Die acht Seligkeiten
oder die Erkämpfung des Bürgerrechtes im
Himmelreiche
Entnommen aus:von
Joseph Reiter, Pfarrer, 1911
Christus sagt zu allen
ohne Ausnahme: "Seid vollkommen, wie euer Vater im
Himmel vollkommen ist" (Matth. 5,48); es ist daher
unzweifelbar, dass man auch in der Welt ein heiliges und
vollkommenes Leben führen kann. Wäre dies nicht der
Fall, so müsste man ja aus den Worten Christi folgern,
es seien alle Christen berufen, die Welt zu verlassen
und ins Kloster zu gehen; eine Folgerung, die mit dem
Plane der göttlichen Weltregierung sich gar nicht
vereinbaren lässt.
Hätten wir übrigens keinen anderen Beweis als das
Beispiel fast unzähliger Heiligen, die selbst inmitten
aller Lockungen und Gefahren der Welt ein überaus
heiliges Leben führten, so wäre das allein schon ein
hinreichender Beweis, dass allen Menschen der Weg zur
christlichen Vollkommenheit offen steht. Diesen Weg sind
selbst Könige und Fürsten unverdrossen gewandelt; so der
heilige Eduard von England, der heilige Kanut von
Dänemark, der heilige Ludwig von Frankreich, der heilige
Stephan von Ungarn und der heilige Kaiser Heinrich II.
Ebenso taten die heiligen Fürstinnen Klotilde,
Adelheide, Mathilde, Kunigunde, Elisabeth von Portugal,
Elisabeth von Thüringen u.a. Die göttliche Vorsehung hat
dafür gesorgt, dass sozusagen jedem christlichen
Lebensstande Muster hoher Vollkommenheit vor Augen
schweben. Mit heiligem Stolze blicken gottesfürchtige
Dienstboten auf ihre herrlichen Vorbilder Notburga,
Zitta und Dula; fromme Ackersleute und Hirten auf die
heiligen Isidor und Wendelin; Gärtner auf den heiligen
Phokas; Handwerker auf den heiligen Joseph und den
heiligen Eligius; Kaufleute auf den heiligen Homobonus;
Ärzte auf den heiligen Pantaleon und die heiligen Kosmas
und Damianus; christliche Soldaten auf den heiligen
Mauritius und die gesamte thebäische Legion. - Alle
diese lebten in der Welt, erschwangen sich aber zu einer
hohen Vollkommenheit dadurch, dass sie ihr Leben nicht
nach dem Geiste der Welt, sondern nach dem Geiste Jesu
Christi einrichteten. Diese alle waren eingedenk der
Warnung des heiligen Johannes (1. Joh. 2,15-16): "Wenn
jemand die Welt lieb hat, so ist die Liebe des Vaters
nicht in ihm; denn alles, was in der Welt ist, das ist
Begierlichkeit des Fleisches, Begierlichkeit der Augen
und Hoffart des Lebens"; sie waren fest überzeugt, dass,
"wer Freund dieser Welt sein will, ein Feind Gottes
wird". (Jak 4,4) Daher "gebrauchten sie diese Welt (d.h.
die vergänglichen Güter, Ehren und Genüsse), als
gebrauchten sie dieselbe nicht". (1.Kor. 7,31) Wer immer
also das hohe Ziel der christlichen Vollkommenheit
erreichen will, der wandle beharrlich auf der Bahn,
worauf diese Heiligen gewandelt sind; er lebe nach der
Lehre und dem Beispiele Jesu Christi, nicht nach den
Grundsätzen und den Beispielen der Weltkinder.
Der Heiland preist nämlich in den sogenannten acht
Seligkeiten gerade jene glücklich oder selig, welche die
Welt für unglücklich und bedauernswert hält. Diese
Seligpreisungen lauten:
1. "Selig sind die Armen im Geiste; denn ihrer ist das
Himmelreich." -
Die Welt pflegt die Glückseligkeit des Menschen nach dem
Besitze irdischer Güter zu bemessen. Wer Schätze von
Gold und Silber, prachtvolle Paläste, ausgedehnte
Ländereien, wer Scharen von Dienern, viele und mächtige
Freunde und Gönner besitzt, den zählt die Welt zu den
Glücklichen, den preist sie selig. Ganz anders urteilt
Jesus, die ewige Wahrheit; er spricht: "Wehe euch, ihr
Reichen, denn ihr habt euren Trost!" (Luk 6,24).
