Heilige Hildegard von Bingen
Kirchenlehrerin
Scivias
Wisse die Wege
Eine Schau von Gott und Mensch in Schöpfung und
Zeit
(Pattloch-Verlag)
11. Vision des 3. Teils
Das Ende der Zeiten
Der
Antichrist
Inhalt
14.
|
Der
Antichrist zerreißt die Gläubigen unter
furchtbarem Terror und flößt den Menschen
den üblen Geruch seiner Grausamkeit und den
Wahnsinn seiner Bissigkeit ein |
15. |
Der Sohn
des Verderbens wird versuchen, diejenigen
mit grausamsten Verfolgungen niederzubeugen,
welche er mit Schmeichelei nicht kann |
16. |
Die
Kirche wird am Weltende mit dem edelsten
Blut getränkt werden, bis zu den beiden
Zeugen der Wahrheit |
17. |
Nachdem sechs Zeitalter vergangen sind, befinden
wir uns im siebten |
20. |
Worte des Geistes an die Kirche über die Endzeit |
25. |
Vom Antichrist und seiner Mutter |
26. |
Von der Mutter in den magischen Künsten
unterwiesen, führt er mit Gottes Zulassung seinen
Willen an den verschiedenen Geschöpfen aus |
27. |
Von seiner Macht und den verschiedenen Wundern,
die er zu vollbringen scheint |
28. |
Worte des Moses über die Schau Gottes |
29. |
Einige vom Teufel Betrogene lassen täuschenderweise Wunderzeichen an Geschöpfen sehen,
aber sie können sie nicht in eine andere Art
verwandeln |
30. |
Auf wie verschiedene Art der Antichrist die
Seinen täuscht und warum ihm das gestattet wird |
31. |
Vom Scheintod des Antichrist und dem Buch der
Verwünschung; wer ihm widerspricht, wird getötet |
32. |
Worte des Johannes |
33. |
Warum Henoch und Elias bis zu dieser Zeit
zurückbehalten werden |
34. |
Ihre Worte an die Kinder Gottes |
35. |
Von ihren wahrhaftigen Zeichen, durch die der
Betrug des Antichrist verworfen wird |
36. |
Nach dem von Gott zugelassenen Tod erhalten sie
den Lohn ihrer Mühen |
37. |
Alle Glieder der Kirche werden durch den
anmaßenden Übermut des Antichrist in Schrecken
versetzt, der glaubt, er könne das Innerste des
Himmels durchdringen |
38. |
Die Macht Gottes vernichtet in sichtbarer Stärke
gleichermaßen den Sohn des Verderbens wie den Teufel
durch ewige Verdammung |
39. |
Höllischer Gestank und Dunst wird den Ort seiner
Überheblichkeit erfüllen, damit die Getäuschten
zurückweichen |
40. |
Nach der Niederstreckung des Sohnes des
Verderbens wird die Braut Christi vom Glanz
wunderbarer Schönheit strahlen, während die Irrenden
zum Weg der Wahrheit zurückkehren |
41. |
Den Tag des Gerichtes kann niemand als Gott
kennen |
42. |
Ein Beispiel von Samson |
Der
Antichrist
14.
Der Antichrist zerreißt die Gläubigen unter
furchtbarem Terror und flößt den Menschen den üblen
Geruch seiner Grausamkeit und den Wahnsinn seiner
Bissigkeit ein.
Deshalb erscheint
auch an derselben Stelle des weiblichen
Erkennungsmerkmals ein unförmiges pechschwarzes
Haupt. Denn der wahnsinnige Sohn des Verderbens
wird mit den Künsten der ersten Verführung in
riesigen Schlechtigkeiten und pechschwarzen
Bosheiten auftreten, mit feurigen Augen,
eselsgleichen Ohren und mit Nase und Rachen wie ein
Löwe sie hat, wenn er den Menschen die
unsinnigen Taten der bösen Leidenschaft (nequissimi
ignis) und schändliche Äußerungen des Widerspruchs,
der Gottesleugnung verursacht, einflößt. So gießt er
ihren Sinnen den übelsten Geruch ein und zerfleischt
in grausamster Raubgier die Institutionen der
Kirche, indem er nämlich mit weit
aufgerissenem Maul knirscht und schreckenerregend
die furchtbaren eisenartigen Zähne wetzt. Er
flößt nämlich auf schlimmste Weise seinen
Gesinnungsgenossen mit gefräßigem Schlund seine
starken Laster und seine wahnsinnige Bissigkeit ein.
