Die Heilige Schrift erzählt: "In jenen Tagen
machte sich Maria auf und ging eilends über das
Gebirge in eine Stadt des Stammes Juda
(Luk 1,39)".
Dieses Sichaufmachen bedeutet nicht bloß ihre
Abreise von Nazareth, sondern es bedeutet auch
die Bewegung ihres Geistes und Willens, mit der
sie auf Antrieb und Befehl Gottes sich innerlich
von jenem niedrigen und demütigen Platze erhob,
den sie in ihrer geringen Meinung von sich
selbst eingenommen hatte. Sie erhob sich von
dort, wie von den Füßen des Allerhöchsten, auf
dessen Willen und Befehl |
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sie gewartet hatte, um ihn zu
vollbringen wie nach den Worten Davids
(Ps 122,2)
die Dienerin ihre Augen auf die Hände ihrer
Herrin gerichtet hält und wartet, bis diese ihr
gebietet. Maria richtete allen Eifer ihres
liebevollen Herzens darauf, die Heiligung des
Vorläufers zu beschleunigen, der in den Banden
der Erbsünde wie eingekerkert war. Dies war das
Ziel und Ende dieser glückseligen Reise. Sie
ging mit Eile, wie der heilige Evangelist Lukas
berichtet. |
Die Heimat des Zacharias in dem Gebirge Judäa war
siebenundzwanzig Stunden von Nazareth entfernt. Der Weg
dahin war großenteils rauh und beschwerlich. Die einzige
Bequemlichkeit bot ihnen ein ärmliches Lasttier. Maria,
die demütigste und bescheidenste, stieg oft von
demselben ab und bat ihren Bräutigam Joseph, dass er
nicht nur die Mühsal, sondern auch die Erleichterung mit
ihr teile und sich gleichfalls des Lasttieres bediene.
Allein, er nahm das Anerbieten niemals an. Um aber den
Bitten Mariens doch wenigstens in etwa zu willfahren,
gab er zu, dass sie zeitweise mit ihm zu Fuß ging. Dann
bat er sie aber wieder sehr bescheiden und ehrerbietig,
die kleine Erleichterung nicht länger abzuweisen, und
Maria legte den übrigen Weg gehorsam auf dem Lasttier
zurück.
Unter so demutsvollem Wettstreite setzten Maria und
Joseph ihre Reise fort. Ihre Zeit verbrachten sie nicht
einen Augenblick unnütz. Sie reisten ganz einsam. Allein
die tausend Engel, die Maria, das "Ruhebett Salomons"
(Hohel 3,7),
bewachten, waren ihnen zur Seite. Sie dienten ihrer
Königin und dem heiligsten Kinde, das sie unter ihrem
Herzen trug, in sichtbarer Gestalt. Doch nur Maria nahm
sie wahr. Auf diese Engel und auf Joseph achtend, setzte
Maria ihren Weg fort. Sie erfüllte Berge und Täler mit
dem süßesten Wohlgeruche ihrer Gegenwart und mit dem
ununterbrochenen Lobe Gottes. Zuweilen sprach sie mit
ihren Engeln und sang mit ihnen himmlische Loblieder auf
die Vollkommenheit Gottes und auf die Werke der
Schöpfung und Menschwerdung. Dadurch wurde das makellose
Herz Mariens aufs neue von göttlicher Liebe entflammt.
Joseph beobachtete ehrerbietiges Stillschweigen und
sammelte seinen Geist in hoher Beschauung. Dadurch
ermöglichte er seiner Braut, ein Gleiches zu tun.
Zuweilen aber redeten Maria und Joseph miteinander und
besprachen sich über das Heil der Seelen, die
Erbarmungen des Herrn, die Ankunft des Messias, über die
Weissagungen der Altväter und über andere Geheimnisse.