Diejenigen dagegen, die ihr Herz losgeschält haben von
den irdischen Reichtümern, die arm im Geiste sind, diese
preist Christus selig, weil ihnen die himmlische
Seligkeit in sicherer Aussicht steht.
Es ist indessen wohl zu beachten, dass die Seligpreisung
des Heilandes nicht allen Armen ohne Unterschied gilt.
Sie gilt nicht denen, welche zwar arm sind, dabei aber
Verlangen hegen nach Reichtum und Besitz, die über ihre
Armut klagen und murren. Bloß die Armen im Geiste werden
von Christus selig gepriesen. Zu diesen gehören
a) die wirklich Armen, wenn sie wie der verarmte Job
ihre Dürftigkeit mit Geduld und Ergebung tragen;
b) diejenigen, welche Gott zuliebe freiwillig alles
verlassen, um ihrem Schöpfer und Herrn desto
unbehinderter dienen zu können, wie die Ordensleute es
tun;
c) diejenigen, welche zwar irdische Güter besitzen, aber
so, "als besäßen sie dieselben nicht" (Kor 7,30), die
ihr Herz nicht daran heften, die sich ihres Reichtums
nur als eines Mittels bedienen, um gute Werke zu üben,
die denselben wie Esther (14,16) vielmehr als eine Last
ansehen und großmütig hingehen, wofern sie ihn nicht
mehr besitzen können, ohne ihren Pflichten untreu zu
werden. Solcher Armen wartet eine herrliche Belohnung.
Seelenruhe im Leben, Zuversicht in der Todesstunde und
eine endlose Glückseligkeit im Himmel sind ihr
auserlesener Anteil.
Selig sind, die geistlich Armen,
Denn das Himmelreich ist ihr;
Ihnen öffnet voll Erbarmen,
Gott der ew´gen Gnade Tür;
Da wird ohne Maß gewährt,
Was ihr sehnend Herz begehrt.
2. "Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das
Erdreich besitzen."
Die Welt schätzt jene glücklich, welche die Macht haben,
ihre Feinde zu demütigen; denen es gelingt, Rache zu
nehmen an ihren Beleidigern. Jesus hingegen spricht:
"Selig sind die Sanftmütigen." Dieses bezieht sich auf
diejenigen, welche die Aufwallungen des Zornes, der
Rachsucht und anderer Leidenschaften zu mäßigen wissen;
die bei allen widerwärtigen Vorkommnissen, welcher Art
sie immer sein mögen, in ihrem Innern und Äußern die
geziemende Ruhe bewahren; die jedes harte Wort vermeiden
und Beleidigungen mit Wohltaten vergelten, und zwar dies
alles mit Rücksicht auf Gott, aus christlicher Tugend.
Wer seinen Zorn zu beherrschen sucht lediglich aus
Rücksichten weltlicher Klugheit, bloß um sich vor den
Menschen in nichts zu vergeben, auf den findet diese
Seligpreisung keine Anwendung, der hat auch nicht jenen
Lohn zu erwarten, den Christus hier verheisst.
Der Heiland verheisst den Sanftmütigen "das Erdreich".
Das "Erdreich", von dem Christus hier redet, ist jenes
"Land der Lebendigen", das wir im andern Leben zu
besitzen hoffen, das paradiesische Land der Seligen.
"Weder das Land Kanaan," sagt der heilige Hieronymus, (Matth.
5,4), "noch irgend eine Gegend der Erde ist das den
Sanftmütigen verheissen Erdreich, sondern jenes Land,
welches sich der königliche Prophet wünschte, da er
sprach: Ich hoffe die Güter des Herrn zu sehen im Lande
der Lebendigen." (Ps. 36,10). Kanaan, das Gelobte Land
der Juden, war nur ein Vorbild jenes seligen Landes, das
der Heiland allen seinen getreuen Nachfolgern und
insbesondere den Nachahmern seiner Sanftmut verheisst.
Selig sind, die sanften Mutes,
Und in Demut milde sind!
Sie erfreuen sich des Gutes,
Das kein Trotz und Streit gewinnt.
Durch der Sanftmut stille Macht,
Wird das Schwerste leicht gemacht.