15.
Der Sohn des Verderbens wird versuchen, diejenigen
mit grausamsten Verfolgungen niederzubeugen, welche
er mit Schmeichelei nicht kann
Und
von diesem Haupt bis zu ihren Knien ist diese
Gestalt weiß und rot und wie von vielen Schlägen
hart mitgenommen.
Denn von der so schlimmen Täuschung, mit der dieser
Sohn des Verderbens die Menschen zuerst
schmeichlerisch und sanft zu verführen sucht, bis zu
der Zeit, da er versuchen wird, sie jetzt grausamer
zu verdemütigen und zu erniedrigen (inflectere et
incurvare), wird die Kirche in ihren Kindern das
Weiß des wahren Glaubens (bewahren), doch in ihm die
Bedrängnis gefühllosen Blutvergießens und größte
Drangsale in mannigfachen Leiden erdulden.
16.
Die Kirche wird am Weltende mit dem edelsten Blut
getränkt werden, bis zu den beiden Zeugen der
Wahrheit
Von
den Knien jedoch bis zu den beiden Querstreifen, die
oben an den Knöchel rühren und weiß erscheinen,
sieht sie blutig aus.
Denn während sie schon bis zu den beiden Zeugen der
Wahrheit, welche die Kirche kraftvoll bewahren
werden, indem sie gegen Ende der Welt das Weiß der
Gerechtigkeit und Rechtschaffenheit zeigen,
gleichsam die Erschütterung ihrer Vergewaltigung
erduldete, wird sie ruchlose Verfolgungen und
grausamstes Blutvergießen unter denen, die jenen
Verderber verachten, erleiden. Was besagt das? Wenn
der Sohn des Verderbens, in seiner widersprüchlichen
Lehre trügerisch bestärkt, Selbstvertrauen und Kraft
gewonnen hat, dann wird auch die Kirche auf ihrem
schnellen Lauf mit dem edelsten Blut getränkt. Dann
wird sie dadurch nun auch selbst vollständig zu
einer himmlischen Wohnstatt auferbaut. Ihr nämlich,
o Straßen Jerusalems, werdet dann durch das Blut der
Heiligen im edelsten Gold aufleuchten; denn der
Teufel wird zugrundegehen (exstinguetur), weil er
die Glieder des himmlischen Königs verfolgt hat. So
wird er selbst von seinem großen Terror zunichte
gemacht.
17.
Nachdem sechs Zeitalter vergangen sind, befinden wir
uns im siebten
Doch ihr, o Menschen,
die ihr in ihnen (den Straßen) wohnen möchtet,
flieht ihn (den Teufel) und betet Gott an, der euch
geschaffen hat. In sechs Tagen hat Gott nämlich
seine Werke vollendet und am siebten ruhte er von
seinem Werk. Was besagt das?
Die sechs Tage sind
die Zeitalter, sechs an der Zahl. Im sechsten jedoch
sind neue Wundertaten für die Welt zutagegetreten,
wie auch Gott am sechsten Tag seine Werke vollendet
hat. Jetzt aber steht die Welt im siebten Zeitalter
vor dem Jüngsten Tag, gleichsam am siebten Tag.
Wieso? Die Propheten haben ihre Worte erfüllt und
auch mein Sohn hat meinen Willen in der Welt
vollbracht. Das Evangelium ist auf der ganzen Welt
offen verkündet worden; es hatte aber auch bis zur
Fülle der Zeiten und über die Jahre der Zeitenfülle
hinaus (per tempus temporum pleni numeri et plus
temporum annorum eiusdem pleni numeri) Bestand,
wenngleich unter verschiedenartigen menschlichen
Verhältnissen (morum), doch von mir festbegründet.
18.
