Job mehr als die ersten... und er lebte bis zu... “ Aber nein, ich bin nicht Job! Ich war in den Flammen, und er hat mich herausgeholt, ich war im Bauch des Ungeheuers und kehre ans Licht zurück. Also bin ich Jona, und die drei Jünglinge des Daniel...”

Der von irgend jemandem gerufene Arzt erscheint. Er betrachtet ihn und sagt: “ Das ist das Delirium. Ich habe es erwartet . Die Zersetzung des Blutes erhitzt das Gehirn.” Er drückt Lazarus wieder auf das Bett und ordnet an, daß man ihn festhalte. Dann geht er hinaus zu seinen Arzneien. Lazarus ist etwas beunruhigt, weil man ihn festhält, und weint dann wieder ein bißchen wie ein Kind. “Er ist wirklich im Delirium”, jammert Maria. “Nein. Ihr versteht alle nichts. Ihr wißt nicht, was glauben heißt! Nun ja, ihr wißt eben nicht... Um diese Stunde hat der Meister schon erfahren, daß Lazarus im Sterben liegt. Ja, Maria, ich habe es getan . Ich habe es getan und dir nichts davon gesagt...”

“Oh, du Unselige! Das hast das Wunder verwirkt!” schreit Maria. “Aber nein! Du siehst doch, sein Zustand begann sich in dem Augenblick zu bessern, als Jona beim Meister eintraf. Er redet irre... sicher... Er ist schwach, und sein Gehirn ist immer noch vom Tod, der schon von ihm Besitz ergriffen hatte, umnebelt. Aber er redet nicht so irre, wie der Arzt meint. Höre nur! Sind dies Worte eines Deliriums?” Tatsächlich sagt Lazarus: “Ich habe mich dem Todesurteil gebeugt und erfahren, wie bitter das Sterben ist. Und seht. Gott war zufrieden gestellt durch meine Ergebung und gibt mich dem Leben und den Schwestern zurück. Ich werde nun weiterhin dem Herrn dienen und mich mit Martha und Maria heiligen können... Mit Maria! Was ist Maria? Maria ist das Geschenk Jesu an den armen Lazarus. Er hatte es mir gesagt... Wie lange ist es schon her. „Eure Vergebung wird am meisten bewirken. Sie wird mir helfen.“ Er hatte es mir versprochen: „Sie wird deine Freude sein.“ Und an jenem Tag, als ich mich erregte, weil sie ihre Schande hierher, zum Heiligen, brachte, welche Worte, um sie zur Rückkehr einzuladen! Die Weisheit und die Liebe hatten sich verbündet, um ihr Herz zu rühren... Und das andere Mal, als ich beschloß, mich für sie, für ihre Rettung als Opfer anzubieten?...

Ich will leben, um mich an ihr, der Geretteten, zu erfreuen! Ich will mit ihr den Herrn preisen! Ströme von Tränen, Beleidigungen, Schande, Bitterkeit... Alles habe ich ihretwegen ertragen, und es hat mein Leben zerstört. Das Feuer, das Feuer des Schmelzofens! Es kehrt zurück mit der Erinnerung... Maria des Theophilus und der Eucheria, meine Schwester: die Dirne ! Königin hätte sie sein können und ist in den Schmutz hinab gestiegen, in dem sich die Schweine wälzen. Und meine Mutter ist darüber gestorben... Und dann, nicht mehr unter die Leute gehen zu können, ohne ihrem Spott ausgesetzt zu sein. Ihretwegen! Wo bist du, Unselige ! Hat dir etwa das Brot gefehlt, daß du dich verkaufen mußtest, wie du es getan hast? Was hast du aus der Brust der Amme gesogen?

Was hat dich deine Mutter gelehrt? Vielleicht Unzucht die eine und Sünde die andere? Fort mit dir, du Schande unseres Hauses !” Die letzten Worte schreit er hinaus. Er scheint verrückt geworden. Marcella und Noomi beeilen sich, die Türen fest zu verschließen und die schweren Vorhänge zuzuziehen, um den Widerhall zu dämpfen, während der Arzt, der ins Zimmer zurückgekehrt ist, sich vergebens bemüht, das Delirium einzudämmen, das sich immer noch steigert.

Maria liegt völlig vernichtet am Boden und schluchzt unter den unbarmherzigen Anklagen des Sterbenden, der fortfährt: “Einen, zwei, zehn Liebhaber... Die Schande Israels wanderte von Arm zu Arm... Ihre Mutter starb... Sie frönte weiter ihren schmutzigen Liebschaften. Bestie! Vampir! Du hast das Leben aus deiner Mutter gesogen! Du hast unsere Freude zerstört. Martha ist dein Opfer geworden. Niemand heiratet die Schwester einer Dirne. Ich... Ach! Ich... Der angesehene Lazarus, der Sohn des Theophilus... Mich haben die Straßenjungen von Ofel bespieen! „Seht den Komplizen einer Ehebrecherin und Schamlosen“, sagten die Schriftgelehrten und die Pharisäer und schüttelten ihre Kleider ab, um dadurch zu zeigen, daß sie nichts zu tun haben wollten mit der Sünde, die mich durch den Kontakt mit dir befleckte. „Seht den Sünder! Wer die Schuldige nicht bestrafen will, ist ebenso schuldig wie sie“, schrieen die Rabbis, wenn ich zum Tempel hinaufging, und das Funkeln der Augen der Priester trieb mir den Schweiß aus allen Poren... Das Feuer! Du! Du hast das Feuer ausgespieen, das in dir brannte.

Denn du bist ein Dämon, Maria! Unrat bist du! Ein Fluch! Dein Feuer hat alle erfaßt, denn dein Feuer bestand aus vielen Feuern für die Unzüchtigen, die sich wie Fische in deinen Netzen verfingen, wenn du vorbeigingst... Warum habe ich dich nicht umgebracht? Ich werde in der Gehenna (Hölle) brennen müssen, weil ich dich am Leben gelassen und so beigetragen habe, viele Familien zu verderben und Tausenden Ärgernis zu geben! Wer sagt: „Wehe dem Menschen, durch den das Ärgernis kommt“? Wer sagt dies? Ach, der Meister! Ich will den Meister! Ich will ihn, damit er mir verzeiht. Ich will ihm sagen, daß ich sie nicht töten konnte, weil ich sie liebte... Maria war die Sonne unseres Hauses... Ich will den Meister! Warum ist er nicht hier? Ich will nicht leben! Ich will nur seine Verzeihung für das Ärgernis, das ich gegeben habe, weil ich das Ärgernis habe leben lassen. Ich bin schon in den Flammen. Es ist das Feuer Marias! Es hat mich erfaßt, alle hat es erfaßt; um Wollust für sie zu entflammen und Haß auf uns, um mein Fleisch zu verbrennen. Weg mit diesen Decken! Fort mit allem! Ich bin im Feuer! Mein Fleisch und meinen Verstand hat es ergriffen. Ich bin ihretwegen verloren. Meister! Meister! Deine Verzeihung! Er kommt nicht! Er kann nicht in das Haus des Lazarus kommen. Es ist eine Mistgrube ihretwegen.

Dann... will ich vergessen. Alles. Ich bin nicht mehr Lazarus. Gebt mir Wein! Salomon sagt: „Gebt Wein denen, deren Herz zerrissen ist, daß sie trinken und ihr Elend vergessen und ihres Schmerzes nicht mehr gedenken.“ Ich will nicht mehr daran denken. Alle sagen: „Lazarus ist reich. Er ist der reichste Mann von Judäa.“ Das ist nicht wahr! Alles ist nur Stroh, nicht Gold . Und die Häuser? Sie sind Wolken. Und die Weinberge, die Oasen, die Gärten, die Olivenhaine? Nichts. Täuschungen. Ich bin Job. Ich besitze nichts mehr. Ich hatte eine Perle. Sie war schön und von unschätzbarem Wert. Sie war mein Stolz. Sie hieß Maria. Ich habe sie nicht mehr. Ich bin arm. Der Ärmste von allen.

Der mehr als alle anderen Getäuschte... Auch Jesus hat mich getäuscht, denn er hatte mir versprochen, daß er sie mir wiedergeben würde... Doch sie... Wo ist sie? Seht sie dort. Sie gleicht einer heidnischen Hetäre, die Frau aus Israel, die Tochter einer Heiligen! Halbnackt, betrunken, von Sinnen... und umgeben von der Meute ihrer Liebhaber, die den nackten Körper meiner Schwester mit den Augen verschlingen... Und sie lacht darüber, so bewundert und verehrt zu werden. Ich will mein Verbrechen sühnen. Ich will durch Israel wandern und sagen: „Geht nicht zum Haus meiner Schwester . Ihr Haus ist der Weg zur Hölle und führt in die Abgründe des Todes.“ Und dann will ich zu ihr gehen und sie zertreten, denn es steht geschrieben: „Jede unzüchtige Frau soll wie Unrat auf dem Weg zertreten werden.“ Oh, hast du den Mut, vor mir zu erscheinen, der ich, durch dich vernichtet und entehrt, nun sterbe? Vor mir, der ich mein Leben als Opfer angeboten habe, um deine Seele zu retten, und ohne Erfolg? Wie ich dich gewollt hätte, fragst du? Wie ich dich gewollt hätte, um nicht so sterben zu müssen? So hätte ich dich gewünscht: Wie Susanna, die Keusche!

Du sagst, sie hätten dich verführt? Hattest du nicht einen Bruder, um dich zu verteidigen? Susanna war allein, aber sie antwortete: „Es ist besser für mich, in eure Hände zu fallen, als vor dem Angesicht des Herrn zu sündigen .“ Und Gott ließ ihre Reinheit erstrahlen. Ich hätte mit deinen Verführern gesprochen und dich verteidigt. Aber du! Du bist davongelaufen.

Judith war Witwe. Sie lebte abgeschieden, den Bußgürtel um die Hüften, und fastete; und sie stand in hohem Ansehen bei allen, denn sie fürchtete den Herrn. Von ihr wird gesungen: „Du bist der Ruhm Jerusalems, die Freude Israels, die Ehre unseres Volkes, denn du bist mannhaft und dein Herz ist stark, du hast die Keuschheit geliebt und nach deiner Ehe keinen anderen Mann mehr gekannt. Daher hat die Hand des Herrn dich stark gemacht, und du wirst in Ewigkeit gepriesen werden.“ Wäre Maria wie Judith gewesen, hätte der Herr mich geheilt. Aber er konnte es ihretwegen nicht. Deshalb bat ich auch nicht um Heilung.

Wo sie ist, kann kein Wunder stattfinden... Aber der Tod... die Leiden bedeuten mir nichts. Zehnmal und hundertmal so viel will ich leiden und nicht nur einmal sterben, wenn sie dadurch gerettet wird . Oh, höchster Herr! Alle Todesarten! Alle Schmerzen! Aber rette Maria! Nur eine Stunde, nur eine einzige Stunde möchte ich mich an ihr erfreuen! An ihr, die wieder heilig geworden ist, rein wie in der Kindheit! Eine Stunde nur diese Freude! Mich ihrer rühmen zu können, der goldenen Blume meines Hauses, der lieblichen Gazelle mit den sanften Augen, der Nachtigall am Abend, der liebevollen Taube... Ich verlange nach dem Meister, um ihm zu sagen, daß ich dies will: Maria! Maria! Komm, Maria! Wie sehr muß dein Bruder leiden, Maria! Aber wenn du kommst, wenn du dich bekehrst, dann wird mein Schmerz süß werden. Sucht Maria! Ich bin am Ende! Ich sterbe! Maria!

Macht Licht! Luft... Ich... ersticke ! Oh, was fühle ich...!”

Der Arzt macht eine Handbewegung und sagt: “ Das ist das Ende. Nach dem Delirium folgt die Erschöpfung, und dann der Tod. Aber das Bewußtsein kann zurückkehren. Kommt näher. Besonders du. Er wird sich freuen.” Und nachdem er Lazarus, der nach so viel Erregung völlig erschöpft ist, zurückgebettet hat, geht er zu Maria, die bis jetzt am Boden geweint und gestöhnt hat: “Bringt ihn zum Schweigen!” Er richtet sie auf und führt sie an das Bett. Lazarus hat die Augen geschlossen. Er scheint furchtbar zu leiden und ist von Zittern und Krämpfen befallen. Der Arzt versucht, ihm mit Arzneien Erleichterung zu verschaffen...

So vergeht einige Zeit. Lazarus öffnet die Augen . Er scheint alles vergessen zu haben, was geschehen ist, doch er ist bei Bewußtsein. Er lächelt den Schwestern zu und sucht ihre Hände zu fassen und ihre Küsse zu erwidern. Dann wird er totenbleich. Er klagt: “Ich friere...” und klappert mit den Zähnen, während er versucht, sich bis zum Mund zuzudecken. Dann stöhnt er: “Nikomedes, ich kann die Schmerzen nicht länger ertragen . Die Wölfe zerfleischen meine Beine und fressen mein Herz. Welch ein Schmerz! Und wenn der Todeskampf schon so ist, wie wird dann erst der Tod sein? Wie werde ich ihn ertragen? Oh, wenn der Meister hier wäre! Warum habt ihr ihn nicht rufen lassen? Ich wäre selig an seiner Brust gestorben...” Lazarus weint. Martha sieht Maria streng an. Maria versteht diesen Blick und, noch erschüttert vom Delirium des Bruders, wird sie von Gewissensbissen gepackt. Am Bett kniend neigt sie sich, um die Hand des Bruders zu küssen, und schluchzt: “Ich bin die Schuldige. Martha wollte es schon vor zwei Tagen tun. Ich habe es nicht gewollt. Denn er hatte uns gesagt, wir sollten ihn erst nach deinem Tod benachrichtigen. Verzeih mir! An jedem Schmerz deines Lebens bin ich schuldig... Und doch habe ich dich geliebt und liebe ich dich, Bruder! Nach dem Meister liebe ich dich am meisten... Und Gott weiß, daß ich nicht lüge. Sage mir, daß du mir meine Vergangenheit verzeihst. Gib mir Frieden...” - “Domina!” mahnt der Arzt. “Der Kranke kann keine Aufregungen brauchen.” - “Das ist wahr... Sag nur, daß du mir verzeihst, Jesus von dir ferngehalten zu haben...” -

Maria! Deinetwegen ist Jesus hierher gekommen ... und deinetwegen kommt er wieder, denn du verstehst zu lieben... mehr als alle anderen. Mich hast du vor allen anderen geliebt... Ein Leben... der Freude hätte mir nicht... hätte mir nicht... die Freude gegeben... die ich durch dich gehabt habe. Ich segne dich ... Ich sage dir... daß du recht daran getan hast... Jesus zu gehorchen ... Ich habe es nicht gewußt... Nun weiß ich... Ich sage... es ist gut so... Helft mir sterben!...

Noomi... dir gelang es früher... mich in den Schlaf zu wiegen... Gesegnete Martha... mein Friede... Maximinus... mit Jesus. Auch für mich... Meinen Anteil... den Armen... Jesus... für die Armen... Und verzeiht... allen... Ach, welche Beklemmung...! Luft...! Licht! Alles zittert... Ihr seid von einem Schein umgeben, der mich blendet... wenn ich euch ansehe... Sprecht... laut...” Er hat seine Linke auf das Haupt Marias gelegt und seine Rechte den Händen Marthas überlassen. Er keucht...

Sie richten ihn vorsichtig auf und schieben ihm noch einige Kissen unter, während Nikomedes ihm erneut ein paar Tropfen seiner Medizin einflößt. Das arme Haupt schwankt und sinkt zurück in einer tödlichen Ohnmacht. Das ganze Leben konzentriert sich auf den Atem. Doch er öffnet wiederum die Augen und blickt Maria an, die seinen Kopf stützt. Er lächelt ihr zu und sagt: “ Die Mama! Sie ist zurückgekehrt ... Mama! Sprich! Deine Stimme... Du kennst... das Geheimnis... Gottes... Habe ich... dem Herrn gedient?”

Maria flüstert mit vor Schmerz brüchiger Stimme: “Der Herr sagt dir: „Komm mit mir, du guter und getreuer Knecht, denn du hast jedes meiner Worte befolgt und das Wort geliebt, das ich gesandt habe!” - “Ich verstehe nicht... Lauter...!” Maria wiederholt lauter... “Es ist wirklich die Mama!” sagt Lazarus glücklich und läßt sein Haupt an die Schulter der Schwester sinken... Dann sagt er nichts mehr. Nur noch Stöhnen und krampfhaftes Zittern, Schweiß und Röcheln...

Er empfindet nun die Welt nicht mehr, die Gefühle, und versinkt in der immer vollkommeneren Finsternis des Todes. Die Lider sinken über die glasigen Augen, in denen eine letzte Träne glänzt. “Nikomedes! Er wird schwerer! Er wird kälter...!” sagt Maria. “Domina, der Tod ist eine Erlösung für ihn!” - “Erhalte ihn am Leben! Morgen wird Jesus hier sein. Er wird sofort aufgebrochen sein. Vielleicht hat er das Pferd des Dieners oder ein anderes Reittier genommen”, sagt Martha.

Und zur Schwester gewandt: “Oh, hättest du mir erlaubt, ihn eher zu schicken!” Dann wieder verzweifelt zum Arzt: “Erhalte ihn am Leben!” Der Arzt breitet die Arme aus. Er versucht es mit Herzmitteln. Doch Lazarus kann nicht mehr schlucken...” Das Röcheln nimmt zu ... Es ist herzzerreißend. “Oh, man kann es nicht mehr mit anhören!” stöhnt Noomi. “Ja, er hat einen langen Todeskampf...” bestätigt der Arzt. Aber er hat noch nicht ausgeredet, als Lazarus nach einem letzten Sich- aufbäumen seines ganzes Körpers zurücksinkt und sein Leben aushaucht . Die Schwestern schreien auf, als sie diese letzte Todeszuckung sehen, und noch einmal beim Zurücksinken des Sterbenden. Maria ruft den Bruder und küßt ihn.

Martha klammert sich an den Arzt, der sich über den Toten beugt, und sagt: “Er ist verschieden. Nun ist es zu spät, auf ein Wunder zu warten. Es gibt kein Warten mehr. Es ist zu spät...! Ich ziehe mich zurück, domine (Herr). Ich habe keinen Anlaß mehr, zu bleiben. Beeilt euch mit der Beisetzung, denn er geht schon in Verwesung über.”

Der Arzt schließt dem Toten die Augen und sagt noch einmal: “Es tut mir leid, er war ein tugendhafter und kluger Mann. Er hätte nicht sterben dürfen!” Dann wendet er sich den Schwestern zu, verneigt sich, grüßt sie: “Dominae! Salve!” und geht. Die Klagen erfüllen den Raum. Maria verlassen nun die Kräfte. Sie wirft sich über den Leib des Bruders, ruft ihm ihre Reue zu und bettelt um seine Vergebung. Martha weint in den Armen Noomis.

Dann ruft Maria aus: “Du hast keinen Glauben gehabt. Du bist nicht gehorsam gewesen. Ich habe ihn zuerst getötet, du jetzt! Ich mit meiner Sündhaftigkeit, du mit deinem Ungehorsam.” Sie ist wie von Sinnen. Martha hebt sie auf, umarmt sie, entschuldigt sich... Maximinus, Noomi und Marcella bemühen sich, beide zur Vernunft und Ergebung zu bringen. Und es gelingt ihnen, indem sie an Jesus erinnern... Die Schwestern fassen sich und werden hinausgeführt, um anderswo ihren Schmerz auszuweinen, während der Raum sich mit klagenden Dienern füllt und bald auch die eintreten, die den Leichnam für die Bestattung herrichten sollen. Maximinus, der die Schwestern hinausführt, sagt: “Er ist am Ende der zweiten Nachtwache verschieden.” Und Noomi sagt: “Und morgen muß er beigesetzt werden, und schnell, vor Sonnenuntergang, denn dann beginnt der Sabbat. Ihr habt gesagt, daß der Meister große Feierlichkeiten will...” - “Ja, Maximinus. Kümmere du dich um alles. Ich bin ungeschickt”, sagt Martha.

“Ich werde Diener zu allen nahen und fernen Freunden schicken und alles andere anordnen”, sagt Maximinus und zieht sich zurück. Die beiden Schwestern halten sich weinend in den Armen. Sie werfen sich gegenseitig nichts mehr vor. Sie weinen nur noch und versuchen, einander zu trösten. Die Zeit vergeht. Der Tote wird in seinem Zimmer vorbereitet. Eine lange, in Binden gewickelte Gestalt unter dem Schweißtuch. “Warum ist er denn schon so eingewickelt?” ruft Martha tadelnd aus. “ Herrin, er roch schon stark aus der Nase, und bei jeder Bewegung floß verdorbenes Blut aus seinem Mund ”, entschuldigt sich ein alter Diener. Die Schwestern weinen laut. Lazarus ist unter diesen Binden schon weit fort... Ein Schritt mehr in die Ferne des Todes. Sie wachen und weinen bei ihm bis zum Morgengrauen, bis zur Rückkehr des Dieners von der anderen Seite des Jordan.

Der Diener ist bestürzt, doch er berichtet von seinem eiligen Ritt, um die Antwort Jesu zu überbringen. “Hat er gesagt, daß er kommen wird? Hat er mich nicht getadelt?” fragt Martha. “Nein, Herrin. Er hat gesagt: „Ich werde kommen . Sage ihnen, daß ich kommen werde und daß sie Glauben haben sollen .“ Und zuvor hatte er gesagt: „Sage ihnen, sie sollen beruhigt sein. Dies ist keine Krankheit, die zum Tod führt. Es handelt sich um die Ehre Gottes, und seine Macht soll in seinem Sohn verherrlicht werden.” - “Hat er das gesagt? Bist du dessen sicher?” fragt Maria. “Herrin, auf dem ganzen Weg habe ich mir diese Worte wiederholt.” - “Geh, geh. Du bist müde. Du hast alles gut gemacht. Aber nun ist es zu spät ...!” seufzt Martha. Und sie bricht in lautes Wehklagen aus, sobald sie wieder mit der Schwester allein ist. “Martha, warum?”

“Oh! Nach dem Tod nun auch die Enttäuschung! Maria! Maria! Merkst du nicht, daß sich der Meister diesmal geirrt hat? Schau dir Lazarus an. Er ist tot ! Wir haben gegen alle Vernunft bis zuletzt gehofft, und es hat nichts genützt. Als ich nach ihm geschickt habe - ich werde damit wohl gefehlt haben - war er schon mehr tot als lebendig. Und unser Glaube war umsonst und ist nicht belohnt worden. Nun läßt uns der Meister sagen, daß es keine Krankheit sei, die zum Tod führt. Ist der Meister also nicht mehr die Wahrheit? Er ist sie nicht mehr... Oh! Alles, alles! Alles ist nun zu Ende!”

Maria ringt die Hände. Sie weiß nicht, was sie sagen soll. Die Wirklichkeit ist die Wirklichkeit... Aber sie sagt nichts. Sie sagt kein Wort gegen ihren Jesus. Sie weint. Sie ist wirklich am Ende ihrer Kräfte. Martha macht sich fortwährend den Vorwurf, zu lange gewartet zu haben. “Durch deine Schuld”, klagt sie an. “Er wollte unseren Glauben prüfen. Gehorchen sollten wir, ja. Aber auch im Glauben ungehorsam sein, um unsere Überzeugung zu beweisen, daß nur er das Wunder wirken kann und muß. Mein armer Bruder! Er hat so sehr nach ihm verlangt. Wenn er ihn wenigstens gesehen hätte! Unser armer Lazarus! Der Arme! Der Arme!” Und das Weinen verwandelt sich in lautes Klagen, in das nach orientalischem Brauch auch die Mägde und Diener hinter der Tür einstimmen.

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Beim Begräbnis des Lazarus - 600

... “Sie sind benachrichtigt worden und haben sich im Tempel zu einer Besprechung eingefunden. Oh, die Diener haben heute morgen bei Sonnenaufgang viel laufen müssen!” - “ Warum haben sie es so eilig mit dem Begräbnis? Gleich nach der sechsten Stunde!” - “ Weil Lazarus schon in Verwesung übergegangen war, als er starb . Mein Verwalter sagt mir, daß trotz der Harze, die in den Zimmern verbrannt werden, und trotz der duftenden Essenzen, mit denen man den Toten besprengt, der Leichengeruch schon an der Tür des Hauses zu bemerken war. Und außerdem beginnt bei Sonnenuntergang der Sabbat. Es gab also keine andere Möglichkeit.” - “Du sagst, daß sie sich im Tempel versammelt haben? Warum?” - “Nun... eigentlich war die Versammlung schon vorher geplant, um über Lazarus zu sprechen. Sie wollen behaupten, daß er aussätzig war...” sagt Josua. “Das niemals. Lazarus hätte sich als erster in Befolgung des Gesetzes abgesondert”, verteidigt Josef den Toten. Und er fügt hinzu: “Ich habe mit ihrem Arzt gesprochen. Er hat es absolut ausgeschlossen . Lazarus litt an faulenden Geschwüren !” - “Worüber haben sie dann diskutiert, da Lazarus doch schon gestorben war?” fragt Nikodemus. “Ob sie zum Begräbnis gehen sollen oder nicht, nachdem Maria ihnen die Tür gewiesen hat. Die einen wollten, die anderen nicht. Aber die, die gehen wollten, waren in der Mehrzahl, und zwar aus drei Gründen .

Sie wollten sehen, ob der Meister dort ist. Dies war der erste Grund, und alle waren damit einverstanden. Sie wollten auch sehen, ob er ein Wunder wirkt. Das ist der zweite Grund. Und der dritte: die Erinnerung an die Worte, die der Meister kürzlich am Jordan bei Jericho zu den Schriftgelehrten sagte”, erklärt wiederum Josua. “Ein Wunder! Welches, wenn er nun tot ist?” fragt Johannes achselzuckend und schließt mit den Worten: “Immer dieselben... Sie verlangen das Unmögliche!” - “Der Meister hat schon andere Tote erweckt”, bemerkt Josef. “Das ist wahr. Aber wenn er gewollt hätte, daß er lebt, dann hätte er ihn nicht sterben lassen. Du hast vorher schon recht gehabt: Sie haben genug erhalten.” -

“Ja. Aber Uziel und auch Zadok haben sich an eine Herausforderung vor vielen Monaten erinnert... Christus sagte damals, er werde den Beweis erbringen, daß er auch einen schon verwesten Leib auferstehen lassen könne . Und bei Lazarus ist dies der Fall. Und Zadok, der Schriftgelehrte, sagt weiter, daß der Rabbi am Jordan von sich aus behauptet habe, bei Neumond würde sich die Hälfte der Herausforderung erfüllen. Die von einem Toten, der wieder lebendig wird und weder Krankheit noch Auflösung mehr kennt. Sie haben gewonnen. Wenn dies geschieht, so sicher deshalb, weil der Meister da ist.

Ferner: wenn dies geschieht, dann gibt es keinen Zweifel mehr an ihm .” - “Vorausgesetzt, daß es keine bösen Folgen hat...” murmelt Josef. “Böse Folgen? Warum? Die Schriftgelehrten und Pharisäer werden sich überzeugen...” - “Oh, Johannes! Bist du denn ein Fremder, daß du so sprechen kannst? Kennst du deine Mitbürger so schlecht? Seit wann hat denn die Wahrheit sie zu Heiligen gemacht? Sagt es dir nichts, daß man in mein Haus keine Einladung zu der Versammlung gebracht hat?” - “Auch in meines nicht. Sie mißtrauen uns und schließen uns oft aus”, sagt Nikodemus. Dann fragt er: “War Gamaliël dort?” - “Sein Sohn. Er wird auch anstelle seines Vaters kommen, der etwas krank in Gamala in Judäa ist.” - “Und was hat Simeon gesagt?” - “Nichts. Gar nichts. Er hat nur zugehört und ist dann fort gegangen. Vor kurzem ist er mit einigen Schülern seines Vaters auf dem Weg nach Bethanien hier vorbeigekommen.”

Sie sind nun fast am Tor zur Straße nach Bethanien. Und Johannes ruft aus: “ Schaut, es ist bewacht ! Warum wohl? Sie halten alle an, die hinausgehen.” - “Es ist Aufruhr in der Stadt...” - “Oh! So groß ist er nicht...” Sie kommen zum Tor und werden wie alle anderen angehalten. “Aus welchem Grund, Soldat? In der ganzen Antonia kennt man mich. Man kann mir nichts Schlechtes nachsagen. Ich achte euch und eure Gesetze”, sagt Josef von Arimathäa. “Befehl des Zenturio. Der Prokurator kommt in die Stadt, und wir wollen wissen, wer zu den Toren hinausgeht, besonders zu dem, das auf die Straße nach Jericho führt. Wir kennen dich. Aber wir kennen auch eure Stimmung uns gegenüber. Du und deine Begleiter, ihr könnt gehen. Und wenn ihr beim Volk etwas zu sagen habt, dann erklärt ihm, daß es besser ist, sich ruhig zu verhalten. Pontius ändert nicht gerne seine Gewohnheiten wegen der Unruhe seiner Untergebenen ... und er könnte äußerst streng werden. Dies ist ein guter Rat für dich, der du gut bist.” Sie gehen weiter... “Habt ihr gehört? Ich sehe schwere Tage kommen... Es wird nötiger sein, die anderen zu beraten als das Volk...” sagt Josef.

Die Straße nach Bethanien ist voller Menschen, die alle ein einziges Ziel haben: Bethanien. Alles Leute, die zur Beisetzung gehen. Man sieht Synedristen und Pharisäer, Schriftgelehrte und Sadduzäer, und zwischen diesen Bauern, Diener und Verwalter der verschiedenen Häuser und Güter, die Lazarus in der Stadt und auf dem Land besitzt. Und je näher man Bethanien kommt, desto mehr Menschen strömen von allen Seitenwegen und Sträßchen auf die Hauptstraße. Da ist nun Bethanien.

Bethanien ist in Trauer um den vornehmsten seiner Bürger. Alle seine Bewohner haben in ihren besten Kleidern schon die Häuser verlassen, die nun verschlossen sind, als ob niemand darin wäre. Aber sie sind noch nicht im Haus des Toten. Die Neugier hält sie an der Straße vor dem Tor zurück. Sie beobachten, wer von den Eingeladenen kommt, und tauschen Namen und Eindrücke aus. “Da ist Natanaël Ben-Faba. Oh, der alte Mattatias, der Verwandte des Jakob! Der Sohn des Hannas! Schau ihn dir an dort, zusammen mit Doras, Callascebona und Archelaos. Wie haben die Galiläer es nur fertig gebracht, rechtzeitig hier zu sein? Alle sind sie da. Schau: Eli, Johanan, Ismael, Urija, Joachim, Elija, Josef... Der alte Hananja mit Zadok und den Sadduzäern Zacharias und Johanan. Auch Simeon, der Sohn des Gamaliël, ist da. Allein. Aber der Rabbi fehlt . Dort sind Hilkija und Nahum, Felix und der Schriftgelehrte Hannas, Zacharias und Jonatan des Uriël! Saul und Eleasar, Tryphon und Joazar. Die sind gut! Auch einer der Söhne des Hannas. Der Jüngste. Er spricht mit Simon Camit. Und dort Philippus mit Johannes, dem Antipatriden, Alexander, Isaak und Jona des Babaon. Und Zadok. Judas, der Nachkomme der Hasidäer. Und die Verwalter der verschiedenen Paläste. Ich sehe aber die treuen Freunde nicht. Wie viele Leute!” Wirklich, viele Leute! Alle in würdevoller Haltung, teils mit einem den Umständen angepaßten Gesichtsausdruck, teils mit dem Ausdruck echten Schmerzes in den Zügen. Das weit offenstehende Tor verschluckt sie alle. Und ich sehe alle wieder, die ich bei anderen Gelegenheiten wohlwollend oder feindlich gesinnt in der Umgebung des Meisters gesehen habe. Alle, außer Gamaliël und dem Synedristen Simon.

Aber ich sehe auch andere, die ich noch nie gesehen habe, oder die ich vielleicht bei Streitgesprächen über Jesus gesehen habe, ohne ihre Namen zu kennen... Rabbis mit ihren Schülern kommen vorbei und Schriftgelehrte in geschlossenen Gruppen. Es kommen Juden, deren Reichtümer aufgezählt werden... Der Garten ist voller Menschen, die, nachdem sie den Schwestern ihre Anteilnahme ausgesprochen haben (diese sitzen, wohl nach dortigem Brauch, unter dem Portikus, also außerhalb des Hauses), sich in einem Kaleidoskop von Farben im Garten ergehen, wo das Begrüßen kein Ende nimmt.

Martha und Maria sind erschöpft. Sie halten sich an der Hand wie zwei Mädchen, die erschrocken sind über die Leere, die nun im Haus herrscht, über das Nichts, das ihren Tag füllt, seit Lazarus nicht mehr ihrer Pflege bedarf. Sie hören die Worte der Besucher an, weinen mit den wahren Freunden, mit den treuen Untergebenen, verneigen sich vor den kalten, stolzen, steifen Synedristen, die eher gekommen sind, um sich in Szene zu setzen, als um den Verstorbenen zu ehren, und antworten allen, die nach den letzten Augenblicken des Lazarus fragen, mit denselben müden Worten, die sie nun schon zum hundertsten Mal wiederholen müssen.

Josef und Nikodemus, die treuesten Freunde, stellen sich an die Seite der Schwestern, mit wenigen Worten, aber einer Freundschaft, die mehr zu trösten vermag als Worte es können.

Hilkija kommt wieder mit den Unversöhnlichsten, mit denen er lange gesprochen hat, und fragt: “ Könnten wir den Toten nicht sehen? ” Martha fährt sich verzweifelt mit der Hand über die Stirn und fragt: “Seit wann ist so etwas Brauch in Israel? Er ist schon vorbereitet...” und langsam rinnen Tränen über ihr Gesicht. “Es ist nicht Sitte, das ist wahr. Aber wir wünschen es. Die treuesten Freunde haben wohl das Recht, ein letztes Mal das Antlitz des Freundes zu sehen.” - “Auch wir Schwestern hätten ein Recht darauf gehabt. Aber es war notwendig, ihn sofort einzubalsamieren... Und als wir in das Zimmer des Lazarus zurückgekehrt sind, haben wir selbst nur die eingewickelte Gestalt gesehen.”- “Ihr hättet klare Anweisungen geben sollen. Könntet ihr nicht das Schweißtuch von seinem Antlitz entfernen?” - “Oh, er ist schon verwest... Und die Stunde des Begräbnisses ist gekommen.” Josef vermittelt: “Hilkija, mir scheint, daß wir hier aus einem Übermaß an Liebe Schmerz bereiten. Lassen wir die Schwestern in Frieden...”

Simeon, der Sohn des Gamaliël, kommt näher und verhindert so die Antwort des Hilkija: “Mein Vater wird kommen, sobald er kann. Ich vertrete ihn. Er hat Lazarus sehr geschätzt. Und ich ebenso.” Martha verneigt sich und antwortet: “Gott möge dem Rabbi die Ehre vergelten, die er unserem Bruder erwiesen hat.” Da der Sohn des Gamaliël gekommen ist, entfernt sich Hilkija ohne weiter zu drängen. Er diskutiert mit den anderen, die ihn darauf aufmerksam machen: “Riechst du nicht den Gestank? Und du hast noch Zweifel? Wir werden ja sehen, ob sie das Grab verschließen. Ohne Luft kann man nicht leben.”

Eine weitere Gruppe von Pharisäern nähert sich den beiden Schwestern. Sie sind fast alle aus Galiläa. Martha kann, nachdem sie die Beileidsbezeugungen entgegengenommen hat, nicht umhin, ihr Erstaunen über ihre Anwesenheit zu bekunden. “Frau, das Synedrium hat sich zu einer Versammlung von größter Wichtigkeit zusammengefunden, daher sind wir in der Stadt ”, erklärt Simon von Kapharnaum und betrachtet Maria, an deren Bekehrung er sich zweifellos erinnert. Doch er beschränkt sich darauf, sie anzustarren. Nun kommen Johanan, Doras, der Sohn des Doras, Ismael, Hananja, Zadok und andere, die ich nicht kenne. Ihre Wolfsgesichter sagen alles , noch bevor sie den Mund aufmachen. Aber sie warten, bis Josef und Nikodemus sich entfernt haben, um mit drei Juden zu reden, und schlagen dann zu. Es ist der alte Hananja, der den Schwestern mit seiner glucksenden Greisenstimme den ersten Dolchstoß versetzt: “Was sagst du dazu, Maria? Euer Meister ist der einzige von den vielen Freunden deines Bruders, der nicht hier ist. Seltsame Freundschaft! Viel Liebe, solange es Lazarus gut ging. Und Gleichgültigkeit, als die Zeit gekommen war, ihm Liebe zu erweisen! Für alle wirkt er Wunder. Aber hier geschieht kein Wunder. Was sagst du zu so etwas, Frau? Er hat dich sehr getäuscht, dieser schöne galiläische Meister. Ha, ha, ha! Hatte er nicht zu dir gesagt, du solltest hoffen wider alle Hoffnung? Hast du also nicht gehofft? Oder hat es keinen Sinn, auf ihn zu hoffen? Du hast auf das Leben gehofft, hast du gesagt. Ja... er nennt sich das „Leben“. Ha, ha, ha! Aber da drinnen ist dein toter Bruder, und der Schlund des Grabes hat sich schon geöffnet. Und der Rabbi ist nicht da. Ha, ha, ha!” - “Er gibt den Tod, nicht das Leben”, sagt Doras grinsend. Martha verbirgt das Gesicht in den Händen und weint. Dies ist wahrhaftig die Wirklichkeit. Ihre Hoffnung ist enttäuscht worden.