3. "Selig sind die Trauernden, denn sie werden getröstet
werden." -
Nichts steht wohl im grellem Widerspruch mit den
Grundsätzen der Welt und ihrer Anhänger, als dieser
Ausspruch des göttlichen Lehrers. Das Leben der
Weltkinder ist ein wildes Jagen nach eitlen Freuden, und
diejenigen werden für die Glücklichsten gehalten, die
möglichst viel davon erhaschen und in unaufhörlichem
Freudentaumel die Ursachen wohlbegründeter Trauer
vergessen. Der Heiland dagegen preist hier die
Trauernden selig, während er den leichtfertigen und
genusssüchtigen Weltkindern zuruft: "Wehe euch, die ihr
jetzt lachet; denn ihr werdet trauern und weinen." (Luk
6,25). Allerdings wird von Christus nicht jeder
Trauernde selig gepriesen; denn es gibt auch eine
Traurigkeit, von der die Heilige Schrift sagt, dass sie
den Tod bringe. (2 Kor 7,10). Es ist dies die
Traurigkeit über fehlgeschlagene irdische Hoffnungen,
über gescheiterte Vergnügungspläne, über den Verlust
eitler Sinnengüter und überhaupt jede Betrübnis, die
ohne Rücksicht auf Gott im Herzen Platz greift, und die
nicht gemildert ist durch Vertrauen auf die göttliche
Vorsehung. Die Traurigkeit, welche der Heiland hier
empfiehlt, ist die Betrübnis über eigene und fremde
Sünden; über die vielen Gefahren des Heiles, denen wir
beständig ausgesetzt sind; über das Verweilen hier im
Lande der Verbannung, fern von unserer wahren Heimat; es
ist auch die Trauer über ein drückendes Kreuz, das Gott
uns auferlegt hat, das wir aber mit Geduld und Ergebung
tragen; es ist ferner der Schmerz über die Nöten und
Bedrängnisse der heiligen Kirche sowie über die
Verwüstungen, welche die Feinde Gottes in derselben
anrichten. Wer in solcher Weise trauert, den preist der
Heiland selig, ein solcher "wird getröstet werden". Er
wird getröstet werden durch die Vergebung der eigenen
Sünden, die er beweint, getröstet durch die Gnade der
Bekehrung, die er nicht selten seinem Nebenmenschen
erfleht, getröstet durch den Schutz und Sieg, den der
Allerhöchste seiner Kirche in ihren Kämpfen gewährt, vor
allem aber getröstet durch die Aufnahme in jene heilige
Stadt Gottes da droben über den Sternen, "wo Gott alle
Tränen trocknen wird, wo der Tod nicht mehr sein wird,
noch Trauer, noch Klage, noch Schmerz" (Offb 24,4), wo
alle "trunken werden vom Überflusse des Hauses Gottes"
und getränkt mit dem Strome göttlicher Wonne. (Ps 35,9).
Selig sind, die Leid empfinden,
Auf des Lebens schmaler Bahn!
Ihre Traurigkeit wird schwinden,
Reicher Trost wird sie umfahn;
Denn sie wirkt zur Seligkeit
Reue, welche nie gereut.
4. "Selig sind, die Hunger und Durst haben nach der
Gerechtigkeit; denn sie werden gesättigt werden." -
Unter "Gerechtigkeit" versteht der Heiland hier wie an
verschiedenen anderen Stellen des Evangeliums nicht die
eine der vier Kardinaltugenden, von der früher die Rede
war, sondern die christliche Tugend und Vollkommenheit
im allgemeinen. "Wenn eure Gerechtigkeit nicht
vollkommener sein wird als die der Schriftgelehrten und
Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich
eingehen," sprach er zu seinen Jüngern (Matth 5,20) und
wollte damit offenbar sagen: "Wenn ihr nicht mehr wahre
Tugend und Vollkommenheit besitzen werdet als jene, dann
bleibt ihr vom Himmelreich ausgeschlossen." In demselben
Sinne sprach er zu Johannes, als derselbe sich weigerte,
ihn, den Sohn Gottes, zu taufen: "Lasst es für jetzt
geschehen; denn so geziemt es sich, dass wir jegliche
Gerechtigkeit erfüllen," d.h. jede Art von Tugend üben.