Warum Gott neue Geheimnisse und viel Mystisches, das
bisher verborgen war, nur durch einen Unberedten und
Ungelehrten verkündet
Doch jetzt wankt der
katholische Glaube unter den Völkern und das
Evangelium steht bei diesen Menschen auf schwachem
Fuß (Claudicat). Auch die dicken Bände, welche die
erfahrenen Lehrer mit großem Eifer herausgegeben
hatten (enucleaverant), lösen sich in schmählichen
Überdruss auf und die Lebensspeise der göttlichen
Schriften ist schon lau geworden. Deshalb spreche
ich jetzt durch einen unberedten Menschen über die
Heilige Schrift; er ist nicht von einem irdischen
Lehrer belehrt, sondern ich, der ich bin, verkünde
durch ihn neue Geheimnisse und viel Mystisches, das
bisher in den Büchern verborgen war. So verfährt ein
Mensch, der sich zuerst Lehm sammelt und dann daraus
irgendwelche Formen nach seinem Wunsch heraushebt.
19.
Eine Ermahnung Gottes an die Lehrer, diese Rede
nicht zu verachten, sondern sie wie ein siegreiches
Banner gegen den Sohn der Bosheit zu erheben
O ihr erfolgreichen
und gewinnenden Lehrer (fructuosi doctores boni
lucri), kauft eure Seelen zurück und ruft diese
Worte laut aus und misstraut ihnen nicht! Denn wenn
ihr sie verschmäht, verachtet ihr nicht sie, sondern
mich, der ich wahrhaftig bin. Ihr sollt nämlich mein
Volk unter meinem Gesetz erziehen und bis zur
vorherbestimmten Zeit seiner Heilung für es Sorge
tragen, wenn alle Sorge und Mühsal (omnis cura
omnium laborum) vergeht. Von dieser Zeit an habt ihr
jedoch festgelegte, vorherbestimmte Zeitabschnitte,
die auf jene Zeit hinauslaufen, in welcher der Sohn
des Verderbens auftreten wird. Gewinnt also Kraft
und seid stark, meine Auserwählten, und hütet euch
sehr, in die Schlinge des Todes zu fallen. Erhebt
vielmehr das Banner dieser Worte und schart euch
gegen den Sohn der Bosheit zusammen. Folgt nämlich
inmitten des Irrtums jener Wege, die dem Sohn des
Verderbens, welchen ihr den Antichrist nennt,
voranlaufen und folgen, der Spur dessen, der euch
den Weg der Wahrheit lehrte, als er im Fleisch auf
Erden in großer Demut und nicht mit Stolz erschien.
Hört also und versteht!
20.
Worte des Geistes an die Kirche der Endzeit
Der Geist spricht
nämlich zur Kirche über die Zeit des letzten
Irrtums. Denn der Tod rennt gegen die Kirche zu
derselben Stunde an, da am Ende der Zeiten der
verfluchte Lästerer (maledictus maledictionis)
kommt; er ist der Fluch der Flüche, wie mein
Sohn im Evangelium über die Stadt des schlimmsten
Irrtums bezeugt und spricht.
21.
Das Evangelium darüber
„Und
du Kapharnaum, wirst du dich etwa bis in den Himmel
erheben? Bis zur Unterwelt wirst du hinabfahren"
(Mt. 11,23). Das ist so: O du Höhle der Bosheit, du
bist eine verborgene Grube (fossa absconsionis) und
hast Flügel heuchlerischer Verstellung (simulationis
hypocritarum); wie könntest du auf der Höhe der
Mauer stehen, da dein Auge auf die Schlechtigkeiten
der Laster blickt, die das brennende Licht im Kot
verstecken und sagen: „Wer gleicht dem
heuchlerischen Mörder“, den die Törichten Herrscher
nennen? Wirst du etwa den Himmel mit Wundern und
Zeichen (in miracu-lis signorum) erringen, wenn du
deinen Finger in die Unterwelt tauchst? Wieso? Deine
Werke erreichen den Grund der Hölle; dort wirst du,
von ihrer Gefräßigkeit verschlungen, liegen, so dass
auch diese Unterwelt jenen Gestank ausspeit, in dem
die Welt die Bitterkeit des Todes am Verderber der
Verworfenen (in perditore perditionum) sehen wird.
22.