Der Rabbi ist nicht da. Er ist nicht einmal gekommen, um sie zu trösten . Und er könnte doch jetzt schon hier sein. Martha weint. Sie kann nur weinen. Auch Maria weint. Auch sie hat die Wirklichkeit vor Augen. Sie hat geglaubt und gehofft über alle Hoffnung hinaus...

Aber nichts hat sich ereignet, und die Diener haben den Stein von der Öffnung des Grabes entfernt, da die Sonne am Untergehen ist. Die Sonne geht im Winter schnell unter, und es ist Freitag, und alles muß rechtzeitig fertig sein, damit die Gäste nicht das Gesetz des Sabbats übertreten müssen , der bald beginnt. Sie hat so sehr gehofft, beständig gehofft, zu sehr gehofft. Sie hat ihre Kraft zu hoffen verbraucht, und nun ist sie enttäuscht. Hananja gibt nicht nach: “Du antwortest mir nicht? Bist du nun davon überzeugt, daß er ein Schwindler ist, der euch ausgenützt und verhöhnt hat? Arme Frauen!” Und er schüttelt den Kopf. Die anderen tun es ihm nach und sagen ebenfalls: “Arme Frauen!”

Maximinus kommt herbei: “Es ist Zeit. Gebt die Anweisungen. Ihr müßt es tun.” Martha sinkt zu Boden. Man eilt ihr zu Hilfe, und viele Arme tragen sie fort unter dem Wehklagen der Bediensteten, die verstanden haben, daß die Stunde der Beisetzung gekommen ist und sie die Totenklage anstimmen müssen. Maria ringt die Hände und bettelt: “Noch eine kleine Weile! Noch eine kleine Weile! Schickt Diener auf die Straße nach En-Schemesch und zum Brunnen, auf alle Wege. Diener zu Pferd. Sie sollen schauen, ob er kommt...” -

“Du Unglückselige, hoffst du denn immer noch? Was braucht es noch, um dich zu überzeugen, daß er euch verraten und enttäuscht hat? Gehaßt hat er euch und verspottet...” Das ist zuviel! Mit tränennassem Gesicht, gequält und dennoch treu, erklärt Maria im Halbkreis der Gäste, die sich versammelt haben und auf das Erscheinen des Leichnams warten: “ Wenn Jesus von Nazareth so handelt, dann ist es gut, und seine Liebe zu uns allen in Bethanien ist groß . Alles zur Ehre Gottes und zu seiner Ehre! Er hat gesagt, daß dies zur Ehre des Herrn gereichen wird, denn die Macht seines Wortes wird vollkommen erstrahlen. Tue deine Pflicht, Maximinus. Das Grab ist kein Hindernis für die Macht Gottes...”

Sie geht zur Seite, gestützt von Noomi, die herbeigeeilt ist, und gibt ein Zeichen... Der Leichnam wird in seinen Binden aus dem Haus getragen, zwischen zwei Reihen von Menschen hindurch, die laut zu klagen beginnen. Maria möchte ihm folgen, doch sie wankt. Sie schließt sich an, als schon alle auf dem Weg zum Grab sind. Und sie kommt gerade rechtzeitig dort an, um die lange, reglose Gestalt im Dunkel des Grabes verschwinden zu sehen. Die von den Dienern in die Höhe gehaltenen Fackeln, die die Stufen für die Träger beleuchten, die mit dem Toten hinuntersteigen, tauchen alles in rötliches Licht. Denn das Grab des Lazarus ist unter der Erde , vielleicht, um die unterirdischen Gänge im Fels auszunützen.

Maria schreit... Sie ist am Zusammenbrechen... Sie schreit... und mit dem Namen des Bruders auch den Namen Jesu. Es ist, als würde man ihr das Herz aus der Brust reißen. Aber sie ruft nur diese beiden Namen und wiederholt sie, bis das dumpfe Geräusch des Steines, mit dem man das Grab verschließt, ihr sagt, daß nun nicht einmal mehr der Leib des Lazarus auf Erden weilt. Dann erst gibt sie auf und verliert das Bewußtsein. Sie fällt auf die, die sie stützen, und flüstert noch einmal, während sie in Bewußtlosigkeit versinkt: “Jesus, Jesus!” Man trägt sie fort. Maximinus bleibt, um die Gäste zu verabschieden und ihnen im Namen der ganzen Verwandtschaft zu danken; um sich ihre Versicherungen anzuhören, daß sie täglich zur Beileidsbezeugung wiederkommen werden... Langsam wird der Garten leerer. Die letzten, die gehen, sind Josef, Nikodemus, Eleasar, Johannes, Joachim und Josua. Am Tor treffen sie Zadok und Uriël, die gehässig lachen und sagen: “Seine Herausforderung! Und wir haben sie gefürchtet!”

Oh, es besteht kein Zweifel, daß er tot ist. Wie er gestunken hat, trotz der Essenzen . Es gibt keinen Grund zu zweifeln. Es war nicht nötig, das Schweißtuch zu entfernen. Ich glaube, er ist schon voller Würmer.” Sie sind glücklich. Josef schaut sie an, mit so strengem Blick, daß ihre Worte und ihr Gelächter verstummen. Alle beeilen sich, zurück nach Hause zu kommen, um vor dem Ende des Sonnenunterganges in der Stadt zu sein.

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Laßt uns zu unserem Freund
Lazarus gehen, der schläft
- 601

...Die Stimme Jesu rüttelt sie auf. Er erhebt seine bisher verschränkten Arme von der Tischkante, breitet sie aus wie der Priester beim “Dominus vobiscum”, und sagt: “ Und doch müssen wir gehen .” - “Wohin, Meister? Zu dem mit den Schafen?” fragt Petrus. “Nein, Simon. Zu Lazarus . Wir kehren nach Judäa zurück.” - “Meister, vergiß nicht, daß die Juden dich hassen!” meint Petrus. “Es ist nicht lange her, daß sie dich sogar steinigen wollten!” sagt Jakobus des Alphäus. “Aber Meister, das ist unvorsichtig!” meint Matthäus. “Denkst du nicht an uns?” fragt Iskariot. “Oh, Meister und mein Bruder, ich beschwöre dich im Namen deiner Mutter und auch im Namen der Gottheit, die in dir wohnt: laß nicht zu, daß die Teufel sich deiner bemächtigen und dein Wort ersticken. Du bist allein, zu sehr allein gegen eine ganze Welt, die dich haßt und hier auf Erden mächtig ist”, sagt Thaddäus. “Meister, schütze dein Leben! Was würde aus mir, aus uns allen werden, wenn wir dich nicht mehr hätten?” Johannes schaut ihn mit den weit aufgerissenen Augen eines erschrockenen und traurigen Kindes an.

Petrus hat sich nach dem ersten Ausruf umgedreht und redet aufgeregt mit den Älteren und mit Thomas und Jakobus des Zebedäus. Alle sind der Meinung, daß Jesus nicht in die Umgebung Jerusalems zurückkehren darf ; wenigstens nicht, bevor die Osterzeit einen Aufenthalt dort sicherer macht, da die Anwesenheit einer großen Anzahl von Jüngern, die zum Fest aus allen Teilen Palästinas kommen, einen Schutz für den Meister darstellt. Keiner von denen, die ihn hassen, wird es wagen, ihn anzurühren, wenn ein ganzes Volk ihn mit seiner Liebe umgibt... Und sie sagen es ihm, besorgt und beinahe rechthaberisch... Die Liebe läßt sie so sprechen. “Ruhe! Friede! Hat denn der Tag nicht zwölf Stunden? Wenn einer am Tag wandert, strauchelt er nicht, denn er sieht das Licht dieser Welt. Wandert er aber in der Nacht, dann strauchelt er, denn er sieht nichts.

Ich weiß, was ich tue, denn das Licht ist in mir. Laßt euch führen von dem, der sieht. Und außerdem müßt ihr wissen, daß, solange die Stunde der Finsternis nicht gekommen ist, nichts Finsteres geschehen kann. Wenn dann die Stunde gekommen ist, werden keine Entfernung und keine Macht, nicht einmal die Heere des Cäsar, mich vor den Juden erretten können. Denn was geschrieben steht, muß sich erfüllen, und die Mächte des Bösen arbeiten schon im verborgenen, um ihr Werk zu vollbringen. Daher laßt mich wirken... und Gutes tun, solange ich frei bin, es zu tun. Die Stunde wird kommen, da ich keinen Finger mehr rühren und kein Wort mehr sprechen kann, um Wunder zu wirken. Meine Kraft wird die Welt verlassen. Eine schreckliche Stunde der Strafe für den Menschen wird es sein. Nicht für mich. Für den Menschen, der mich nicht lieben wollte. Eine Stunde, die sich wiederholen wird durch den Willen des Menschen, der die Gottheit so weit von sich gewiesen hat, daß aus ihm ein von Gott Verlassener, ein Anhänger Satans und seines verfluchten Sohnes geworden ist.* Gemeint ist der Sohn des Verderbens, der Lügenprophet, der Antichrist, der falsche Messias.

Eine Stunde, die kommen wird, wenn das Ende der Welt bevorsteht. Der herrschende Unglaube wird meine Wunderkraft versiegen lassen. Nicht, weil ich sie verlieren könnte, sondern weil das Wunder dort nicht gewährt werden kann, wo kein Glaube und kein Wille, es zu erlangen, vorhanden ist; dort, wo man das Wunder zum Gegenstand des Spottes und zum Werkzeug des Bösen machen und das erhaltene Gute dazu verwenden würde, noch größeres Unheil anzurichten. Noch kann ich Wunder wirken, und ich werde sie wirken zur höheren Ehre Gottes. Gehen wir also zu unserem Freund Lazarus, der schläft. Gehen wir, ihn aus diesem Schlaf zu erwecken , damit er wieder gesund und imstande sei, seinem Meister zu dienen.” - “Nun, wenn er schläft, ist es ja gut. Dann wird er gesund werden. Der Schlaf selbst ist schon ein Heilmittel. Warum ihn aufwecken?” fragen sie. “ Lazarus ist tot. Ich habe gewartet, bis er tot ist, um nach Bethanien zu gehen ; nicht seiner Schwestern und seinetwegen, sondern euretwegen , damit ihr glaubt. Damit ihr im Glauben wachst. Gehen wir zu Lazarus .” - “Nun gut! Gehen wir also! So werden wir alle sterben, wie er gestorben ist und wie du sterben willst”, sagt Thomas im Ton eines resignierten Fatalisten.

“Thomas, Thomas, und ihr alle, die ihr in eurem Inneren murrt und kritisiert! Wißt, wer mir nachfolgen will, darf sich um sein Leben nicht mehr sorgen, als der Vogel sich um die vorüber ziehende Wolke sorgt . Er muß sie vorüberziehen lassen, wie auch immer der Wind wehen mag. Der Wind ist der Wille Gottes, der euch das Leben nach Gefallen geben oder nehmen kann, und ihr sollt euch nicht bekümmern, wie auch der Vogel sich nicht um die vorüber ziehende Wolke kümmert, sondern fortfährt zu singen in der Gewißheit, daß der Himmel sich wieder aufheitern wird. Denn die Wolke ist ein Zwischenfall, der Himmel aber ist die Wirklichkeit. Der Himmel bleibt immer blau , auch wenn ihn die Wolken mit Grau zu überziehen scheinen. Er ist und bleibt blau über den Wolken. Und so ist es auch mit dem wahren Leben. Es ist und bleibt bestehen, auch wenn das menschliche Leben aufhört. Wer mir nachfolgen will, darf keine Angst vor dem Leben und um sein Leben haben .

Ich werde euch zeigen, wie man den Himmel erobert. Aber wie könnt ihr mich nachahmen, wenn ihr Angst habt, mit nach Judäa zu kommen, ihr, denen vorerst nichts Böses angetan werden wird? Fürchtet ihr euch, mit mir gesehen zu werden? Ihr seid frei, mich zu verlassen . Aber wenn ihr bleiben wollt, dann müßt ihr lernen, der Welt mit ihrer Kritik, ihrer Bosheit, ihrem Spott und ihrem Leiden zu trotzen, um mein Reich zu erobern. Wir werden also gehen und Lazarus, der schon seit zwei Tagen im Grab ruht, dem Tod entreißen . Denn er ist am gleichen Abend gestorben, an dem der Diener aus Bethanien hierher kam.

Morgen um die sechste Stunde, nachdem wir alle entlassen haben, die auf das Morgen warten, um von mir Hilfe und Belohnung für ihren Glauben zu erhalten, werden wir von hier fortgehen, den Fluß überqueren und im Haus der Nike übernachten. Bei Sonnenaufgang brechen wir dann auf und gehen auf der Straße über En-Schemesch nach Bethanien. Vor der sechsten Stunde werden wir in Bethanien sein. Viel Volk wird dort sein. Und die Herzen werden erschüttert werden. Ich habe es versprochen und ich halte mein Versprechen ...” -

“Wem hast du es versprochen, Herr?” fragt Jakobus des Alphäus beinahe ängstlich. “Denen, die mich hassen, und denen, die mich lieben... Beiden auf unwiderrufliche Weise. Erinnert ihr euch nicht mehr an den Streit mit den Schriftgelehrten in Kedes? Sie nannten mich noch immer einen Betrüger, weil ich nur ein eben verstorbenes Mädchen und einen seit einem Tag toten Mann erweckt hatte. Sie sagten: „Bisher hast du noch keinen in Verwesung übergegangenen Menschen wieder lebendig gemacht.“ Tatsächlich kann nur Gott aus Staub einen Menschen bilden und aus der Verwesung einen gesunden, lebendigen Körper. Nun, ich werde es tun. Im Monat Kislew, am Ufer des Jordan, habe ich selbst die Schriftgelehrten an diese Herausforderung erinnert und gesagt: „ Beim neuen Mond wird es sich erfüllen .“ Dies für jene, die mich hassen.

Den Schwestern jedoch, die mich bedingungslos lieben, habe ich versprochen, ihren Glauben zu belohnen, wenn sie trotz der scheinbaren Hoffnungslosigkeit weiter hoffen. Ich habe sie schwer geprüft und sehr betrübt, und ich allein weiß um die Leiden ihrer Herzen in diesen Tagen und um ihre vollkommene Liebe. Wahrlich, ich sage euch, sie verdienen eine große Belohnung, denn mehr noch als den Bruder nicht auferweckt zu sehen, fürchten sie, daß ich verspottet werden könnte. Ich kam euch abwesend, müde und traurig vor. Ich war bei ihnen im Geist , und ich hörte ihre Klagen und zählte ihre Tränen. Arme Schwestern!

Nun brenne ich darauf, der Welt einen Gerechten, den Schwestern einen Bruder und den Jüngern einen Jünger wiederzugeben. Du weinst, Simon? Ja, du und ich, wir sind die besten Freunde des Lazarus, und deine Tränen drücken den Schmerz Marthas und Marias und den Todeskampf des Freundes aus , aber auch die Freude, ihn bald unserer Liebe zurückgegeben zu wissen. Stehen wir auf, packen wir die Reisesäcke und gehen wir dann zur Ruhe, damit wir morgen bei Sonnenaufgang wach sind und hier alles aufräumen können... da eine Rückkehr nicht gewiß ist.

Wir müssen an die Armen verteilen, was wir haben, und den Eifrigsten sagen, daß sie die Pilger davon abhalten sollen, mich zu suchen, bevor ich nicht an einem anderen sicheren Ort bin. Sie sollen auch die Jünger benachrichtigen, daß sie mich bei Lazarus finden können. So viel ist zu tun. Und all dies muß getan sein, bevor die Pilger kommen... Auf, löscht das Feuer und zündet die Lampen an. Jeder soll tun, was er zu tun hat, und dann zur Ruhe gehen. Der Friede sei mit euch allen.” Jesus erhebt sich, segnet sie und zieht sich in seine Kammer zurück...

“Er ist schon seit mehreren Tagen tot!” sagt der Zelote. “Das wird ein Wunder sein!” ruft Thomas aus. “Ich möchte sehen, was sie dann erfinden werden, um an ihm zu zweifeln!” sagt Andreas. “Aber wann ist denn der Diener hier gewesen?” will Iskariot wissen. “Am Vorabend des Freitags”, antwortet Petrus. “Ja? Und warum hast du es uns nicht gesagt?” fragt wiederum Iskariot. “Weil der Meister mir aufgetragen hatte zu schweigen”, entgegnet Petrus. “ Also... wenn wir dort ankommen... wird er schon vier Tage im Grab liegen .” - “Sicher! Freitagabend ein Tag, Sabbatabend zwei Tage, heute abend drei Tage, morgen vier Tage... Viereinhalb Tage also... Allmächtiger! Er muß sich ja schon aufgelöst haben!” sagt Matthäus. “Er muß sich schon aufgelöst haben... Ich will auch dies sehen und dann...” - “Was dann, Simon Petrus?” fragt Jakobus des Alphäus. “Wenn Israel sich dann nicht bekehrt, kann es nicht einmal Jahwe mit seinen Blitzen bekehren.” Und während sie so reden, gehen sie auseinander.

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Die Auferweckung des Lazarus - 602

Jesus kommt von En-Schemesch nach Bethanien. Sie müssen einen äußerst anstrengenden Weg zurückgelegt haben über die halsbrecherischen Pfade der Adummimberge. Die atemlosen Apostel haben Mühe Jesus zu folgen , der so rasch dahin schreitet, als ob die Liebe ihn auf ihren feurigen Schwingen tragen würde. Ein strahlendes Lächeln liegt auf seinem Antlitz, während er allen mit erhobenem Haupt unter den Strahlen der warmen Mittagssonne vorangeht.

Noch bevor sie die ersten Häuser von Bethanien erreicht haben, sieht ihn ein barfüßiger Junge , der mit einer leeren Kupferkanne zum Brunnen geht. Er schreit auf, stellt die Kanne auf den Boden und rennt davon, so schnell ihn die Beine tragen, hinein ins Dorf. “Gewiß wird er ankündigen, daß du kommst”, bemerkt Judas Thaddäus, nachdem er wie die anderen über den energischen Entschluß des Jungen gelächelt hat, der sogar seinen Krug zurück läßt als Beute für den Nächstbesten, der vorbeikommt. Vom Brunnen aus, der etwas erhöht liegt, sieht die Ortschaft ruhig und wie verlassen aus. Nur der graue Rauch, der aus den Kaminen aufsteigt, zeigt an, daß in den Häusern die Frauen damit beschäftigt sind, das Mittagsmahl zuzubereiten, und einige laute Männerstimmen, die aus den weiten, stillen Olivenhainen und Obstgärten dringen, lassen erkennen, daß die Männer bei der Arbeit sind. Dennoch zieht Jesus es vor, einen schmalen Weg einzuschlagen, der hinter dem Ort vorbeiführt, um das Haus des Lazarus zu erreichen, ohne die Aufmerksamkeit der Bewohner zu erregen. Sie sind ungefähr auf halbem Weg, als sie hinter sich den Jungen von zuvor hören, der sie eilig überholt und sich dann in die Mitte der Straße stellt und Jesus nachdenklich ansieht.

“Der Friede sei mit dir, kleiner Markus. Hast du Angst vor mir gehabt, daß du geflüchtet bist?” fragt Jesus und streichelt ihn. “Ich? Nein, Herr, ich habe keine Angst gehabt. Aber da Martha und Maria seit mehreren Tagen Diener auf die Straßen schicken, die Ausschau nach dir halten sollen, bin ich losgerannt, sowie ich dich gesehen habe, um ihnen zu sagen, daß du kommst...” - “Das hast du gut gemacht. Die Schwestern werden ihre Herzen auf meine Ankunft vorbereiten.” -

“Nein, Herr. Die Schwestern werden sich nicht vorbereiten, denn sie wissen von nichts. Man hat mir nicht erlaubt, es ihnen zu sagen . Man hat mich beim Betreten des Gartens gepackt, als ich sagte: „Der Rabbi ist da.“ Und man hat mich hinausgejagt mit den Worten: „Du bist ein Lügner oder ein Dummkopf. Er kommt nicht mehr, denn jetzt ist es gewiß, daß er kein Wunder mehr wirken kann.“ Und weil ich gesagt habe, daß du es wirklich bist, haben sie mir zwei Ohrfeigen gegeben , wie ich noch nie welche bekommen habe... Sieh nur meine roten Backen. Sie brennen! Und sie haben mich hinausgeschoben und gesagt: „Dies ist zu deiner Reinigung, weil du einen Teufel gesehen hast.“ Und ich habe dich jetzt genau angeschaut, um zu sehen, ob du ein Teufel geworden bist. Aber ich merke nichts davon... Du bist immer noch mein Jesus und schön wie die Engel, von denen Mama mir erzählt.”

Jesus beugt sich nieder, um die geschlagenen Wangen zu küssen, und sagt: “So vergeht das Brennen. Es tut mir leid, daß du meinetwegen leiden mußtest.” - “Es macht nichts, Herr, denn die Ohrfeigen haben mir zwei Küsse von dir eingebracht.” Und der Junge hängt sich an Jesus in der Hoffnung auf weitere Liebkosungen. “Sag einmal, Markus! Wer ist es, der dich fortgejagt hat? Die Leute des Lazarus?” fragt Thaddäus. “Nein, die Juden. Sie kommen alle Tage, um ihr Beileid zu bezeigen. Es sind so viele! Sie sind im Haus und im Garten, kommen früh und gehen spät und tun so, als ob sie die Herren des Hauses wären. Sie mißhandeln alle . Siehst du, niemand traut sich mehr auf die Straße. Die ersten Tage kamen die Leute und schauten... aber dann... Nun gehen nur noch wir Kinder hinaus, um... Oh, mein Krug! Die Mama wartet auf das Wasser... Nun wird auch sie mich schlagen...!” Alle lächeln über seine Sorge wegen der voraussichtlichen weiteren Ohrfeigen, und Jesus sagt: “Also, dann geh schnell...” - “Aber... ich wollte mit dir hineingehen und dich das Wunder wirken sehen...” Und er fügt hinzu: “Ich wollte ihre Gesichter sehen... um mich für die Ohrfeigen zu rächen...”

“Das nicht. Du darfst nicht rachsüchtig sein. Du mußt brav sein und verzeihen können... Aber die Mama wartet auf das Wasser...” - “Ich werde an seiner Stelle gehen, Meister. Ich weiß, wo Markus wohnt, und ich werde der Mutter alles erklären und dann zurückkommen...” sagt Jakobus des Zebedäus und läuft fort. Sie setzen langsam ihren Weg fort, und Jesus hält den jubelnden Knaben an der Hand... Nun sind sie am Gitter des Gartens und gehen daran entlang. Viele Reittiere sind dort angebunden und werden von den Dienern der jeweiligen Eigentümer bewacht. Das Flüstern, das bei ihrer Ankunft einsetzt, zieht die Aufmerksamkeit einiger Juden auf sich. Und sie wenden sich genau in dem Augenblick dem geöffneten Tor zu, als Jesus den Garten betritt . “Der Meister!” sagen die ersten, die ihn sehen, und das Wort eilt wie das Rauschen des Windes von Gruppe zu Gruppe und breitet sich aus wie eine Woge, die von weither kommt und am Ufer zerschellt, bis zu den Mauern des Hauses und dringt ins Innere. Gewiß überbringt es einer der vielen anwesenden Juden oder auch einer der da und dort herumstehenden Pharisäer, Rabbis, Schriftgelehrten und Sadduzäer.

Jesus geht sehr langsam weiter, während alle anderen, die von überall herbeieilen, den Weg säumen, auf dem er dahin schreitet. Und da ihn niemand grüßt, grüßt auch er niemanden , so als ob er nicht viele der dort Versammelten kennen würde. Diese betrachten ihn mit zorn- und haßerfüllten Blicken, mit Ausnahme der Wenigen, die heimliche Jünger oder wenigstens rechtschaffenen Herzens sind, auch wenn sie ihn nicht als Messias lieben, und ihn als einen Gerechten achten. Diese sind Josef, Nikodemus , Johannes, Eleasar, der andere Johannes, der Schriftgelehrte, den ich bei der Brotvermehrung gesehen habe, und ein dritter Johannes, der die Leute nach der Bergpredigt mit Nahrung versorgt hat; außerdem Gamaliël mit seinem Sohn, Josua, Joachim, Manaen, der Schriftgelehrte Joël des Abija, dem ich bei der Episode mit Sabäa am Jordan begegnet bin, Josef Barnabas, der Schüler des Gamaliël, und Chuza, der Jesus von weitem betrachtet, etwas schüchtern, da er ihn nun nach dem begangenen Fehler wieder sieht; oder vielleicht verbietet ihm auch die Achtung vor den anderen, sich Jesus als Freund zu nähern.

Tatsache ist, daß weder die Freunde und wohlgesinnten Beobachter, noch die Feinde ihn grüßen . Und auch Jesus grüßt niemanden. Er hat sich darauf beschränkt, beim Betreten des Gartenweges eine allgemeine Verneigung zu machen. Dann ist er weitergegangen, als ob er der ganzen Menge, die ihn umgibt, fremd wäre. Der kleine Junge läuft in seinem bäuerlichen Gewand und mit den nackten Füßen eines armen Kindes neben ihm her. Doch sein Gesicht strahlt wie an einem Festtag und seine lebhaften, schwarzen Augen sehen alles... und blicken alle herausfordernd an.

Martha kommt aus dem Haus inmitten einer Gruppe jüdischer Besucher, darunter Hilkija und Zadok. Sie beschattet mit der Hand ihre vom Weinen müden Augen, die das Licht schmerzt, und blickt sich nach Jesus um. Nun sieht sie ihn, verläßt ihre Begleiter und eilt auf den Meister zu, der sich bis auf einige Schritte dem Wasserbecken genähert hat, das im Sonnenlicht glitzert. Sie wirft sich nach einer ersten Verbeugung Jesus zu Füßen, küßt diese und sagt, während sie in Tränen ausbricht: “Der Friede sei mit dir, Meister.” Auch Jesus sagt, sobald er sie erblickt hat: “Der Friede sei mit dir!” und erhebt die Hand, um sie zu segnen, wobei er die des Kindes losläßt. Bartholomäus nimmt nun das Kind bei der Hand und zieht es etwas nach hinten. Martha fährt fort: “Für deine Dienerin gibt es keinen Frieden mehr!” Noch kniend erhebt sie das Antlitz zu Jesus und mit einem Schmerzensschrei, den man in dem entstandenen Schweigen sehr laut hört, ruft sie aus:

Lazarus ist tot! Wärst du hier gewesen, wäre er nicht gestorben. Warum bist du nicht früher gekommen, Meister? ” In dieser Frage liegt ein ungewollter Vorwurf. Dann spricht sie weiter mit der matten Stimme eines Menschen, der keine Kraft mehr hat, Vorwürfe zu machen, und seinen einzigen Trost darin findet, sich an die letzten Augenblicke und Wünsche eines Angehörigen zu erinnern, dem man alle Wünsche zu erfüllen versucht hat, weshalb man sich auch keine Vorwürfe zu machen braucht: “Er hat so sehr nach dir verlangt, unser Bruder...! Sieh! Nun leide ich, und Maria weint und kann keinen Frieden finden . Er ist nicht mehr unter uns. Und du weißt, wie sehr wir ihn geliebt haben! Wir hatten unsere ganze Hoffnung in dich gesetzt...!” Ein Flüstern des Mitleids für die Frau und des Vorwurfs für Jesus, und Zustimmung zu dem unausgesprochenen Gedanken: “ Du hättest uns erhören können , denn wir haben es verdient durch unsere Liebe zu dir, doch du hast uns enttäuscht!” läuft von einer Gruppe zur anderen, begleitet von Kopfschütteln und hämischen Blicken. Nur die wenigen geheimen Jünger in der Menge werfen Jesus, der bleich und traurig der schmerzerfüllten Frau zuhört, mitleidvolle Blicke zu.

Gamaliël steht ein wenig abseits inmitten einer Gruppe von Jünglingen, unter denen sich auch sein Sohn und Josef Barnabas befinden. Die Arme über der Brust gekreuzt, in seinem weiten, reichen Gewand aus feinster Wolle mit blauen Fransen, schaut er Jesus fest an, ohne Haß und ohne Liebe.

Martha fährt fort, nachdem sie sich die Tränen abgetrocknet hat: “ Aber auch jetzt hoffe ich noch, denn ich weiß, daß dir alles, was du vom Vater erbittest, gewährt wird .” Ein schmerzliches, heroisches Glaubensbekenntnis, das sie mit tränenerstickter Stimme ausspricht, während Angst in ihrem Blick zittert und die letzte Hoffnung ihr Herz erfüllt. “ Dein Bruder wird auferstehen. Erhebe dich, Martha !”

Martha steht auf, bleibt jedoch in verehrungsvoller, gebeugter Haltung vor Jesus stehen, dem sie antwortet: “Ich weiß, Meister. Er wird auferstehen am Jüngsten Tag.” - “ Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er tot ist. Und wer glaubt und in mir lebt, wird in Ewigkeit nicht sterben! Glaubst du dies alles? ” Jesus, der zuerst leise und nur zu Martha gesprochen hat, erhebt nun seine Stimme, um diese Worte zu sagen, mit denen er seine göttliche Macht bekundet, und der Wohlklang seiner Stimme hallt im weiten Garten wie der Schlag einer goldenen Glocke nach.

Ein fast ängstlicher Schauder erfaßt die Umstehenden; dann aber fangen einige an, höhnisch zu lachen und die Köpfe zu schütteln. Martha, der Jesus immer stärkere Hoffnung einflößen zu wollen scheint, indem er ihr eine Hand auf die Schulter legt, erhebt ihr Antlitz, das zu Boden geneigt war. Sie schaut zu Jesus auf, heftet ihren schmerzerfüllten Blick auf seine strahlenden Augen, preßt die Hände auf die Brust und antwortet nun in erneuter, aber anders gearteter Erregung: “Ja, Herr, ich glaube es. Ich glaube, daß du Christus, der Sohn des lebendigen Gottes bist, der in die Welt gekommen ist, und daß du alles kannst, was du willst. Ich glaube. Nun will ich Maria verständigen.”

Und sie entfernt sich rasch und verschwindet im Haus. Jesus bleibt, wo er ist. Das heißt, er macht ein paar Schritte vorwärts und bleibt bei dem Beet stehen, das das Becken umgibt. Der Sprühregen des Wasserstrahles, den ein leichter Wind auf diese Seite neigt und der einem silbernen Federbusch gleicht, bedeckt Blätter und Blüten mit kleinen, funkelnden Tröpfchen. Es hat den Anschein, daß Jesus sich in die Betrachtung der unter dem Schleier dieses klaren Wassers schnellenden Fische verliert, die mit ihren Spielen dem von der Sonne bewegten wäßrigen Kristall silberne Punkte und goldene Reflexe aufsetzen.

Die Juden beobachten ihn. Sie haben sich unbewußt in zwei sehr verschiedene Gruppen geteilt. Auf einer Seite, Jesus gegenüber, stehen alle, die ihm feindlich gesinnt sind. Für gewöhnlich gespalten in ihrer sektiererischen Gesinnung, sind sie nun vereint, um Jesus zu bekämpfen.

Auf seiner Seite, hinter den Aposteln, zu denen sich wieder Jakobus des Zebedäus gesellt hat, stehen Josef, Nikodemus und die anderen ihm Wohlgesinnten. Etwas weiter entfernt, immer am gleichen Platz und in derselben Haltung, sehe ich Gamaliël. Allein. Denn sein Sohn und seine Schüler haben ihn alleingelassen und sich auf die beiden großen Gruppen aufgeteilt, um näher bei Jesus zu sein.

Mit ihrem üblichen Ruf: “Rabbuni!” und ausgestreckten Armen eilt Maria aus dem Haus auf Jesus zu und wirft sich ihm zu Füßen. Sie küßt sie laut schluchzend, und einige Juden, die bei ihr im Haus waren und ihr gefolgt sind, vereinen ihre Klagen von zweifelhafter Aufrichtigkeit mit den ihren.

Auch Maximinus, Marcella, Sara, Noomi und alle Diener sind Maria gefolgt, und ein lautes, schrilles Klagen erfüllt nun den Garten. Mir scheint, daß niemand mehr im Haus geblieben ist. Martha, die Maria so heftig weinen sieht, weint nun ebenso. “ Der Friede sei mit dir, Maria! Steh auf! Sieh mich an! Warum dieses trostlose Weinen, wie jemand, der keine Hoffnung hat?

Jesus beugt sich über sie, um leise diese Worte zu sagen, während er Maria in die Augen blickt. Sie hat sich, vor ihm kniend, auf die Fersen gesetzt, streckt ihm flehend die Hände entgegen und kann vor Schluchzen nicht sprechen. “ Habe ich dir nicht gesagt, daß du hoffen sollst wider alle Hoffnung, um die Herrlichkeit Gottes zu sehen? Hat sich denn dein Meister geändert, daß du Grund zu solcher Verzweiflung hast?” Aber Maria begreift die Worte nicht , die sie schon auf die große, zu große Freude vorbereiten wollen nach so viel Leid, und sie ruft, endlich wieder ihrer Stimme mächtig: “ Oh, Herr! Warum bist du nicht früher gekommen? Warum bist du so weit fortgegangen? Du hast doch gewußt, daß Lazarus krank ist! Wenn du hier gewesen wärst, wäre mein Bruder nicht gestorben! Warum bist du nicht gekommen? Ich mußte ihm doch noch zeigen, daß ich ihn liebe. Und er hätte leben müssen. Ich mußte ihm doch noch beweisen, daß ich im Guten ausharre. Ich habe meinen Bruder so sehr gequält! Und nun? Nun, da ich ihn hätte glücklich machen können, ist er mir entrissen worden. Du hättest ihn mir lassen können . Du hättest der armen Maria die Freude machen können, ihn trösten zu dürfen, nachdem sie ihm so viel Schmerz bereitet hat. Oh, Jesus! Jesus! Mein Meister! Mein Erlöser! Meine Hoffnung!”

Und sie läßt sich wieder zu Boden fallen, die Stirn auf den Füßen Jesu, die Marias Tränen noch einmal waschen, und klagt: “Warum hast du das getan, o Herr? Hast du nicht an jene gedacht, die dich hassen und sich nun über das Geschehene freuen... Warum hast du das getan, Jesus?

Aber es liegt kein Vorwurf in der Stimme Marias, wie es bei Martha der Fall war, nur der Schmerz der Schwester, die zudem noch die Not der Jüngerin erleidet, das Ansehen Jesu in den Herzen so vieler geschmälert zu sehen. Jesus, der sich tief hinuntergebeugt hat, um diese Worte zu hören, die mit dem Gesicht zum Boden geflüstert worden sind, richtet sich nun auf und sagt laut:

Maria, weine nicht! Auch dein Meister ist betrübt, weil sein treuer Freund gestorben ist... weil er ihn sterben lassen mußte ...” Oh, welch ein Grinsen und welch gehässige Schadenfreude auf den Gesichtern der Feinde Jesu. Sie glauben ihn besiegt und freuen sich, während die Freunde immer trauriger werden. Jesus sagt noch lauter: “Ich aber sage dir: Weine nicht! Steh auf! Sieh mich an! Glaubst du, daß ich, der ich dich so sehr geliebt habe, dies ohne guten Grund getan habe? Kannst du glauben, daß ich dir diesen Schmerz unnötig zugefügt habe? Komm, wir wollen zu Lazarus gehen. Wo habt ihr ihn hingelegt?