(Matth 3,15). Hunger und Durst nach Gerechtigkeit
bezeichnet demnach hier ein lebhaftes Verlangen nach
christlicher Tugend und Vollkommenheit, ein Verlangen,
das uns antreibt, mit allem Eifer und unermüdlicher
Ausdauer nach stetem Fortschritt im Guten zu streben.
Die Welt weiss nichts von diesem Hunger und Durst, sie
begreift ihn nicht und achtet ihn nicht, sie bemitleidet
sogar diejenigen, welche von demselben getrieben, sich
mancherlei Opfer auferlegen oder den Entschluss fassen,
im Ordensstand sich ganz dem Herrn weihen. Jesus
Christus hingegen preist solche Hungernde und Durstende
selig und verspricht ihnen vollkommene Sättigung. Gott
wird denselben schon in diesem Leben verleihen, was sie
wünschen: reichliche Gnaden, grosse Verdienste, süße
Tröstungen, Freude und Friede im Heiligen Geiste,
beseligende Liebe, erhabene Vollkommenheit. Die volle
Sättigung wird aber ihnen zuteil werden im jenseitigen
Leben, wo sie in der klaren Anschauung seiner
Herrlichkeit ganz in ihn umgestaltet werden, wo sie
"essen und trinken werden an seinem Tische". (Luk
22,30). Dort wird all ihr Verlangen erfüllt, so dass
ihnen nichts mehr zu wünschen übrig bleibt, gemäss dem
Worte des königlichen Propheten: "Ich werde satt werden,
wenn Deine Herrlichkeit offenbar wird." (Ps 16,15).
Selig sind, die hier mit Schmachten,
Dürsten nach Gerechtigkeit,
Die nach Gottes Reiche trachten,
Nicht nach Gütern dieser Zeit!
Wo der Born des Lebens quillt,
Wird ihr Seelendurst gestillt.
5. "Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden
Barmherzigkeit erlangen." -
Barmherzig ist derjenige, welcher aus christlicher Liebe
und mit herzlicher Teilnahme den leiblichen und
geistlichen Bedürfnissen seiner Mitmenschen nach
Vermögen abzuhelfen strebt. Die Kinder dieser Welt sind
viel zu selbstsüchtig, um wahrhaft barmherzig zu sein.
Bloß auf ihr eigenes Wohlbehagen und ihre Bequemlichkeit
bedacht, kümmern sie sich wenig um fremde Not. Sie
schätzen sich glücklich, wenn es ihnen gelingt, die
Hilfsbedürftigen von der Schwelle ihres Hauses
fernzuhalten und den Schrei des Schmerzes, der von allen
Seiten an ihr Ohr dringt, durch rauschende Freuden zu
übertäuben. Christus aber ruft zu uns: "Seid barmherzig,
wie auch euer himmlischer Vater barmherzig ist" (Luk
6,36); und er nennt die Barmherzigen selig, weil auch
sie "Barmherzigkeit erlangen werden". Schon hienieden
wird Gott den Barmherzigen mit Barmherzigkeit vergelten.
Er wird ihrem Flehen ein gnädiges Ohr leihen, ihnen die
Sündenstrafen nachlassen, sie vor manchem Übel bewahren
und ihnen Gnaden in reichlichem Maße spenden. In jener
Welt aber wird er sie nicht nach der unerbittlichen
Strenge seiner Gerechtigkeit richten, sondern "nach
seiner grossen Barmherzigkeit" belohnen (Matth
25,34-40); er wird sie belohnen in so überströmender
Fülle, wie es der unendlichen Barmherzigkeit eines
Gottes entspricht.
Selig sind, die voll Erbarmen,
Auf der Brüder Leiden sehn,
Und den Schwachen, Kranken, Armen,
Freudig eilen beizustehn!
Noch vor Gottes Thron erfreut,
Einst auch sie Barmherzigkeit.