Nach der Erschütterung des Erdkreises werden die
vier Elemente gereinigt und die Zahl der Kinder der
Kirche voll gemacht, damit es dem Haupt nicht an
Gliedern fehle
Doch ein Haupt darf
nicht ohne Leib und die übrigen Glieder sein. Das
Haupt der Kirche ist der Sohn Gottes, der Leib und
die übrigen Glieder, welche dazu gehören (sequuntur),
ist die Kirche mit ihren Kindern. Die Kirche ist
aber in ihren Gliedern und ihren Kindern noch nicht
vollendet, sondern am Jüngsten Tag, wenn die Zahl
der Erwählten voll gemacht wird, ist dann auch die
Kirche vollständig. Am Jüngsten Tag jedoch kommt es
dann auch zur Erschütterung des Erdkreises, wenn
ich, Gott, die vier Elemente reinige, mit dem, was
am menschlichen Fleisch sterblich ist. Dann wird
auch am Ende der Welt die Freude der Kirche an der
Nachkommenschaft vollkommen sein.
23.
Der Weltlauf ist jetzt beim siebten Abschnitt und
nach der Drangsal werden die versiegelten
Geheimnisse der Bücher offen und gelassen, wie in
diesem Buch, ausgesprochen; und es gibt keine
weitere Zählung mehr. Das Übrige darf der Mensch
nicht wissen
Wie nämlich schon
gesagt wurde, vollendete Gott in sechs Tagen seine
Werke. Die fünf Tage sind die fünf Zeitabschnitte.
Im sechsten wurden auf Erden neue Wundertaten
offenkundig, wie auch am sechsten Tag der erste
Mensch gebildet wurde. Doch jetzt ist der sechste
Abschnitt beendet; mit dem siebten Abschnitt ist nun
der Weltenlauf gleichsam am siebten Tag angelangt.
Denn die Mühe, welche sich früher die
unerschrockenen (fortissimi) Lehrer um die
unerschöpflichen, unzugänglichen und versiegelten
(Geheimnisse) der heiligen Schriften machten, ist
nun offenkundig und soll jetzt öffentlich in
gelassener Rede — wie die Worte dieses Buches —
gleichsam am siebten Tag der Ruhe zutage treten.
Sechs Tage sind nämlich zum Wirken da, der siebte
gehört der Ruhe. Ein anderes Zeitmaß gibt es nicht.
Was darüber hinausgeht, o Mensch darf man nicht
wissen, sondern es ist im Geheimnis des Vaters
beschlossen. Ihr aber, o Menschen, habt von dieser
Zeit diesen Abschnitt für euern Lauf (zur
Verfügung), bevor jener Menschenmörder kommt, der
den katholischen Glauben zu vernichten begehrt. Über
die folgenden Geschehnisse ist euch nicht gestattet,
Zeit oder Augenblick zu wissen, wie ihr auch nicht
wissen könnt, was nach den sieben Tagen der Woche
geschieht (sit); der Vater allein vielmehr weiß es,
der es auch in seiner Macht festgesetzt hat. Über
die Tage der Woche oder über die Zeitabschnitte der
Welt, darfst du, o Mensch, nichts weiter wissen.
24.
Warum Gott wollte, dass sein Sohn am Ende der Zeiten
Mensch werde
Doch nach den fünf
Zeitaltern verkündete ich der Welt himmlische
Wundertaten, wie auch in fünf Tagen die andere
Kreatur vor dem Menschen geschaffen worden war,
welche dem Menschen Untertan ist. So hatte es auch
eine große Zahl Heiden und Juden gegeben und
verschieden Spaltungen durch mannigfache Übel waren
sowohl unter dem heidnischen, als auch dem jüdischen
Volk aufgekommen (efferbuerant). Das Gesetz und die
Prophetie hatten sich schon abgemüht und alle Völker
waren sowohl im Guten als auch im Bösen erprobt
worden, bevor mein Eingeborener aus der Jungfrau
Fleisch annehmen sollte. Denn ich wollte ihn nicht
senden, bevor all dies vorangegangen war, damit alle
Gerechtigkeit an ihm erprobt werde und alle
Ungerechtigkeit an ihm Ärgernis nehme.