Jesus fragt weniger Maria und Martha, die, von immer stärkerem Schluchzen überwältigt, nicht sprechen können, als alle anderen, besonders jene, die mit Maria aus dem Haus gekommen sind und am allertraurigsten zu sein scheinen. Vielleicht sind es ältere Verwandte, ich weiß es nicht. Sie antworten Jesus, der sichtlich betrübt ist: “ Komm und sieh!” und gehen in Richtung des Grabes , das am Ende des Obstgartens liegt, dort, wo der Erdboden uneben wird und die Kalkfelsen hervortreten. Martha geht an der Seite Jesu , der Maria zum Aufstehen gezwungen hat und sie nun führt, da das viele Weinen ihre Augen trübt. Sie weist Jesus mit der Hand die Stelle, an der Lazarus liegt. Und als sie angekommen sind, sagt sie noch: “Hier ist es, Meister, hier haben wir deinen Freund beigesetzt”, und zeigt auf einen Stein, der schräg vor dem Eingang der Gruft liegt.

Jesus ist auf dem Weg dorthin, von allen gefolgt, an Gamaliël vorübergegangen. Doch weder er noch Gamaliël hat gegrüßt. Gamaliël hat sich dann zu den anderen gesellt und ist wie alle strengen Pharisäer einige Meter vom Grab entfernt stehen- geblieben, während Jesus mit den Schwestern, Maximinus und denen, die anscheinend Verwandte sind, ganz nahe herangegangen ist. Jesus betrachtet den schweren Stein, der als Türe dient und ein ebenso schweres Hindernis bildet zwischen ihm und dem toten Freund. Er weint. Das Weinen der Schwestern und auch das der Nahestehenden und Angehörigen wird stärker. “ Entfernt diesen Stein!” ruft Jesus plötzlich , nachdem er seine Tränen getrocknet hat.

Eine Bewegung des Erstaunens und ein Flüstern geht durch die Menge, die sich noch um einige Bewohner Bethaniens vergrößert hat, die in den Garten zu den übrigen Besuchern gekommen sind. Ich sehe einige Pharisäer, die sich an die Stirn greifen und den Kopf schütteln, als ob sie sagen wollten: “Er ist verrückt!”

Niemand befolgt den Befehl. Auch die Getreuesten schrecken zurück und zögern. Jesus wiederholt seinen Befehl noch lauter und versetzt die Anwesenden in noch größere Bestürzung. Sie schwanken zwischen einander entgegengesetzten Gefühlen, einerseits dem Wunsch zu fliehen, und andererseits dem Wunsch, sich noch mehr zu nähern, um zu sehen, ungeachtet des Geruches, der aus dem Grab dringen wird, das Jesus zu öffnen gebietet.

Meister, es ist nicht möglich ”, sagt Martha, die sich bemüht, die Tränen zurückzuhalten, um sprechen zu können. “ Seit vier Tagen ist er schon unter der Erde, und du weißt, an welcher Krankheit er gestorben ist! Nur unsere Liebe konnte ihn pflegen... Nun riecht er gewiß schon viel stärker, trotz aller Salben ... Was willst du sehen? Seinen verwesten Leib?... Es geht nicht... auch wegen der Verunreinigung durch die Zersetzung und...”

Habe ich dir nicht gesagt, daß du die Herrlichkeit Gottes sehen wirst, wenn du glaubst? Entfernt diesen Stein. Ich will es !” Es ist eine laute Kundgebung göttlichen Willens...

Und ein unterdrücktes “Oh!” kommt aus den Mündern aller. Die Gesichter erbleichen. Einige zittern, als ob eisige Todeskälte sie umweht hätte . Martha gibt Maximinus ein Zeichen, und dieser gebietet den Dienern, Werkzeuge zu holen, mit denen man den Stein entfernen kann. Die Diener eilen fort und kommen mit Pickeln und starken Brecheisen zurück. Sie schlagen die glänzenden Spitzen der Pickel zwischen den Fels und die Grabplatte, nehmen dann statt der Pickel die Brecheisen, heben bedächtig den Stein, schieben ihn zur Seite und lehnen ihn vorsichtig an den Fels .Ein pestartiger Gestank dringt aus der dunklen Höhle und läßt alle zurückweichen .

Martha fragt leise: “Meister, willst du hinuntersteigen? Wenn ja, dann lasse ich Fackeln holen...” Aber sie erbebt bei dem Gedanken, dies tun zu müssen.

Jesus antwortet ihr nicht. Er erhebt die Augen zum Himmel, breitet die Arme in Kreuzform aus und betet mit lauter Stimme , jedes Wort betonend: “ Vater, ich danke dir, daß du mich erhört hast! Ich wußte ja, daß du mich immer erhörst. Aber wegen der hier Anwesenden, wegen des ringsum stehenden Volkes habe ich es gesagt, damit sie glauben an dich, an mich und daran, daß du mich gesandt hast !”

Jesus verweilt noch einige Zeit in derselben Haltung. Er scheint in Ekstase zu sein, so verklärt ist er, während er lautlos noch andere geheime Worte des Gebetes oder der Verehrung spricht, ich weiß es nicht. Was ich weiß, ist, daß Jesus so übermenschlich erscheint, daß einem das Herz in der Brust erzittert , wenn man ihn ansieht. Es sieht aus, als ob sein Körper sich in Licht verwandeln, vergeistigen, größer werden und über der Erde schweben würde. Obwohl die Farben der Haare, der Augen, der Haut und der Kleider sich nicht verändern wie bei der Verklärung auf dem Tabor, als alles zu blendendem Licht und Glanz wurde, scheint Jesus Licht auszustrahlen und selbst Licht zu werden. Das Licht scheint ihn ganz einzuhüllen, besonders das zum Himmel erhobene, gewiß durch die Schauung des Vaters verzückte Antlitz. Jesus steht eine Weile so da, dann kommt er wieder zu sich: der Mensch, aber nun angetan mit Macht und Majestät.

Er begibt sich zur Schwelle des Grabes und streckt die Arme, die er bisher in Kreuzform und mit zum Himmel gekehrten Handflächen gehalten hat, nach vorne. Die Hände sind jetzt schon in der Höhle des Grabes und heben sich hell von deren Dunkel ab. Aus den Augen Jesu sprüht bläuliches Feuer , dessen wundertätiger Schein heute, in dieser stummen Schwärze, unerträglich ist, und mit mächtiger Stimme, mit einem noch lauteren Ruf als dem, mit welchem er auf dem See dem Sturm befahl, mit einer Stimme, wie ich sie bei keinem anderen Wunder gehört habe, ruft er:

Lazarus! Komm heraus! ” Die Stimme hallt als Echo aus der Grabeshöhle wider und verbreitet sich dann durch den ganzen Garten, schallt von den Hügeln Bethaniens zurück, und ich meine, sie erreicht sogar die Hänge jenseits der Felder und kehrt von dort vielstimmig und nur etwas gedämpft wieder, wie ein unwiderruflicher Befehl. Von vielen Seiten hört man das Echo: “Heraus! Heraus! Heraus!”

Alle erschauern zutiefst, und wenn auch die Neugierde sie an ihre Plätze bannt, so sind doch die Gesichter bleich , die Augen weit offen, und die Münder öffnen sich unbewußt, während aus den Kehlen Rufe des Staunens dringen. Martha, die etwas weiter hinten seitlich steht, schaut Jesus verzückt an. Maria fällt auf die Knie, sie, die nie von der Seite ihres Meisters gewichen ist, fällt am Eingang des Grabes auf die Knie. Eine Hand preßt sie aufs Herz, um sein heftiges Schlagen zu beruhigen, mit der anderen hält sie unbewußt und krampfhaft einen Zipfel des Mantels Jesu, und man merkt, daß sie zittert, denn eine leichte Erschütterung überträgt sich von der Hand auf den Mantel.

Etwas Weißes scheint aus der dunklen Tiefe der Höhle zu kommen. Erst ist es nur eine schmale geschweifte Linie, dann wird es ein Oval, und schließlich fügen sich dem Oval breitere und längere, immer länger werdende Linien an. Und der Tote in seinen Binden kommt langsam vorwärts, immer besser erkennbar, geisterhaft, beeindruckend. Jesus weicht zurück, weiter zurück, fast unmerklich, doch fortwährend, je weiter Lazarus herauskommt, und so bleibt die Entfernung zwischen beiden immer dieselbe.

Maria ist gezwungen, den Zipfel des Mantels loszulassen, aber sie rührt sich nicht von der Stelle. Die Freude, die Erregung, alles zusammen hält sie an ihrem Platz fest. Ein immer deutlicheres “Oh!” dringt aus den zuvor in gespannter Erwartung wie zugeschnürten Kehlen, und aus dem kaum hörbaren Flüstern werden laute Stimmen, aus den Stimmen mächtige Schreie. Lazarus hat nun die Schwelle erreicht und bleibt dort stehen, steif und stumm wie eine Gipsstatue, die eben aus der Form kommt... Ein unförmiges, langes Etwas, am Kopf und an den Beinen dünn, am Rumpf etwas breiter, grausig wie der Tod selbst, geisterhaft in den weißen Tüchern vor dem dunklen Hintergrund des Grabes. Im Licht der Sonne scheinen die Bandagen da und dort schon von Fäulnis durchtränkt.

Jesus ruft laut: “ Befreit ihn von den Binden und laßt ihn gehen. Gebt ihm Kleider und zu essen! ” - “Meister...!” sagt Martha, und sie würde vielleicht mehr sagen, aber Jesus sieht sie fest an, unterwirft sie mit seinem flammenden Blick und spricht: “ Hier! Sofort! Bringt ein Gewand! Kleidet ihn in Gegenwart aller an und gebt ihm dann zu essen! ” Jesus befiehlt und beachtet die neben und hinter ihm Stehenden nicht. Er blickt nur auf Lazarus, auf Maria, die neben dem Auferstandenen steht und sich nicht um den Ekel kümmert, den die fleckigen Binden bei allen hervorrufen, und auf Martha, die keucht, als ob ihr das Herz zerspringen wollte, und nicht weiß, ob sie vor Freude schreien oder weinen soll...

Die Diener beeilen sich, die Befehle Jesu auszuführen. Noomi eilt als erste fort und kommt auch als erste zurück mit den über den Arm geworfenen Gewändern. Einige lösen die Enden der Bandagen, nachdem sie sich die Ärmel aufgekrempelt und die Gewänder geschürzt haben, damit sie nicht mit der durchsickernden Fäulnis in Berührung kommen. Marcella und Sara kommen mit Gefäßen voll wohlriechender Salben. Diener folgen ihnen mit dampfend heißem Wasser in Becken und Krügen, Bechern mit Milch und Wein, mit Obst und Honigkuchen.

Die schmalen, sehr langen Binden, mir scheint aus Linnen, mit Borten an beiden Seiten und sicher eigens für diesen Gebrauch gewoben, werden wie Bänder von einer großen Spule abgerollt und fallen schwer zu Boden, da sie von Essenzen und Fäulnis durchtränkt sind. Die Diener schieben sie mit Stöcken beiseite. Sie haben am Kopf begonnen, und auch dort ist Fäulnis, die wohl aus Nase, Ohren und Mund kommt. Das über das Gesicht gebreitete Schweißtuch ist naß von diesem Ausfluß, und das Antlitz des Lazarus, mit der Salbe auf den geschlossenen Augen, mit den verklebten Haaren und dem spärlichen Bärtchen am Kinn ist ganz und gar nicht schön. Langsam fällt das Leichentuch, das Grabtuch, das um den Körper gewickelt war, so wie auch die Binden immer weiter fallen, allmählich den seit Tagen eng umwundenen Rumpf freigeben und dem, was bisher einer großen Larve ähnlich war, wieder menschliche Gestalt verleihen. Die knochigen Schultern, die zum Skelett abgemagerten Arme, die kaum von Haut bedeckten Hüften und der eingefallene Leib kommen nach und nach zum Vorschein.

Und so wie die Binden fallen, bemühen sich die Schwestern, Maximinus und die Diener, die dicke Schicht von Fäulnis und Salben zu entfernen. Und sie tun es so lange, mit immer wieder erneuertem Wasser, dessen reinigende Wirkung man durch hinzugefügte Essenzen verstärkt hat, bis die Haut vollkommen sauber ist. Kaum ist sein Gesicht ausgewickelt und gereinigt, so daß er sehen kann, und noch bevor er die Schwestern ansieht, richtet Lazarus mit einem Lächeln der Liebe auf den blassen Lippen und einem feuchten Schimmer in den tiefliegenden Augen seinen Blick auf Jesus. Alles andere, was um ihn herum vorgeht, übersieht er und beachtet es nicht. Auch Jesus lächelt ihm zu, und Tränen glänzen in seinen Augen. Dann weist er wortlos zum Himmel, und Lazarus begreift und bewegt die Lippen in lautlosem Gebet. Martha glaubt, daß Lazarus etwas sagen will, aber noch nicht dazu fähig ist, und fragt: “Was willst du mir sagen, mein Lazarus?” - “Nichts, Martha. Ich habe dem Allerhöchsten gedankt.” Seine Stimme ist klar und kräftig. Das Volk stößt wieder ein erstauntes “Oh!” aus. Nun haben sie Lazarus bis zu den Hüften ausgewickelt und gereinigt. Sie können ihm eine kurze Tunika überwerfen, eine Art Hemd, das über die Leisten hinabreicht und die Schenkel noch teilweise bedeckt.

Sie fordern ihn auf, sich zu setzen, um ihm die Beine auswickeln und waschen zu können. Als diese sichtbar werden, schreien Martha und Maria gleichzeitig auf und zeigen auf die Beine und die Binden. Auf den um die Beine gewickelten Binden und dem Linnen darunter sind die Absonderungen der Fäulnis so reichlich, daß sie kleine Rinnsale auf dem Stoff bilden, während die Beine vollkommen vernarbt zu sein scheinen. Nur die blaßroten Narben erinnern noch an die Geschwüre .Alle Anwesenden schreien nun noch lauter vor Staunen. Jesus lächelt, und auch Lazarus , der einen Augenblick seine geheilten Beine betrachtet und sich dann wieder abwendet und Jesus ansieht, lächelt. Es scheint, als könne Lazarus sich nicht sattsehen an ihm.

Die Juden, Pharisäer, Sadduzäer, Schriftgelehrten und Rabbis treten vor, aber sehr vorsichtig, um ihre Gewänder nicht zu verunreinigen. Sie betrachten Lazarus und auch Jesus aus allernächster Nähe. Doch weder Lazarus noch Jesus kümmern sich um sie. Sie blicken einander an, und alles andere ist bedeutungslos. Nun legt man Lazarus die Sandalen an. Er steht gewandt und sicher auf, nimmt das Gewand, das Martha ihm reicht, wirft es sich selbst über, befestigt den Gürtel und ordnet die Falten. Da steht er, mager und bleich, doch ein Mensch wie alle anderen . Er wäscht sich nochmals die Hände und die Arme bis zu den Ellenbogen, nachdem er die Ärmel zurückgeschlagen hat. Dann, mit frischem Wasser, erneut das Gesicht und den Kopf, bis er sich ganz sauber fühlt. Er trocknet das Haar und das Gesicht, gibt dem Diener das Handtuch zurück und geht geradewegs zu Jesus, um sich vor ihm niederzuwerfen und ihm die Füße zu küssen .

Jesus neigt sich zu ihm, richtet ihn auf, drückt ihn an sein Herz und sagt: “ Willkommen, mein Freund! Der Friede und die Freude seien mit dir. Du sollst leben, und dein glückliches Los soll sich erfüllen. Erhebe dein Antlitz, damit ich dir den Willkommenskuß geben kann .” Und er küßt Lazarus auf die Wangen und Lazarus küßt ihn. Erst nachdem Lazarus den Meister verehrt und geküßt hat, spricht er mit den Schwestern und küßt auch sie. Dann küßt er Maximinus und Noomi, die vor Freude weinen, und einige von denen, die ich für Verwandte oder intime Freunde halte. Schließlich küßt er auch Josef, Nikodemus, Simon den Zeloten und noch einige mehr.

Jesus geht persönlich zu einem Diener, der ein Tablett mit Speisen auf den Armen hält, und nimmt einen Honigkuchen, einen Apfel und einen Becher Wein, die er, nachdem er sie aufgeopfert und gesegnet hat, Lazarus anbietet, damit er sich stärken kann. Und Lazarus ißt mit dem gesunden Appetit eines Menschen, der sich wohl fühlt. Alle stoßen wiederum ein überraschtes “Oh!” aus. Es scheint, als ob Jesus nur Lazarus sähe, doch in Wirklichkeit beobachtet er alles und alle. Und als er sieht, daß Zadok, Hilkija, Hananja, Felix, Doras, Kornelius und andere Miene machen, sich mit zornigen Gebärden zu entfernen, sagt er laut: “Warte einen Augenblick, Zadok! Ich muß dir etwas sagen. Dir und Deinesgleichen!” Sie bleiben stehen und machen Gesichter wie ertappte Verbrecher.

Josef von Arimathäa ist sichtlich bestürzt und gibt dem Zeloten ein Zeichen, Jesus zurückzuhalten. Aber er geht schon auf die haßerfüllte Gruppe zu und sagt ebenso laut: “Genügt dir, was du gesehen hast, Zadok? Eines Tages hast du mir gesagt, um an mich glauben zu können, müßtest du - du und Deinesgleichen - sehen, wie ein schon verwester Toter wieder ganz und gesund wird. Hast du genug Verwesung gesehen? Bist du imstande zu bekennen, daß Lazarus tot war und nun lebendig ist, so lebendig und gesund, wie er es seit Jahren nicht mehr gewesen ist? Ich weiß, ihr seid gekommen, um diese hier zu versuchen und ihnen noch größeren Schmerz zu bereiten, ihre Zweifel noch zu verstärken. Ihr seid gekommen in der Hoffnung, mich im Zimmer des Sterbenden versteckt zu finden. Ihr seid gekommen, nicht aus dem Gefühl der Liebe und dem Wunsch, den Verstorbenen zu ehren, sondern um euch zu vergewissern, daß Lazarus wirklich tot war. Und ihr seid immer wieder gekommen und habt immer mehr gejubelt, je mehr Zeit vergangen ist. Wenn es so gegangen wäre, wie ihr es euch erhofft habt, wie ihr nun glaubtet, daß es gehen würde, dann hättet ihr allen Grund zum Jubeln gehabt. Der Freund, der alle heilt, aber seinen Freund nicht heilt. Der Meister, der jegliches Vertrauen belohnt, aber nicht das seiner Freunde in Bethanien. Der Meister, dessen Ohnmacht sich vor der Wirklichkeit des Todes offenbart. Das war es, worüber ihr gejubelt habt.

Aber nun hat Gott euch geantwortet. Kein Prophet konnte je auferwecken, was nicht nur tot, sondern schon verwest war. Gott hat es getan. Hier ist das lebendige Zeugnis dafür, wer ich bin.

Es gab einen Tag, da Gott Lehm nahm, einen Leib formte und ihm den Lebensodem einhauchte, und der Mensch war erschaffen. Und ich habe damals gesagt: „Lasset uns den Menschen machen nach unserem Bild und Gleichnis.“ Denn ich bin das Wort des Vaters. Heute habe ich, das Wort, zu dem, was noch weniger war als Lehm, was Verwesung war, gesagt: „Lebe!“ und die Verwesung wurde wieder zu Fleisch, zu gesundem Fleisch, das lebt und pulsiert. Und es sieht euch an. Und dem Fleisch habe ich den Geist zurückgegeben, der schon seit Tagen in Abrahams Schoß ruhte. Ich habe ihn zurückgerufen durch meinen Willen.

Denn ich vermag alles. Ich, der Lebendige, der König der Könige, dem alle Geschöpfe und Dinge unterworfen sind. Was habt ihr mir nun zu sagen?” Jesus steht vor ihnen, hochgewachsen, in strahlender Majestät, wahrhaft Richter und Gott. Sie antworten nicht. Jesus fährt fort: “Genügt euch das noch nicht, um zu glauben und das Unleugbare anzunehmen?” - “Du hast nur einen Teil deines Versprechens gehalten. Dies ist nicht das Zeichen des Jona...” sagt Zadok herb.

“Ihr werdet auch dieses bekommen. Ich habe es versprochen und werde es halten”, sagt der Herr. “Und auch ein anderer, der hier anwesend ist und auf ein Zeichen wartet, wird es erhalten. Und da er ein Gerechter ist, wird er es anerkennen. Ihr nicht. Ihr werdet immer bleiben, was ihr seid .” Jesus dreht sich halb um und sieht den Synedristen Simon, den Sohn des Heli-Hanna an. Er schaut ihm fest, sehr fest in die Augen, kehrt den vorigen den Rücken, und als sie sich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen, sagt er mit leiser, aber schneidender Stimme: “Dein Glück, daß Lazarus keine Erinnerung an seinen Aufenthalt unter den Toten hat! Was hast du mit deinem Vater gemacht, du Kain?” Simon flieht mit einem Angstschrei, der dann in einem Fluch endet : “Sei verflucht, du Nazarener!” worauf Jesus antwortet: “Dein Fluch steigt zum Himmel, und vom Himmel des Allerhöchsten fällt er auf dich zurück. Du bist mit dem Mal gezeichnet, Unseliger!”

Jesus kehrt zu den verblüfften, beinahe erschrockenen Gruppen zurück und begegnet Gamaliël, der sich gerade zur Straße begibt. Er sieht ihn an und Gamaliël ihn. Ohne stehen zu bleiben sagt Jesus: “Halte dich bereit, Rabbi. Das Zeichen wird bald erscheinen. Ich lüge nie.” Der Garten leert sich langsam.

Die Juden können es noch immer nicht fassen, doch die meisten glühen vor Zorn. Wenn ihre Blicke töten könnten, wäre Jesus längst tot. Sie reden und diskutieren im Fortgehen miteinander und sind so sehr durch die erlittene Niederlage verwirrt, daß sie es nicht mehr fertig bringen, den Zweck ihrer Anwesenheit hier hinter einer Maske der Freundschaft zu verbergen. Sie gehen, ohne Lazarus und die Schwestern zu grüßen . Einige, die der Herr durch sein Wunder für sich gewonnen hat, bleiben noch da. Unter diesen ist Josef Barnabas, der sich vor Jesus niederwirft und ihm huldigt. Dasselbe tut der Schriftgelehrte Joël, der Sohn des Abija, bevor er seines Weges geht. Und noch andere, die ich nicht kenne, die aber einflußreiche Persönlichkeiten sein müssen. Lazarus hat sich inzwischen, von seinen engsten Freunden umringt, ins Haus zurückgezogen. Josef, Nikodemus und die anderen Guten verabschieden sich von Jesus und gehen. Mit tiefen Verbeugungen verabschieden sich die Juden, die Martha und Maria beigestanden haben. Die Diener schließen das Tor. Im Haus herrscht wieder Friede.

Jesus schaut um sich. Er sieht Feuerschein und Rauch am Rand des Gartens, dort, wo das Grab liegt. Allein auf einem Weg zurückgeblieben, sagt er: “Die Fäulnis, die vom Feuer vernichtet wird... die Fäulnis des Todes... Aber jene der Herzen... dieser Herzen, kann kein Feuer vernichten... Nicht einmal das Feuer der Hölle. Sie wird ewig währen... Welch ein Greuel...! Schlimmer als der Tod... Schlimmer als die Verwesung... Und... Aber wer wird dich retten, o Menschheit, wenn du es so sehr liebst, verdorben zu sein? Du willst verdorben sein. Und ich... Ich habe mit einem Wort einen Menschen dem Grab entrissen... Und mit unzähligen Worten... mit einem Meer von Schmerzen kann ich den Menschen, die Menschen, Millionen Menschen, nicht der Sünde entreißen.” Jesus setzt sich und bedeckt sein Gesicht mit den Händen; er ist zutiefst betrübt...

Ein vorübergehender Diener sieht ihn. Er eilt ins Haus, und kurz darauf kommt Maria heraus. Sie geht zu Jesus mit lautlosen Schritten, als ob sie den Erdboden nicht berühre, nähert sich ihm und sagt leise: “ Rabbuni, du bist müde... Komm, mein Herr! Deine müden Apostel sind in das andere Haus gegangen, mit Ausnahme von Simon dem Zeloten. Du weinst, Meister? Warum...?

Sie kniet zu Füßen Jesu nieder... und beobachtet ihn... Jesus schaut sie an. Er antwortet nicht, steht auf und geht, von Maria gefolgt, ins Haus. Sie betreten einen Saal. Weder Lazarus noch der Zelote sind da. Doch Martha ist da, glücklich und vor Freude strahlend. Sie wendet sich Jesus zu und erklärt: “Lazarus nimmt ein Bad, um sich nochmals zu reinigen. Oh, Meister! Meister! Was soll ich sagen!” Sie betet ihn an mit ihrem ganzen Wesen. Dann bemerkt sie die Traurigkeit Jesu und sagt: “Du bist traurig, Herr? Bist du nicht glücklich, daß Lazarus...” Dann kommt ihr der Gedanke: “Oh, du bist meinetwegen so ernst! Ich habe gesündigt. Es ist wahr.” - “Wir haben gesündigt, Schwester”, sagt Maria. “Nein, du nicht! Oh, Meister... Maria hat nicht gesündigt. Maria hat zu gehorchen verstanden. Ich allein bin ungehorsam gewesen. Ich habe den Knecht gesandt, um dich rufen zu lassen, denn... denn ich konnte es nicht mehr mit anhören, wie sie behaupteten, daß du nicht der Messias seiest, der Herr... Und ich konnte dieses Leid nicht länger mit ansehen... Lazarus hat so sehr nach dir verlangt. Er hat so oft nach dir gerufen... Verzeih mir, Herr.” - “Und du, Maria, sagst nichts?” fragt Jesus. “Meister... ich... Ich habe nur als Frau gelitten. Ich habe gelitten, weil... Martha schwöre, schwöre hier vor dem Meister, daß du nie, niemals mit Lazarus über sein Delirium sprechen wirst ... Mein Meister... In den letzten Stunden des Lazarus habe ich dich in deiner ganzen Größe erkannt, o göttliche Barmherzigkeit. Oh, mein Gott! Wie sehr hast du mich geliebt, du, der du mir vergeben hast, du, Gott, du, der Reine, du... wenn mein Bruder, der mich doch auch liebt, der aber ein Mensch, nur ein Mensch ist, mir im Grund seines Herzens nicht alles verziehen hat?! Nein, ich drücke mich schlecht aus. Meine Vergangenheit hat er nicht vergessen... Und als die Schwäche des Todes seine Güte, die ich für das Vergessen der Vergangenheit hielt, überwältigt hatte, schrie er seinen Schmerz und seine Verachtung für mich hinaus ... Oh!...” Maria weint.

“Weine nicht, Maria. Gott hat dir verziehen und hat vergessen. Die Seele des Lazarus hat auch verziehen und vergessen, wollte vergessen. Der Mensch konnte nicht alles vergessen. Und als das Fleisch in seinem letzten Aufbäumen den geschwächten Willen überwältigte, hat der Mensch gesprochen.” - “Ich bin ihm deshalb nicht böse, Herr. Es hat mir geholfen, dich noch mehr zu lieben und auch Lazarus noch mehr zu lieben. Von diesem Augenblick an aber habe auch ich nach dir verlangt... denn die Angst, Lazarus würde meinetwegen nicht in Frieden sterben, war zu groß... Und danach, danach, als ich sah, daß die Juden über dich spotteten... als ich sah, daß du nicht einmal nach seinem Tod kamst, nicht einmal nachdem ich dir gehorcht und gehofft hatte über alle Hoffnung hinaus, nachdem ich gehofft hatte, bis das Grab geöffnet wurde, um ihn aufzunehmen, da hat auch mein Geist gelitten. Herr, wenn ich zu sühnen hatte, und gewiß hatte ich dies, so habe ich gesühnt, Herr...” - “Arme Maria. Ich kenne dein Herz. Du hast das Wunder verdient, und dies möge dich im Glauben und in der Hoffnung festigen.” -

“Mein Meister, ich werde nun immer glauben und hoffen. Ich werde nie mehr zweifeln, nie mehr, Herr. Ich werde im Glauben leben. Du hast mir die Fähigkeit gegeben, das Unglaubliche zu glauben.” - “Und du, Martha? Hast auch du es gelernt...? Nein, noch nicht. Du bist meine Martha, aber noch nicht meine vollkommene Anbeterin . Warum handelst du nur und betrachtest nicht? Das Betrachten ist heiliger. Siehst du? Deine Kraft, die sich zu sehr den irdischen Dingen zuwendet, hat dich im Stich gelassen angesichts der irdischen Tatsachen, für die es manchmal keine Hilfe zu geben scheint. Für die irdischen Probleme gibt es tatsächlich keine Hilfe, wenn Gott nicht eingreift. Das Geschöpf muß deshalb zu glauben und zu betrachten wissen. Es muß bis zum äußersten mit allen seinen menschlichen Kräften, mit den Gedanken, der Seele, dem Fleisch und dem Blut, zu lieben wissen. Ich wiederhole, mit allen Kräften, deren der Mensch fähig ist. Ich will dich stark, Martha. Ich will dich vollkommen. Du konntest nicht gehorchen, weil du es nicht verstanden hast, vollkommen zu glauben und zu hoffen; und du konntest nicht glauben und hoffen, weil du nicht vollkommen lieben konntest . Aber ich verzeihe dir. Ich spreche dich los, Martha . Ich habe heute Lazarus auferweckt. Nun gebe ich dir ein stärkeres Herz . Ihm habe ich das Leben wiedergegeben. Dir flöße ich die Kraft ein, in vollkommener Weise zu lieben, zu glauben und zu hoffen. Seid nun glücklich und im Frieden. Verzeiht allen, die euch in diesen Tagen gekränkt haben ...”

“Ja, Herr, hierin habe ich gefehlt. Vor kurzem sagte ich zu dem alten Hananja, der dich in den letzten Tagen verspottet hatte: „Wer hat nun gesiegt? Du oder Gott? Dein Spott oder mein Glaube? Christus ist der Lebendige und die Wahrheit. Ich wußte, daß seine Herrlichkeit noch wunderbarer erstrahlen würde. Und du, Alter, bessere und erneuere deine Seele, wenn du nicht den Tod kennen lernen willst.” - “Das hast du gut gesagt. Aber laß dich nicht mit den Bösewichtern ein, Maria. Verzeih, wenn du mich nachahmen willst...”

Da kommt Lazarus. Ich höre seine Stimme.” In der Tat kommt Lazarus herein, in neuen Kleidern und die Wangen glatt rasiert, die Haare geordnet und duftend. Bei ihm sind Maximinus und der Zelote. “Meister!” Lazarus kniet wiederum in anbetender Haltung nieder. Jesus legt ihm die Hand aufs Haupt und sagt lächelnd: “Die Prüfung ist bestanden, mein Freund. Für dich und die Schwestern. Seid nun glücklich und stark im Dienst des Herrn. An was erinnerst du dich von der Vergangenheit, mein Freund? Ich meine deine letzten Stunden...” - “Ich hatte großes Verlangen, dich zu sehen, und fand großen Frieden in der Liebe der Schwestern.” - “Und was hast du am meisten bedauert, auf Erden zurücklassen zu müssen?” - “Dich, Herr, und die Schwestern. Dich, weil ich dir nicht mehr dienen konnte, und sie, weil sie mir alles Glück geschenkt haben.” - “Oh, ich, Bruder!” seufzt Maria. “Du mehr als Martha. Du hast mir Jesus geschenkt und den Maßstab für das, was Jesus ist. Und Jesus hat mir dich gegeben. Du bist ein Geschenk Gottes, Maria.” - “Das hast du auch im Sterben gesagt...” sagt Maria und betrachtet prüfend das Gesicht des Bruders. “Es ist mein steter Gedanke!”

“Aber ich habe dir so viel Schmerz bereitet...” - “Auch die Krankheit hat Schmerzen bereitet. Doch dadurch hoffe ich, die Sünden des alten Lazarus gesühnt zu haben und zu einem neuen Leben, gereinigt und Gottes würdig, erstanden zu sein. Du und ich: die beiden, die auferstanden sind, um dem Herrn zu dienen... Und zwischen uns Martha, sie, die immer der Friede des Hauses gewesen ist.”

“Hörst du, Maria? Lazarus spricht Worte der Weisheit und der Wahrheit. Nun will ich mich zurückziehen und euch eurer Freude überlassen...” - “Nein, Herr, du bleibst bei uns. Hier. Bleibe in Bethanien und in meinem Haus. Es wird schön sein...” - “Ich werde bleiben. Ich will dich für alles entschädigen, was du gelitten hast. Martha, sei nicht traurig. Martha glaubt, sie hätte mich betrübt. Aber ich leide nicht euretwegen, sondern vielmehr deretwegen, die sich nicht bekehren wollen. Sie hassen immer mehr. Sie haben Gift im Herzen... Nun... wir wollen ihnen verzeihen.” - “Wir wollen ihnen verzeihen, Herr”, sagt Lazarus mit seinem sanften Lächeln... und mit diesen Worten ist alles zu Ende.

Jesus sagt: “Im Johannesevangelium, so wie man es jetzt seit Jahrhunderten liest, steht: „Jesus aber war noch nicht in das Dorf gekommen“ [Joh 11,30]. Um möglichen Einwänden zuvorzukommen, möchte ich bemerken, daß zwischen diesem Satz und dem des vorliegenden Werkes, in dem es heißt, daß ich Martha wenige Schritte vom Wasserbecken im Garten des Lazarus entfernt traf, kein wirklicher Widerspruch besteht, sondern lediglich Übersetzung und Beschreibung unterschiedlich sind. Bethanien gehörte zu drei Vierteln Lazarus, ebenso wie ein großer Teil Jerusalems ihm gehörte . Aber sprechen wir von Bethanien. Da es ihm zu drei Vierteln gehörte, konnte man sagen: Bethanien des Lazarus. Daher wäre der Text auch nicht falsch, selbst wenn ich Martha im Ort oder am Brunnen getroffen hätte, wie einige sagen wollen. Aber ich hatte tatsächlich das Dorf nicht betreten, um zu vermeiden, daß die Bewohner herbeieilen, die dem Synedrium alle feindlich gesinnt waren. Ich war hinten um das Dorf herumgegangen zum Haus des Lazarus, das genau am entgegengesetzten Ende liegt, wenn man von En-Schemesch nach Bethanien kommt. Und deshalb sagt Johannes, daß Jesus den Ort noch nicht betreten hatte. Ebenso richtig sagt der kleine Johannes, daß ich am Wasserbecken stehen geblieben war (dem Brunnen für die Hebräer), das schon im Garten des Lazarus liegt, aber noch sehr weit entfernt vom Haus. Ferner ist zu bedenken, daß die Schwestern während der Zeit der Trauer und der Unreinheit (der siebte Tag nach dem Tod war noch nicht gekommen) das Haus nicht verließen. Daher fand die Begegnung im Bereich ihres Besitzes statt. Beachtet auch, daß der kleine Johannes berichtet, die Bewohner von Bethanien seien erst in den Garten gekommen, als ich schon anordnete, den Stein zu entfernen. Zuvor wußte man also in Bethanien nicht, daß ich dort war, und erst als die Nachricht sich verbreitete, kamen sie zu Lazarus.”

     Inhaltsverzeichnis

Jesus kommt nach Bethanien - 636

Sie müssen auf halbem Weg zwischen Jericho und Bethanien gerastet haben, denn als sie die ersten Häuser Bethaniens erreichen, trocknet gerade der letzte Tau auf den Blättern und den Gräsern der Wiesen, und die Sonne steht hoch am Himmel. Die Landarbeiter in der Umgebung werfen ihre Geräte weg und eilen zu Jesus, der im Vorübergehen Menschen und Pflanzen segnet, da ihn die Arbeiter inständig bitten. Frauen und Kinder laufen herbei mit den ersten Mandeln, die noch in ihrer feinen silbergrauen Plüschhülle stecken, und mit den letzten Blütenzweigen spät blühender Obstbäume. Ich stelle fest, daß hier in der Gegend von Jerusalem - vielleicht bedingt durch die Höhenlage oder durch die Winde, die von den höchsten Gipfeln Judäas kommen, oder wer weiß aus welchem anderen Grund, vielleicht auch wegen der Verschiedenartigkeit der Bäume - noch viele Obstbäume in Blüte stehen und leichten weißen bis rosaroten, über dem Grün der Wiesen schwebenden Wolken gleichen. Unter den hohen Stämmen zittern leise die zarten Blätter der Weinstöcke, wie große Schmetterlinge aus kostbarem Smaragd, die mit einem Faden an die rauhen Zweige gebunden sind.