6. "Selig sind, die ein reines Herz haben; denn sie
werden Gott anschauen." -
Die Reinheit des Herzens, welche den Gegenstand dieser
Seligpreisung ausmacht, besteht in dem Freisein nicht
bloß von unkeuschen Sünden, sondern von Sünden jeglicher
Art, soweit dies im sterblichen Fleische mit dem
Beistand der Gnade möglich ist. - Auf diese allseitige
Reinheit des Herzens legen die Kinder der Welt kein
Gewicht. Zufrieden mit der Reinheit des Leibes und der
Kleidung und allenfalls noch ihrer äußeren Sitten,
vernachlässigen sie die Reinheit der Seele und verdienen
so den Vorwurf, welchen der Heiland den scheinheiligen
Pharisäern machte: "Wehe euch, ihr Schriftgelehrten und
Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr den Becher und die
Schüssel von aussen reinigt, inwendig aber voll des
Raubes und Unflates seid. Von aussen erscheint ihr zwar
gerecht vor den Menschen, inwendig aber seid ihr voll
Heuchelei und Ungerechtigkeit." (Matth 23, 25-28). Der
wahre Nachfolger Christi dagegen befleisst sich vor
allem der innern Reinheit, damit makellos dastehe in den
Augen Gottes, des Liebhabers reiner Seelen. - Dafür wird
ihm aber auch der herrliche Lohn werden, welchen der
Heiland den Reinen verspricht, er wird mit dem reinen
Auge seines Geistes Gott schauen. Schon hienieden wird
er in ausgezeichnetem Grade fähig sein, Gott in den
sichtbaren Dingen wie in einem Spiegel zu erschauen, ihn
zu erschauen im höhern Lichte des christlichen Glaubens,
da Gott einem reinen Herzen seine Herrlichkeit innerlich
offenbart (Joh 14,21), wie sich das Bild der Sonne in
einer lautern Quelle abspiegelt. Vor allem aber wird er,
wenn dereinst der Tag der ewigen Vergeltung anbricht und
der Schleier der Zeitlichkeit hinweggenommen wird, Gott,
den Allerreinsten, "schauen von Angesicht zu Angesicht".
(1 Kor 13,12)
Selig sind, die reinen Herzen,
Die nicht Sünd und Welt umstrickt,
Die mit schnöder Lust nicht scherzen,
Weil nur heil´ges sie entzückt!
Einst im reinen Himmelslicht,
Schaun sie Gottes Angesicht.
7. "Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Kinder
Gottes genannt werden." -
Friedfertig nennt man den, der, von wahrer Nächstenliebe
erfüllt, mit seinem Nebenmenschen nach Möglichkeit im
Frieden zu leben trachtet und sich zugleich bemüht, auch
unter anderen den Frieden zu bewahren oder wieder
herzustellen. Der Friedfertige bringt bereitwillig
manches Opfer und verzichtet gern auf ein Recht oder
einen Vorteil, wenn es gilt, den Frieden mit anderen zu
bewahren oder streitende Parteien zu einem gütlichen
Vergleich zu bewegen. So bewahrheitet er an sich das
Wort des heiligen Paulus: "Die Liebe ist geduldig, ist
gütig; die Liebe ist nicht eifersüchtig...; sie sucht
nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie
denkt nichts Arges...; alles erträgt sie, alles glaubt
sie, alles hofft sie, alles übersteht sie." (1. Kor
13,4-7). - Die selbstsüchtige Welt ist von einer solchen
Gesinnung so weit entfernt, dass sie dieselbe gar nicht
einmal zu schätzen weiß. Allen Streit vermeiden wollen
und sich ohne ernstlichen Kampf sein gutes Recht
schmälern lassen, das betrachtet sie als Schwäche und
Feigheit. Ihrer Anschauung gemäß ist es eine
Ehrenpflicht, jede Herausforderung zum Kampf anzunehmen,
und sie preist den als Helden, der seinem Gegner eine
recht empfindliche Niederlage beigebracht und erlittenes
Unrecht doppelt und dreifach gerächt hat. - Christus
hingegen lobt die Friedfertigen und gibt ihnen in
besonderer Weise den Titel "Kinder Gottes". Als Kinder
Gottes sind sie natürlich auch Erben Gottes und Miterben
seines eingeborenen Sohnes. Die Friedfertigen heissen
und sind vorzugsweise Kinder Gottes wegen der
sprechenden Ähnlichkeit, die sie ihrem Vater im Himmel,
mit dem "Gott des Friedens" (Röm 15,33) haben;
desgleichen wegen ihrer Ähnlichkeit mit Jesus Christus,
dem "Friedensfürsten", bei dessen Geburt Engelchöre der
Menschheit Frieden zujubelten, und "der durch das Blut,
welches er am Kreuze vergossen, Frieden gestiftet hat",
indem er die Erde mit dem Himmel versöhnte. (Kol 1,20)
Selig sind, die Frieden bringen,
Schuld und Kränkung übersehn,
Feindeshass mit Lieb bezwingen,
Für Verfolger segnend flehn!