Wäre mein Sohn aber
früher gekommen, wäre das gleichsam unklug
geschehen, wie auch jener Mensch unverständig
handelt, der seine Früchte einsammeln will, bevor
sie reif sind. Oder wenn seine Fleischwerdung bis
zum Ende der Welt selbst aufgeschoben worden wäre,
würde er unvermutet kommen, wie ein Vogelfänger, der
die Vögel listig fängt, da sie nicht wissen, wie sie
ins Netz geraten sind. Doch mein Sohn kommt zu jener
Zeit, da sich der Tag nach der neunten Stunde
gleichsam dem Abend zuneigt, nämlich wenn die größte
Kraft des Tages geschwunden ist und es kalt zu
werden beginnt. So war auch mein Sohn nach fünf
Zeitaltern in der Welt gegenwärtig, als die Welt
schon zum Untergang eilte. Was folgt daraus? Er kam
und erschloss das Innerste (medullam) des Gesetzes,
als er das Wasser des Gesetzes in den Wein des
Evangeliums verwandelte und auch starke Ströme der
Tugendkräfte entstehen ließ. Er vollbrachte das
durch ein so zeitgerechtes Kommen, dass die Tugenden
der Kirche (ecclesia-sticae), welche der Heilige
Geist entflammte, durch feste Wurzeln in den
Menschen erstarkten und die Jungfräulichkeit, welche
er in seiner Person brachte, überall die schönsten
Blumen aufkeimen lassen konnte.
25.
Vom Antichrist und seiner Mutter
Doch der wahnsinnige
Mörder, nämlich der Sohn des Verderbens, wird in
kürzester Zeit kommen, wie der Tag schon scheidet,
wenn die Sonne am Abend untergeht, d. h. wenn die
letzte Zeit schon schwindet (cadit) und die Welt
ihren Lauf aufgibt. O meine Getreuen, hört dieses
Zeugnis und versteht es ergeben als Warnung (ad
cautelam vestram), damit euch nicht der ohne euer
Wissen plötzlich über euch kommende Schrecken dieses
Verderbers ins Unglück des Unglaubens und der
Verwerfung stürze. Bewaffnet euch daher und bereitet
euch, auf diese Weise gewarnt, mit zuverlässigen
Verschanzungen für den so heftigen Kampf. Wenn
nämlich diese Zeit gekommen ist, da jener schlimme
Betrüger schrecklich in Erscheinung treten soll, ist
die Mutter, welche diesen Verführer in die Welt
setzen soll (eiciet), von ihrer Kindheit an und im
Mädchenalter durch teuflische Künste voller Laster
in einer abgelegenen Wüste unter ganz gottlosen
Menschen erzogen worden. Ihre Eltern wissen nichts
von ihrem dortigen Aufenthalt und die, mit denen sie
zusammenlebt, kennen sie nicht; denn der Teufel
überredet sie, dorthin zu gehen und bereitet sie
dort durch Täuschung nach seinem Wunsch vor, als ob
er ein heiliger Engel wäre. Und sie trennt sich
deshalb von den Menschen, um sich umso leichter
verbergen zu können. Daher vereinigt sie sich auch
mit einigen, wenn auch wenigen Männern heimlich in
der schlimmsten Preisgabe der Unzucht und entehrt
sich mit ihnen in so großem Eifer für die
Unsittlichkeit, wie der heilige Engel sie die
Leidenschaft ihre Schlechtigkeit vollbringen lässt.
Und so empfängt sie in der brennendsten Glut ihrer
Unzucht den Sohn des Verderbens und weiß nicht, von
welchem Samen dieser Männer sie ihn empfangen hat.
Doch Luzifer, nämlich
die alte Schlange, von dieser Schändlichkeit
entzückt, weht nach meinem gerechten Urteil dieses
Gerinnsel mit seinen Ränken an und besitzt es mit
allen seinen Kräften gänzlich im Schoß seiner
Mutter. So geht dieser Verderber aus dem Leib seiner
Mutter voll teuflischen Geistes hervor. Dann meidet
sie die gewohnte Unzucht und sagt dem törichten und
unwissenden Volk offen, dass sie keinen Mann habe
und den Vater ihres, Kindes nicht kenne. Die
Unzucht, die sie beging, nennt sie heilig und daher
hält sie das Volk für heilig und nennt sie so. So
wird der Sohn des Verderbens bis zum kräftigeren
Alter erzogen und entzieht sich immer dem ihm
bekannten Volk.
26.