Während Jesus am Brunnen ausruht, wo die Felder enden und das Städtchen beginnt, und fast ganz Bethanien ihn begrüßt, eilt Lazarus mit den Schwestern herbei, um sich vor dem Herrn niederzuwerfen. Und obwohl erst wenig mehr als zwei Tage vergangen sind, seit Maria ihren Meister verlassen hat, scheinen es Jahre zu sein, seit sie ihn gesehen hat; denn sie wird nicht müde, die staubigen Füße in den Sandalen zu küssen. “Komm, mein Herr. Das Haus erwartet dich, um sich deiner Gegenwart zu erfreuen”, sagt Lazarus und begibt sich an die Seite Jesu. Sie machen sich langsam auf den Weg, soweit die Leute es zulassen, die sie umringen, und die Kinder, die sich an das Gewand Jesu hängen, vor ihm herlaufen und dabei nach hinten und hinauf schauen, wobei sie stolpern und auch andere zum Stolpern bringen, so daß Jesus als erster und dann Lazarus und die Apostel die Kleinsten auf den Arm nehmen, um rascher voranzukommen. An der Stelle, wo ein kleiner Weg zum Haus Simons des Zeloten führt, warten Maria und ihre Schwägerin, Maria Salome, und Susanna.

Jesus bleibt stehen, um die Mutter zu begrüßen, und geht dann weiter bis zu dem großen, weit geöffneten Tor, wo Maximinus, Sara, Marcella und hinter diesen die zahlreichen Bediensteten, angefangen von denen des Hauses bis zu den Landarbeitern, stehen. Alle geordnet, alle glücklich und aufgeregt in ihrer Freude, die sich in einem Hosanna Luft macht, und im Schwenken von Kopfbedeckungen und Schleiern und Werfen von Blumen und Myrten- und Lorbeerzweigen, von Rosen und Jasmin, deren prächtige Blüten in der Sonne glänzen oder sich wie strahlende Sterne vom braunen Erdboden abheben. Ein Duft von Blütenblättern und zertretenen aromatischen Blättern steigt von der sonnenerwärmten Erde auf, und Jesus schreitet über diesen duftenden Teppich.

Maria von Magdala, die ihm mit gesenktem Blick folgt und sich bei jedem seiner Schritte bückt, gleicht einer Ährenleserin, die dem Garbenbinder folgt und jeden Zweig, jede Blüte und sogar jedes Blütenblatt aufhebt, auf das die Füße Jesu getreten sind. Maximinus gibt Anweisung, die schon vorbereiteten Süßigkeiten an die Kinder zu verteilen, um das Tor schließen zu können und den Gästen etwas Ruhe zu verschaffen. Übrigens eine praktische Art, die Kinder vom Herrn abzulenken und sie fortzuschicken, ohne daß sich jammernde und weinende Chöre bilden. Die Diener gehorchen und tragen Körbe voller Küchlein mit weißbraunen Mandeln hinaus auf die Straße. Und während die Kleinen sich dort zusammendrängen, schicken andere Diener die Erwachsenen fort, unter denen sich auch Zachäus und die vier von Jericho befinden, also Joël, Judas, Eliël und Elkana, zusammen mit anderen, die ich nicht erkenne, auch weil sie alle das Gesicht verhüllt haben, da ein ziemlich heftiger Wind den Staub der Straße aufwirbelt und die Sonne schon stark brennt. Doch Jesus, der schon ein gutes Stück gegangen ist, wendet sich um und sagt: “Wartet. Ich muß noch jemandem etwas sagen.”

Er begibt sich zu den Brüdern Johannas, nimmt sie beiseite und sagt: “Ich bitte euch, geht zu Johanna und richtet ihr aus, daß sie zu mir kommen soll mit allen Frauen, die bei ihr sind , und mit Annalia, der Jüngerin von Ofel. Sie soll morgen kommen. Denn morgen abend beginnt der Sabbat, und ich möchte ihn mit den Freunden von Bethanien verbringen. In Frieden.” - “Wir werden es ihr ausrichten, Herr, und Johanna wird kommen.” Jesus entläßt sie und wendet sich an Joël: “ Teile Nikodemus und Josef mit, daß ich angekommen bin und am Tag nach dem Sabbat in die Stadt gehen werde .” - “Oh, sei vorsichtig, Herr!” sagt der gute Schriftgelehrte besorgt. “Geh und sei stark! Wer gerecht handelt und an meine Wahrheit glaubt, darf keine Furcht haben; er muß sich vielmehr freuen, denn die alte Verheißung geht in Erfüllung.” - “Oh, ich werde aus Jerusalem fliehen, Herr. Ich bin ein Mensch mit schwacher Gesundheit; du siehst es und du weißt, daß ich deshalb auch verspottet werde. Ich könnte es nicht mit ansehen, wenn sie...” - “Dein Engel wird dich leiten. Geh in Frieden.” -

“Werde ich dich noch einmal sehen, Herr?” - “Gewiß wirst du mich noch einmal sehen. Aber solange du mich nicht wieder siehst, denke daran, daß deine Liebe mir sehr viel Freude bereitet hat in den Stunden der Schmerzen.” Joël ergreift die Hand, die Jesus ihm auf die Schulter gelegt hat, und drückt sie an seine Lippen und küßt sie; durch den dünnen Schleier der Kopfbedeckung fallen Tränen auf die Hand Jesu. Dann entfernt sich Joël, und Jesus geht zu Zachäus: “Wo sind die Deinen?” - “Sie sind am Brunnen geblieben, Herr. Ich habe ihnen gesagt, daß sie dort bleiben sollen.” - “Begib dich zu ihnen und geh mit ihnen nach Betfage, wo meine ältesten und getreuesten Jünger sind. Sage Isaak, ihrem Oberhaupt, daß sie sich in der Stadt verteilen sollen, um alle Gruppen von Jüngern zu benachrichtigen, daß ich am Morgen nach dem Sabbat um die dritte Stunde von Betfage kommend in Jerusalem einziehen und feierlich zum Tempel hinauf reiten werde . Sage Isaak, daß diese Nachricht nur für die Jünger ist. Er wird verstehen, was ich damit meine.” - “Auch ich verstehe es, Meister. Du willst die Juden überraschen, damit sie deinen Einzug nicht verhindern können.”

“So ist es. Tue also, wie ich dir sage, und denke daran, daß es ein vertraulicher Auftrag ist. Ich bediene mich deiner und nicht des Lazarus.” - “Und das beweist mir, daß deine Güte mir gegenüber ohne Maß ist. Ich danke dir, Herr.” Er küßt die Hand des Meisters und geht. Jesus will zu seinen Gastgebern zurückkehren.

Doch vom Tor her, durch das die letzte Gruppe von den Dienern eben hinausgeschoben wird, kommt ein Jüngling gelaufen. Er wirft sich Jesus zu Füßen und ruft aus: “Segne mich, Meister! Erkennst du mich wieder?” Und er erhebt das Antlitz, das nicht verhüllt ist. “Ja, du bist Josef, genannt Barnabas, der Schüler des Gamaliël. Du bist mir bei Gischala begegnet.” - “Und ich folge dir schon seit vielen Tagen. Ich war in Schilo, als ich von Gischala kam, wohin ich mit dem Rabbi gegangen war in der Zeit, in der du nicht da warst. Ich bin dort geblieben und habe bis zum Mond des Nisan die Schriftrollen studiert. Ich war in Schilo, als du dort gesprochen hast, und ich bin dir nach Lebona und nach Sichem gefolgt. Dann habe ich in Jericho auf dich gewartet, denn ich hatte erfahren, daß du...” Er unterbricht sich plötzlich, als sei ihm bewußt geworden, daß er im Begriff war, etwas zu sagen, was er verschweigen muß. Jesus lächelt sanft und sagt: “Die Wahrheit drängt sich gewaltsam auf wahrheitsliebende Lippen und durchbricht oft die Schranken, die die Klugheit vor den Lippen errichtet. Aber ich werde deinen Gedanken zu Ende führen: „denn du hattest von Judas Iskariot, der in Sichem geblieben war, erfahren, daß ich nach Jericho gehen würde, um meine Jünger zu treffen und ihnen Anweisungen zu geben.“ Und du bist dorthin gegangen, um mich zu erwarten, ohne dich darum zu kümmern, daß man dich sehen könnte, daß du Zeit verlieren und an der Seite deines Meisters Gamaliël fehlen würdest.” -

“Er wird mich nicht tadeln, wenn er erfährt, daß ich mich verspätet habe, weil ich dir gefolgt bin. Ich werde ihm deine Worte als Geschenk überbringen.” - “Oh, der Rabbi Gamaliël braucht keine Worte. Er ist der weise Rabbi Israels!”

“Ja, kein anderer Rabbi kann ihn belehren über Vergangenes, keiner, denn er weiß alles Frühere. Nur du weißt mehr, denn du hast neue Worte voll des frischen Lebens, des Neuen. Deine Worte sind wie der Lebenssaft im Frühling. Und es ist Rabbi Gamaliël, der dies gesagt und hinzugefügt hat, daß die nun vom Staub der Jahrhunderte bedeckten Weisheiten, die trocken und matt geworden sind, lebendig und strahlend werden, wenn dein Wort sie erklärt . Oh, ich werde ihm deine Worte überbringen.” - “Und meinen Gruß. Sage ihm, er möge sein Herz, seinen Verstand, seine Augen und seine Ohren öffnen, denn seine mehr als zwanzig Jahre alte Frage wird beantwortet werden. Geh nun. Gott sei mit dir.” Der Jüngling verneigt sich nochmals, um die Füße des Meisters zu küssen, und geht dann. Nun können die Diener endlich das Tor schließen, und Jesus kann sich zu seinen Freunden begeben.

“Ich habe mir erlaubt, für morgen die Jüngerinnen hierher einzuladen “, sagt Jesus, stellt sich neben Lazarus und legt ihm einen Arm um die Schultern. “Das hast du gut gemacht, Herr. Mein Haus ist dein Haus , du weißt es. Deine Mutter hat es vorgezogen, im Haus des Simon zu wohnen , und ich achte ihren Wunsch. Doch hoffe ich, daß du unter meinem Dach bleiben wirst.” - “Ja... Obwohl auch das andere dein Dach ist. Einer der ersten Beweise deiner Großzügigkeit mir und meinen Freunden gegenüber. Wie viel hast du mir schon geholfen, mein Freund!” - “Und ich hoffe, dir noch lange nützlich sein zu können. Doch deine Worte entsprechen nicht ganz der Wahrheit, weiser Meister. Nicht ich habe mich dir gegenüber großzügig erwiesen, sondern du dich mir gegenüber. Ich bin dein Schuldner. Und wenn ich dir einen kleinen Teil meiner Schulden zurückerstatte, was ist diese elende Gabe schon im Vergleich zu den Schätzen, die ich von dir empfangen habe? „Gebt, und es wird euch gegeben werden“, hast du gesagt. „Ein gerütteltes, übervolles Maß wird euch in den Schoß gelegt werden, und ihr werdet das Hundertfache erhalten von dem, was ihr gegeben habt“, sagst du. Ich habe schon hundertmal das Hundertfache erhalten, bevor ich etwas gegeben habe. Oh, ich erinnere mich unserer ersten Begegnung! Du, der Herr und Gott, dem zu nahen die Serafim nicht würdig sind, bist zu mir gekommen, der ich einsam und betrübt war ... und mich mit meiner Traurigkeit hierher zurückgezogen hatte... Du bist zu Lazarus gekommen, dem Menschen, der von allen gemieden wurde mit Ausnahme von Josef, Nikodemus und meinem treuen Freund Simon, der selbst als lebendig Begrabener nicht aufgehört hat, mich zu lieben... Du wolltest nicht, daß meine Freude, dich zu sehen, getrübt würde durch die gehässige Verachtung der Welt... Unsere erste Begegnung! Ich könnte dir jedes deiner Worte von damals wiederholen... Was hatte ich dir damals schon gegeben, da ich dich nie zuvor gesehen hatte, um von dir sofort das Hundertfache des Hundertfachen zu erhalten?” -

“Deine Gebete zum Allerhöchsten, zu unserem Vater. Unserem Vater, Lazarus. Meinem und deinem. Meinem als Wort und Mensch. Deinem als Mensch. Als du mit so viel Vertrauen betetest, hast du dich mir da nicht schon ganz gegeben? Du siehst also, daß ich dir, wie es gerecht ist, das Hundertfache von dem gegeben habe, was du mir gegeben hattest.” - “ Deine Güte ist unendlich, Meister und Herr . Du belohnst mit göttlicher Großzügigkeit schon im voraus, sobald du einen als deinen Diener erkennst, selbst wenn dieser sich dessen noch nicht bewußt ist.” - “Meinen Freund, nicht meinen Diener. Denn wahrlich, jene, die den Willen meines Vaters tun und der Wahrheit folgen, die er gesandt hat, sind meine Freunde und nicht mehr meine Diener. Sie sind noch mehr: sie sind meine Brüder, da ich als erster den Willen meines Vaters tue. Wer also tut, was ich tue, ist mein Freund; denn nur der Freund tut spontan, was sein Freund tut .” - “So soll es immer bleiben zwischen dir und mir, Herr. Wann wirst du in die Stadt gehen?” -

“Am Morgen nach dem Sabbat.” - “Ich werde mitkommen.” - “Nein, du wirst nicht mit mir kommen. Ich werde dir später erklären warum. Ich möchte dich um etwas anderes bitten...” - “Ich bin dir immer zu Diensten, Meister. Auch ich möchte etwas mit dir besprechen...” - “Wir werden später miteinander reden.” - “Möchtest du, daß wir den Sabbat unter uns feiern, oder soll ich die üblichen Freunde einladen?” - “Ich würde dich bitten, es nicht zu tun. Ich habe den lebhaften Wunsch, diese Stunden allein mit euch, den klugen und friedfertigen Freunden zu verbringen, ohne mir inneren oder äußeren Zwang antun zu müssen; in der süßen Freiheit dessen, der unter so lieben Freunden weilt, daß er sich bei ihnen wie zu Hause fühlt.” - “Wie du willst, Herr. Ja... eigentlich habe ich mir gerade das gewünscht. Aber es schien mir Egoismus meinen Freunden gegenüber zu sein; denn wenn sie auch nicht mir dir, dem wahren Freund, gleichzusetzen sind, so habe ich sie doch lieb. Aber da du es so haben willst... Bist du müde, Herr? Oder besorgt...?” Lazarus fragt mehr mit Blicken als mit Worten seinen Freund und Meister, der ihm nur mit einem Aufleuchten seiner etwas traurigen, etwas abwesend drein- schauenden Augen und dem schwachen Lächeln seines Mundes antwortet.

Jesus und Lazarus sind allein an dem Becken zurückgeblieben, in dem der Wasserstrahl ruhig vor sich hin plätschert. Die anderen sind alle ins Haus gegangen, und man hört Stimmen und das Klirren von Eßgeschirr... Maria von Magdala streckt zwei- oder dreimal ihren blonden Kopf zur Türe heraus, die mit einem schweren, sich leicht im Wind bewegenden Vorhang verhangen ist. Der Wind wird stärker, und der Himmel bedeckt sich mit immer dunkleren Wolkenfetzen. Lazarus schaut hinauf und prüft den Himmel. “Vielleicht gibt es ein Gewitter”, sagt er.

Und fügt hinzu: “Es würde dazu beitragen, daß die widerspenstigen Knospen sich öffnen, die dieses Jahr so lange brauchen... Vielleicht waren es die späten Fröste, die das Wachstum verzögert haben. Auch meine Mandelbäume haben darunter gelitten, und ein Teil der Ernte ist verloren gegangen. Josef sagte mir, daß einer seiner Obstgärten vor dem Gerichtstor dieses Jahr vollkommen unfruchtbar zu sein scheint. Die Bäume halten ihre Knospen zurück, als seien sie verhext. Und er ist am überlegen, ob er sie stehen lassen oder als Holz verkaufen soll. Nicht eine einzige Blüte. Wie sie im Tebet waren, so sind sie bis heute geblieben. Harte, verschlossene Knospen, die einfach nicht größer werden. Allerdings weht ein starker Nordwind in dieser Gegend; und diesen Winter haben wir oft Nordwind gehabt. Auch meinen Garten auf der anderen Seite des Kidron hat er geschädigt. Aber das Phänomen im Garten des Josef ist so eigenartig, daß viele hingehen, um den Ort zu besichtigen, der sich nicht zum Frühling bekennen will.”

Jesus lächelt... “Du lächelst? Warum?” - “Über die Kindlichkeit dieser ewigen Kinder, der Menschen. Alles was eigenartig ist, fasziniert sie... Aber der Obstgarten wird blühen, zu seiner Zeit .” - “Die Zeit ist schon vorbei, Herr. Wann hat man je gesehen, daß beim Mond des Nisan so viele Bäume am selben Ort noch nicht geblüht haben? Wie lange muß denn dieser Ort noch warten, bis die richtige Zeit gekommen ist?” - “So lange, bis er mit seinen Blüten Gott verherrlichen kann.” - “Ach so! Ich verstehe! Du wirst hingehen und den Ort segnen, aus Liebe zu Josef, und der Obstgarten wird erblühen und Gott und seinen Messias durch ein neues Wunder verherrlichen. So ist es! Du gehst hin... Darf ich es Josef schon sagen, wenn ich ihn sehe?” - “Wenn du glaubst, es ihm sagen zu müssen... Ja, ich werde hingehen...” - “An welchem Tag, Herr? Ich möchte auch dabei sein.” - “Bist denn auch du ein ewiges Kind?” Jesus lächelt noch mehr und schüttelt gutmütig das Haupt über die Neugier des Freundes, der ausruft: “Oh, wie bin ich glücklich, dich erheitert zu haben, Herr. Ich sehe dein Antlitz wieder strahlend lächeln, wie ich es schon lange nicht mehr gesehen habe! Also... darf ich kommen?” - “Nein, Lazarus. Am Rüsttag vor dem Paschafest brauche ich dich hier .” -

“Aber am Rüsttag bereitet man sich doch ausschließlich auf das Paschafest vor! Und du... Meister, warum willst du etwas tun, weswegen man dich tadeln wird? Geh doch an einem anderen Tag dorthin...” - “Ich werde gerade am Rüsttag hingehen müssen. Aber ich werde nicht der einzige sein, der Dinge tut, die nichts mit der Vorbereitung auf das alte Paschafest zu tun haben . Auch die Strenggläubigsten in Israel, wie Hilkija, Doras, Simon, Zadok und Ismael, und sogar Hannas und Kajaphas werden ganz neuartige Dinge tun...” - “Wird denn ganz Israel von Sinnen sein?!” - “Du sagst es.” - “Aber du... Oh, es regnet schon. Gehen wir ins Haus, Meister... Ich... ich bin in Sorge... Wirst du mir nicht erklären...?”

“Ja, bevor ich dich verlasse, werde ich dir alles erklären... Da kommt deine Schwester und bringt ein schweres Tuch. Sie fürchtet, daß wir naß werden. Oh, Martha! Du bist immer fürsorglich und rührig. Aber es regnet nicht viel.” - “Meine gute Schwester! Besser: meine Schwestern. Nur sind beide wie zwei kleine Mädchen, die keine Bosheit kennen; Maria ebenso wie Martha. Als Maria vorgestern von Jericho kam, glich sie wahrhaft einem Mädchen. Die Zöpfe hingen ihr herunter, weil sie die Haarnadeln verkauft hatte, um Sandalen für einen kleinen Jungen zu kaufen, und die dünnen Nadeln aus Eisen ihr schweres Haar nicht halten konnten. Sie lachte, als sie beim Aussteigen aus dem Wagen zu mir sagte: „Bruder, nun weiß ich, was es heißt, etwas verkaufen zu müssen, um etwas kaufen zu können, und wie schwierig für einen Armen selbst die einfachsten Dinge sind, wie zum Beispiel die Haare mit Nadeln zusammenzuhalten, von denen man zwanzig für eine Doppeldrachme erhält. Ich werde es mir merken und in Zukunft noch barmherziger mit den Armen sein.“ Wie hast du sie doch verändert, Herr !” Sie, von der Jesus und Lazarus beim Betreten des Hauses gesprochen haben, wartet bereits mit Krügen und Schüsseln, um ihren Herrn zu bedienen. Sie will niemandem die Ehre abtreten, ihm zu dienen. Und sie gibt sich nicht zufrieden, bis sie nicht für jede nur mögliche Erquickung für Leib und Seele ihres Meisters gesorgt hat und ihn mit neuen Sandalen in den für ihn bestimmten Raum gehen sieht, wo ihn schon die Mutter mit einem frischen, nach Sonne duftenden Linnengewand erwartet...

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Auf dem Kreuzweg - Unter 669

Der Weg führt weiter, um den Berg herum und beinahe wieder bis zu der steilen Straße vorn. Dort steht Maria mit Johannes . Wahrscheinlich hat Johannes Maria an diese schattige Stelle hinter dem Berghang geführt, um sie ein wenig zu Kräften kommen zu lassen. Es ist der steilere Teil des Berges, und nur dieser Weg führt hier um ihn herum. Sonst steigt der Hang steil an und fällt ebenso steil ab. Deshalb haben die Grausamen ihn auch gemieden. Dort ist es schattig, denn es ist wohl die Nordseite, und Maria, die sich an den Berg lehnt, ist vor der Sonne geschützt. Sie steht zwar, stützt sich aber auf das Erdreich und ist völlig erschöpft. Auch sie keucht und ist blaß wie der Tod in ihrem dunkelblauen, fast schwarzen Gewand. Johannes betrachtet sie mit untröstlichem Mitleid. Auch er hat wie ein Kranker jede Spur von Farbe verloren und ist erdfahl, mit zwei müden, verstörten Augen, ungekämmt und mit eingefallenen Wangen.

Die anderen Frauen, Maria und Martha des Lazarus , Maria des Alphäus und Maria des Zebedäus, Susanna von Kana, die Hauswirtin und andere, die ich nicht kenne, stehen alle mitten auf der Straße und halten nach dem Erlöser Ausschau. Als sie Longinus kommen sehen, eilen sie zu Maria, um es ihr mitzuteilen. Maria, von Johannes an einem Ellbogen gestützt, verläßt - majestätisch in ihrem Schmerz - die Bergwand und begibt sich entschlossen in die Mitte der Straße. Beim Herannahen des Longinus tritt sie ein wenig zur Seite. Dieser blickt von seinem Pferd herab auf die bleiche Frau und ihren blonden Begleiter, der dieselben sanften himmelblauen Augen hat wie sie, und schüttelt den Kopf im Vorüberreiten, gefolgt von den elf Berittenen.

Kreuzigung - Unter 570

...Maria Magdalena tritt auf sie zu, während die anderen entsetzt hinter die Hirten flüchten. In ihrem Schmerz kehrt die alte Dreistigkeit aus der Zeit ihrer Sünde wieder und sie ruft: “Geht nur! Ihr werdet im Palast römische Soldaten und fünfhundert Bewaffnete von meinen Feldern antreffen, die euch kastrieren werden wie alte Böcke, die zur Mahlzeit für die Sklaven an den Mühlen bestimmt sind.”

“Unverschämte! So redest du mit den Priestern?” - “ Gotteslästerer! Schamlose! Verfluchte! Dreht euch um! Hinter euch, ich sehe es, lodern schon die Flammen des höllischen Feuers auf !” Die Feiglinge wenden sich tatsächlich erschrocken um, denn Maria sagt dies mit so großer Sicherheit. Und wenn hinter ihnen auch keine Flammen sind, so doch die sehr spitzen Lanzen der Römer.

Denn Longinus hat einen Befehl erteilt, und die halbe Zenturie, die bisher untätig war, tut nun Dienst, indem sie die ersten, die ihr in den Weg geraten, in die Hinter- backen sticht. Diese fliehen schreiend auseinander, und die halbe Zenturie bleibt, um die beiden Wege abzuriegeln und einen Wall um den Platz zu bilden. Die Juden fluchen, aber Rom ist stärker.

Magdalena läßt ihren Schleier, den sie zurückgeschlagen hatte, um den Beleidigern zu entgegnen, wieder herunter und kehrt an ihren Platz zurück. Auch die anderen Frauen kommen zu ihr zurück...

Dann wankt sie (Maria) und würde fallen, wenn Johannes sie nicht auffangen und an sein Herz drücken würde. Er setzt sich auf den Boden, um sie besser halten zu können, bis die Marien, die nun nicht mehr von dem oberen Ring der Bewaffneten zurückgehalten werden, den Apostel bei der Mutter ablösen. Denn seit die Juden geflohen sind, stehen die Römer alle zusammen auf dem unteren Platz und machen ihre Kommentare über das Vorgefallene. Magdalena setzt sich an die Stelle, an der Johannes gesessen ist, und nimmt Maria fest auf den Schoß , hält sie in den Armen an ihrer Brust, küßt das blutleere, an die barmherzige Schulter gelehnte Gesicht. Martha und Susanna befeuchten ihr mit einem in Essig getauchten Schwamm und einem Tuch die Schläfen und die Nasenlöcher, während die Schwägerin Maria die Hände küßt und sie verzweifelt beim Namen ruft.

Als Maria die Augen öffnet und benommen vor Schmerz um sich schaut, sagt sie: “Kind, mein liebes Kind, hör zu... Sage mir, daß du mich siehst... Ich bin deine Maria... Schau mich nicht so an...! Und als das erste Schluchzen aus der Kehle Marias dringt und die ersten Tränen fallen, sagt sie, die gute Maria des Alphäus: “Ja, ja, weine nur... Hier bei mir, wie bei einer Mutter, mein armes, heiliges Kind!” Als sie sagen hört: “Oh, Maria! Maria, hast du gesehen?”, da stöhnt sie: “Ja, ja... aber... aber Kind... Oh, Kind...!” Sie weiß nichts anderes zu sagen und weint, die alte Maria. Ein trostloses Weinen , in das alle anderen einstimmen, also Martha und Maria , die Mutter des Johannes und Susanna. Die anderen frommen Frauen sind nicht mehr da. Ich nehme an, daß sie fort gegangen sind, und ebenso die Hirten, als man den Schrei der Frau gehört hat... Ein langes Schweigen...

Beim Begräbnis

Dann geben Nikodemus und Josef, Johannes und Magdalena ein Zeichen. “Komm, Mutter.” Magdalena hat das Wort ergriffen und versucht, Maria von ihrem Sohn wegzuführen , die Finger Jesu aus denen der Mutter zu lösen, die sie immer noch küßt und weint. Die Mutter richtet sich feierlich auf. Ein letztes Mal streckt sie die armen, blutleeren Finger aus und legt die leblose Hand in die Seite des Leichnams. Dann läßt sie die Arme sinken, steht sehr gerade und mit leicht zurück geneigtem Haupt und betet und opfert. Man hört kein Wort. Aber ihr ganzes Aussehen läßt erkennen, daß sie betet. Sie ist wahrlich die Priesterin am Altar, die Priesterin im Augenblick der Opferung. “Offerimus praeclarae majestati tuae de tuis donis, ac datis, hostiam puram, hostiam sanctam, hostiam immaculatam...”
[Gebet aus dem röm. Kanon nach der Wandlung.]

Dann wendet sie sich um: “ Fangt also an. Aber er wird auferstehen . Es ist unnütz, daß ihr meinem Verstand mißtraut und taub seid für die Wahrheit, die er euch gesagt hat. Vergebens versucht Satan, meinen Glauben zu trüben.

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Nacht des Karfreitags - 673

... Sie weinen alle verzweifelt. Alle, mit Ausnahme der Hausherrin, die gegangen ist, um ein Versteck für ihren Mann zu suchen, und Maria Magdalena, die nicht weint . Aber ihre Augen sprühen Feuer, und sie ist wieder die herrschsüchtige Frau von einst geworden. Sie sagt nichts. Aber sie schaut die niedergeschlagenen Gefährtinnen verächtlich an, und ihre Augen sagen ganz klar: “Ihr Memmen!”
   So vergeht die Zeit...

674 Alle sind niedergeschlagen... Dann sagt Martha: “Wir hätten Nike fragen können, ob es wahr ist, was wir über Johanna und von den Unruhen gehört haben...” - “Das ist wahr! Aber wir sind töricht. Wir hätten auch die Salben holen können. Isaak war auf der Schwelle, als wir zurückkamen...” -

“Im Palast sind viele Gefäße mit Essenzen, und auch feinen Weihrauch haben wir dort. Ich werde sie holen.” Maria Magdalena steht von ihrem Platz auf und legt ihren Mantel um . Martha schreit: “Du gehst nicht!” - “ Ich gehe !” - “Du bist von Sinnen! Sie werden dich gefangen nehmen!” - “Deine Schwester hat recht. Geh nicht!” - “ Oh, was seid ihr für unnütze, heulende Frauenzimmer ! Jesus hatte wahrhaftig eine schöne Schar von Anhängern. Ist euer Vorrat an Mut schon erschöpft? Bei mir ist es umgekehrt. Je mehr ich davon verbrauche, desto größer wird er.” - “Dann werde ich mit ihr gehen. Ich bin ein Mann.” - “Und ich bin deine Mutter und verbiete es dir!” - “Beruhige dich, Maria Salome. Und du sei brav, Johannes. Ich gehe allein. Ich habe keine Angst. Ich weiß, was es heißt, bei Nacht auf den Straßen zu sein. Ich war der Sünde wegen tausendmal unterwegs ... Und nun sollte ich Angst haben, da ich gehe, um dem Sohn Gottes zu dienen?” -

“Aber heute ist es unruhig in der Stadt. Du hast den Mann gehört. “ - “Der ist ein Angsthase. Und ihr ebenfalls. Ich gehe.” - “Und wenn dich die Soldaten sehen?”

“Dann werde ich sagen: „ Ich bin die Tochter von Theophilus dem Syrer, dem treuen Diener Cäsars.“ Und sie werden mich laufen lassen . Und außerdem... ein Mann ist für eine junge, schöne Frau ein geringeres Hindernis als ein Strohhalm. Ich weiß es, zu meiner Schande...” - “Aber wo willst du im Palast Salben finden, da er doch seit Jahren unbewohnt ist?” - “Glaubst du das? Oh, Martha! Hast du vergessen, daß Israel euch gezwungen hat, ihn zu verlassen, weil er einer der Orte war, an denen ich meine Liebhaber traf? In dem Palast war alles, was ich brauchte, um den Männern noch mehr die Köpfe zu verdrehen.

Als ich durch meinen Erlöser gerettet wurde, habe ich die Alabastergefäße und den Weihrauch , die ich für meine Liebesorgien gebraucht hatte, an einem nur mir bekannten Ort versteckt . Und ich habe geschworen, daß nur die Tränen über meine Sünden und die Anbetung des allerheiligsten Jesus die Essenzen und der Weihrauch der büßenden Maria sein würden, und daß ich diese Zeichen des Dienstes der Sinne und des Fleisches nur verwenden würde, um sie zu heiligen und ihn zu salben. Nun ist die Zeit dazu gekommen. Ich gehe. Bleibt. Und seid ruhig. Der Engel Gottes begleitet mich, und es wird mir nichts Böses zustoßen. Lebt wohl. Ich werde euch Nachrichten bringen. Doch Maria solltet ihr nichts sagen... Sie würde sich nur noch größere Sorgen machen...”

Und Maria von Magdala geht mit beeindruckender Selbstsicherheit fort . “Mutter, laß dir das eine Lehre sein... Es möge dir sagen: Handle nicht so, daß die Welt deinen Sohn einen Feigling nennt. Morgen, nein heute, denn es ist bereits die zweite Nachtwache, werde ich gehen und die Gefährten suchen, wie sie es wünscht...” - “Es ist Sabbat... Du kannst nicht gehen...” entgegnet Salome, um ihn zurückzuhalten. “ Der Sabbat ist tot “, sage auch ich mit Josef. Die neue Zeit hat begonnen . Andere Gesetze, andere Opfer und andere Zeremonien wird es in ihr geben.” Maria Salome neigt das Haupt auf die Knie und weint, ohne weiter zu widersprechen.

“Oh, könnten wir doch etwas über Lazarus erfahren!” jammert Maria des Kleophas. “Wenn ihr mich gehen laßt, werdet ihr etwas erfahren. Denn die Gefährten wurden zu Lazarus gebracht von Simon dem Kanaaniter, der den Auftrag dazu erhalten hatte. Jesus hat es Simon in meiner Gegenwart gesagt .” - “O weh! Alle dort? Dann sind sie alle verloren!” Maria des Kleophas und Salome weinen untröstlich.

Die Zeit vergeht. Man wartet, und viele Tränen werden vergossen.

Dann kehrt Maria Magdalena triumphierend und mit Taschen beladen zurück, die kostbare Gefäße enthalten. “Seht ihr, daß nichts passiert ist? Hier: Öle aller Art, und Narden, Lavendel und Benzoeharz. Myrrhe und Aloe sind nicht dabei... Ich wollte nichts Bitteres... Bitterkeit verkoste ich jeden Augenblick... Wir werden vorerst dies verwenden, und morgen holen wir... Oh, Isaak wird für Geld auch am Sabbat verkaufen... Bei ihm kaufen wir dann Myrrhe und Aloe.” -

“Hat man dich gesehen?” - “Niemand. Nicht einmal eine Fledermaus ist unterwegs.” - “Und die Soldaten?” - “Die Soldaten? Ich denke, die schnarchen in ihren Betten.” - “Aber der Aufruhr... die Verhaftungen...” - “Die hat nur die Angst dieses Mannes gesehen...” - “Wer ist im Palast?” - “Nun, Levi und seine Frau. Unbesorgt wie Kinder. Die Bewaffneten sind geflohen. Ha, ha, schöne Helden haben wir, das muß ich schon sagen... Sie sind geflohen, als sie von der Verurteilung gehört haben. Es ist wahr, Rom ist streng und gebraucht die Peitsche... Aber dadurch erreicht es, daß man es fürchtet und ihm dient. Und Rom hat Männer, keine Hasen..

. O ja, er hat gesagt: „Meine Jünger werden dasselbe Schicksal wie ich erleiden.“ Wenn viele Römer Jesus nachfolgen, dann ist das schon möglich. Aber wenn es Märtyrer unter den Israeliten braucht, wird er allein bleiben...

Hier, das ist meine Tasche. Und die ist von Johanna, die... Ja, nicht nur feige, sondern Lügner sind wir. Johanna ist nur sehr niedergeschlagen. Sie und Elisa haben sich auf Golgota übel gefühlt. Die eine ist eine Mutter, die ihren Sohn verloren hat, und so wurde ihr übel, als sie Jesus röcheln hörte. Die andere ist zart und so lange Wege unter der Sonne nicht gewohnt. Aber keine ist verletzt oder liegt im Sterben. Johanna weint wie wir alle, gewiß; aber mehr nicht. Sie bedauert, daß man sie weggebracht hat. Morgen wird sie zu uns kommen. Sie schickt diese Aromen, alle, die sie im Haus hatte. Valeria ist auf Anordnung von Plautina bei ihr geblieben, und nun ist sie mit den Sklaven zum Haus Claudias gegangen, denn dort haben sie viel Weihrauch. Wenn sie kommt - denn auch sie ist, dem Himmel sei Dank, kein immer zitternder Angsthase - dann schreit nicht alle, als ob man euch ein Messer an die Kehle setzen würde.

Los, steht auf. Holen wir die Mörser. Arbeiten wir. Weinen nützt nichts. Oder arbeitet wenigstens, während ihr weint. Unser Balsam soll mit unseren Tränen vermischt sein. Er wird es fühlen... Er wird unsere Liebe spüren.” Sie beißt sich auf die Lippen, um nicht selbst zu weinen und den anderen, die so sehr betrübt sind, Mut einzuflößen. Sie arbeiten eifrig.

Maria ruft Johannes. “Mutter, was möchtest du?” - “Diese Schläge...” - “Sie zerstoßen den Weihrauch.” - “Ach... Aber... Verzeiht mir... Macht nicht so ein Geräusch... Es erinnert mich an die Hämmer...” Die Bronzestößel, die auf den Marmor der Mörser schlagen, klingen tatsächlich wie Hämmer. Johannes sagt es den Frauen, und diese gehen in den Hof hinaus, um weniger gehört zu werden . Johannes kehrt zur Mutter zurück. “Wo haben sie das bekommen?” - “Maria des Lazarus ist in ihr Haus und zu Johanna gegangen... Man wird noch mehr bringen...”