Joseph liebte seine Braut mit einer heiligen, keuschen
Liebe, mit einer Liebe, die durch besondere Gnaden
Gottes und durch Mitteilung der göttlichen Liebe
geordnet war. Zudem war der Heilige von Natur aus sehr
edel, hilfsbereit, freundlich und sanft. Er sorgte für
seine Braut höchst weise und liebevoll. Dazu hatte ihn
ihre Heiligkeit und ernste Würde schon von Anfang an
bewogen. Um ihretwillen hatte er ja himmlische Gaben
empfangen.
Er fragte sie oft, ob sie nicht müde sei und womit er
ihr dienen oder Erleichterung verschaffen könne. Da aber
Maria in ihrem jungfräulichen Schoße das göttliche
Feuer, das menschgewordene Wort trug, fühlte der heilige
Joseph, ohne die Ursache zu kennen, durch die
Unterredungen mit seiner geliebten Braut in seiner Seele
wunderbare Wirkungen, eine glühendere Liebe zu Gott, ein
tieferes Verständnis jener Geheimnisse, über die sie
sprachen, ein inneres Feuer und ein ungewohntes Licht,
das ihn ganz verwandelte und vergeistigte. Je weiter sie
pilgerten, desto mehr nahmen auch diese Gnaden zu.
Joseph erkannte, dass die Worte seiner Braut der Kanal
dieser Gnaden seien. Sie durchdrangen sein Herz und
entflammten seinen Willen mit göttlicher Liebe.
Joseph wunderte sich darüber. Es wäre ihm ein Trost
gewesen, die Ursache davon zu erfahren. Allein in seiner
großen Bescheidenheit wagte er es nicht, Maria zu
fragen. Damals war die Zeit noch nicht gekommen, dass er
das Geheimnis schon erfahre. Maria wusste alles, was in
seinem Innersten vorging. Ihr Zustand konnte ihm
natürlicherweise nicht verborgen bleiben. Sie hatte vom
Herrn keine Weisung erhalten, ihr Geheimnis vor ihm zu
bewahren. Allein ihre Klugheit und Bedachtsamkeit sagten
ihr, dass es gut sei, es noch verborgen zu halten. Und
so sprach sie mit ihrem Bräutigam kein Wort darüber,
auch nicht später, als der heilige Joseph ihren
gesegneten Zustand gewahrte und darüber in Unruhe
geriet.
O wunderbare Umsicht, o übermenschliche Klugheit! Maria
überließ sich ganz der göttlichen Vorsehung und wartete
ab, was sie verfügen werde. Sie sah die Unruhe Josephs
voraus und erwog, wie sie ihn davor bewahren könne.
Diese Besorgnis steigerte sich noch beim Gedanken an die
Liebe und Aufmerksamkeit des heiligen Joseph, ihr zu
dienen, und an ihre Pflicht, diese zu erwidern. Sie
betete und stellte dem Herrn ihre Unruhe vor und ihr
Verlangen, das Richtige zu treffen. Sie flehte, dass
Gott ihnen beistehen und sie leiten wolle. In dieser
Ungewissheit erweckte Maria heroische Akte des Glaubens,
der Hoffnung, der Liebe, der Klugheit, der Demut, der
Geduld und der Stärke. Allem, wozu sich Gelegenheit bot,
gab sie die Fülle der Heiligkeit. Sie tat immer das
Vollkommenste.
Diese Reise war die erste Pilgerfahrt des
menschgewordenen Wortes auf Erden, vier Tage nach seiner
Empfängnis. Seine glühende Liebe konnte nicht länger
zögern, das Feuer, wozu es gekommen war, zum ersten Male
zu entzünden, indem es die Heiligung der Menschen in
seinem Vorläufer begann. Diese Eile teilte es auch
seiner heiligen Mutter mit. Maria diente nun dem wahren
Salomon als "Sänfte"
(Hohel 3,9).