Von der Mutter in den magischen Künsten unterwiesen,
führt er mit Gottes Zulassung seinen Willen an den
verschiedenen Geschöpfen aus
Seine Mutter aber
zeigt ihn mittlerweile mittels einiger magischer
Künste sowohl dem Volk, das Gott verehrt, als dem,
das ihn nicht ehrt. So bewirkt sie, dass er von
ihnen gesehen und geliebt wird. Wenn er zum
Vollalter gelangt ist, wird er öffentlich eine
verderbliche (contrariam) Lehre vertreten (docebit)
und so mir und meinen Erwählten entgegentreten; er
wird so große Kraft gewinnen, dass er versucht, sich
in seiner gewaltigen Macht über die Wolken zu
erheben. Denn ich erlaube ihm nach meinem gerechten
Urteil, seinen Willen an verschiedenen Geschöpfen
auszuführen. Denn wie der Teufel am Anfang sprach:
,Ich werde dem Höchsten gleich sein' und fiel, so
lasse ich auch zu, dass dieser Teufel in der Endzeit
stürzt, wenn er in diesem seinem Sohn sagt: ,Ich bin
der Erlöser der Welt.' Und damit die Gläubigen in
der ganzen Welt erkennen, dass Luzifer ein Lügner
war, als er am Anfang der Tage Gott gleichen wollte,
so soll auch jeder Gläubige sehen, dass dieser Sohn
der Bosheit ein Lügner ist, wenn er sich vor dem
Jüngsten Tag dem Sohn Gottes ebenbürtig macht.
27.
Von seiner Macht und den verschiedenen Wundern, die
er zu vollbringen scheint
Er ist nämlich ein
ganz schlimmes wildes Tier und tötet die Menschen,
die ihn ablehnen. Er gesellt sich Königen, Führern,
Fürsten und Reichen zu, unterdrückt die Demut und
richtet den Stolz auf. Den Erdkreis unterwirft er
sich mit teuflischer List. Denn seine Macht dringt
bis zur Behausung (labrum) des Windes vor, so dass
er die Luft in Bewegung zu setzen, Feuer aus dem
Himmel zu bringen und Blitz, Donner und Hagel zu
verursachen scheint. Er scheint auch die Berge
umzustürzen, die Wasser auszutrocknen, den Wäldern
ihr Grün zu nehmen und ihnen ihren Saft wieder
zurückzugeben. Solche Täuschungen zeigt er an
verschiedenen Geschöpfen, d.h. bezüglich ihrer
Feuchtigkeit, Grünkraft und Dürre. Er lässt aber
auch nicht davon ab, an Menschen seine Betrügerei zu
wirken. Auf welche Weise? Offenbar verursacht er bei
den Gesunden Krankheit und bei den Kranken
Gesundheit, scheint Dämonen auszutreiben und
zuweilen Tote zu erwecken. Wie? Wenn nämlich
manchmal jemand verschieden ist (vita evanuerit),
dessen Seele in der Gewalt des Teufels ist, übt er
zuweilen — mit meiner Zulassung — an dem Leichnam
seinen Mutwillen (illusiones) aus und bringt seine
Leiche in Bewegung, als ob sie lebe; allerdings wird
ihm das nur ganz kurze Zeit und nicht über eine
längere Zeitspanne zu tun gestattet, damit nicht
durch diese Anmaßung die Ehre Gottes ins Lächerliche
gezogen werde. Einige, die das sehen, vertrauen ihm.
Manche aber möchten bei ihrem früheren Glauben
bleiben und ihn dennoch gnädig stimmen. Da er sie
wenigstens doch nicht grausamer verletzten will,
schickt er ihnen irgendwelche Krankheiten. Suchen
sie jedoch ein Heilmittel bei den Ärzten und können
nicht geheilt werden, laufen sie zu ihm zurück und
versuchen, ob er sie zu kurieren vermag. Wenn er sie
aber dann aufsucht, nimmt er ihnen die Krankheit
weg, die er ihnen auferlegt hat; daher lieben sie
ihn sehr und glauben an ihn. Und so werden viele
getäuscht, wenn diese die Augen des inneren Menschen
umnebeln, mit denen sie auf mich schauen sollten. In
dieser Erprobung ihres Geistes wollen sie in einer
gewissen Neugier wissen, was sie mit den äußeren
Augen sehen und mit Händen greifen; das Unsichtbare,
welches in mir vorhanden und im wahren Glauben zu
ergreifen ist, verachten sie. Denn sterbliche Augen
können mich nicht erblicken, sondern ich zeige meine
Wunder im Schattenbild, wem ich will. Mich selbst
aber wird keiner schauen, solange er im sterblichen
Leib lebt, nur im Schatten meiner Geheimnisse, wie
ich zu meinem Diener Moses sagte und geschrieben
steht.
28.