Auch Magdalena, die zurückgekommen ist, um Amphoren zu holen, ist in derselben Verfassung. Aber sie sagt dem Apostel: “Es ist nicht gut, daß sie uns weinen sehen. Sonst tun die dort nichts anderes mehr. Und wir müssen etwas tun...” - “... und wir müssen glauben”, fügt Johannes hinzu. “Ja, glauben. Wenn man nicht glauben könnte, würde man verzweifeln. Ich glaube. Und du?” - “Ich auch...” - “ Du scheinst nicht sehr überzeugt. Du liebst noch nicht genug . Wenn du mit deinem ganzen Sein lieben würdest, könntest du nicht anders als glauben. Die Liebe ist Licht und Stimme. Auch gegen das Dunkel der Ablehnung und das Schweigen des Todes sagt sie: „Ich glaube.” Herrlich ist diese Magdalena bei ihrem Glaubensbekenntnis, eine hohe, eindrucksvolle, gebieterische Gestalt ! Sie muß ein wundes Herz haben. Ihre vom Weinen brennenden Augen verraten es. Doch die Seele ist unbezwingbar. Johannes betrachtet sie voller Bewunderung und murmelt: “Du bist stark!” - “Immer. Ich war es so sehr, daß ich die Welt herausgefordert habe. Und damals war ich ohne Gott. Nun, da ich Gott besitze, fühle ich, daß ich selbst der Hölle trotzen würde. Du, der du gut bist, müßtest viel stärker sein als ich. Denn die Sünde schwächt, weißt du? Mehr als die Schwindsucht. Aber du bist unschuldig... Daher hat er dich so sehr geliebt ...” - “Auch dich hat er geliebt...” - “Und ich war nicht unschuldig. Aber ich war seine Eroberung und...”

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Die frommen Frauen am Grab - 681

Die Frauen gehen inzwischen, nachdem sie das Haus verlassen haben, an den Mauern entlang, Schatten im Schatten. Einige Zeit schweigen sie, hüllen sich ganz in ihre Mäntel und fürchten sich vor so viel Stille und Einsamkeit. Doch nachdem sie in Anbetracht der absoluten Ruhe in der Stadt sicherer geworden sind, gehen sie in einer Gruppe und wagen, miteinander zu sprechen.

“Sind die Tore wohl schon offen?” fragt Susanna. “Gewiß. Schau, dort kommt der erste Gärtner mit seinem Gemüse. Er ist auf dem Weg zum Markt”, antwortet Salome. “Werden sie nichts sagen?” fragt wiederum Susanna.

“Wer?” will Maria Magdalena wissen. “Die Soldaten am Gerichtstor. Dort kommen nur wenige herein, und noch weniger gehen hinaus... Wir werden Verdacht erregen...” - “Ja und? Sie werden uns anschauen. Sie werden fünf Frauen sehen auf dem Weg in die Felder. Wir könnten auch Leute sein, die nach dem Paschafest wieder in ihre Dörfer zurückkehren.” - “Aber... um nicht die Aufmerksamkeit irgendeines Übelgesinnten zu erregen, wäre es vielleicht besser, zu einem anderen Tor hinauszugehen und dann an der Mauer entlang zurückzukommen...” - “Wir würden den Weg verlängern.” - “Aber wir würden uns auch sicherer fühlen. Gehen wir durch das Wassertor...” - “Oh, Salome, an deiner Stelle würde ich das Osttor nehmen! So könntest du noch länger laufen. Wir müssen uns beeilen und rasch nach Hause zurückkehren.”

Es ist die resolute Magdalena, die das sagt. “Also dann ein anderes Tor, nur nicht das Gerichtstor. Sei so gut...” betteln alle. “Nun gut. Da ihr es so wollt, gehen wir bei Johanna vorbei. Sie hat darum gebeten, daß wir sie benachrichtigen. Hätten wir den direkten Weg genommen, wären wir ohne sie ausgekommen. Aber da ihr einen längeren Weg machen wollt, gehen wir bei ihr vorbei...” -

“O ja! Auch wegen der dort aufgestellten Wachen... Sie ist bekannt und gefürchtet...” - “Ich würde vorschlagen, auch bei Josef von Arimathäa vorbeizuschauen. Er ist der Besitzer des Ortes.” - “Aber ja! Wir können einen Umzug veranstalten, um nicht aufzufallen! Oh, was für eine ängstliche Schwester habe ich doch ! Weißt du, was wir machen, Martha? Ich gehe voraus und sehe mich um. Ihr kommt dann mit Johanna nach. Ich werde mich mitten auf die Straße stellen, wenn Gefahr besteht. Dann seht ihr mich, und wir gehen zurück. Aber was die Wachen betrifft, habe ich vorgesorgt, und mit dem hier (sie zeigt eine volle Geldbörse) werden sie uns alles erlauben .” - “Wir werden es auch Johanna sagen. Du hast recht.” - “Dann geht, damit ich gehen kann.” - “Du gehst allein, Maria? Ich komme mit dir”, sagt Martha, die Angst um ihre Schwester hat.

“Nein, du gehst mit Maria des Alphäus zu Johanna. Salome und Susanna sollen am Tor außerhalb der Mauer auf euch warten. Dann nehmt ihr alle zusammen die Hauptstraße. Lebt wohl.” Und Maria Magdalena unterbindet jede weitere mögliche Bemerkung, indem sie sich rasch mit ihrer Tasche voller Salben und dem Geld im Gewand entfernt. Sie eilt, fliegt auf der Straße dahin, die nun in der ersten Morgenröte etwas freundlicher wird. Sie geht durch das Gerichtstor, um schneller da zu sein. Niemand hält sie auf... Die anderen sehen ihr nach, drehen dann der Straßenkreuzung, an der sie gestanden sind, den Rücken und nehmen eine enge, dunkle Gasse, die in der Nähe des Xystos in eine breite, offene Straße mit schönen Häusern mündet. Dort teilen sie sich noch einmal: Salome und Susanna gehen auf der Straße weiter, während Martha und Maria des Alphäus an das eisen- beschlagene Tor klopfen und sich am Fensterchen zeigen, das der Türhüter öffnet.

Sie treten ein und begeben sich zu Johanna, die schon aufgestanden und ganz in dunkles Violett gekleidet ist, das sie noch blasser macht. Auch sie ist dabei, zusammen mit der Amme und einer Dienerin Salben zu bereiten. “Ihr seid gekommen? Gott möge es euch vergelten. Aber wenn ihr nicht gekommen wärt, wäre ich allein gegangen... Um Trost zu finden... Denn vieles hat sich verändert nach diesen schrecklichen Tagen. Und um mich nicht so einsam zu fühlen, muß ich zu dem Stein gehen, daran klopfen und sagen: „Meister, ich bin die arme Johanna... Laß nicht auch du mich allein... “ Johanna weint leise, aber sehr verzweifelt, und Ester, die Amme, macht hinter dem Rücken der Herrin unverständliche Zeichen, während sie ihr den Mantel umlegt. “Ich gehe, Ester.” - “Gott möge dich trösten!”

Sie verlassen den Palast, um die Gefährtinnen einzuholen. In diesem Augenblick erfolgt das kurze, heftige Erdbeben, das die Einwohner von Jerusalem erneut in Panik versetzt . Die Erinnerung an die Ereignisse des Freitags ist noch frisch. Die drei Frauen kehren überstürzt zurück und warten in der großen Vorhalle zwischen den schreienden und Gott anrufenden Dienerinnen und Dienern angstvoll auf neue Erdstöße...

Magdalena hingegen ist gerade am Anfang des Weges, der zum Garten des Josef von Arimathäa führt, als sie das mächtige und zugleich harmonische Dröhnen dieses himmlischen Zeichens überrascht. Im schwach rosafarbenen Licht des Morgengrauens, das sich über den Himmel ausbreitet, an dem im Westen noch ein hartnäckiger Stern widersteht, und der bisher grünlichen Luft einen goldenen Schimmer verleiht, erscheint ein herrliches großes Licht, ein Feuerball, und saust im Zickzack durch die ruhige Luft auf die Erde hernieder.

Maria Magdalena wird von ihm fast gestreift und zu Boden geworfen. Sie bleibt einen Augenblick zusammengekauert liegen und flüstert: “Mein Herr!” Dann richtet sie sich wie ein Blumenstengel nach einem Windstoß wieder auf und läuft noch schneller, um den Garten zu erreichen. Sie geht rasch hinein und eilt wie ein verfolgter, sein Nest suchender Vogel zum Felsengrab. Aber so schnell sie auch läuft, sie kann nicht dort sein, als der himmlische Meteor mit seiner Kraft und seinem Feuer die zur Sicherung des schweren Steins angebrachten Kalksiegel zerstört, und auch nicht, als mit einem letzten Donner die steinerne Tür fällt und diese Erschütterung noch zu dem Erdbeben hinzukommt, das, obgleich kurz, doch so heftig ist, daß die Wachen wie tot zu Boden stürzen.

Als Maria ankommt, sieht sie diese nutzlosen Kerkermeister des Siegers wie gemähte Halme am Boden liegen. Maria Magdalena bringt das Erdbeben nicht mit der Auferstehung in Zusammenhang. Als sie diese Szene sieht, hält sie sie vielmehr für eine Strafe Gottes für die Schänder des Grabes Jesu, fällt auf die Knie und klagt: “O weh, sie haben ihn gestohlen!” Sie ist ganz verzweifelt und weint wie ein Kind, das in der Gewißheit gekommen ist, den gesuchten Vater anzutreffen, und statt dessen die Wohnung leer vorfindet. Dann steht sie auf und läuft fort, um Petrus und Johannes aufzusuchen. Und da sie nur daran denkt, diese beiden zu benachrichtigen, vergißt sie, den Freundinnen entgegenzugehen und auf dem Weg auf sie zu warten. Flink wie eine Gazelle eilt sie auf demselben Weg zurück, durch das Gerichtstor und die nun etwas belebteren Straßen, stürzt auf das Tor des gastlichen Hauses zu und rüttelt und klopft heftig daran.

Die Hausherrin öffnet. “Wo sind Johannes und Petrus?” fragt Maria Magdalena atemlos. “Dort”, und die Frau zeigt auf den Abendmahlsaal. Maria Magdalena geht hinein, und kaum ist sie drinnen und steht vor den beiden Überraschten, sagt sie mit aus Mitleid mit der Mutter leiser Stimme, die aber mehr Kummer ausdrückt, als wenn sie schreien würde: “Sie haben den Herrn aus dem Grab geholt! Wer weiß, wo sie ihn hingelegt haben!” Und zum ersten Mal bebt und wankt sie, und um nicht zu fallen, hält sie sich, wo sie gerade kann.

“Wie?! Was sagst du da?” fragen die beiden. Und sie berichtet betrübt: “Ich war vorausgegangen, um die Wachen zu bestechen... damit sie uns hineinlassen. Sie liegen da wie tot... Das Grab ist offen, der Stein am Boden ... Wer? Wer kann es gewesen sein? Oh, kommt! Beeilt euch ...”

Petrus und Johannes machen sich sofort auf den Weg. Maria geht ihnen einige Schritte nach. Dann kehrt sie um, packt die Hausherrin , schüttelt sie heftig in ihrer vorsorgenden Liebe und zischt ihr ins Gesicht: “Hüte dich, jemanden zu ihr hineinzulassen! (Sie deutet auf das Zimmer Marias.) Vergiß nicht, daß ich deine Herrin bin. Gehorche und schweige.” Dann läßt sie die erstaunte Frau stehen und holt die Apostel ein, die mit großen Schritten zum Grab eilen...

... Susanna und Salome , die sich indessen von den Gefährtinnen getrennt und die Mauer erreicht haben, werden dort von dem Erdbeben überrascht. Erschreckt flüchten sie unter einen Baum und bleiben stehen im Widerstreit der Wünsche, zum Grab zu gehen oder zu Johanna zu laufen. Schließlich siegt die Liebe über die Angst, und sie gehen zum Grab. Immer noch bestürzt betreten sie den Garten und sehen die reglosen Wächter... sehen ein großes Licht aus dem offenen Grab dringen . Und ihr Staunen wächst und wird schließlich vollkommen, als sie sich an den Händen fassen, um einander Mut zu machen, an die Schwelle des Grabes treten und im Dunkel der Höhle eine leuchtende, wunderschöne, sanft lächelnde Gestalt sehen, die sie von ihrem Platz aus grüßt. Sie lehnt rechts am Stein der Einbalsamierung, dessen Grau sich vor so viel leuchtendem Glanz in Nichts auflöst. Stumm vor Staunen fallen sie auf die Knie.

Doch der Engel sagt sanft: “ Fürchtet euch nicht vor mir. Ich bin der Engel des göttlichen Schmerzes. Ich bin gekommen, um mich über dessen Ende zu freuen . Der Schmerz Christi ist nicht mehr, noch seine Erniedrigung im Tod. Jesus von Nazareth, der Gekreuzigte, den ihr sucht, ist auferstanden. Er ist nicht mehr hier . Leer ist der Ort, an dem er begraben wurde. Jubelt mit mir. Geht und sagt Petrus und den Jüngern, daß er auferstanden ist und euch nach Galiläa vorausgeht. Dort werdet ihr ihn noch eine kleine Weile sehen, wie er es vorhergesagt hat.” Die Frauen werfen sich auf ihr Angesicht, und als sie es wieder erheben, fliehen sie, als würden sie von einer Strafe verfolgt. Sie sind zu Tode erschrocken und flüstern: “Nun werden wir sterben! Wir haben den Engel des Herrn gesehen.”

Erst auf dem freien Feld beruhigen sie sich etwas und beraten sich. Was tun? Wenn sie erzählen, was sie gesehen haben, wird man ihnen nicht glauben. Wenn sie die anderen auffordern, selbst hinzugehen, können sie von den Juden beschuldigt werden, die Wächter getötet zu haben... Nein, sie dürfen nichts sagen, weder den Freunden noch den Feinden... Verängstigt und schweigend kehren sie auf einem anderen Weg zum Haus zurück. Sie gehen hinein und flüchten in den Abendmahlsaal, wollen nicht einmal Maria sehen...

Und dort fragen sie sich plötzlich, ob das, was sie gesehen haben, nicht eine Täuschung des Teufels gewesen ist. Demütig wie sie sind, halten sie es nicht für möglich, daß ihnen gewährt wurde, den Boten Gottes zu sehen. Es war Satan, der ihnen Angst einjagen wollte, um sie von dort fernzuhalten. Sie weinen und beten wie zwei von einem Alptraum verängstigte Kinder....

Die dritte Gruppe, bestehend aus Johanna, Maria des Alphäus und Martha, entschließt sich, da nichts weiter geschieht, dorthin zu gehen, wo gewiß die Gefährtinnen auf sie warten. Sie begeben sich auf die Straße, wo nun erschrockene Leute über das Erdbeben sprechen, es in Zusammenhang mit den Ereignissen des Freitags bringen und auch Dinge sehen, die gar nicht sind. “Besser, wenn alle verängstigt sind. Vielleicht sind es auch die Wachen und machen keine Schwierigkeiten”, sagt Maria des Alphäus. Sie eilen zur Stadtmauer. Doch während sie auf dem Weg dorthin sind, haben Petrus und Johannes, gefolgt von Maria Magdalena, bereits den Garten erreicht.

Johannes, der schneller ist, kommt als erster am Grab an. Die Wachen sind nicht mehr da. Auch der Engel ist nicht mehr da . Johannes kniet furchtsam und schmerzerfüllt am offenen Eingang nieder, um zu beten und aus den Dingen, die er sieht, zu schließen, was vorgefallen ist. Aber er sieht nichts als die Binden, die in einem Häufchen auf dem Leichentuch am Boden liegen. “ Er ist wirklich nicht da, Simon! Maria hat es richtig gesehen. Komm, geh hinein und schau .”

Petrus, der vom Laufen ganz außer Atem ist, geht in das Grab hinein. Unterwegs hat er noch gesagt: “Ich werde es nicht wagen, mich diesem Ort zu nähern.” Jetzt aber will er nur eines, herausfinden, wo der Meister sein kann. Er ruft ihn sogar, als ob er sich in irgendeinem dunklen Winkel versteckt haben könnte. Zu dieser Morgenstunde ist es noch sehr dunkel in der Tiefe des Grabes, in das nur Licht durch die kleine Türöffnung fällt, die nun Johannes und Magdalena ausfüllen... Und Petrus sieht nur wenig und muß sich mit den Händen vorantasten... Er berührt zitternd den Einbalsamierungstisch und fühlt, daß er leer ist... “ Er ist nicht da, Johannes! Er ist nicht da...! Oh, komm auch du! Ich habe so viel geweint, daß ich in diesem schwachen Licht fast nichts sehe.”

Johannes steht auf und geht hinein. Während er es tut, hat Petrus das in einer Ecke liegende, schön gefaltete Schweißtuch entdeckt. Darin befindet sich das sorgsam aufgerollte Grabtuch. “Sie haben ihn wirklich weggebracht. Die Wächter hat man nicht unseretwegen aufgestellt, sondern um dies zu tun... Und wir haben es zugelassen. Wir haben es ermöglicht, da wir fort gegangen sind...” - “Oh, wo haben sie ihn wohl hingebracht?”

“Petrus! Petrus, das... ist das Ende !” Die beiden Jünger gehen ganz vernichtet hinaus. “Gehen wir, Frau. Du wirst es der Mutter berichten...” - “Ich gehe nicht von hier fort. Ich bleibe hier... Irgend jemand wird kommen... Oh, ich gehe nicht fort... Hier ist immer noch etwas von ihm. Die Mutter hatte recht... die Luft einatmen zu können, wo er gewesen ist, das ist der einzige Trost, der uns bleibt.” - “Der einzige Trost... Nun siehst also auch du ein, daß es töricht war, zu hoffen...” sagt Petrus. Maria erwidert nichts darauf . Sie wirft sich zu Boden, gerade am Eingang, und weint, während die anderen langsam fortgehen. Dann hebt sie das Haupt und schaut hinein, und mit tränenerfüllten Augen sieht sie zwei Engel, die am Kopfende und am Fußende des Einbalsamierungstisches sitzen . Die arme Maria ist so verwirrt in ihrem heftigen Kampf zwischen der Hoffnung, die stirbt, und dem Glauben, der nicht sterben will, daß sie sie nur verstört ansieht und sich nicht einmal wundert. Die Starke, die allem wie eine Heldin getrotzt hat, kann nur noch weinen. “ Warum weinst du, Frau? ” fragt einer der beiden strahlenden Jünglinge; denn sie sehen aus wie wunderschöne Halbwüchsige.

“Weil sie meinen Herrn weggenommen haben und ich nicht weiß, wohin sie ihn gelegt haben.” Maria hat keine Angst, mit ihnen zu reden. Sie fragt auch nicht: “Wer seid ihr?” Nichts. Nichts verwundert sie mehr. Alles, worüber sich ein Mensch wundern könnte, hat sie längst erlebt. Sie ist jetzt nur noch ein gebrochenes Geschöpf, das kraftlos und rückhaltslos weint. Der Engel sieht seinen Gefährten an und lächelt. Auch dieser lächelt. In einem Aufleuchten himmlischer Freude schauen beide in den blühenden Garten hinaus, in dem sich die abertausend Blüten der dichten Apfelbäume unter den ersten Strahlen der Sonne geöffnet haben.

Maria wendet sich um, um zu sehen, was die beiden betrachten. Und sie erblickt einen wunderschönen Mann, und es ist mir unbegreiflich, daß sie ihn nicht sofort erkennt . Einen Mann, der sie mitleidig anschaut und fragt: “ Frau, warum weinst du? Wen suchst du?”

Es ist wahr, es ist ein Jesus, der seinen Glanz ein wenig verhüllt hat aus Mitleid mit dem Geschöpf, das zu viele Aufregungen ausgelaugt haben und das an einer so plötzlichen Freude sterben könnte. Aber ich frage mich trotzdem, wie es möglich ist, daß sie ihn nicht erkennt. Maria sagt schluchzend: “ Sie haben mir den Herrn Jesus weggenommen. Ich bin gekommen, um ihn in Erwartung seiner Auferstehung einzubalsamieren... Ich habe meinen ganzen Mut, meine Hoffnung und meinen Glauben um diese meine Liebe gesammelt und aufrechterhalten... und nun finde ich ihn nicht mehr ... Vielmehr habe ich mit meiner Liebe die Hoffnung, den Glauben und den Mut umgeben und vor den Menschen verteidigt... Aber alles war vergebens! Die Menschen haben meine Liebe geraubt, und damit haben sie mir alles genommen... O mein Herr, wenn du ihn fortgebracht hast, dann sage mir, wohin du ihn gelegt hast. Und ich werde ihn holen ... Ich werde es niemandem sagen... Es soll ein Geheimnis zwischen dir und mir sein. Sieh, ich bin die Tochter des Theophilus, die Schwester des Lazarus, aber ich knie vor dir und flehe dich an wie eine Sklavin. Willst du, daß ich dir den Leichnam abkaufe? Ich werde es tun. Wieviel verlangst du? Ich bin reich. Ich kann dir sein Gewicht in Gold und Edelsteinen aufwiegen . Aber gib ihn mir zurück. Ich werde dich nicht verraten. Willst du mich schlagen? Tu es. Bis aufs Blut, wenn du willst. Wenn du einen Haß gegen ihn hegst, dann rechne mit mir ab. Aber gib ihn mir zurück. Oh, laß mich nicht in diesem Elend versinken, mein Herr! Erbarmen mit einer armen Frau...! Für mich willst du es nicht tun? Dann für seine Mutter! Sage mir, sage mir, wo mein Herr Jesus ist. Ich bin stark. Ich werde ihn in meine Arme nehmen und ihn wie ein Kind in Sicherheit bringen. Herr... Herr... Du siehst... Seit drei Tagen verfolgt uns der Zorn Gottes für alles, was dem Sohn Gottes angetan wurde... Laß dem Verbrechen nicht auch noch die Schändung folgen...” -

“Maria!” Jesus leuchtet auf bei diesem Ruf. Er enthüllt sich nun in seinem triumphierenden Glanz. “Rabbuni!” Der Schrei Maria Magdalenas ist wahrlich der “große Schrei”, der den Zyklus des Todes beschließt. Beim ersten umschlang die Finsternis des Hasses das Opfer mit Todesbanden, beim zweiten vermehrt das Licht der Liebe seinen Glanz. Und Maria steht auf bei diesem Schrei, der den Garten erfüllt, eilt zu Füßen Jesu und will sie küssen. Jesus hält sie zurück, indem er mit den Fingerspitzen kaum ihre Stirn berührt: “Rühre mich nicht an. Ich bin noch nicht in diesem Gewand zum Vater aufgefahren. Geh zu meinen Brüdern und Freunden und sage ihnen, daß ich zu meinem und eurem Vater, zu meinem und eurem Gott auffahre. Dann werde ich zu ihnen kommen.” Und Jesus verschwindet in einem unerträglichen Licht. Maria küßt den Boden, auf dem er gestanden ist, und eilt zum Haus. Wie der Blitz ist sie drinnen, denn das Tor ist einen Spalt geöffnet, um den Hausherrn hinauszulassen, der zum Brunnen geht. Sie öffnet die Tür des Zimmers Marias und wirft sich an ihr Herz mit dem Ausruf: “Er ist auferstanden! Er ist auferstanden!” Dann weint sie selig.

Und während Petrus und Johannes herbeieilen und die erschreckte Salome und Susanna aus dem Abendmahlsaal kommen und ihrer Erzählung lauschen, treten auch Maria des Alphäus, Martha und Johanna ein und berichten atemlos, daß sie ebenfalls “dort gewesen sind und zwei Engel gesehen haben, die sich als der Schutzengel des Gottmenschen und der Engel seines Schmerzes zu erkennen gegeben und sie beauftragt haben, den Jüngern zu sagen, daß er auferstanden ist”. Und da Petrus den Kopf schüttelt, fahren sie fort: “Ja, sie haben gesagt: „Warum sucht ihr den Lebenden bei den Toten? Er ist nicht hier. Er ist auferstanden, wie er gesagt hat, als er noch in Galiläa war. Erinnert ihr euch nicht? Er sagte damals: ‚Der Menschensohn muß den Händen der Sünder überliefert und gekreuzigt werden. Aber am dritten Tage wird er auferstehen.‘ “

Petrus schüttelt den Kopf und sagt: “Zu viele Dinge haben sich in diesen Tagen ereignet. Ihr seid dadurch verwirrt.” Magdalena hebt den Kopf von der Brust Marias und sagt: “Ich habe ihn gesehen! Ich habe mit ihm gesprochen . Er hat mir gesagt, daß er zum Vater auffährt und dann wiederkommt. Wie schön er war!” Und sie weint, wie sie noch nie geweint hat , nun, da sie sich nicht mehr quälen und gegen die von allen Seiten bedrängenden Zweifel ankämpfen muß.

Doch Petrus und selbst Johannes zweifeln immer noch . Sie schauen einander an, und ihre Augen sagen: “Einbildung von Frauen.” Auch Susanna und Salome wagen nun zu sprechen. Aber die unvermeidlichen Unterschiede in den Einzelheiten, die Wächter, die einmal wie tot und dann gar nicht mehr da waren; die Engel, von denen einmal einer, dann wieder zwei da waren und die sich den Aposteln nicht gezeigt haben; die beiden Versionen, daß Jesus hierher kommen oder den Seinen nach Galiläa vorausgehen würde; all das bewirkt, daß die Zweifel und sogar die Überzeugung der Apostel nur noch größer werden. Maria, die heilige Mutter, schweigt und stützt Magdalena ... Ich verstehe das Geheimnis dieses mütterlichen Schweigens nicht.

Maria des Alphäus sagt zu Salome: “Kehren wir zwei dorthin zurück. Wir wollen sehen, ob wir alle betrunken sind...” und sie eilen hinaus. Die anderen bleiben, von den beiden Aposteln leise belächelt, bei Maria, die in Gedanken versunken schweigt, was jeder auf seine Art deutet; keiner begreift, daß es eine Ekstase ist. Die beiden betagten Frauen kommen zurück “Es ist wahr! Es ist wahr! Wir haben ihn gesehen .Er hat beim Garten des Barnabas zu uns gesagt: „Der Friede sei mit euch. Fürchtet euch nicht. Geht und sagt meinen Brüdern, daß ich auferstanden bin und daß sie in einigen Tagen nach Galiläa gehen sollen. Dort werden wir noch eine Weile beisammen sein.“

So hat er gesagt. Maria hat recht. Wir müssen es denen in Bethanien, Josef, Nikodemus, den vertrauenswürdigsten Jüngern und den Hirten sagen. Gehen wir, tun wir etwas, tun wir etwas... Oh, er ist auferstanden...!” Alle weinen beseligt.

“Ihr seid von Sinnen, Frauen. Der Schmerz hat euren Verstand verwirrt. Das Licht schien euch ein Engel, der Wind eine Stimme, die Sonne Christus. Ich mache euch keinen Vorwurf. Ich verstehe euch. Aber ich kann nur glauben, was ich gesehen habe: das offene, leere Grab und die mit dem verschwundenen Leichnam geflohenen Wachen.” - “ Aber wenn doch die Wächter selbst sagen, daß er auferstanden ist! Wenn doch die Stadt in Aufruhr ist und die Obersten der Priester zornentbrannt sind, weil die Wachen entsetzt geflohen sind und geredet haben ! Nun wollen sie, daß sie etwas anderes sagen, und zahlen sie dafür. Aber die Nachricht hat sich schon verbreitet. Und wenn die Juden auch nicht an die Auferstehung glauben, nicht glauben wollen, so glauben doch viele andere daran...”

“Hm, die Frauen...!” Petrus zuckt die Achseln und will gehen. Da erhebt die Mutter ihr verklärtes Antlitz und sagt den kurzen Satz: “ Er ist wirklich auferstanden. Ich habe ihn in meinen Armen gehalten und seine Wunden geküßt .” Magdalena, die noch immer an ihrem Herzen liegt, weint in ihrer übergroßen Freude wie eine Weide unter einem Wolkenbruch und küßt ihr blondes Haar. Dann neigt sich Maria über den Kopf dieser leidenschaftlichen Frau und sagt: “ Ja, die Freude ist mächtiger als der Schmerz. Aber diese Freude ist nur ein Sandkorn im Vergleich zum Ozean der ewigen Freude . Selig bist du, weil du mehr auf den Geist als auf deinen Verstand gehört hast.”

Petrus wagt nun nicht mehr, zu widersprechen... und in einer Anwandlung des alten Petrus, die nun wieder zum Vorschein kommt, sagt er, ja schreit er, als ob die Verspätung nicht auf ihn, sondern auf die anderen zurückzuführen wäre: “Ja, aber wenn es so ist, dann müssen wir es die anderen wissen lassen! Die, die auf den Feldern verstreut sind... Wir müssen sie suchen... etwas tun... Auf, rührt euch! Wenn er wirklich kommen sollte... daß er uns wenigstens vorfindet”, und er bemerkt nicht, daß er mit diesen Worten bekennt, daß er immer noch nicht völlig an die Auferstehung glaubt.

     Zum vorigen Kapitel - 682

Jesus sagt: “ Die inbrünstigen Gebete Marias haben meine Auferstehung um einige Zeit vorverlegt . Ich hatte gesagt: „Der Menschensohn wird getötet werden, aber am dritten Tage wird er auferstehen.“ Ich starb am Freitag nachmittag um drei Uhr. Ob ihr nun die Tage oder die Stunden zählt, ich hätte nicht am Morgen des Sonntags auferstehen dürfen. Es waren nur 38 Stunden anstatt 72, die mein Leib ohne Leben blieb; und wenn man die Tage zählt, hätte ich wenigstens bis zum Abend des dritten Tages warten müssen, um sagen zu können, daß ich drei Tage im Grab gelegen war. [Doch nach röm. Zählung 3 Tage, wie im KKH.]

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Jesus erscheint Lazarus - 683

...Das Haus aber schweigt wie ein Totenhaus. Die Fenster sind offen, doch kein Laut, kein Geräusch dringt aus den verdunkelten Zimmern, deren Vorhänge zugezogen sind. Im Inneren, hinter der Vorhalle, die von vielen Zimmern mit weit offen stehenden Türen umgeben ist - und es ist sonderbar, diese gewöhnlich für eine mehr oder weniger große Anzahl von Gästen hergerichteten Räume nun leer und aufgeräumt zu sehen - befindet sich ein weiterer großer, gepflasterter und von einem Säulengang umgebener Hof, in dem da und dort Sitzgelegenheiten stehen. Auf diesen und sogar auf dem Boden, auf Matten oder auch auf dem nackten Marmor sitzen viele Jünger. Unter ihnen sehe ich die Apostel Matthäus, Andreas, Bartholomäus, die Brüder Jakobus und Judas des Alphäus, Jakobus des Zebedäus und die Hirtenjünger mit Manaen, sowie noch andere, die ich nicht kenne .

Den Zeloten, Lazarus und Maximinus sehe ich nicht. Schließlich kommt letzterer mit Dienern herein und verteilt an alle Brot und verschiedene andere Speisen, Oliven, Käse und Honig. Es gibt auch frische Milch für den, der will. Aber niemand hat Lust zu essen, so sehr Maximinus auch drängt.

Die Niedergeschlagenheit ist groß. Die Gesichter sind in diesen wenigen Tagen eingefallen und fahl geworden, nur von Tränen gerötet. Besonders die Apostel und jene, die bereits in den ersten Stunden geflohen sind, wirken sehr verzagt, während die Hirten und Manaen nicht ganz so niedergeschlagen, so beschämt zu sein scheinen, und Maximinus seine Trauer männlich beherrscht. Da erscheint der Zelote fast im Laufschritt und fragt: “Ist Lazarus hier?” - “Nein, er ist in seinem Zimmer. Was willst du?” - “Am Ende des Weges, am Sonnenbrunnen ist Philippus . Er kommt aus der Ebene von Jericho und ist völlig erschöpft. Er will aber nicht näher herankommen... da er sich wie alle als ein Sünder fühlt. Doch Lazarus wird ihn überzeugen.” Bartholomäus steht auf und sagt: “Ich komme mit...”

Sie gehen zu Lazarus, der, nachdem sie ihn gerufen haben, mit von Schmerz gezeichnetem Gesicht aus dem halbdunklen Zimmer kommt, in dem er zweifellos geweint und gebetet hat. Sie gehen alle hinaus und durchqueren zuerst den Garten und dann die Ortschaft auf der Seite, die schon nahe den Abhängen des Ölberges liegt. Am Rand des Dorfes, auf der Seite, wo das Plateau endet, auf das es gebaut ist, beginnt ein Weg, der in natürlichen Stufen auf und ab führt über die Berge, die im Osten zur Ebene hin auslaufen und im Westen Jerusalem zu ansteigen. Dort ist ein Brunnen mit einem großen Becken, an dem Menschen und Herden ihren Durst löschen. Zu dieser Stunde ist der Platz menschenleer und kühl, denn viele dichte Bäume spenden Schatten rings um die Zisterne voll klaren Wassers, das sich, von einer Gebirgsquelle gespeist, ständig erneuert und dann überläuft und den Erdboden feucht hält.

Philippus sitzt auf dem Brunnenrand, wo er am höchsten ist, mit gesenktem Kopf, ungekämmt, staubig und mit zerschlissenen Sandalen, die an den zerkratzten Füßen hängen. Lazarus ruft ihn mitleidig: “Philippus, komm zu mir ! Lieben wir uns um seiner Liebe willen. Wir wollen in seinem Namen vereint bleiben. Denn das zu tun bedeutet auch, ihn zu lieben.” - “Oh, Lazarus! Lazarus! Ich bin geflohen... und gestern, bei Jericho, habe ich erfahren, daß er tot ist...! Ich... ich kann mir nicht verzeihen, daß ich geflohen bin...” -

Alle sind wir geflohen. Nur Johannes ist ihm treu geblieben ,und Simon, der uns auf seinen Befehl alle zusammengerufen hat , die wir feige geflohen waren. Und... von uns Aposteln ist keiner treu geblieben”, sagt Bartholomäus. “Und kannst du dir das verzeihen?” - “Nein. Doch ich will es, so gut ich kann, wiedergutmachen und nicht in fruchtlose Niedergeschlagenheit verfallen. Wir müssen uns zusammenschließen, uns um Johannes versammeln, um von seinen letzten Stunden zu erfahren. Johannes ist ihm immer gefolgt”, antwortet der Gefährte Bartholomäus Philippus. “Wir dürfen seine Lehre nicht sterben lassen, müssen sie der Welt verkünden. Wir müssen wenigstens sie am Leben erhalten, da wir zu schwerfällig und langsam waren, um ihn rechtzeitig vor seinen Feinden zu retten”, sagt der Zelote.

“Ihr hättet ihn nicht retten können. Nichts konnte ihn retten . Er hat es mir gesagt . Und ich wiederhole es euch noch einmal”, sagt Lazarus mit Nachdruck. “Du wußtest es, Lazarus?” fragt Philippus. “ Ich wußte es. Meine Qual war es, seit dem Abend des Sabbats durch ihn selbst von seinem Tod und seinen Leiden zu wissen, und auch zu wissen, wie wir uns benehmen würden ...” - “Nein. Du nicht. Du hast nur gehorcht und gelitten. Wir haben uns feige benommen. Du und Simon, ihr habt das Opfer des Gehorsams gebracht”, unterbricht ihn Bartholomäus.

“Ja, wir haben uns dem Gehorsam geopfert. Oh, wie schwer ist es doch, im Gehorsam gegen den Geliebten der Liebe zu widerstehen! Komm, Philippus! Fast alle Jünger sind in meinem Haus. Komm auch du .” - “Ich schäme mich, vor der Welt und den Gefährten zu erscheinen...” - “Wir sind alle gleich!” seufzt Bartholomäus. “ Ja, aber ich habe ein Herz, das sich nicht verzeiht.” - “Das ist Stolz, Philippus . Er hat am Abend des Sabbats zu mir gesagt: „Sie werden sich nicht verzeihen. Sage ihnen, daß ich ihnen verzeihe, denn ich weiß, daß sie nicht frei handeln. Es ist Satan, der sie vom rechten Weg abbringt .“ Komm!” Philippus weint heftiger, doch er gibt nach. Er geht so gebeugt, als sei er in wenigen Tagen alt geworden, an der Seite des Lazarus bis in den Hof, in dem alle auf ihn warten. Der Blick, mit dem er die Gefährten ansieht, ist derselbe, mit dem auch die Gefährten ihn ansehen, und er ist das klarste Bekenntnis ihrer grenzenlosen Niedergeschlagenheit.