Sie war jedoch reicher geschmückt und leichter als die
des ersten Salomon. So war auch diese Reise viel reicher
an Glorie, Jubel und Pracht für den Eingeborenen des
Vaters. Denn er reiste mit Ruhe im jungfräulichen Schoße
seiner Mutter und erfreute sich der Liebeswonne, mit der
sie ihn anbetete, verherrlichte, betrachtete, anredete,
hörte und ihm antwortete. Sie allein, die Schatzkammer
des höchsten Königs und das Heiligtum des "großen
Geheimnisses", brachte ihm in ihrem eigenen Namen und im
Namen des ganzen Menschengeschlechtes weit mehr
Verehrung und Dank dar als alle Menschen und Engel
zusammen.
Während dieser viertägigen Reise übten die heiligen
Pilger Maria und Joseph nicht nur die göttlichen
Tugenden, sondern auch viele Werke der Nächstenliebe.
Ihre Liebe konnte angesichts der Hilfsbedürftigen nicht
untätig sein. Sie fanden nicht in allen Herbergen gute
Aufnahme. Einige Herbergsbesitzer waren roh und wiesen
sie rücksichtslos ab. Andere nahmen sie mit Liebe auf.
Die Mutter der Barmherzigkeit aber verweigerte niemandem
einen Liebesdienst, wenn es ihr möglich war. Sie
besuchte Arme, Kranke und Betrübte. Allen kam sie zu
Hilfe, allen spendete sie Trost oder heilte ihre
Krankheiten. Ich will nur vor dem Glücke eines armen,
kranken Mädchens sprechen, das Maria am ersten Reisetag
in einem Dorf fand. Als sie das Mädchen erblickte,
rührte sie großes Mitleid. Als Herrin aller Geschöpfe
gebot sie dem Fieber, die Kranke zu verlassen, und den
Körpersäften, sich zu ordnen und in ihrem normalen
Zustand zurückzukehren. Die Kranke wurde augenblicklich
gesund und auch an der Seele gebessert. Sie machte
später Fortschritte im Guten und gelangte zu einem
vollkommenen und heiligen Leben. Die Erinnerung an die
Urheberin ihres Glückes blieb ihrem Geiste allezeit
eingeprägt, und ihr Herz bewahrte eine zärtliche Liebe
für sie, obwohl sie die heiligste Jungfrau nie mehr
wieder sah und das Wunder verborgen blieb.
Maria und Joseph kamen am vierten Tage zur Stadt Juda,
wo Elisabeth und Zacharias lebten. Juda war der
Eigenname dieses Ortes. So hat ihn auch der heilige
Evangelist Lukas bezeichnet. Zwar sind die meisten
Schriftausleger der Ansicht, dieser Name sei nicht der
Eigenname der Stadt, in der Elisabeth und Zacharias
wohnten, sondern der allgemeine Name der Provinz, die "Juda"
oder "Judäa" hieß. Auch das Bergland, das sich vom Osten
Jerusalems gegen Süden hinzieht, heißt "das Gebirge von
Judäa". Es ist mir geoffenbart worden, dass die Stadt "Juda"
hieß und zur Provinz Judäa gehörte. Die Stadt wurde
einige Jahre nach dem Tode unseres Herrn Jesus Christus
zerstört.
Das Haus des Zacharias und der Elisabeth war an
derselben Stelle, wo diese heiligen Geheimnisse jetzt
von den Gläubigen und den Pilgern verehrt werden. Obwohl
die Stadt Juda zerstört wurde, ließ der Herr nicht zu,
dass das Andenken an eine so verehrungswürdige Stätte
verlorenging. Die alten Gläubigen, die dort Kirchen
bauten und die heiligen Orte wiederherstellten,
erhielten ein himmlisches Licht, um mit diesem und
einigen Überlieferungen die Wahrheit hierüber zu finden
und das Andenken an so wunderbare Geheimnisse zu
erneuern, damit die Gläubigen auch heute noch den
katholischen Glauben an den geheiligten Stätten unserer
Erlösung öffentlich bekennen können.