Worte des Moses über die Schau Gottes
„Kein
Mensch wird mich sehen und kann am Leben bleiben"
(Ex. 33,20). Das ist so: Wer sterblich ist, wird den
irdischen Blick seiner Vergänglichkeit nicht auf die
Herrlichkeit meiner Gottheit richten, um das
sterbliche Leben in unvergänglicher Asche besitzen
zu können, während er sich im Wandel der
vergänglichen Zeit befindet, d. h. ein Leben
verlässt und zu einem andern übergeht. Denn alles
Lebendige ist durch mich dauerhaft, weil ich lebe;
und in mir gibt es keine Veränderung. Wie nämlich
eine Mücke nicht am Leben bleiben kann, wenn sie
sich in eine Feuerflamme stürzt, so könnte auch kein
sterblicher Mensch bestehen, wenn er das Aufleuchten
meiner Gottheit sähe. Ich aber zeige mich den
sterblichen Menschen, solange sie von der Last ihrer
Sterblichkeit beschwert sind, so in einem
Schattenbild, wie ein Maler den Menschen das
Unsichtbare durch seine gemalten Bilder
verdeutlicht. Doch wenn du, o Mensch, mich liebst,
umarme ich dich und erwärme dich mit der Glut des
Heiligen Geistes. Wenn du mich nämlich in deiner
guten Absicht anblickst und mich durch deinen
Glauben erkennst, dann bin ich mit dir. Doch die
mich verachten, wenden sich zum Teufel hin, weil sie
mich nicht kennen wollen. Daher verwerfe auch ich
sie.
29.
Einige vom Teufel Betrogene lassen täuschenderweise
Wunderzeichen an Geschöpfen sehen, aber sie können
sie nicht in eine andere Art verwandeln
Diese aber verspottet
und täuscht der Teufel, wie immer es ihm beliebt, so
dass sie für wahr halten, was er ihnen zeigt. Und
diese List seiner Täuschung flößt der Teufel jenen
ein, die auf ihn vertrauen, so dass auch sie die
Menschen in dieser Kunst täuschenderweise
Wunderzeichen an Geschöpfen nach ihrem Wunsch sehen
lassen. Aber dennoch können weder die Elemente noch
die anderen von Gott geschaffenen Kreaturen in eine
andere Art verwandelt werden; sie täuschen nur durch
ihre Betrügereien denen, welche an sie glauben,
unheimliche nebelhafte Erscheinungen an ihnen vor.
Denn auch Adam verlor, als er nach mehr verlangte
als er haben sollte, die Paradiesesherrlichkeit. So
verlieren auch diese Auge und Ohr des inneren
Menschen, weil sie Gott verlassen und den Teufel
verehren.
30.
Auf wie verschiedene Art der Antichrist die Seinen
täuscht und warum ihm das gestattet wird
Auf diese Weise
bewerkstelligt der Sohn des Verderbens seine
täuschenden Künste an den Elementen und lässt an
ihnen — je nach dem Wunsch der Menschen, die er
täuscht — Schönheit, Anmut und Reiz sehen. Diese
Gewalt ist ihm aber deshalb zugestanden, damit die
Gläubigen im rechten Glauben erkennen, dass der
Teufel keine Macht über das Gute hat, sondern nur
über die Übel des ewigen Todes. Denn was immer
dieser Sohn der Bosheit tut, wirkt er mit Gewalt,
Stolz und Grausamkeit; er besitzt keine
Barmherzigkeit, Demut und Unterscheidung, sondern
drängt die Menschen mit einem Befehl und großer
Verblüffung dazu, ihm zu folgen. Er gewinnt eine
große Schar (plurimos populos) für sich, indem er
ihnen sagt, sie dürften frei ihren Willen erfüllen
und brauchten sich nicht zu vielem Wachen und Fasten
verpflichten. Er verheißt ihnen, dass sie nur ihren
Gott, der er zu sein vorgibt, zu lieben brauchten,
um, von der Hölle befreit, zum Leben zu gelangen.
Daher sagen die derart Getäuschten: ,O weh, diese
Unglücklichen, welche vor diesen Zeiten lebten, ihr
Leben mit grausamen Quälereien erschwerten und ach,
die Güte unseres Gottes nicht kannten.' Jener zeigt
ihnen nämlich Schätze und Reichtum und erlaubt
ihnen, nach ihren Wünschen zu schwelgen. Mit
trügerischen Zeichen bekräftigt er seine Lehre, so
dass sie glauben, es nicht nötig zu haben, ihren
Leib irgendwie in Zucht zu nehmen und zu bändigen.