Lazarus bemerkt es und sagt: “Noch ein Lamm aus der Herde Christi, das in Angst vor dem Kommen der Wölfe und nach der Gefangennahme des Hirten geflohen ist, wurde von seinem Freund zurückgebracht. Diesem Verirrten, der die Bitterkeit erfahren hat, allein zu sein und ohne den Trost, in Gesellschaft seiner Brüder seinen Fehler beweinen zu können, wiederhole ich das Vermächtnis der Liebe unseres Herrn. Er - ich schwöre das in Gegenwart der himmlischen Chöre - hat mir gesagt, zusammen mit anderen Dingen, die eure derzeitige menschliche Schwäche nicht ertragen kann, denn sie sind so traurig, daß sie mir seit zehn Tagen das Herz zerreißen - und wenn ich nicht wüßte, daß mein Leben dem Herrn dienen kann, so arm und fehlerhaft es auch sein mag, dann würde ich mich diesem Schmerz als Freund und Jünger, der mit ihm alles verloren hat, überlassen -er hat gesagt: „Die Dünste des verdorbenen Jerusalem werden auch meine Jünger verwirren. Sie werden fliehen und zu dir kommen .“

Und ihr seht, daß ihr alle gekommen seid. Alle, kann ich sagen, denn außer Simon Petrus und Iskariot seid ihr alle in mein Haus und zum Herzen eures Freundes gekommen. Er hat gesagt: „Du wirst sie sammeln. Du wirst meine verirrten Lämmer ermutigen. Du wirst ihnen sagen, daß ich ihnen verzeihe. Ich vertraue dir meine Vergebung für sie an. Sie werden keinen Frieden finden, weil sie geflohen sind. Sage ihnen, daß sie nicht in die noch größere Sünde fallen sollen, an meiner Verzeihung zu verzweifeln .“ So hat er gesagt. Und an seiner Statt habe ich euch Verzeihung erteilt. Und Schamröte färbt mein Gesicht, da ich euch in seinem Namen etwas so Heiliges gebe, etwas, das ganz sein ist, die Verzeihung, also die vollkommene Liebe; denn wer dem Schuldigen verzeiht, liebt vollkommen. Diese Aufgabe hat mich in meinem schweren Gehorsam getröstet... Denn dort hätte ich sein wollen, wie Maria und Martha, meine guten Schwestern .

Und wenn ihn die Menschen auf Golgota gekreuzigt haben, so hat mich , ich schwöre es euch, der Gehorsam hier gekreuzigt ; ein gar qualvolles Martyrium. Doch wenn es dazu dient, seiner Seele Trost zu schenken und ihm seine Jünger zu erhalten bis zu dem Zeitpunkt, da er sie versammeln wird, um sie im Glauben zu vervollkommnen, dann bin ich bereit, noch einmal meinen Wunsch zu opfern, wenigstens hinzugehen und den Leichnam zu verehren, bevor der dritte Tag sich seinem Ende zuneigt. Ich weiß, daß ihr Zweifel habt . Das dürft ihr nicht. Ich kenne seine Worte beim Paschamahl nur, weil ihr sie mir berichtet habt. Aber je mehr ich darüber nachdenke, desto klarer werden mir nach und nach diese Diamanten seiner Wahrheit, desto deutlicher fühle ich, daß sie einen sicheren Bezug zum nahen Morgen haben. Er könnte nicht gesagt haben: „Ich gehe zum Vater und komme dann wieder“, wenn er nicht wirklich zurückkommen würde. Er hätte nicht gesagt: „Wenn ihr mich wiederseht, werdet ihr von Freude erfüllt sein“, wenn er für immer verschwunden wäre.

Er hat immer gesagt: „Ich werde auferstehen.“ Ihr habt mir berichtet, daß er gesagt hat: „Ein Tau wird auf die in euch gesäten Samen fallen und alle zum Keimen bringen; dann wird der Paraklet kommen, der sie zu mächtigen Bäumen macht.“ Hat er das nicht gesagt? Oh, sorgt dafür, daß dies nicht nur beim letzten seiner Jünger, beim armen Lazarus geschieht, der nur so selten mit ihm zusammen gewesen ist! Sorgt dafür, daß seine Saat unter dem Tau seines Blutes aufgegangen ist, wenn er zurückkehrt. In mir wird alles Licht, und immer neue Kräfte erfüllen mich seit der schrecklichen Stunde, da er am Kreuz erhöht wurde.

Alles wird hell, alles wächst und gedeiht. Es gibt kein Wort, das nur seinen armen, menschlichen Sinn behalten hätte. Alles, was ich von ihm oder über ihn gehört habe, wird lebendig, und mein ödes Land verwandelt sich in einen blühenden Garten, wo jede Blume ihren Namen hat und alle Säfte aus seinem heiligen Herzen Leben erhalten. Ich glaube, Christus! Und damit auch diese hier an dich glauben, an deine Verheißungen, an deine Vergebung und an all das, was du bist, biete ich dir mein Leben an. Nimm es, aber gib, daß deine Lehre nicht stirbt! Zerbrich den armen Lazarus, aber führe die zerstreuten Glieder des apostolischen Kerns wieder zusammen. Alles, was du willst, aber dafür gewähre, daß dein Wort lebendig und ewig sei und all jene jetzt und immerdar zu ihm kommen, die nur durch dich das ewige Leben erlangen können.”

Lazarus ist wirklich inspiriert. Die Liebe trägt ihn zu höchsten Höhen empor, und seine Begeisterung ist so groß, daß er auch die Gefährten mitreißt.

Sie rufen ihn von allen Seiten, als ob er ein Beichtvater, ein Arzt, ein Vater wäre. Ich weiß nicht warum, aber der Hof des reichen Lazarus läßt mich an die Häuser der christlichen Patrizier in den Zeiten der Verfolgung und der heroischen Glaubenstreue denken... Er beugt sich gerade über Judas des Alphäus, dem es nicht gelingt, einen Trost zu finden für seinen Kummer, den Meister und Vetter verlassen zu haben, als etwas ihn veranlaßt, sich mit einem Ruck aufzurichten.

 Er dreht sich um und sagt klar und deutlich: “Herr, ich komme!” Sein übliches Wort des prompten Gehorsams. Und er eilt hinaus, als würde er jemandem folgen, der ihn gerufen hat und ihm vorausgeht. Alle sehen sich erstaunt an und fragen einander. “Was hat er denn gesehen?” - “Es ist doch nichts gewesen!”

“Hast du eine Stimme gehört?” - “Ich nicht.” - “Ich auch nicht.” - “Was dann? Ist Lazarus vielleicht wieder krank?” - “Vielleicht... Er hat mehr gelitten als wir und uns Feiglingen noch dazu so viel Kraft gegeben. Vielleicht fiebert er nun.” - “Tatsächlich ist sein Gesicht sehr eingefallen.” - “Und seine Augen haben geglüht beim Sprechen.” - “Es war wohl Jesus, der ihn in den Himmel gerufen hat.” - “Lazarus hat ihm ja soeben sein Leben angeboten... Und wie eine Blume hat er ihn sofort gepflückt... Oh, wir Elenden! Was tun wir jetzt?” Die Bemerkungen sind unterschiedlich und bekümmert.

Lazarus läuft eiligst durch die Vorhalle und hinaus in den Garten, und dabei lächelt und flüstert er, und seine ganze Seele liegt in seiner Stimme: “Ich komme, Herr.” An der Stelle, wo dichter Buchs eine grüne Nische bildet, wir würden sagen, eine Art Pavillon, wirft er sich mit dem Antlitz zu Boden und ruft aus:

“Oh, mein Herr!” Denn neben dieser grünen Nische steht Jesus in der ganzen Schönheit des Auferstandenen, lächelt ihn an... und sagt: “Alles ist erfüllt, Lazarus. Ich bin gekommen, um dir zu danken, treuer Freund. Ich bin gekommen, damit du den Brüdern sagst, sie sollen sofort ins Haus des Abendmahls gehen. Du - noch ein Opfer, Freund, aus Liebe zu mir - bleibe vorläufig hier...

Ich weiß, daß du deswegen leidest. Aber ich weiß auch, daß du großherzig bist. Maria, deine Schwester, ist schon getröstet, denn ich habe sie gesehen, und sie hat mich gesehen.” ”Du leidest nicht mehr, Herr. Dies entschädigt mich für jedes Opfer. Ich habe gelitten... da ich dich in Schmerzen wußte... und nicht bei dir sein konnte...” - “Oh, du warst bei mir. Deine Seele war am Fuß meines Kreuzes und im Dunkel meines Grabes. Du hast mich wie die anderen, die mich vollkommen lieben, vorzeitig aus der Tiefe, in der ich mich befand, gerufen.

Nun habe ich zu dir gesagt: „Komm, Lazarus“, wie am Tag deiner Auferstehung. Aber du sagst mir schon seit vielen Stunden: „Komm.“ Ich bin gekommen. Ich habe dich gerufen, um dich meinerseits aus der Tiefe deines Schmerzes herauszuholen. Geh! Ich gebe dir meinen Frieden und meinen Segen, Lazarus. Wachse in der Liebe zu mir. Ich werde wiederkommen .” Lazarus liegt immer noch auf den Knien und wagt nicht, sich zu rühren. Die Majestät des Herrn, wenngleich von Liebe gemildert, ist derart, daß Lazarus sich nicht wie sonst benehmen kann. Doch bevor Jesus verschwindet in einem Wirbel von Licht, in dem er sich auflöst, macht er einen Schritt auf den Getreuen zu und berührt mit der Hand seine Stirn. Nun erst erwacht Lazarus aus seinem seligen Staunen.

Er steht auf, stürzt hinein zu den Freunden, mit freudestrahlenden Augen und einem Leuchten auf der von Christus berührten Stirn, und ruft:

“Er ist auferstanden, Brüder! Er hat mich gerufen. Ich bin gegangen und habe ihn gesehen. Er hat zu mir gesprochen. Er hat mir gesagt, ich soll euch sofort in das Haus des Abendmahls schicken. Geht! Geht! Ich bleibe hier, denn er will es so. Aber meine Freude ist vollkommen...”

Und Lazarus weint vor Freude, während er die Apostel antreibt, sich als erste auf den Weg zu machen entsprechend seinem Befehl. “ Geht, geht! Er ruft euch! Er liebt euch! Fürchtet ihn nicht ... Oh, er ist mehr denn je der Herr, die Güte, die Liebe...!” Auch die Jünger stehen auf... Bethanien leert sich . Nur Lazarus bleibt mit seinem großen, getrösteten Herzen...

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Jesus erscheint anderen Freunden
im Haus des Abendmahles
- Unter 688

Martha kommt und geht, schweigend und geschäftig. “Und du, Schwester? Für dich nichts? Du schweigst und lächelst. Und so glücklich ist dein Lächeln, daß auch du deine Freude erlebt haben mußt”, sagt Magdalena.

“Es ist wahr. Du hältst die Lider gesenkt und dein Mund schweigt; doch deine Augen leuchten unter dem Schleier der Wimpern, als würdest du ein Liebeslied singen.” - “So sprich doch! Mutter, hat sie dir etwas gesagt?”

Die Mutter lächelt und schweigt. Martha, die damit beschäftigt ist, den Tisch zu decken, möchte einen Schleier über ihr süßes Geheimnis breiten, aber die Schwester gibt nicht nach.

Und schließlich sagt Martha selig und errötend: “Er hat sich mit mir verabredet für die Todesstunde und die vollkommene Vermählung ...” und ihr Gesicht entzündet sich in einem noch tieferen Rot und einem Lächeln der Seele.

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Im Abendmahlsaal zu Pfingsten - unter Nr. 702

Im Saal sind Männer und Frauen jeden Alters. Inmitten einer Gruppe von Frauen, nahe beim Tisch, aber in einer Ecke, befindet sich Maria, die Mutter, umgeben von Martha und Maria des Lazarus , Nike (Veronika), Elisa, Maria des Alphäus, Salome, Johanna des Chuza, schließlich viele der hebräischen oder auch nicht hebräischen Jüngerinnen, die Jesus geheilt, getröstet, in seiner Lehre unterwiesen und zu Schäfchen seiner Herde gemacht hat.

Bei den Männern sind Nikodemus, Lazarus, Josef von Arimathäa, sehr viele Jünger, unter ihnen Stephanus, Hermas, die Hirten, sowie Elischa, der Sohn des Synagogenvorstehers von En-Gedi, und sehr viele andere. Auch Longinus ist da, nicht als Soldat gekleidet, sondern wie ein gewöhnlicher Bürger in einem schlichten, langen, gräulichen Gewand. Dann noch andere, die anscheinend erst nach Pfingsten und den ersten Predigten der zwölf Apostel zur christlichen Gemeinde gekommen sind.

      Unter Nr. 703 und 704
Lazarus hat dann Maria und Johannes das Häuschen im Ölgarten gegeben und ihn mit einer Mauer umgeben. Dort lebten beide außer der Zeit der Verfolgung, wo sie in Ephesus waren. So konnte Maria immer die Orte der Passion aufsuchen. Vermutlich ist Maria dort entschlafen und in den Himmel aufgenommen worden.

 Inhaltsverzeichnis


  

Maria Magdalena aus Visionen
der Therese Neumann
, S.340f.

„Magdalena war des Lazarus jüngste Schwester, der ebenso brav wie gerecht war, ein schönes Mädchen mit langen blonden Haaren. Überaus lebenslustig, litt es sie nicht mehr in dem frommen Haus des Bruders zu Bethanien, sie verlangte den elterlichen Erbteil. Lazarus gab ihr das Schloß Magdala am Galiläischen Meer. Dort führte sie ein Sündenleben. Auf Christus wurde sie aufmerksam durch eine ihrer Sklavinnen . Sie interessierte sich für seine äußere Erscheinung, suchte ihn zu sehen und, nachdem sie ihn gesehen hatte, auch zu treffen. Es gelang ihr auch, aber der Heiland wandte sich von ihr ab. Das ging ihr zu Herzen und sie faßte den Entschluß, ihr Leben zu ändern. Aber sie wurde rückfällig .

Am Fest der hl. Maria Magdalena 1928, schaut Theres den Heiland erst auf einem niederen Berg in der Nähe des Tabor mit Namen Gabara, wo er erst streng gegen die Sünde, dann freundlich einladend (kommt alle zu mir usw.) predigt und Kranke tröstet und heilt. Hierauf begibt er sich in das nebenan gelegene Städtchen gleichen Namens zum Pharisäer Simon Zabulon , der ihn zu Tisch geladen.

Vor dem Haus des Gastgebers gibt sich der Heiland noch mit den Armen und Kranken ab, auf deren Bewirtung er nachher bei Simon dringt. Maria Magdalena hatte die Predigt des Heilands gehört und war dann in Gesellschaft einiger anderer Frauen mit zu Simon gegangen, wo sie in einem Nebengemache Platz nahmen. Dem inneren Drang nachgebend, schlich sie sich zu dem Saal, wo der Heiland mit sechs Aposteln bei Simon und seinen Freunden zu Tisch lag . Da goß sie nun leichtflüssiges Salböl aus über das Haupt des Heilands und verrieb es in seinen Haaren. Unter Küssen benetzte sie dann seine Füße mit Tränen, trocknete sie mit ihren Haaren und salbte sie mit dickflüssiger Salbe. Der Heiland schaute liebevoll auf sie, führte mit dem ärgerlichen Simon das aus dem Evangelium bekannte Gespräch und entließ Magdalena in Frieden. Bei dieser Begegnung wurde ihre Bekehrung eine endgültige."

Auferweckung des Lazarus: Der Heiland kommt, nachdem ihn vier Tage vorher Boten aus Bethanien zum schwerkranken Lazarus gebeten hatten, mit seiner Begleitung nach Bethanien, Martha kommt ihm entgegen und spricht lange mit ihm. Er tröstet sie. Sie eilt weg und kommt mit ihrer Schwester Maria und vielen Leuten aus dem Hause wieder. „Das Moidl" (Maria) wirft sich dem Heiland zu Füßen und redet ihn weinend an („Herr, wärest du hier gewesen, so wäre mein Bruder nicht gestorben"). Da weint auch der Heiland - auch Resl während der Vision - und läßt sich zum Grab führen...

Der Heiland schaut zum Himmel auf und spricht dann etwas ganz mächtiges in das Grab hinunter (Laasaar alla, Lazarus, komm zu dir). Da kommt der Verstorbene aus der Grabeshöhle herauf: ein schauerlicher Anblick, wie der Tot gewesene mit umbundenen Händen und Füßen und verhülltem Angesicht dem Grab entsteigt. Man ist stumm und starr. Doch alsbald wird er auf ein Wort des Heilands hin von den Binden befreit und, in einen Mantel gehüllt, in sein Haus zurückgeführt.

Man kann das Geschehene noch kaum fassen und wagt es noch kaum, sich zu freuen, bis die erkannte Wirklichkeit dann in Freudentränen zum Durchbruch kommt. Auch Resl weint wiederum gegen Schluß der Vision, aber dieses mal sichtlich vor Freude.

Salbung in Bethanien: Der Heiland befindet sich im Haus des Lazarus in Bethanien. Es kommt ein vornehmer Mann mit gesticktem Mantel und Gürtel und funkelndem Armreif, im Angesicht lauter ausgeheilte „Löcherl" (Simon, der Aussätzige Mt 26,6) und lädt alle in sein Haus zu Gast. Man folgt ihm (Resl beschreibt das Haus genau) und ißt ein gebratenes Lamm. „Das Moidl" (Maria Magdalena) kommt leise von hinten her und salbt dem Heiland die Füße. Dies wird unwillig von den sonstigen Gästen vermerkt. Aber der Heiland spricht zu ihr.

Da holt sie noch ein Perlmuttergefäß aus ihrem Mantel heraus, zerdrückt es und gießt den Inhalt (Nardenöl) über dem Haupt des Heilandes aus. Und edelster Wohlgeruch erfüllt den ganzen Saal. Judas ärgert sich vernehmlich und auch die anderen schauen unfreundlich drein. „Da ist der Heiland aufgestanden, hat etwas gesagt, das war sehr hart, ich habe es gespürt, da hat er vom Sterben geredet. Auch die Mutter hat da greint (geweint). Dann setzte sich der Heiland wieder nieder und es ist eine Art Spannung geblieben. Das, was der Heiland gesagt hat, haben sie nicht recht begriffen („Sie hat im voraus meinen Leib zum Begräbnis gesalbt" Mk 14,8). Dann, es hat gar nicht lang gedauert, da ist der eine ganz wild aufgesprungen, hat das Moidl und den Heiland wild angeschaut und ist furtgrennt (fortgerannt). Es ist schon Nacht worden und es haben Schnabellichterl (Öllämpchen) gebrannt. Ich hab es dem Moidl gegönnt, daß der Heiland so zu ihr gehalten hat. Die hat es wirklich gut gemeint. Da ist der Heiland schon gern draußen gewesen, bei diesen guten Leuten, aber weißt, a Schneid (Mut) hat schon herghört; es hat sich gfürcht, des Moidl (es hat sich gefürchtet, dieses Mädchen)."

Begegnung nach der Auferstehung: Magdalena geht sehr traurig vom leeren Grab weg in den Garten hinaus und weint und sucht. Da sieht sie im Sonnenschein einen Mann daherkommen in hellem Gewand. Magdalena kennt ihn nicht (Resl auch nicht), redet ihn fragend an und schlägt weinend die Hände vor dem Angesicht zusammen. Da - „auf einmal ist der Mann der Heiland worn" (geworden), so strahlend und schön, wie er aus dem Grabe gekommen war, und sagt „Marjam!". Magdalena stürzt auf die Knie und ruft: „Rabboni!".

Anni Spiegl, die treue langjährige Freundin der Therese Neumann und damit Augen- und Ohrenzeugin schreibt aus Miterleben von Visionen der Resl über Magdalena in Leben und Sterben der Therese Neumann, 1. Aufl., S.57:

Eine besondere Liebe hegte Resl zu Maria Magdalena. Sie muß sehr schön gewesen sein. Resl begegnete ihr in mehreren Visionen. Nach Resls Erzählung ist sie die Schwester von Martha und Lazarus. Sie ließ sich ihren Erbteil auszahlen und nahm Wohnung auf ihrem Gut Magdala, wo sie ein sehr leichtes Leben führte. Sie war schön gekleidet und geschmückt. Die Fußkettchen klirrten leise beim Gehen. Bei ihrer ersten Begegnung wollte sie nur den schönen, interessanten Mann sehen, von dem die ganze Stadt sprach. Bei Magdalena war es keine plötzliche Bekehrung, wie bei Paulus. Bei ihr war es Liebe, die erst geläutert werden mußte. Sie merkte bald, daß Jesus anders war als die anderen, sie suchte seine Nähe. Ihre Bekehrung war endgültig, als er im Haus des Simon zu ihr sagte: „Deine Sünden sind dir vergeben, gehe hin in Frieden!". Nun gab es für sie keine Furcht und kein Zurück mehr.

So sah sie Resl unter dem Kreuz von Blut benetzt und am Ostermorgen als erste zum Grabe eilen . Sie ist gelaufen. Ihr schönes volles Haar fiel ihr ins Gesicht, so daß sie es immer wieder hin ausstrich. Auch Resl machte die gleiche Bewegung mit. Maria kam als erste zum Grab, während die anderen Frauen in einiger Entfernung stehen blieben. Sie fand das Grab leer und lief suchend durch den Garten . Da sah sie einen Mann vor sich, den sie für den Gärtner hielt. Ihn fragte sie: „Wo habt ihr ihn hingelegt?" Dann die Antwort: „ Myriam !" Da erkannte auch Res! den Heiland. Ihr Gesicht strahlte."

Erwein Freiherr von Aretin in Die Sühneseele von Konnersreuth, 1956, S.42:
Maria Magdalena ist in den Visionen Therese Neumanns identisch mit der Schwester der Martha. Da sie als Schwester des Lazarus, der sich schon in seinem Äußeren als Araber und Nichtjude zu erkennen gibt, nicht an das jüdische Gesetz gebunden war, hat sie auch nicht nach ihm gelebt [?] und vor allem dadurch ihren schlechten Ruf als gottlos bei der jüdischen Umgebung hervorgerufen..."

Auf S. 107 urteilt er: „ Die Identität der Maria Magdalena , die Zeugin der Kreuzigung und der Auferstehung ist, mit der Sünderin von Lk 7,36 und der Maria von Bethanien, der Schwester des Lazarus, scheint, gegenüber allen Ableugnungen, in den Visionen Therese Neumanns festzustehen. Da diese Maria Abenteuer jeder Art liebte, kaufte ihr ihr sehr reicher Bruder Lazarus, wohl auch um sie aus dem Haus zu haben, aus ihrem väterlichen Erbteil ein schönes Gut im Norden Palästinas, wo sie sich ansiedelte - die Ruinen des Hauses seien heute noch erhalten, sagt Therese Neumann - und ein Leben führte, das in der Umgebung Ärgernis erregte. Das Haus war in Galiläa bei Magdala."

Pfarrer Naber berichtet über die Visionen vom 22. Juli 1928:

„An diesem Tag sieht Theres auch noch, wie Lazarus, seine älteste, nicht ganz richtige Schwester Anna (geistig behinderte), nach Weggang Mariens aus Bethanien auch noch Maria genannt, ferner Martha, Maria Magdalena und ein treuer Diener von den Juden auf einem segel- und ruderlosen Schiff ins Meer hinaus gestoßen werden - vom Hohen Rat verurteilt - aber wohlbehalten auf einer Insel an der Südküste Frankreichs landen. (Heute Wallfahrtskirche „Les Saintes Maries" in der Camargue.) Von dort verbringen Lazarus und der Diener Magdalena ans Festland. Während jene zurückkehren, besteigt diese einen Berg, wo sie in einer Höhle sich niederläßt für die noch übrigen mehr als 30 Jahre ihres Lebens. Sie lebt von eßbaren Gewächsen des Bodens und dem Wasser aus der Quelle neben der Höhle. Ein Engel bringt ihr den Leib des Herrn.

       Von ihren Verzückungen schaut Theres die letzte:
Magdalena ist etwas über den Boden erhoben, hat die Hände gegen den Himmel gestreckt und schaut dessen Herrlichkeit. Theres Neumann darf mit Magdalena in den Himmel schauen. Sie sieht den Heiland, seine Mutter, Josef, Elisabeth, Jakobus den Älteren usw., vermißt aber ausdrücklich Johannes und Petrus. (Lebten wohl noch auf Erden.)

Bald nach dieser Schauung stirbt Magdalena, von der Sehnsucht nach dem Heiland verzehrt. In Form eines Lichtstrahles sieht Theres ihre Seele den Leib verlassen und von den Seelen ihrer Eltern und ihrer verstorbenen Schwester Anna sowie von ihrem Schutzengel zum Himmel geleitet werden, von woher der Heiland ihr entgegenkommt. -Magdalena starb , sagt Theres, im Jahr 67.

    Inhaltsverzeichnis


Die Schauungen der sel.
Anna Katharina Emmerich zu Magdalena

Das Leben unseres Herrn und Heiland des Jesus Christus, von Brentano, 1879/60

Jesus in Bethanien - Bd. I, S.155

Heute sah ich Jesus in Bethanien bei Lazarus . Nikodemus, Josef von Arimathäa, Obed, Veronikas Sohn, Johannes Markus und Simon der Aussätzige, ein Pharisäer von Bethanien, Lazarus Freund, waren da. Jesus lehrte von der Johannes- und Messiastaufe, vom Gesetz und der Erfüllung, von allen Sekten der Juden und ihrer Art. Sie hatten auch Schriftrollen von Jerusalem gebracht und er legte ihnen Stellen der Propheten aus, die sich auf den Messias bezogen. Sie waren nicht alle bei dieser Auslegung, aber Lazarus und einige Vertraute.

Jesus sprach vom künftigen Aufenthalt. Sie rieten ihm, sich nicht in Jerusalem niederzulassen und teilten ihm mit, was dort alles von ihm geredet wird. Sie schlugen ihm Salem zum Aufenthalt vor, weil dort wenig Pharisäer seien. Er sprach von all diesen Orten und sprach auch von Melchisedech, dessen Priestertum müsse erfüllt werden, und dieser habe alle Wege gemessen und Stellen gegründet, wo sein himmlischer Vater wolle, daß der Menschensohn hingehen soll. Er sagte ihnen auch, er werde meistens am See Genezareth sein usw.

Jesus hielt diese Unterredung mit ihnen an einem abgesonderten Ort in Gemächern am Garten, wobei der waren.

Martha ging zu Magdalena - S.225

Ich habe mich neulich geirrt, daß Martha mit Lazarus von Kana nach Hause gegangen sei. Lazarus ging allein, Martha hielt sich noch in Galiläa auf, ich meine Gennabris, wo Nathanael lebte. Sie hatte Magdalena überredet, dahin zu ihr zu kommen . Es waren noch mehrere Jünger dort. Man sprach von den Wundern Jesu, und da Jesus in die Gegend von Jezsrael kam, beredete Martha ihre Schwester, noch 8 Stunden weiter nach Jezrael mit ihr zu gehen. Aber Jesus war nicht mehr dort und sie hörte nur seine Wunder aus dem Mund der Geheilten . Hier trennten sich die Schwestern und Magdalena ging nach Magdalum zurück.

Lazarus hatte in der Gegend von Samaria einen Weinbergund ein Feld und Haus in der Nähe von Jakobs Feld, welches später der Gemeinde Jesu auf Reisen ganz zu Diensten stand. Hier kamen die Schwestern später zu Jesus, als sie ihn nach Bethanien zum verstorbenen Lazarus riefen. Es war in späteren Zeiten eine Kapelle der Martha dort.

S. 233 Jesus tröstete Lazarus über Magdalena . Er sagte, daß schon ein Funke des Heils in sie gefallen sei, der sie ganz entzünden werde.

Bei Magdalena in Magdalum - S.338

Ich fand Gäste bei ihr. In dem Saal, worin die Spiegel und grünen Bäumen sind, lagen sie um einen Tisch, die Mahlzeit schien zu Ende. Es waren wohl ein Dutzend Männer, Juden und Heiden. Einer schien da zu wohnen und zum Hausherr oder Ehemann Magdalenas von den anderen gehalten zu werden. Er war aber nur ein Buhler, der seit einiger Zeit sich eingenistet hatte, und mit dem sie lebte. Die anderen waren Freunde von ihm und durchziehende Fremde und Offiziere, deren viele hier lagen. Es waren auch Römer darunter. Im ganzen waren es keine vornehmen Leute, sondern Künstler, Offiziere und Abenteurer, und Magdalena schien etwas heruntergekommen durch ihren Ruf, obschon sie sehr schön war.

Sie war fremd und ausgezeichnet, aber nicht sehr prächtig gekleidet und trug keinen Schleier. Es gab hier fast täglich solche Feiern , denn sie war sehr gastfrei und verschwenderisch. Das Haus und die Gärten waren vernachlässigt und schienen zu verfallen, außer den Gemächern, die sie bewohnte.

Magdalena war anfangs auch noch bei der Mahlzeit und ich hörte einem Gespräch von den Männern zu, welches so war, wie man heutzutage über heilige Dinge spricht. Magdalena sprach mit Achtung mit einer geheimen Bewegung von Jesus, den sie einmal in Jezrael gesehen hatte. Sie erwähnte auch Veronika, eine vornehme Frau, welche sie vor acht Tagen besucht hatte und zu Maria gereist war, und sprach von deren Achtung und gänzlicher Ergebenheit an Jesus.

Da zogen aber die Männer auf allerlei Art untereinander los, und gar nicht bedenkend, daß sie selbst eine schlechte Gesellschaft und teils Heiden teils gesetzesbrüchige Juden waren, sagten sie, wie sie nur diesen Menschen und seinen Anhang verteidigen möge. Die Frau, von der sie spreche, müsse auch sehr verblendet sein, sich zu diesen Leuten zu halten. Seine Familie sei verarmtes Gesindel und er laufe wie ein Tor, ohne Schuhe herum. Als sein Vater gestorben war, habe er statt ein ehrliches Handwerk zu ergreifen und seine Mutter zu ernähren, diese im Stich gelassen und ziehe im Land herum und wiegelt die Leute auf. Er habe eine schöne Gesellschaft von unwissenden und faulen Fischern in Galiläa gefunden, die auch ihre Familie im Stich ließen und ihm nachzogen, statt zu arbeiten. Man wisse aber jetzt wohl, was an ihm sei; von Jerusalem sei er wegen seiner falschen Lehren und Störungen am Osterfest verjagt, und seine Mutter habe man nach Hause geschickt. Statt aber die Warnung zu benützen, treibe er sich jetzt in Obergaliläa herum und mache die Leute zu Narren, und bringe überall Störungen und Unruhe hervor.

Es waren auch Römer in der Gesellschaft, welche sagten: es sei wunderbar, was der Mensch für ein Aufsehen mache; auch in Rom habe er Freunde, Lentulus ein vornehmer Mann, sei ganz von ihm begeistert, und gebe viele Aufträge um Nachrichten von ihm, und wenn Schiffe aus Judäa kamen, so laufe er hin und frage immer um Nachricht von Jesus und seinem Treiben.

Anfangs sah ich in diesem Gespräch die gute Gesinnung der Magdalena wieder erkalten, und sie schien dem Geschwätz Gehör zu geben. Als es aber endlich gar zu gemein wurde, begab sie sich in einen Nebenraum , wo sie ihren Sitz hatte. Die Gemeinheit und die plumpen Sitten empörten ihren Stolz. Sie fühlte, wie sehr sie heruntergekommen war, sie war sonst feineren Umgang gewohnt, sie fühlte ihre Sklaverei, sie dachte an die Worte Veronikas, an die Sitten ihrer eigenen Geschwister, sie fühlte ihr Elend , und da der Mann, mit dem sie vertrauter verbunden schien, - es war ein ganz schöner Mann - ihr folgte, sie zu fragen, was ihr fehle, weinte sie, wollte allein sein. Ihre Kammerfrauen waren bei ihr. Sie hatte zwei, eine taugte nichts, die andere war gut und berichtete der Familie immer, wie sie es trieb, und wie es hier ihr ging.

Aus diesem Bild sah ich, wie es damals mit Magdalena stand. Sie war tief herab- gekommen. Sie war einmal sehr gerührt gewesen von Jesus zu Jezrael , hatte es sich aber wieder aus dem Sinn geschlagen und war noch mehr gesunken. Aber die Erinnerung an den früheren größeren Glanz ihrer Sündenlebens öffnete der Rührung wieder den Weg, sie kämpfte in sich .

Als Veronika bei ihr war, übernachtete sie auch da. Diese ehrbare bejahrte Frau kam auf ihren Reisen zu Maria immer zu ihr. Sie war der Familie sehr vertraut und versuchte gut auf sie zu wirken. Die ankommenden Freunde gingen nie in den Teil des Schlosses, wo Maria ihr Wesen trieb. Sie gingen unter den Eingangsboden in den entgegengesetzten Flügel, und Maria ging dann oben über den Bogen zu Ihnen. Solche Besucher waren ihr von einer Seite widerwärtig, weil sie sich schämte und Ermahnungen erhielt; von der anderen Seite entsprachen sie ihrem Stolz, sie glaubte dadurch vor der Welt nicht für so schlecht angesehen zu werden, daß sie nicht ihre geachteten, vornehme Verwandten besuchen sollten.

Ich sah auch einmal Jakobus den Älteren bei Magdalena , der von großem Mitleid bewegt eine zeit lang vorher, ehe Martha sie einlud, die Lehre Jesu zu hören, durch welche sie bekehrt wurde, zu Magdalena nach Magdalum ging, um sie zu diesem Entschluß zu stimmen. Er wollte eigentlich sehen, in welchem Grad sie widerspenstig sei. Ich sah ihn mehrmals bei ihr . Er verschaffte sich Gelegenheit mit der Botschaft von Martha.

Sie empfing ihn nicht in ihrem Schloß, sondern in einem Nebengebäude. Sie hatte Wohlgefallen an ihm. Er war sehr stattlich in seinem Aussehen, sprach ernst und weise, und konnte auch sehr anmutig sprechen. Sie erlaubte ihm, sie mehrmals zu besuchen, wenn er in die Gegend käme. Sie behandelte diese Besuche etwas versteckt, denn sie war damals nicht ohne Beziehung. Der Mann mit dem sie lebte, erfuhr nichts von ihren Unterredungen mit Jakobus.

Er sprach nicht Strafen mit ihr, sondern mit Achtung und Freundlichkeit . Er lobte ihren Geist und forderte sie auf, doch Jesus einmal zu hören . Geistreiches, beredsameres könne man nicht hören, da sei etwas zu lernen. Sie solle sich nicht über die Art und Weise der anderen Zuhörer stören, sie sollen nur mit ihrem Schmuck erscheinen, den sie zu tragen gewohnt sei. Sie nahm seine Aufforderung ganz gut an, sie meinte es überlegen zu wollen. Sie war ganz geneigt und doch stellte sie sich nachher so spröde an, als Martha sie aufforderte.

Geburtstag von Magdalenas Freund - S.341

Es war ein Tanz und Fest bei Magdalena, ich meine es war der Geburtstag des Mannes, mit dem sie damals zusammenlebte, und den ich neulich schon gesehen habe. Er war ein Jude und Soldat und war hier in Magdalum in der Garnison.

Ich sah einen Tanz von etwa 20-30 Paaren in einem großen prächtigen Saal, neben dem Speisesaal. Auch hier in diesem Saal konnten sich die Tanzenden in den Spiegeln drehen sehen. Es war an der einen Seite ein breiter, etwas erhöhter Sitz, mit Kissen und Vorhängen davor. Hier saß Magdalena oder ging mit Einzelnen auf und ab. Ich sah nicht, daß sie mittanzte. Sie kümmerte sich nicht viel um die Gäste, und diese nicht um sie . Es schien mehr die Sache des hier herrschenden Mannes; und die Leute behandeln alles, wie ein gewohntes Treiben, wobei nicht viel zu denken ist.

Die Gesellschaft bestand aus leichtfertigen, eitlen Leuten, Frauen und Mädchen, die nach der Welt und außer dem Gesetz leben, Offizieren und Beamten von Magdalum und Abenteurern. Die Musikanten waren fast lauter Kinder, Knaben und Mädchen mit Kränzen, Flöten und Triangeln. Der Tanz war nicht springend oder herumschwenkend, wie bei uns, sondern ein beständiges, künstliches durcheinander wandeln mit kleinen schwebenden Schritten und einem steten lieblichen Hin- und Herbewegen der ganzen Gestalt und des Kopfes und der Hände. Es ging alles ganz gemessen und schicklich zu, aber es drückte sich doch allerlei Leidenschaften und Torheiten aus und war ein stetes Prangen und Locken mit dem Körper. Die Frauen hatten sehr lange Schleppen, waren aber nicht verschleiert, wie strengere Jüdinnen beim Tanz, auch waren ihre Hände nicht bedeckt wie bei jenen, aber sie berührten doch die Hände einander nicht anders, als durch Tücher, die sie in den Händen trugen. Ich habe überhaupt bei leichtsinnigen Jüdinnen nie vor anderen eine anstößige Vertraulichkeit mit Männern, auch keinen Kuß gesehen. Bei den Heiden und Römern war das Betragen zwischen beiden Geschlechtern sehr frech.

Die Tanzenden waren so mondänes, gemeines Sündenvolk, das nach dem Fleisch lebt und seine Schande und Abscheulichkeit mit schönen Kleidern und zierlichen Manieren bedeckt, aber sie waren doch viel geringer, als der frühere Umgang Magdalenas, der mehr mit Geistreichen, Gelehrten und Künstler war , wobei Gedichte und Rätsel gelesen und gemacht wurden. Sie fühlte daher ihre Gesunkenheit sehr und nahm wenig Anteil.