Zum besseren Verständnis erwäge man, dass der Satan,
nachdem er Jesus Christus bei seinem Tode als Gott und
Erlöser der Menschen erkannte, mit unglaublicher Wut
darauf ausging, sein Andenken - wie der Prophet Jeremias
(Jerem 11,19)
sagt - "aus dem Lande der Lebendigen zu vertilgen" und
ebenso das seiner heiligsten Mutter. So bewirkte er
auch, dass das heiligste Kreuz verborgen und in die Erde
vergraben wurde; ein anderes Mal, dass es nach Persien
in die Hände der Heiden kam. In derselben Absicht
brachte er es zuwege, dass viele heilige Orte zerstört
und vernichtet wurden. Daher kam es auch, dass die
heiligen Engel das heilige Haus nach Loreto getragen
haben. Denn der Drache, der die Himmelskönigin
verfolgte, hatte bereits die Bewohner des Landes
aufgewiegelt, dies Heiligtum zu zerstören. Dieselbe
Arglist des bösen Feindes war schuld, dass auch die alte
Stadt Juda zerstört wurde, teils durch die
Nachlässigkeit der Bewohner, die nach und nach
ausstarben, teils durch Unglücksfälle. Doch das Haus des
Zacharias ließ der Herr wegen der daselbst gefeierten
Geheimnisse nicht zugrunde gehen.
Die Stadt Juda war, wie gesagt, siebenundzwanzig Stunden
von Nazareth und ungefähr zwei Stunden von Jerusalem
entfernt, in der Richtung nach dem Gebirge Judäas hin,
wo der Fluß Sorek entspringt. Nachdem Johannes geboren
und die heiligste Jungfrau mit dem heiligen Joseph nach
Nazareth zurückgekehrt war, erhielt Elisabeth eine
göttliche Erleuchtung, dass den Kindern von Bethlehem
und der Umgebung ein großes Unglück bevorstehe. Obwohl
diese Offenbarung nicht bestimmt gegeben wurde, fühlte
sich Elisabeth angetrieben, mit ihrem Gemahl Zacharias
nach Hebron zu ziehen, das ungefähr acht Stunden von
Jerusalem entfernt war. Sie waren reich und vornehm und
besaßen nicht bloß in Juda und Hebron, sondern auch an
anderen Orten Häuser und Güter. Als Maria und Joseph auf
der Flucht vor Herodes nach Ägypten zogen, hielten sich
Elisabeth und Zacharias zu Hebron auf. Zacharias starb
vier Monate nach der Geburt Jesu Christi, zehn nach der
Geburt seines Sohnes Johannes.
Die heilige Jungfrau und der heilige Joseph gelangten
endlich in die Stadt Juda und zum Hause des Zacharias.
Joseph ging einige Schritte voraus, um die Bewohner des
Hauses vorzubereiten. Er rief ihnen den Gruß zu: "Der
Herr sei mit euch und erfülle eure Seelen mit seiner
göttlichen Gnade!" Elisabeth war schon vorbereitet; denn
der Herr hatte ihr geoffenbart, dass ihre Base Maria sie
bald besuchen werde. Durch dasselbe Gesicht hatte sie
auch erfahren, dass Maria dem Herrn sehr wohlgefällig
sei. Allein das Geheimnis, dass sie Mutter Gottes sei,
wurde ihr erst geoffenbart, als beide sich allein
begrüßten. Elisabeth ging sogleich mit einigen Personen
ihrer Familie hinaus, um Maria zu empfangen. Diese kam
als die demütigere und jüngere ihrer Base mit dem Gruße
zuvor und sagte zu ihr: "Der Herr sei mit dir, meine
Base und meine Teuerste." Elisabeth antwortete: "Der
Herr vergelte es dir, dass du gekommen bist, mir diesen
Trost zu bereiten." Unter dieser Begrüßung traten sie in
das Haus des Zacharias ein.
(Geoffenbart der ehrwürdigen Dienerin Gottes, Maria von
Jesus zu Agreda)
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