Trifft sie auch der Menschenspott,
Seine Kinder nennt sie Gott.
8. "Selig sind, die Verfolgung leiden um der
Gerechtigkeit willen; denn ihrer ist das Himmelreich." -
Auch hier findet sich die Welt im grellsten Widerspruch
mit Christus, dem Lehrer aller Weisheit. Die Welt nennt
jene glücklich, die von ihresgleichen geachtet, geliebt,
gefeiert, von Höhergestellten begünstigt, durch
Ehrenstellen ausgezeichnet und mit der Fülle zeitlicher
Güter beschenkt werden; Christus hingegen preist
diejenigen selig, welche "um der Gerechtigkeit willen",
d.h. wegen der Übung christlicher Tugend von ihren
Mitmenschen verfolgt werden; und er fügt noch mit
Nachdruck hinzu: "Selig seid ihr, wenn euch die Menschen
schmähen und alles Böse mit Unwahrheit wider euch reden
um meinetwillen (weil ihr meine Diener seid), freuet
euch und frohlocket, denn euer Lohn ist gross im
Himmel." Er will sagen: Im Himmel werdet ihr an meiner
Herrlichkeit in einem um so höhern Maße teilnehmen, je
größer die Leiden und Verfolgungen waren, die ihr um
meines Namens willen ausgestanden; schätzt euch deshalb
glücklich, wenn ihr recht viel Unrecht und
Widerwärtigkeiten in meinem Dienste zu erdulden habt;
denn die Leiden dieser Zeit lassen sich gar nicht
vergleichen mit jenem Übermaße ewiger Herrlichkeit, das
ihr zum Entgelt dafür dereinst empfangen werdet.
Selig sind, die als Gerechte,
Dulden Kreuz, Verfolgung, Schmach,
Als des Herrn getreue Knechte
Bis zum Tod ihm folgen nach!
Groß ist dort vor Gottes Thron
Seiner Überwinder Lohn.
Wie wir sehen, ist es im Grunde der selbe Lohn, den uns
der Heiland bei allen acht Seligpreisungen bald in
dieser, bald in jener Gestalt verheisst, wenn wir die
darin empfohlenen Tugenden üben. Der Hinblick auf die
himmlische Seligkeit also soll uns vor allem anspornen,
die mannigfaltigen Opfer zu bringen, die mit dem Streben
nach christlicher Tugend und Vollkommenheit verbunden
sind. Zwar gibt es noch einen anderen, weit edleren und
höheren Beweggrund hierzu, die reine, uneigennützige
Liebe zu Gott, dem unendlich Liebenswürdigen; und gewiss
wünscht der Heiland nichts sehnlicher, als dass wir auch
aus dieser lautersten und kostbarsten Quelle der Kraft
möglichst reichlich schöpfen. Allein um sich fürs
gewöhnliche von reiner Liebe zu Gott in seinem
Tugendstreben leiten zu lassen, dazu muss man bereits
einen bedeutenden Grad der Vollkommenheit erreicht
haben. Für weitaus die meisten Christen, die eine so
hohe Stufe der Vollkommenheit noch nicht erklommen
haben, ist der Gedanke an den himmlischen Lohn viel
wirksamer, um sie zur Übung der Tugend und der damit
verbundenen Selbstüberwindung anzutreiben. Folgen wir
daher dem Winke, den der Heiland selbst uns gibt,
richten wir oft den Blick des Geistes auf den Himmel und
die unaussprechliche Herrlichkeit, die dort unser Lohn
sein wird, wenn wir hier auf Erden unserm göttlichen
Vorbilde nachfolgen und treu ausharren auf dem Wege, den
er uns durch Wort und Beispiel gezeigt hat. "Der Himmel
ist aller Opfer wert!" Das sei unser Wahlspruch, wenn
uns etwas schwer fällt. Beherzigen wir denselben recht,
und er wird uns Kraft geben, den Weg der Vollkommenheit
zu wandeln und das erhabene Ziel zu erreichen, zu dem
wir als Kinder Gottes und Brüder Jesu Christi berufen
sind!
(Entnommen aus:von Joseph Reiter,
Pfarrer, 1911) |