Der Tanz war bei Tag. Ich sah sie nachher in dem Spiegelzimmer an den prächtig breiten Tischen liegen. Die Frauen saßen an einer Seite zusammen, die Männer lagen an der anderen Seite, und Magdalena hatte einen Polstersitz zwischen ihnen. Als sie zu Tische lagen, kamen noch einige Gäste an und traten mit der Neuigkeit ein, daß Herodes den Johannes gefangen genommen habe. Darüber entstand ein abgeschmacktes, billigendes Geplauder. Da aber Magdalena betrübt darüber erschien, und mit ein paar Worten Anteil daran nahm, lachten sie die Männer aus und spotteten über Johannes. Ich sah, daß sie sich sehr daran ärgerte, bald den Tisch verließ und sich nachdenklich in den Nebenraum mit Polstersitzen begab, der ihr Gemach am Speisesaal war. Ich verließ sie hierauf.

Die Jugend der hl. Magdalena - S.343

Der Vater des Lazarus ist aus dem Land gewesen, wohin die drei Könige nach ihrer Heimreise von Bethlehem gezogen sind (Arabien). Der Großvater war aus Ägypten. Er war ein Fürst aus Syrien, ist aber nachher abgesetzt worden. Im Krieg hatte er jene Güter bei Jerusalem und Galiläa erhalten, war ein Jude geworden und hatte eine vornehme Jüdin von pharisäischem Geschlecht geheiratet.

Sie haben große Güter. Das Schloß des Lazarus in Bethanien war sehr groß, mit vielen Gärten, Terrassen, Brunnen und war zweifach mit Gräben umgeben. Die Familie wußte von Annas und Simeons Prophezeiung. Sie erwarteten den Messias, hatten schon in Jesu Jugend Bekanntschaft mit der hl. Familie, wie oft vornehme fromme Leute auch mit geringen frommen Leuten Verkehr haben.

Sie hatten 15 Kinder, von denen sechs früh verstarben, neun älter wurden und nur vier Christi Lehrzeit erlebten. Diese vier waren: Lazarus, Martha zwei Jahre jünger, Maria eine Blödsinnige zwei Jahre nach Martha, dann Maria Magdalena fünf Jahre nach dieser Geisteskranken. Ich habe von dieser Behinderten gesehen, daß sie nicht in der Schrift genannt und gezählt wird, aber doch vor Gott. Sie ist ganz unbekannt, ich habe sie aber in den Bildern aus Magdalenas Leben gesehen.

Magdalena, das jüngste Kind war sehr schön, früh und voll. Sie war früh wie ein erwachsenes Mädchen, und voller Gaukelei und allerlei Streichen. Sie war sieben Jahre alt, als ihre Eltern starben. Sie mochte diese von Jugend auf wegen ihres strengen Fastens nicht leiden. Ich habe vieles als Kind von ihr gesehen: Sie war unaussprechlich eitel, naschhaft, stolz und verweichlicht und eigensinnig. Sie war nie treu und hing an dem, was ihr gerade am meisten schmeichelte. Sie war dabei verschwenderisch und wohltätig aus sinnlichen Mitleid, sehr gutmütig und hingebend zu allem Glänzenden und Äußerlichen. Ihre Mutter hatte etwas Teil an ihrer Verziehung und jenes weichliche Mitleid hatte sie von ihr.

Die Mutter und ihre Ammen verwöhnten Magdalena, sie schoben sie überall vor und ließen ihre Gaukeleien und Unartigkeiten bewundern und saßen immer mit ihr im Schmuck am Fenster. Das Fenstersitzen war die erste Quelle ihres Verderbens. Ich sah sie immer am Fenster und auf Terrassen am Haus auf einem glänzenden Sitz von Teppichen und Kissen. Da sah man sie von der Straße in ihrer Pracht. Sie fing mit ihrem neunten Jahr ihre Liebschaften und ihr glanzvolles Leben an .

Mit ihren wachsenden Talenten und Eigenschaften wuchs auch der Lärm und die Bewunderung um sie. Sie hatte sehr viele Gesellschaften, war gelehrt und schrieb Sprüche von Liebessachen auf kleine Pergamentrollen. Ich sah, daß sie dabei an den Fingern zählte. Sie schickte diese herum und wechselte sie mit ihren Liebhabern und war überaus berühmt und bewundert.

Ich habe nie gesehen, daß sie wirklich liebte und geliebt wurde, es war alles Eitelkeit, Weichlichkeit und Selbstanbetung und Trotz auf ihre Schönheit. Ich sah sie als ein Ärgernis ihrer Geschwister, welche sie in ihrem einfacheren Leben verachtete und sich ihrer schämte.

Als sich die Kinder die Güter teilten, fiel ihr das Schloß Magdalum durch Los zu. Magdalum war ein sehr luftiges schönes Schloß. Als Kind war sie oft mit dahin gekommen und hatte immer eine besondere Vorliebe für diesen Ort. Magdalena war etwa elf Jahre alt, als sie mit vieler Pracht und einer ganzen Haushaltung von Mägden und Dienern dahin zog . Ihre Liebhaber folgten ihr, und alle diese, welche mit ihr pratzten und schwelgten und von denen sie verführt wurde. Diese wurden durch ihr Wechseln mit anderen verärgert oder sonst überdrüssig, ihre Feinde und Verleumder.

Anfangs waren die Besuche in Magdalum nicht so schlechte Leute, als vielmehr vornehme, reiche Männer und Frauen, die nach der Welt lebten. Als aber diese schwelgerische Leben ein ausschweifendes wurde, zogen sich die Vornehmen und die auf Ehre hielten zurück und alles ging immer zu größeren Verderben bis zur Schlechtigkeit. Das Schloß und die Umgebung verfiel und verwilderte und nur die Zimmer, worin Magdalena ihr (Un)Wesen trieb, war voller Glanz und Pracht. Ich sah eine Stube, wo dem Wände und Decke lauter Spiegel von Metall waren und dazwischen allerlei grüne Büsche und Blumen. Einmal war Magdalena ganz herunter (gekommen), verachtet, ohne Mittel und krank und abgehärmt. Sie war auch verlassen und hatte keine Anhänger mehr. Da lebte sie mehr allein und ruhiger, erlangte ihre Gesundheit und Schönheit wieder und begann ihren Lebensstil von neuem. Sie hat ungefähr 14 Jahre ihr Sündenleben auf Magdalum geführt und war, als sie durch Jesus bekehrt wurde in ihrem 25. Jahr.

S. 348 Mir wurde auch gezeigt, daß Jesus hauptsächlich hier am Ölberg bete und trauere, weil Adam und Eva aus dem Paradies verstoßen hier am Ölberg zuerst die unwirtliche Erde betreten hätten. Ich sah sie in dieser Höhle trauern und beten. Ich sah, daß Kain hier umher im Garten des Ölberg zuerst pflanzend ergrimmte und sich entschloß Abel zu töten. Ich dachte dabei an Judas. Ich sah Kain seinen Brudermord in der Gegend des Kalvarienberges vollbringen, und hier wieder am Ölberg von Gott zur Rechenschaft gezogen. [Tiefe Zusammenhänge]

Martha lädt Magdalena zur Predigt bei Gabara ein
- Bd. 2, S.121

Vor etwa zehn Tagen ist... Martha, Veronika und Johanna Chusa, neben Anna Kleophä vom Bethanien nach Kapharnaum gereist, und unterwegs hat sich Dina die Samariterin und Maria die Suphanitin von Ainon in einer Herberge an sie angeschlossen, wohin sie einige jerusalemische Jünger gebracht hatten, die mit Lazarus, zu Jesus, ich meine bei Ophra gekommen waren. Daher kam auch die Nachricht vom Gemütszustand Magdalenas.

Der neulich erwähnte Besuch Jakobs des Größeren bei Magdalena fällt in diese Zeit, da Jesus sich zu Meroz aufhielt. Ich habe heute gesehen, daß die hl. Frauen etwa drei Stunden südlich von Kapharnaum in eine eben gelegene Levitenstadt Damna gegangen sind, wo sie eine Herberge hatten, und daß Martha von hier mit Anna Kleophä eine Stunde südöstlich nach Magdalum zu Magdalena reiste .

Magdalum mit seinen Schlössern und Gärten liegt nördlich des Berges, woran westlich Gabara und etwa eine Stunde von diesem südöstlichen Jotapata liegt. Magdalum liegt zwischen einer Bucht der Südhöhe und eines Tales, welche sich von West nach Ost gegen den See Genezareth sieht, etwa eine halbe Stunde vom westlichen Ende des Tales. Es ist von der Höhe hinabgebaut. Tiberias liegt etwa eine Meile südöstlich von Magdalum am Seeufer. Man kann von oben und unten nach Magdalum.

Martha ging besonders zu Magdalena, um sie zu bewegen, mit Maria der Suphanitin und Dina der Samariterin, einer großen Bergpredigt teilzunehmen, welche Jesus am Mittwoch auf dem Berg über Gabara halten wird. Magdalena empfing sie an einer Seite ihres etwas verödeten Schlosses ziemlich wohlwollend , und führte sie in einen Raum nicht weit von ihrem Prachtzimmer, doch nicht eigentlich in dieselben selbst. Es war in ihr ein Gemisch von wahrer und falscher Scham, teils schämte sie sich ihrer einfachen, frommen schlecht gekleideten Schwester, welche mit der von ihrem Lustgesellen verachtete Gesellschaft Jesu herumzog; teils schämte sie sich vor Martha, sie in die Gemächer zu bringen, welche der Schauplatz ihrer Torheiten und Laster waren.

Magdalena war in ihrem Gemüt etwas gebrochen. Sie hatte nur die Kraft nicht, sich loszureißen, sie war bleich und etwas abgehärmt. Ich habe schon die letzten Male, da ich Einblicke in ihre Verhältnisse tat, ihre Lage weniger frei und glänzend gesehen. Der Mann, mit dem sie in Sünden lebte, war schwierig, und sie war etwas abhängig, denn er war von gemeiner Gesinnung. Auch war sie von Jesu Lehre schon einmal gerührt.

Martha behandelte sie sehr klug und liebevoll. Sie sagte zu ihr: Dina die Samariterin, Maria die Suphanitin, welche du kennst, zwei liebenswerte, geistreiche Frauen, laden dich ein mit ihnen die Lehre Jesu auf dem Berg anzuhören. Es ist dir so nahe, sie möchten gern in deiner Gesellschaft dabei sein. Du brauchst dich ihrer vor dem Volk nicht zu schämen. Du weißt, sie sind anständig und vornehm gekleidet und haben feine Sitten. Es ist ein so wundervolles Schauspiel: die Menge der Menschen, die wunderbare Rednergabe des Propheten, die Kranken, die Heilungen, die er tut, die Kühnheit, womit er die Pharisäer anspricht. Veronika, Maria Chusa und die Mutter Jesu, welche dir so wohl will, wir alle sind überzeugt, du wirst uns für die Einladung danken.

Ich denke, es soll dich ein wenig erheitern. Du scheinst hier ganz verlassen, es fehlt an Leuten, welche dein Herz und eine Talent zu schätzen wissen. Oh, wenn du eine Zeitlang bei uns in Bethanien sein wolltest! Wir hören so viel wunderbares, haben so viel Gutes zu tun und du bist ja immer so voll Liebe und Barmherzigkeit gewesen. Aber nach Damna mußt du morgen wenigstens mitkommen. Das sind wir Frauen in der Herberge. Du kannst abgesondert wohnen, und nur mit denen sprechen, die du kennst usw.

Auf diese Weise sprach Martha mit ihrer Schwester und wußte alles Verletzende zu umgehen. Magdalena war in ihrer Schwermut ganz willig, sie machte kleine Einwürfe, aber sie gab nach und versprach Martha, morgen früh mit nach Damna zu reisen . Sie aß auch mit ihr, und kam mehrmals aus ihren Gemächern am Abend zu ihr. Martha und Anna Kleophä beteten am Abend noch zu Gott, er möge diese Reise von Magdalena fruchtbar werden lassen.

Magdalena scheint einer großen Rührung nahe. Ich meine aber, sie fällt noch einmal zurück. Wie sie von sieben Teufel befreit wurde von Jesus, habe ich noch nie gesehen.

S.125 Maria Magdalena sah ich heute Mittag neben ihrer Magd mit Martha und Anna Kleophä von Magdalum nach Damna zu den hl. Frauen reisen. Sie saß auf einem Esel, denn sie war das Gehen nicht gewohnt . Sie war zwar zierlich gekleidet, aber doch nicht so übermütig und übertrieben wie ein späteres Mal, als sie sich zum zweiten Mal bekehrte. Damna liegt etwa zwei Stunden von Magdalum. Sie kam dahin in dieselbe Herberge , nahm aber ein getrenntes Gemach, und sprach nicht mit Maria und Veronika.

Die Suphanitin und Samariterin besuchten sie abwechselnd. Ich sah sie zusammen ganz sanft und höflich vertraut, die bekehrten Sünderrinnen jedoch mit einer gewissen fremden Vertrautheit, so als wenn ein Offizier seinen ehemaligen Kameraden, der Priester geworden, wiederfindet. Diese Befremdung löste sich jedoch bald in Tränen und Äußerung weiblicher Teilnahme auf. Ich sah nach Mittag Magdalena mit der Suphanitin und Samariterin, ihrer Magd und Anna Kleophä in eine Herberge an dem Fuß des Berges ziehen.

Die anderen Frauen gingen nicht zur Lehre, um Magdalena nicht zu stören. Sie waren aber nach Damna gekommen, weil sie wünschten, Jesus möge hier zu Ihnen kommen und nicht nach Kapharnaum gehen, wo die Pharisäer, wie letztes Mal sich etwa zu 16 versammelt hatten. Sie wohnten wieder im selben Haus und waren wieder aus allen Gegenden beisammen...

Predigt bei Gabara - Magdalenas erste Bekehrung.
S.126

Magdalena war mit ihrer Magd, Maria die Suphanitin, Dina und Maria Kleophä morgens schon rechtzeitig auf dem Berg, der mit verschiedenen Hügel vor der Seite von Magdalum anstieg. Es waren schon unzählige Menschen herum gelagert und Leute mit Eseln hatten Speise herauf gebracht. Kranke aller Art wurden herauf getragen und geführt, und nach ihrer Gattung zusammen an verschiedenen Stellen näher und entfernter gestellt. Es waren teils leichte Zelte, teils Lauben zum Schatten für sie gebaut. Es waren Jünger Jesu oben, welche die Leute mit vieler Liebe ordneten, und Ihnen auf alle Weise halfen. Um den Lehrstuhl war eingemauerter Halbkreis, doch kein tiefer Kessel. Über dem Stuhl war eine Decke und hie und da über die Zuhörer Zeltdächer gespannt. Magdalena und die vier Frauen hatten in einiger Entfernung einen bequemen Sitz an der Anhöhe. Die Frauen waren zusammen.

Jesus kam mit den Jüngern gegen 10 Uhr oben an. Die Pharisäer, Herodianer und Sadduzäer kamen auch mit. Jesus ging auf den Lehrstuhl, die Jünger standen an einer Seite, die Pharisäer an der anderen im Kreis. Es wurden in der Belehrung mehrere Pausen gemacht, wo die Leute wechselten, und eine anderer Teil vortrat. Mehreres wurde in der Unterweisung wiederholt und in den Pausen nahmen die Leute, und auch Jesus einmal eine kleine Erquickung. Man gab ihn einen Bissen und reichte ihm zum Trinken.

Die Lehre die Jesus hielt, war eine der schärfsten und gewaltigsten die er je gehalten. Er betete, gleich am Anfang sagte er zu ihnen, sie sollten sich nicht an ihm ärgern, wenn er Gott seinen Vater nenne, denn wer den Willen des Vaters im Himmel tue, der ist sein Sohn, und daß er den Willen des Vaters tue, bewies er ihnen dann. Hierauf betete er zu seinem Vater laut und begann eine strenge Bußpredigt auf Basis der prophetischen Lehren. Er umfaßte alles, was geschehen war von der Zeit der Verheißung an. Er führte die Drohungen der Propheten, die Erfüllung derselben als Vorbilder an von der jetzigen Zeit und der nächsten Zukunft. Er bewies die Ankunft des Messias aus der Erfüllung der Prophezeiungen . Er sprach von Johannes dem Vorläufer und Wegbereiter und wie er seine Vorbereitung redlich erfüllt habe, wie sie aber immer verstockt blieben. Er führte alle ihre Laster, ihre Heuchelei, der Abgötterei mit sündhaftem Fleisch an . Er schilderte die Pharisäer, Sadduzäer und Herodianer scharf.

Er sprach mit großem Eifer vom Zorn Gottes und dem nahenden Gericht; er sprach von der Zerstörung Jerusalems und des Tempels und dem Wehe über dieses Land. Er sprach auch vieles aus dem Propheten Malachias und erklärte es und führte es aus: vom Vorläufer, vom Messias, von einem reinen, neuen Speiseopfer, was sich deutlich vom heiligen Meßopfer verstand, die Juden verstanden es nicht; und vom Gericht über die Gottlosen und der Rückkehr des Messias am jüngsten Tag , vom Vertrauen und Trost der Gottes für Gerechten. Er sprach vom Weggehen der Gnade zu den Heiden.

Er sprach zu den Jüngern, forderte sie zur Treue und Ausdauer auf. Er sagte ihnen, daß er sie zu allen senden wolle, um das Heil zu lehren. Er sagte ihnen, sie sollen sich nicht zu den Pharisäern, nicht zu den Sadduzäern halten, und nicht zu den Herodianern, die er alle öffentlich scharf beschrieb um mit treffenden Vergleichen belegte, ja auf die er gerade hin zeigte. Das war nur umso verdrießlicher für sie, weil keiner öffentlich ein Herodianer heißen wollte, sie waren dieser Sekte meist heimlich zugetan.

Jesus hat in dieser Lehre meist aus den Propheten gesprochen. Einmal sagte er, wenn sie das Heil nicht annehmen würden, werde er es ihnen schlimmer gehen, also Sodoma und Gomorrha . Damit glaubten nun die Pharisäer, könnten sie ihn fangen, und als eine Pause war, sagten sie zu ihm: Ob denn dieser Berg, diese Stadt, das ganze Land mit Ihnen allen versinken soll? Und wie dann noch etwas Schlimmeres möglich sein? Da antwortete er: In Sodoma seien die Steine versunken, aber nicht alle Seelen, denn sie hätten die Verheißung nicht gekannt, und das Gesetz nicht gehabt und keine Propheten, und er sprach noch Worte, welche ich von seiner Höllenfahrt verstand, und der Rettung vieler. Die Juden verstanden das nicht. Ich aber hatte eine kindliche Freude, daraus zu sehen, daß diese Menschen nicht alle verloren sein.

Von den jetzigen Juden aber sprach Jesus: Ihnen sei alles gegeben, sie seien auserwählt von Gott, zu seinem Volk gemacht, sie hätten alle Weisung und Warnung, Verheißung und Erfüllung, so sie dieselbe aber zurückstießen und im Unglauben beharrten, würden nicht die Steine, die Berge, die ihrem Herrn gehorchen, sondern ihre steinharten Herzen, ihre Seelen vom Abgrund verschlungen werden. Dies sei ärger als das Schicksal Sodomas.

Als Jesus die Jünger so streng zu Buße aufgerufen, die Strafgerichte so scharf ausgesprochen hatte, wurde er wieder ganz voll Liebe, und rief alle Sünder zu sich , ja er vergoß Tränen der Liebe. Er betete, sein Vater möge die Herzen rühren , wenn nur ein Haufen, nur einige, nur einer zu ihm kämen, auch mit aller Schuld belastet. Wenn er nur eine Seele gewinnen können, er wolle alles mit ihnen teilen, er wolle alles für sich hingeben, er wolle gerne mit seinem Leben für sie bezahlen!. Er streckte die Hände gegen alle aus, er rief sie: Kommt, kommt ihr, die ihr mühselig und beladen seid, kommt ihr Sünder, tut Buße, glaubt und teilt das Reich mit mir ! Auch zu den Pharisäern und all seinen Feinden streckte er die Arme aus, wenn auch nur einer zu ihm kommen wolle!

Magdalena hatte anfangs wie eine schöne, vornehme, etwas selbstsichere, doch wenigstens so scheinen wollende Dame bei den anderen Frauen gesessen, doch innerlich war sie schon beschämt und bewegt heraufgekommen. Anfangs sah sie umher unter der Menge; als aber Jesus erschien und lehrte, wurde ihr Blick und ihre Seele immer mehr auf ihn gefesselt. Sie wurde heftig von seiner Bußrede, von seiner Lasterschilderung, von den Drohungen der Strafe erschüttert. Sie konnte nicht widerstehen, sie bebte und weinte unter ihrem Schleier.

Als er nun so liebevoll und flehend den Sündern zurief, sie sollten zu ihm kommen, waren viele Menschen hingerissen, es war eine Bewegung im Kreis, das Volk drängte sich näher heran. Auch Magdalena und ihre und die Frauen nahten sich auf ihre Veranlassung. Als er aber sagte: Ach! Und wenn es nur eine Seele wäre, die mir nahte! war Maria Magdalena so bewegt, daß sie zu ihm hinwollte . Sie tat einen Schritt vorwärts, die anderen aber hielten sie zurück, um keine Störung zu machen und sagten: Nachher! Nachher! Es erregte diese ihre Unruhe kaum unter den Nächsten Aufmerksamkeit, weil alle ganz auf Jesu Worte gespannt waren. Jesus aber, als wisse er Magdalenas Rührung, antwortete sogleich mit Trost auf dieselbe, indem er fortfuhr: wenn auch nur ein Funke der Buße, der Reue, der Liebe, des Glaubens, der Hoffnung durch seine Worte in ein armes verirrtes Herzgefallen sei, es soll Früchte tragen, es soll ihm angerechnet werden, es soll leben und wachsen. Er wolle es nähren, ziehen und zum Vater zurückführen!. Diese Worte trösten Magdalena , sie fühlte sie durch und durch und setzte sich wieder zu den anderen.

Hierüber war es etwa 6 Uhr. Die Sonne stand schon tief im Rücken des Berges. Jesus war bei der Lehre gegen Abend (Westen) gerichtet, dahin ging das Blickfeld des Lehrortes; hinter ihm standen keine Menschen. Er betete, segnete und entließ die Menge . Er sagte zu den Jüngern, (sie sollen) bei den Leuten, welche Speisen hätten, sie kaufen und den Armen und Bedürftigen austeilen. Überhaupt sollen sie alles, was einzelne überflüssig hätten, kaufen und den Armen austeilen, auch selbst, um es mit nach Hause zu nehmen. Sie soll nichts überflüssiges übrig lassen und mit freundlicher Bitte, oder um Geld alles verteilen. Ein Teil ging sogleich an die Arbeit. Die meisten Leute gaben gern und die anderen verkauften gern. Die Jünger waren meist hier in der Gegend bekannt und taten es mit großer Liebe. So wurden die Armen gut versorgt und dankten der Milde des Herrn.

Die anderen Jünger gingen indessen mit Jesus zu den vielen Kranken, welche an einer Seite des Wegs hinab an einer Mulde des Berges eingebettet waren. Die meisten Pharisäer und dergleichen Lehrer kehrten verärgert, gerührt, verwundert, ergrimmt nach Gabara zurück und Simon Zabulon, der Vorsteher, erinnerte Jesus noch vorher, daß er ihn zum Abendessen in seinem Haus geladen hat . Jesus sagte ihm, er werde kommen.

So gingen sie dann einstweilen hinab, mäkelten und krittelten unterwegs lange über Jesus und seine Lehre und sein Wesen, in dem sich einer vor den vor dem anderen schämte, seine Rührung merken zu lassen, daß sie in der Stadt angekommen ganz in ihrer Selbstgerechtigkeit wiederhergestellt waren.

Magdalena und die vier anderen Frauen aber folgten Jesus sogleich und stellten sich unter das Volk bei den kranken Frauen; schienen da helfen zu wollen, wie sie konnten. Magdalena war sehr gerührt und das Elend, das sie sah, erschütterte sie noch mehr. Jesus war es lange mit den Männern beschäftigt. Er heilte Kranke aller Art, und der Lobgesang der wegziehenden Geheilten und ihre Begleiter drang in die Luft. Als er mit den Jüngern den kranken Frauen nahte, wurden durch die andringende Menge und den Raum, den Jesus und die Seinigen bedurften, Magdalena und die Frauen etwas mehr entfernt. Sie suchte aber jede Gelegenheit, eine jede Öffnung, um den Herrn zu nahen, der sich aber immer hinweg wandte.

Jesus heilte auch einige blutflüssige, abgesonderte Frauen; und wie wurde es der weichlichen, vom Anblick des Elends ganz entwöhnen Magdalena zu Mut, und welche Erinnerung, welcher Dank kam in die Seele der Maria Suphanitins, als sechs zu drei und drei aneinandergebundene Frauen von anderen starken Mägden an langen Tüchern oder Riemen mit Gewalt gegen Jesus herangeführt wurden. Sie waren auf schreckliche Art von unreinen Geistern besessen.

Es sind die ersten besessenen Frauen, die ich öffentlich zu ihm bringen sah. Sie waren teils über den See Genezareth teils von Samaria hergebracht worden. Ich meine, es waren auch Heidinnen dabei. Man hatte sie erst hier oben so zusammengebunden. Sie waren manchmal ganz still und sanft, sie taten auch einander nichts. Wenn sie aber in die Nähe von Männern kamen, wurden sie ganz rasend, stürzten gegen sie an, schrieen, wurden hin und her geschleudert, und wälzen sich unter den gräuelseligsten Krämpfen an der Erde. Es war ein schauderhafter Anblick, man band sie und hielt sie abgesondert, während Jesus lehrte, und jetzt wurden sie zuletzt herangeführt. Als sie Jesus und den Jünger nahten, fielen sie in heftigen Widerstand, der Satan fürchtete den Herrn und zerrte sie entsetzlich. Sie schrieen die widerlichsten Töne aus und verdrehten ihre Glieder auf die gräßlichste Art. Jesus wandte sich ihnen zu und gebot ihnen zu schweigen und zu ruhig zu sein. Da standen sie still und starr. Nun nahte er ihnen, ließ sie losbinden, befahl ihnen niederzuknien, betete und legte ihnen die Hände auf, und sie sanken unter seiner Hand in eine kurze Ohnmacht. Da sah ich den Feind, wie einen dunklen Dampf von Ihnen weichen. Nun wurden sie von ihren Angehörigen aufgenommen und standen weinend und verschleiert vor Jesus, beugten sich vor ihm zur Erde und dankten. Jesus ermahnte sie zur Bekehrung, Reinigung und Buße, damit das Übel nicht noch größer gräßlicher zurückkehre.

Im Haus des Pharisäers Simon - Magdalena salbt Jesus

Nun war es schon in der Dämmerung und Jesus ging von den Jüngern begleitet nach Gabara hinab. Es zogen viele Leute in Scharen, auch einige der Pharisäer vor und hinter ihm. Magdalena aber, ihrer Empfindung immer ohne äußere Rücksichten hingegeben, folgte dicht nach ihm in der Schar der Jünger und ebenso wegen ihr die anderen vier Frauen. Sie suchte Jesus immer so nah als möglich zu sein. Da diese Frau nun etwas ganz Unmögliches war, sagten es einige der Jünger Jesu. Er wandte sich aber zu ihnen und sprach: Laßt sie gehen, dies ist nicht eure Sache ! So kam Jesus zur Stadt und als er dem Festhaus nahte, indem Simon Zabulon die Mahlzeit hergerichtet hatte, war der Vorhof wieder voll voller Kranker und Armer , welche bei seinem Kommen hineingegangen waren. Sie riefen die Hilfe Jesu an, der sich sogleich zu ihnen begab, sie ermahnte, tröstete und heilte.

Indessen aber kam Simon Zabulon mit einigen anderen Pharisäern und sagte zu Jesus: Er möge doch zum Mahl kommen, sie warteten. Er habe doch heute wohl schon genug getan, diese Leute möchten bis auf ein anderes Mal warten und die Armen wollte er gar wegweisenden. Jesus aber sagte ihm, diese seien seine Gäste, die er eingeladen und er müsse sie erst erquicken. Wenn er ihn aber zu Mahlzeit eingeladen habe, so habe er diese auch eingeladen und er werde erst zu seinem Mahl kommen, wenn diesen geholfen sei und werde mit diesen kommen! Da mußten die Pharisäer wieder abziehen und noch dazu Tische für die genesenen Kranken und Armen in den Hallen um den Vorhof herrichten. Jesus heilte sie aber alle, und die Jünger brachten jene, welche bleiben wollten an die Tische, welche für sie gerichtet wurden, und es wurden ihnen Lampen angezündet.

Magdalena und die Frauen hatten auch Jesus hierher begleitet und hielten sich in den Hallen des Vorhofs auf, wo sie an den Speisesaal stießen. Jesus kam nachher mit einem Teil der Jünger zu Tisch. Es war ein reichliches Mahl, und Jesus sandte oft von den Speisen an die Tische der Armen durch die Jünger, welche ihnen dienten und mit ihnen aßen.

Er lehrte während dem Mahl und die Pharisäer waren eben in einen heftigen Disput mit ihm. Ich habe vergessen worüber, weil ich immer auf Magdalena sah, welche sich mit ihren Begleiterinnen dem Eingang der Halle genähert hatte. Magdalena trat immer etwas näher und die Frauen folgten in einiger Entfernung. Auf einmal ging sie in demütiger Beugung des Körpers, das Haupt verschleiert, in einer Hand eine kleine weiße Flasche haltend, die mit einem Büschel Kräuter verstopft war, mit raschen Schritten in die Mitte des Saals hinter Jesus und goß ihm das Fläschchen auf das Haupt aus, faßte das lange Ende ihres Schleiers zwischen beide Hände zusammengefaltet und streifte einmal über das Haupt Jesu, als wolle sie die Haare glatt streichen und der den Überfluß der Salbe damit abtrocknen. Als diese Handlung schnell geschehen war, trat sie einige Schritte zurück. Das ganze heftige Gespräch war unterbrochen. Alles was still und schaute auf die Frau und Jesus.

Wohlgeruch verbreitete sich. Jesus war ruhig, viele steckten die Köpfe zusammen, blickten unwillig zu Magdalena und flüsterten. Simon Zabulon schien besonders für verärgert, und Jesus sagte zu ihm: Ich weiß wohl, was du denkst, Simon! Du denkst, es sei nicht schicklich, daß ich von dieser Frau mir das Haupt salben lasse. Du denkst, sie ist eine Sünderin. Aber du hast Unrecht, denn sie hat aus Liebe getan, was du unterlassen hast. Du hast mir die Ehre, die dem Gast gebührt, nicht erwiesen! Und nun wandte er sich zu Magdalena, die noch dastand, und sagte: Geh in Frieden, dir ist vieles vergeben!

Da ging Magdalena zu den anderen zurück und sie verließen das Haus. Jesus aber sprach zu der Gesellschaft von ihr und nannte sie eine gute Frau, welche viel Mitleid hat und sprach vom Richten anderer , vom beschuldigen offener, bekannter Schuld, während man oft viel größere heimliche in seinem Herzen trage . Er sprach mit ihnen und lehrte so lange und ging sodann mit den Seinigen zur Herberge. Magdalena war gerührt und erschüttert von allem, was sie gehört und gesehen, sie waren ihrem Innern überwältigt; und weil eine gewisse heftige Hingebung und Großmut in ihr war, wollte sie Jesus ehren und ihm ihre Rührung bezeugen. Sie hatte mit Bekümmernis gesehen, daß ihm , dem wunderbarsten, heiligsten, geistvollsten Lehrer, ihm, dem liebevollsten, wundertätigsten Helfer von diesen Pharisäern keine Ehre, keine gastfreundliche Auszeichnung beim Empfang und während der Mahlzeit geschehen war und fühlte sich in ihrem Innern bewogen, ist statt aller zu tun. Denn die Worte Jesu: Wenn auch nur einer gerührt sei und kommen wolle, hatte sie nicht vergessen.

Die kleine Flasche, welche etwa eine Hand groß war, trug sie meist bei sich, wie vornehme Damen dies hier wohl tun. Sie hatte ein weißes Oberkleid mit großen roten Blumen und kleinen Blättchen bestickt. Es hatte weite, mit Armringen gekräuselt gefaßte Ärmel, war auf dem Rücken weit ausgeschnitten und hing von da ohne Taille in einem Stück nieder. Es war vorne offen und erst über den Knien mit Riemen oder Schnüren verbunden; die Brust und den Rücken bedeckte ein festes mit Schnüren und geschmeidig verzierte Stück, skapulierartig über die Schultern gelegt und deinen Seiten verbunden, darunter war ein anderer bunter Rock. Sie hatte diesmal den Schleier, der sonst um den Hals geschlungen war, weit über alles ausgebreitet. Sie war größer als alle anderen Frauen, mächtig, fleißig und doch schlank. Sie hatte sehr schmale und schöne spitze Finger, kleine aber schmale Füße, eine edle Bewegung, sehr schöne, reiche lange Haare.

Magdalena geht wieder nach Magdalum.

Die hl. Frauen sind von Damna etwa eine Stunde weiter an den Badesee von Betulien gezogen. Im Tal an der Nordseite des Sees liegt eine Reihe Häuser, wo auch Jesus übernachtete, da er das letzte Mal von Kapaharnaum hier in das Bad reiste. An dieser Seite liegen auch die Wohnungen der Frauen, welche das Bad nehmen. Die hl. Frauen sind gestern von Damna hierher Magdalena und den anderen entgegen gezogen. Sie hatten hier einen langen Saal. Es war eine Lampe darin und Sitze mit Decken. Die Schlafstellen waren durch Vorhänge geschieden und vorne mit einem Stellschirm geschlossen.

Martha und eine der anderen Frauen kamen gestern Abend Magdalena auf halbem Weg von Gabara mit einem Esel entgegen. Sie hatten von Gabara etwa eine Stunde. Ich sah nun gestern Abend und heute Nacht Magdalena und die hl. Frauen zusammen. Maria sprach auch mit Magdalena. Diese erzählte von Jesu Lehre. Von ihrer Salbung und seinen Worten sprachen die anderen. Ich sah die hl. Frauen miteinander auf und ab gehen und sprechen. Magdalena aber saß mehr. Sie baten sie, doch gleich bei ihnen zu bleiben und wenigstens eine Zeit lang mit nach Bethanien zu gehen. Sie sagte aber, sie müsse erst nach Magdalum, ihr Hauswesen in Ordnung bringen. Das war ihnen alle nicht lieb.

Sie konnte übrigens nicht aufhören von ihrer Rührung und Jesu Herrlichkeit, Macht, Sanftmut und Wundern zu sprechen. Sie fühle, daß sie ihm folgen müsse, ihr Leben sei nicht ihrer nicht wert, sie wolle zu Ihnen kommen usw. Dabei war sie sehr innig und nachdenkend, weinte oft. Aber es war ihr auch leichter und heiterer ums Herz. Sie ließ sich nicht erbitten und kehrte mit ihrer Magd nach Magdalum zurück . Martha begleitete sie ein Stück Wegs und traf dann mit den hl. Frauen wieder zusammen, welche nach Kapharnaum zurückkehrten. Magdalena fürchte ich, wird noch einmal zurückfallen, denn ich sah sie später so hochmütig und unwillig mit Martha zu einer Lehre Jesu auf einem Berg bei Dothaim kommen und dort bekehrt werden.

Sie ist größer und schöner als die anderen Frauen. Dina die Samariterin ist auch schön, aber viel tätiger und behender als Magdalena. Sie ist sehr lebendig, freundlich und hilfreich an allen Ecken, wie eine rasche, kluge und liebevolle Magd, und sie ist sehr demütig.

Alle aber übertrifft die hl. Jungfrau an wunderbarer Schönheit. Wenngleich ihre Gestalt wohl ihresgleichen an Schönheit hat und an auffallenden Wesen von der Figur Magdalenas übertroffen wird, so scheint sie doch aus allen hervor durch unbeschreibliche Zucht, Einfall, Einfachheit, Ernst, Sanftmut und Ruhe. Sie ist so sehr rein und ohne alle Nebeneindrücke, daß man in ihr nur das Ebenbild Gottes im Menschen sieht. Niemanden Wesens gleicht ihr, als das ihres Sohnes. Ihr Angesicht übertrifft das aller Frauen um sie (herum) und die ich jemals sah, an unaussprechlicher Reinheit, Unschuld, Ernst, Weisheit, Friede und süßer, andächtiger Lieblichkeit. Sie sieht ganz erhaben und doch wie ein unschuldiges einfaches Kind aus. Sie ist sehr ernst sehr still und oft traurig, aber nie zerrissen und un gewärtig. Die Tränen laufen ganz sanft über das ruhige Angesicht.

Martha holt Magdalena - Bd. II, 258

Mit Magdalena war es zum Äußersten gekommen. Seit ihrem Rückfall nach ihrer Bekehrung bei Gabara war sie von sieben Teufel besessen . Ihr Umgang war immer schlechter geworden. Die hl. Frauen, besonders die heiligste Jungfrau, hatten fortwährend dringend für sie gebetet und so war dann Martha mit ihrer Magd (am verflossenen Sonntag nachmittag) zu ihr nach Magdalum gekommen . Sie wurde schnöde empfangen, und man ließ sie warten. Es war gerade ein Schwarm von frechen Männern und freizügigen Frauen aus Tiberias bei Magdalena zu einem Gelage eingezogen. Magdalena war mit ihrem Schmuck beschäftigt, sie ließ ihr ihr sagen, sie könne sie jetzt nicht sprechen.

Martha harrte unter Gebet mit unaussprechlicher Geduld. Endlich kam die unglückliche Magdalena schnöde, trotzig und heftig, sie war sehr verlegen , sie schämte sich der einfachen Kleidung Marthas, sie befürchtete, sie möchte von den Gästen bemerkt werden, und verlangte von ihr, sie möge es wieder weg gehen. Martha bat nur um einen Winkel zur Ruhe. Sie wurde mit ihrer Magd in eine wüste Stube im Nebengebäude gebracht und ohne Speise und Trank verlassen und vergessen. Es war dies am Nachmittag. Indessen schmückte sich Magdalena und saß auf einem verzierten Sitz beim Gastmahl. Martha und ihrem Magd aber beteten indessen sehr betrübt . Am Ende der Schwelgerei kam Magdalena und brachte Martha etwas auf einem Tellerchen und auch etwas zu trinken, das Tellerchen hatte einen blauen Rand. Sie sprach heftig und verächtlich mit ihr, ihr Wesen war stolz, frech, bange und in sich zerrissen.

Martha lud sie mit großer Liebe und Demut ein, doch wieder die große Lehre Jesu in der Nähe mit anzuhören. Alle Freundinnen, die sie neulich dabei gefunden, seien dabei und freuten sich sehr auf sie, sie selbst habe ja schon Zeugnis davon gegeben, wie sehr sie Jesus ehre, sie soll ihr und Lazarus doch die Freude machen und hinkommen. Sie werde wohl nicht so bald wieder die Gelegenheit haben, den wunderbaren Propheten so sehr in ihrer Nähe zu hören und zugleich alle ihre Freunde zu sehen. Sie habe neulich durch die Salbung Jesu bei dem Mahl in Gabara bewiesen, daß sie alles Hohe und Herrliche zu ehren wisse, wo es erscheine. Sie soll doch nun auch wieder begrüßen, was sie einmal zu edel und ohne scheu öffentlich gewürdigt hat usw.

Es ist gar nicht zu sagen mit welcher Liebe und Geduld Martha ihr zuredete und wie sie ihr entsetzliches schnödes Wesen ertrug. Endlich sagte er Magdalena: Ich werde hingehen, aber nicht mit dir. Du kannst vorausgehen, denn ich will nicht so schlecht gekleidet hereinziehen, ich will mich mit meinem Stand gemäß schmücken, und mit meinen Freundinnen hingehen. Hierauf trennten sie sich. Es war sehr spät.

Am folgenden Morgen sah ich sie ihren Schmuck anlegen. Sie ließ Martha rufen und sprach in ihrer Gegenwart immer schnöde und spitz. Martha gab ihr nach, übte große Geduld und war immer heimlich betend, daß sie mitgehen und gebessert werden möge. Ich sah, wie Magdalena sich von ihren zwei Mägden waschen und salben ließ. Sie saß auf einen niederen Stuhl, hatte ein feines wollenes Schützchen bis gegen die Knie und ein feines wollenes Tuch mit einer Halsöffnung über ihren Rücken und Brust hängen. Zwei Mägde war beschäftigt, ihre Füße und Arme zu waschen um mit wohlriechenden Wasser zu salben . Auch ihre Haare, in drei Teile über den Ohren und hinten gescheitelt, wurden sehr glatt gelegt, gekämmt, gesalbt und geflochten. Sie legte dann ein ganz feines wollenes Hemd an und ein grünes Kleid mit gelben großen Blumen, von dem ich ein Stück habe, drüber und hierüber noch ein baldiges Gewand. Auf dem Kopf hatte sie eine krause hohe Mütze, über die Stirne hervor stehend. Haar und Mütze waren mit vielen Perlen durchwunden. Sie trug lange Ohrgehänge. Ihre Ärmel waren oben weit bis über bis zu den Ellbogen am Unterarm eng gefaßt durch breite glänzende Spangen, das Gewand war gekräuselt. Ihr Unterkleid war an der Brust offen und mit glänzenden Schnüren gebunden. Sie hatte während ihres Ankleiden einen runden glänzenden Spiegel an einem Stiel in der Hand. Sie hatte vorne ein Bruststück, das stark mit Gold, allerlei eckigen Steinen und Perlen verziert, ihre Brust ganz bedeckte.

Über dem Unterkleid mit engen Ärmeln trug sie ein Oberkleid mit kurzen weiten Ärmeln, das weit hinten weg flog und schleppte. Es war von violett schielender Seide, mit vielen großen, bunten und goldenen Blumen durchwirkt. Ihre Haarflechten waren mit Rosen von roher Seide und Perlschnüren und hervorstechenden, durchbrochenen Zeug, wie mit Spitzen durchflochten. Man konnte die Haare vor Schmuck gar nicht viel sehen. Es bildete dies eine Höhe vorne um das Gesicht. Über diesem Kopfschmuck hatte sie eine durchsichtige feine, reiche Kappe, die vorn in die Höhe ging, hinten zusammengezogen niederhing und auch an den Wangen auf die Schultern sich niederließ.

Sie schmückte sich so und zeigte sich Martha, welche sie bewundern mußte. Sie legte hierauf einiges dieser Kleider wieder ab und nahm einen Reisemantel und ihre Mägde mußten ihre Kleider verpacken und auf das Lasttier befestigen, auf dem sie mit ihrem Zug sich gegen Azanoth begab. Martha verließ sie nie mit ihrer Magd. Beide gingen zu Fuß voraus nach dem Bad bei Bethulien.

Magdalena war bei all diesem voll Grimm und Übermut gewesen, und Martha übte ungemeine Demut und Geduld. Der Teufel peinigte sie sehr, um sie abzuhalten, daß sie nicht zu Jesu Lehre gehe; und sie würde es auch nicht getan haben, wenn die anderen Sünderrinnen aus Tiberias, die bei ihr waren, sich nicht verabredet hätten, auch mitzugehen, um, wie sie meinten, das Spektakel mit anzusehen. Sie rüstete nun auch ihren Zug, sie ritten auf Eseln und hatten bepackte Esel und Gesinde bei sich; denn Magdalena ließ sich ihrem prächtigen Sitz nachführen und auch die anderen Frauen hatten solche Sitze, Kissen und Teppiche bei sich. Sie zogen heute nur bis in die Frauenherberge bei dem Badesee Bethulien. Hier legte Magdalena wieder den Reisemantel ab und schmückte sich, um mit ihren Gefährtinnen zu essen. Sie übernachteten hier und es wunderte mich, daß Magdalena doch zu Martha, deren sie sich vor den anderen schämte, und die allein gegessen hatte, nachts in die Herberge ging und die anderen Frauen allein zusammen ließ.

Magdalena wird von bösen Geistern befreit - S. 261

Heute Dienstag kamen sie nach einer Stunde bis nach Azanoth zur Lehrstelle. Martha begab sich zu den hl. Frauen und erzählte, wie es ihr gelungen war, ihre Schwester hierher zu bewegen. Nachdem Magdalena mit ihren Freundinnen in einer Herberge ihre Reisemäntel abgelegt und sich wieder in den üppigsten Putz gesetzt hatte, erschien nun auch sie auf dem Lehrplatz. Mit einem großen Geräusch und Aufsehen, plaudernd und schnöde umher gaffend, setzen sie sich abgesondert von den hl. Frauen weit voraus. Es waren auch Männer ihres Gesindels bei Ihnen. Sie hatten sich ein offenes Zelt aufschlagen lassen, unter diesem saßen nun die vornehmen, geputzten, sündhaften Weltweiber auf ihren weichlichen Stühlen, Kissen und Teppichen, allen zur Schau.

Magdalena saß ganz frech, frei und schnöde vorne. Sie war Ursache zum allgemeinen Geflüster und Gemurre, denn sie war hier herum noch mehr gehaßt und verachtet als in Gabara. Die Pharisäer und andere Leute, welche ihre erste auffallende Bekehrung beim Essen in Gabara und ihren nachmaligen Rückfall wußten, ärgerten sich besonders an ihr und regten sich darüber auf, daß sie hier erscheinen dürfe.

Nachdem Jesus viele Kranke geheilt hatte, begann er eine große und strenge Belehrung . Ich erinnere mich des Einzelnen nicht mehr genau, doch ich weiß noch, daß er weder über Kapharnaum, Bethsaida und Corozaim ausrief, und ich glaube ich habe gehört zu haben, daß er sagte, die Königin Saba von Mittag sei gekommen, Salomos Weisheit zu hören, aber hier sei mehr als Salomon. Dabei war es gar wunderbar, das öfter unter seine Rede von verschiedenen Seiten her Kinder, die noch nie gesprochen hatten , auf den Armen ihrer Mütter laut ausriefen: „ Jesus von Nazareth! Heiligster Prophet! Sohn Davids! Sohn Gottes !“ Dadurch wurden viele Menschen und auch selbst Magdalena erschüttert.

Unter anderem erinnere ich mich das Jesus mit bedacht auf Magdalena sagte: Wenn der Teufel ausgetrieben und das Haus ausgefegt sei, dann kehre er mit sechs Gesellen zurück und treibe es ärger als vorher. Ich sah, daß dieses Magdalena sehr erschreckte .

Nachdem er auf diese Weise die Herzen vieler gerührt hatte, gebot er im allgemeinen nach allen Seiten sich wendend, dem Teufel von denen auszufahren, welche sich nach Befreiung sehnten . Die aber mit ihm (dem Teufel) verbunden bleiben wollten, sollten ihn mit sich von dannen nehmen und diesen Ort verlassen. Auf diesen Befehl schrieen die Besessenen rings im Kreis: „Jesus, du Sohn Gottes!“ usw. Und es sanken hie und da Menschen in Ohnmacht.

Auch Magdalena, welcher auf ihrem stolzen Sitz aller Augen auf sich gezogen hatte, sank unter heftigen Krämpfen nieder, die anderen Sünderinnen drum herum strichen sie mit Wohlgerüchen an, und wollten sie wegbringen, um bei dieser Gelegenheit selbst anständig vorzukommen, denn sie wollten den Teufel behalten. Da nun das Volk schrie: „ Halt ein, Meister! Halt ein! Dieses Weib stirbt !“ Hielt Jesus in seiner Lehre ein mit den Worten: „Setzt sie auf ihren Stuhl. Der Tod, den sie jetzt stirbt, ist ein guter Tod, wird sie lebendig machen !“.

Nach einiger Zeit traf sie wieder ein Wort Jesu, sie sank abermals in Krämpfen zusammen und ich sah dunkle Gestalten , wie bei Besessenen von ihr weichen . Es war dann immer ein großer Lärm und ein Gedränge, in dem ihre Umgebung sich um sie drängte, sie wieder zu sich zu bringen. Sie setzte sich aber bald wieder auf ihren schönen Sitz und stellte sich, als habe sie eine gewöhnliche Ohnmacht erlitten . Das Aufsehen war aber immer größer, als auch andere Besessene hinter ihr auf dieselbe Weise zusammensanken und befreit wurden.

Als Magdalena nun zum dritten Mal in heftigen Krämpfen niederfiel, war der Lärm noch größer, Martha eilte zu ihr und da sie wieder zu sich kam, war sie wie von Sinnen, weinte heftig und wollte zu dem Sitz der hl. Frauen hin. Ihre Gefährtinnen hielten sie mit Gewalt zurück, sagten ihr, sie solle doch keine Närrin sein. Und man brachte sie hinab in den Ort. Nun gingen Lazarus, Martha und einige andere zu ihr und nahmen sie in die Herberge der Frauen, welche auch alle hinab gingen. Das weltliche Gesindel aber, daß mit Magdalena gekommen war, hatte sich bereits aus dem Staub gemacht.

Jesus heilte noch mehrere Blinde und andere Kranke, und ging dann hinab in seine Herberge. Er heilte die Kranken, welche teils unten in Azanoth lagen, und lehrte da noch in der Schule. Magdalena aber war abermals zugegen , sie war noch nicht ganz geheilt, aber sehr erschüttert und nicht mehr so übel gekleidet. Sie hatte den überflüssigen Zierrat abgelegt , welche besonders aus feinem, spitzenartig ausgehacktem Stoff in vielen Krausen bestand, die man wegen ihrer Vergänglichkeit nur einige Male tragen konnte, auch war sie verschleiert.

Jesus lehrte nochmals ihr sehr zu Gehör, und als sie er sie durchdringend anblickte, wurde sie abermals ohnmächtig und es verließ sie wieder ein böser Geist . Ihre Mägde brachten sie weg, Martha und Maria empfingen sie vor der Synagoge und brachten sie zur Herberge. Sie war aber ganz wie unsinnig , sie schrie und weinte, und rannte durch die Straße und schrie zu den Leuten, sie sei eine Lasterhafte, eine Sünderin , ein Ausruf der Menschheit.

Die Frauen hatten die größte Mühe sie zu beruhen zu beruhigen, denn sie riß ihre Kleider von sich, zerstreute die Haare, hüllte sich ganz ein. Als Jesus nachher in seiner in seine Herberge mit den Jüngern und einigen Pharisäern war, wo sie stehend etwas aßen, wußte Magdalena sich von den Frauen zu entfernen, sie kam mit zerstreuten Haaren und großen Wehklagen in die Herberge Jesu , drang durch alle durch, warf sich zu seinen Füßen, jammerte und flehte, ob noch Rettung für sie sei .

Da waren die Pharisäer und Jünger über sie verärgert und sagten zu Jesus, er solle doch nicht länger dulden, daß dieses verworfene Weib überall Unruhe bringe, es solle sie doch für immer abweisen. Jesus aber sprach: „ Laßt sie weinen und jammern, ihr wißt nicht, was mit ihr vorgeht !“ Wandte sich zu ihr mit dem Trost, sie solle von Herzen bereuen, glauben und hoffen, sie werde bald Ruhe finden, jetzt möge sie vertrauend zurückkehren.

Indessen waren die Mägde und auch Martha ihr gefolgt und holten die Verwirrte wieder nach Hause. Sie tat aber nichts, als die Hände ringen und jammern, denn sie war noch nicht ganz befreit und der Teufel zerriß und peinigte sie mit den fürchterlichsten Gewissensbissen und Verzweiflung, es war keine Ruhe in ihr und sie glaubte sich verloren.

Lazarus ging auf Bitte Magdalena sogleich nach Magdalum dort das ihrige in Besitz zu nehmen und ihren dortigen Aufenthalt und ihre all ihrer Verhältnisse aufzulösen. Sie hatte bei Azanoth und überhaupt in der Gegend Feld und Weingüter, welche Lazarus war schon vorher wegen ihrer Verschwendung in Beschlag genommen gelegt hatte. Das Gedränge war heute so groß, daß Jesus mit den Jüngern heimlich in der Nacht etwa eine und eine halbe Stunde nordöstlich ging, sein Lehre auf einer anderen Höhe fortzusetzen.

Magdalena wird in Damna noch von drei bösen Geistern befreit - S.264

Jesus ist, wegen des großen Gedränges, schon in der Nacht mit den Jüngern von Azanoth nach dem östlichen Ende der Höhe, wo Dothaim liegt, in die Nähe von Damna gegangen, wo auch ein schöner Lehrhügel und eine Herberge mit ein paar Leuten ist. Heute Morgen früh zogen auch die Frauen mit Magdalena dorthin und fanden Jesus schon von vielen Menschen umgeben, welche Hilfe suchten. Es strömten gleich als sein Weggang bekannt wurde, ihm viele nach , und alle, die ihn in Azanoth hatten aufsuchen wollen, zogen ihm ebenfalls nach, und so kamen während der ganzen Lehre immer neue Scharen hinzu.

Magdalena saß nun bei den hl. Frauen, sie war ganz elend und zermalmt. Der Herr lehrte er sehr scharf von den Sünden der Unreinheit und sagte, daß in denen, die ein Gewerbe daraus machen, alle Laster und Arten der Unzucht seien, welche das Feuer auf Sodoma und Gomorrha herabgerufen.

[Im Englischen heißt es the bitch is a witch - die Hure ist eine Hexe.]

Er sprach aber auch von der Barmherzigkeit Gottes und der jetzigen Gnadenzeit und flehte beinahe zu den Menschen, diese Gnade anzunehmen. Dreimal blickte er in dieser Lehre Magdalena an und dreimal sah ich sie niedersinken und dunklen Dampf von ihr weichen . Das dritte Mal aber brachten die Frauen sie hinweg und sie war wie ganz vernichtet, sie war bleich und abgezehrt und kaum mehr zu erkennen. Ihre Tränen flossen unaufhörlich, sie war ganz verwandelt, sie jammerte sehnlich, ihre Sünden Jesu zu bekennen und Vergebung zu erhalten.

Jesus kam nun auch zu ihr an einen abgetrennten Ort , Maria selbst und Martha führten sie entgegen. Sie lag mit zerstreuten Haar weinend vor ihm auf dem Angesicht. Jesus tröstete sie und als die anderen sich zurückgezogen hatten, schrie sie um Vergebung und bekannte ihrer vielen Verbrechen und fragte immer:“ Herr! Ist noch Rettung für mich?“ Jesus vergab ihr die Sünden und sie flehte, er möge verleihen, daß sie nicht mehr zurückfalle. Jesus versprach es ihr, segnete sie und sprach ihr von der Tugend der Reinheit.

Er sprach zu ihr von seiner Mutter, welche rein von aller Sünde des Fleisches sei. Er pries sie hoch und auserwählt was ich sonst nie aus seinem Mund gehört habe, befahl Magdalena sich ganz an Maria anzuschließen und allen Rat und Trost von ihr zu nehmen. Als sie wieder mit Jesus zu den Frauen kam, sagte er: „Sie war eine große Sünderin, aber sie wird auch das Muster aller Büßenden zu ewigen Zeiten sein.“

Magdalena war durch heftige Erschütterung und durch ihre Reue und Tränen nicht mehr wie ein Mensch, sie war wie ein schwankender Schatten. Aber sie war nun ruhig, weinend und müde. Es trösteten und liebten sie alle. Sie flehte alle um Vergebung . Da nun die anderen Frauen nach Naim zu aufbrachen und sie zu schwach war, um zu folgen, ging Martha, Anna Kleophä und Maria die zuvor Suphanitin mit ihr nach Damna, um nach einiger Ruhe am andern Morgen zu folgen. Die anderen Frauen gingen über Kana nach Naim, ich glaube, sie übernachteten in Kana.

Jesus kommt nach Bethanien - S. 425

Jesus ging heute früh mit vier Jüngern durch die Wüste nach Bethanien. Etwa drei Stunden von Bethanien , noch in der Wüste, liegt ein einzelnes Hirtenhaus, dessen Bewohner meist von Lazarus leben. Bis hierher war Magdalena mit dem Maria Salome (der Verwandten Josephs) Jesus entgegengekommen und zwar ganz allein. Sie hatten ihm eine Erquickung bereitet und als er nahte, eilte sie hinaus und umarmte seine Füße . Jesus ruhte nur ein wenig, sprach mit ihnen setzte seinen Weg bis zu Lazarusherberge, eine Stunde vor Bethanien fort. Die zwei Frauen folgten auf einem anderen Weg nach Haus.

In der Herberge fand Jesus schon einen Teil der ausgesandten Jünger zurück, andere kamen nach und alle trafen in Bethanien zusammen. Jesus ging nicht durch Bethanien, sondern von hinten in Lazarus Haus.

Als er ankam, eilten sie ihm in den Hof entgegen. Lazarus wusch ihm die Füße und dann gingen sie durch die Gärten. Die Frauen grüßten ihn verschleiert. Es war aber seine Ankunft sehr rührend, denn es wurden gerade vier Osterlämmer gebracht , die man von der Herde abgesondert hatte und in einen abgezäunten Weideplatz tat. Die heiligste Jungfrau , welche auch hier war, und Magdalena hatten Kränzchen gemacht, die ihnen um den Hals gehängt wurden.

Jesus war kurz vor dem Sabbat angekommen. Er feierte mit ihnen allen in einem Saal. Er war sehr ernst und sagte bei dieser Gelegenheit eine einige sehr bewegliche Worte. Er las hierauf die Sabbatslesung und lehrte darüber. Abends beim Mahl sprach er noch vieles vom Osterlamm und seinem künftigen Leiden. Ich meine, er wird das Osterlamm hier essen.

In Bethanien - S. 427

In Magdalena kann die Reue und Liebe nicht mehr wachsen. Sie folgt Jesus überall, sitzt zu seinen Füßen, steht und harrt überall auf ihn, denk nur an ihn, sieht nur auf ihn , weiß nur von ihrem Erlöser und ihren Sünden. Jesus sagt ihr oft tröstende Worte. Sie ist sehr verändert. Ihre Gestalt und ihr Wesen sind noch ausgezeichnet und edel, aber von Tränen und Kasteiungen zerstört. Sie sitzt fast immer einsam in ihrem engen Bußgewölbe und tut niedere Dienste bei Armen und Kranken.

Am Abend war ein großes Mahl. Die Jerusalemischen Freunde und Frauen waren alle hier, auch Heli aus Hebron, der Witwer einer Schwester Elisabeths, der am letzten Abendmahl Jesu Speisemeister und Hauswirt war, mit seinem Sohn, dem Leviten, der des Johannes Vatershaus besitzt, und dessen fünf Töchtern. Sie sind eine Art es Essenerinnen und heiraten nicht. Jedoch waren einige Knaben bei Ihnen, vielleicht vom Sohn (des Hauswirts). Man sprach auch vom Aufruhr. Pilatus hat noch Verstärkung von Soldaten geschickt.

Lazarus und die Seinigen haben großen Anteil und Vertraulichkeit mit Jesus und allen seinen Jüngern. Denn sie sind mit ihrem Hab und Gut und all ihren Kräften die Pfleger und Näherer der Gemeinde. Auch von solchen Anordnungen wird gesprochen.

Das bittere Leiden unseres Herrn Jesus Christus
1875 von Brentano

S. 251 - Als Maria auf dem Kreuzweg zusammenbrach, wurde sie von Johanna Chusa, Susanna und Salome von Jerusalem und Johannes in das Haus des Lazarus in der Gegend des Ecktores gebracht, wo die anderen hl. Frauen bei Magdalena und Martha sich in Tränen und Wehklagen versammelt hatten. E waren auch einige Kinder bei Ihnen und von dort zogen sie nun zu 17 den Leidensweg Jesu.

... Sie stiegen an der Abendseite (Westen), am sanften Anhang, den Hügel hinauf und standen in drei Entfernungen von der Umwallung hintereinander. Die Mutter Jesu, ihre Nichte (?) Maria Kleophä und Salome und Johannes traten dicht an den Kreis, Martha, Maria Heli, Veronika, Johanna Chusa, Susanna, Maria des Markus standen etwas entfernter bei Magdalena , welche sich nicht fassen konnte, etwas weiter zurückstanden noch etwa sieben andere und dazwischen meistens gut gesinnte Leute, die eine Beziehung zu ihnen hatten.

Die hl. Frauen am Grab - S. 378

Ich sah Magdalena , als sie den Wächtern nahte, erschrocken etwas zu Salome zurückeilen, aber dann aber gingen beide vereint scheu zwischen den umherliegenden Wächtern durch in die Grabhöhle hinein. Sie sahen den Stein hinweggewälzt, die Türen aber waren angelegt, was wahrscheinlich Cassius getan hatte. Da öffnete Magdalena in großer Angst den einen Anschlag der Türe, starrte auf das Grablager hin und sah die Tücher leer und gesondert liegen . Alles war voll Glanz und es saß ein Engel zur Rechten auf dem Lager. Magdalena aber war bestürzt und ich weiß nicht, ob sie irgendein Wort des Engels hörte, ich sah sie gleich mit heftiger Eile aus dem Garten durch das Türchen des Nikodemus in die Stadt zu den versammelten Apostel laufen . Auch von Maria Salome, welche nicht weiter als in die Vorhalle getreten war, weiß ich nicht, ob sie jetzt ein Wort des Engels vernommen hatte, ich sah sie gleich nach Magdalena aus dem Grab und Garten in großem Schrecken fliehen und die vor dem Garten zurückgebliebene Frauen aufsuchen, um ihnen zu melden, was geschehen ist.

... Während alldem sah ich Magdalena am Abendmahlssaal angekommen, sie war wie außer sich und pochte heftig, es lagen mehrere noch an den Wänden schlafend, einige standen und sprachen. Petrus und Johannes öffneten . Magdalena sagte nur die Worte hinein: „ Sie haben den Herrn aus dem Grab genommen, wir wissen nicht, wohin .“ Und nach diesen Worten eilte sie wieder mit großer Eile hinaus zum Garten. Petrus und Johannes gingen in das Haus zurück und sprachen mit den anderen Jüngern und folgten ihr dann mit Eile, jedoch Johannes schneller als Petrus

Magdalena aber sah ich wieder in den Garten und zum Grab hineilen, sie war vom Laufen und von Trauer ganz wie von Sinnen. Sie war vom Tau ganz durchnäßt, ihr Mantel war ihr vom Kopf auf die Schulter gesunken, und ihre langen Haare waren aufgelöst herab gefallen. Weil sie allein war, scheute sie sich gleich in die Felsenhöhle hineinzugehen, sie verweilte auf dem Rand der Vertiefung vor dem Eingang der Vorhalle. Hier beugte sie sich nieder, um durch die tiefer liegende Türe in die Vorhalle gegen das Grablager zu schauen und in dem sie ihre vorfallenden langen Haare mit den Händen fassend zurückhielt, sah sie zwei Engel in weißen priesterlichen Kleidern zu Häuten und Füßen des Grablagers sitzen und hörte zugleich die Stimme von einem derselben:

Frau, was weinst du? “ Und sie rief in ihrem Jammer aus: „ Sie haben meinen Herrn weggenommen und ich weiß nicht, wohin sie ihn gelegt haben .“ Dies sagend und nichts als die Tücher sehend, wandte sie sich zugleich wie eine Suchende um, sie meinte, sie müsse ihn überall finden. Sie war im dunklen Gefühl seiner Nähe und selbst die Erscheinung der Engel konnte sie nicht irre machen. Es war, als denke sie gar nicht, daß diese Engel seien, sie konnte an nichts denken, als an Jesus, nichts als: Jesus ist nicht hier, also wo ist Jesus?

Und ich sah sie einige Schritte vor dem Grab hin und her irren, wie eine ganz verwirrte suchende Person, ihre langen Haare hingen ihr links und rechts über die Schulter hervor, sie strich einmal die Masse der Haare auf der rechten Schulter durch beide Hände, dann hatte sie die beiden Haarströme in beiden Händen und schlug sie zurück und schaut umher, da sah sie etwa zehn Schritte vor dem Grabfelsen gegen Morgen (Osten), wo der Garten gegen die Stadt aufsteigt, zwischen dem Gebüsch hinter einem Palmbaum eine lange, weiß gekleidete Gestalt in der Dämmerung und hörte, bald darauf zustürzend, abermals die Worte: „ Frau, was weinst du? Wen suchst du?

Sie hielt die Gestalt aber für den Gärtner und ich sah sie auch mit einer Schaufel in der Hand und einem flachen Hut, der einem Stück gegen die Sonne vorgebundener Baumrinde glich, gerade wie ich den Gärtner in der Parabel gesehen habe, die Jesus den Frauen kurzvor seinem Leiden in Bethanien erzählte, und seine Erscheinung war nicht leuchtend, sondern gleich der eines Menschen in der Dämmerung in langem weißem Gewand. Auf die Worte: „ Wen suchst du? “ Erwiderte sie sogleich: „ Herr, hast du ihn weggetragen, so sage mir wohin, ich will ihn holen“!

Und sogleich schaute sie wieder umher, ob er nicht in der Nähe sei. Da sagte Jesus zu ihr mit gewohnter Stimme: „ Maria! “ Und die Stimme erkennen, und die Kreuzigung, Tod und Begräbnis vergessend, als lebe er, sagte sie, sich augenblicklich wendend, wie sonst: „ Rabbuni (Meister) !“ Und fiel vor ihm auf die Knie und streckte die Arme nach seinen Füßen aus.

Jesus aber hob die Hand abwehrend gegen sie und sprach: „ Rühre mich nicht an! Denn ich bin noch nicht zu meinem Vater aufgefahren. Gehe aber zu meinem Brüder und sage es Ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott .“ Da verschwand der Herr.

Ich hatte auch eine Erklärung, warum Jesus sagte: Rühre mich nicht an, ich bin mir aber des derselben nicht mehr ganz bewußt. Ich meine, er sprach dies, weil sie so ungestüm war und ganz im Gefühl, als lebe er wie sonst, und alles sei wie sonst. Über die Worte Jesu, er sei noch nicht aufgefahren zu seinem Vater, hatte ich die Erklärung, er habe sich noch nicht nach seiner Auferstehung mit seinem himmlischen Vater dargestellt und ihm noch nicht für seinen Sieg über den Tod und Erlösung gedankt . Es war, als sage er ihr hierdurch die Erstlinge der Freude gehörten Gott, sie solle sich erst besinnen und Gott danken für das vollendete Geheimnis der Erlösung und des Sieges über den Tod. Denn sie hatte seine Füße wie sonst umarmen wollen, sie hat da nichts gedacht, als an ihren geliebten Meister, und das ganze Wunder in der Heftigkeit ihrer Liebe vergessen.

Ich sah aber, wie Magdalena nach dem Verschwinden des Herrn sich aufraffte und als sei sie im Traum gewesen, nochmals nahe an das Grab hinlief . Da sah sie die beiden Engel auf dem Grab sitzen, hörte, was die Frauen von der Auferstehung gehört hatten, sah die Tücher liegen und eilte nun, des Wunders und ihres Gesichtes ganz gewiß, hinaus, um ihre Begleiterinnen zu suchen, auf den Weg gegen Golgotha, denn sie gingen dort noch sagend umher, teils Maria Magdalenas Rückkehr erwartend, teils in Begierde den Herrn irgendwo zu sehen.

Alles was mit Magdalena geschah, dauerte nur ein paar Minuten. Es mochte etwa halb 3 Uhr sein, da ihr der Herr erschien und als sie kaum den Garten hinausgelaufen war, eilte Johannes in denselben, Petrus dicht hinter ihm her. Johannes stand auf dem Rand vor dem Eingang und bückte sich durch die Tür der Vorhalle nach der halb offenen Grabtüre schauen und sah die Tücher liegen...

Nach dem Petrus in das Grab gegangen war folgte ihm auch Johannes, sah dasselbe und glaubte an die Auferstehung , denn es wurde ihnen nun klar, was der Herr gesagt hatte und was in der Schrift stand. Sie hatten das vorhin nur so oben hin genommen. Petrus aber nahm die Tücher unter seinem Mantel mit und sie eilten hinaus durch die Türe des Nikodemus, Johannes aber lief dem Petrus wieder voraus.

Ich habe mit ihnen das Grab gesehen und auch mit der Magdalena und ich sah beide Male die beiden Engel zu Häupten zu Füßen sitzen, wie immer und auch die ganze Zeit, während der Leib Jesu im Grab lag. Es schien mir aber als habe Petrus sie nicht gesehen. Johannes hörte ich nachher zu den Jüngern von ihm sagen, daß er von der von der Vorhöhe schauend, einen Engel gesehen habe... Magdalena hat indessen die hl. Frauen gefunden und ihnen erzählt, daß sie es Petrus gesagt und jetzt den Herrn im Garten und dann die Engel gesehen habe und die Frauen erwiderten ihr, daß auch sie die Engel gesehen hatten. Nun eilte Magdalena in die Stadt durch das nahe aus für Tor, die Frauen aber gingen wieder zum Garten, vielleicht um die beiden Apostel dort noch zu finden und ich sah die Wächter ihnen vorüberziehen und einige Worte zu ihnen sprechen.

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Mechthild Thaller, Die Vertraute der Engel, Bd. 1 und 2

Mechthild Thaller war eine wenig bekannte Begnadete, die viel leiden mußte. Bd.1, S.175 Jesus sagte Lazarus und Magdalena seinen nahen Tod voraus (daher die zweite Salbung in Bethanien). Er erlaubte ihr beim Kreuzweg mitzugehen, (Lazarus sollte in Bethanien bleiben, um die verwirrten Apostel zu sammeln).

Bd.2, S.65 Die hl. Maria Magdalena war auch unsichtbar stigmatisiert .

S.164 Sie ist sehr mächtig. - S.175 Nach seiner Mutter hat Jesus sie am meisten geliebt. Sie soll den Chor der Jungfrauen anführen, wegen ihrer glühenden Liebe.

Die hl. Maria Magdalena gehört zu den ganz großen Heiligen und könnte uns helfen mehr, auch tiefer die Wunden und das Leiden Jesu zu verehren. Jesus hat ihr sicher seine glorreichen Wunden gezeigt, aber mit der Bitte: ‘Halte mich nicht fest.’

Simon von Cyrene sagte einmal: ‘Ich würde euch helfen, wenn ihr mich anrufen würdet.’ Das gilt auch von Maria Magdalena und ihren Geschwistern Lazarus und Martha. Lazarus ist der Freund Jesu, an dem er das unfaßbare Wunder gewirkt hat; und Martha hat Jesus immer bewirtet und viel für die Bekehrung ihre Schwester getan hat. Auch sie hat eine große Macht über die Dämonen, denn sie hat ihre Schwester zu Jesus gebracht.


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Litanei zur hl. Maria Magdalena

Herr, erbarme dich unser
Christus, erbarme dich unser
Herr, erbarme dich unser
Christus, höre uns
- Christus, erhöre uns
Gott Vater vom Himmel
- erbarme dich unser
Gott Sohn, Erlöser der Welt -
Gott Heiliger Geist -
Hl. Dreifaltigkeit, ein einiger Gott
Heilige Maria - bitte für uns.
Heilige Maria Magdalena -
Du hast Jesus mit dem Salböl aus dem Alabastergefäß die Füße gesalbt
Du hast bei Lazarus Jesus die Füße mit kostbarem Nardenöl gesalbt
Du hast seine Füße mit deinen Tränen benetzt
Du hast sie mit deinen Haaren getrocknet
Du hast sie mit Liebe geküßt
Dir wurden viele Sünden vergeben
Aus dir hat der Herr sieben böse Geister ausgetrieben
Du bist glühend vor Liebe zu Jesus
Du warst zum Herrn sehr aufmerksam
Du hast den besten Teil erwählt
Du hast die Auferweckung deines Bruders Lazarus erhalten
Du bist am Kreuz treu zu Jesus gestanden
Du bliebst bei ihm als die Jünger flohen
Du hast als Erste der Jünger den Auferstandenen sehen dürfen
Du wurdest vom Auferstandenen gesegnet
Apostelin der Apostel
(Apostelin der Provence Beschützerin des Predigerordens)
Milde Fürsprecherin der Büßer
Damit wir mit dir die ewige Glückseligkeit beim Herrn erlangen
Lehre uns beten und auf den Herrn zu hören
Du Liebling des dreifaltigen Gottes
Du seraphische Heilige
Du Vorbild aller Gottliebenden
Du Schrecken der bösen Geister

Lamm Gottes, du nimmst hinweg die
Sünden der Welt, verschone uns, o Herr.
Lamm Gottes, du nimmst hinweg die
Sünden der Welt, erhöre uns, o Herr.
Lamm Gottes, du nimmst hinweg die
Sünden der Welt, erbarme dich unser.
Bitte für uns, o hl. Maria Magdalena. -
Auf daß wir würdig werden der Verheißungen Christi.

Lasset uns beten. Gütigster Vater, die hl. Maria Magdalena hat die Vergebung ihrer Sünden erlangt und unseren Herrn Jesus Christus über alles geliebt. Gieße deine Gaben reichlich über uns aus, damit auch wir auf ihre Fürsprache die ewige Glückseligkeit von deiner Barmherzigkeit erhalten. Durch Jesus Christus unseren Herrn. Amen.

Hl. Maria Magdalena, beschütze und bitte für uns.

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