Er befiehlt ihnen jedoch, die Beschneidung und das
Judentum nach den Gebräuchen der Juden zu beobachten
und erleichtert ihnen die schwereren
Gesetzesvorschriften, welche das Evangelium — mit
würdiger Buße verbunden — in Gnade wandelt, nach
ihrem Willen. Und er spricht: ,Wer sich zu mir
bekehrt, dessen Sünden werden getilgt und er wird
mit mir in Ewigkeit leben.' Er verwirft auch die
Taufe und das Evangelium meines Sohnes und spottet
über alle Gebote, die der Kirche übergeben sind. Und
wiederum sagt der Teufel spöttisch zu denen, die ihm
dienen: ,Seht nur, wer und wie verrückt der gewesen
ist, welcher dem einfachen Volk mit seiner
Betrügerei das zur Beobachtung aufgestellt hat!'
31.
Vom Scheintod des Antichrist und dem Buch der
Verwünschung; wer ihm widerspricht, wird getötet
,Ich aber will für
euch und zu euerm Ruhm sterben und vom Tod
auferstehen und so werde ich mein Volk von der Hölle
befreien, so dass ihr von nun an glorreich in meinem
Reich lebt; dieser Betrüger gab vor, das schon
früher getan zu haben.' Und darauf befiehlt er
seinen Anhängern (dilectis), ihn mit einem Schwert
zu erschlagen und ihn bis zum Tag seiner
Auferstehung in reines Leinen zu hüllen. Und sie
werden so getäuscht, dass sie glauben, ihn zu töten
und auf diese Weise seine Befehle auszuführen;
später ersteht er scheinbar und führt eine Schrift
vor, die gleichsam zum Heil der Seelen eine
schreckliche Verwünschung enthält. Er übergibt sie
den Menschen als Zeichen und lässt sich von ihnen
anbeten. Wenn das aber ein Gläubiger aus Liebe zu
meinem Namen verweigert, wird er von ihm durch
grausame Pein und Foltern vernichtet. Daher sind
alle, die das sahen oder hörten, von Staunen und
Zweifel betroffen, wie auch mein geliebter Johannes
zeigt und spricht.
32.
Worte des Johannes
„Und
ich sah eins von seinen Häuptern tödlich getroffen
und seine Todeswunde wurde geheilt. Und voll
Bewunderung folgte die ganze Welt dem Tier" (Apk.
13,3). Das ist so: Ich, der Liebhaber der
Geheimnisse Gottes, sah, wie der Betrüger und
Verfluchte mit ganz großen und unzähligen Bosheiten
die Unschuld (sanctimoniam) der Heiligen umzingelt
und sie mit vielfachen Lasten heimsucht. Er wird
durch die Listen seiner Betrügereien vortäuschen,
sein Blut bei seiner Hinmordung zu vergießen und so
zu sterben. Nicht körperlich findet er den Tod,
sondern er wird gleichsam als täuschendes
Schattenbild erschlagen und für sterbend erachet.
Daher gibt er auch — als sei er mit seinen
täuschenden Wunden tot — vor, wie aus einem
Todesschlaf zum Leben erwacht zu sein. Und so werden
alle Menschen auf der ganzen Erde, starr vor Staunen
und Schrecken über ihn, in Furcht vor diesem
Verfluchten geraten, wie auch das Volk über die
Größe und Stärke Goliaths entsetzt war, als es ihn
bewaffnet zum Kampf sich gegenüberstehen sah. Wie du
siehst, scheinen auch so die Säulen meiner
Auserwählten, sowohl vor diesen Foltern als auch vor
den widersprüchlichen, auffallenden und
schrecklichen Zeichen, welcher dieser Sohn des
Verderbens von sich gibt, von großem Staunen und
Zittern erfasst zu sein und stöhnen vor Jammer und
Not auf.
33.
Warum Henoch und Elias bis zu dieser Zeit
zurückbehalten werden
Doch meine beiden
Zeugen, die ich im Geheimnis meines Willens bis zu
dieser Zeit aufbewahrt habe, nämlich Henoch und
Elias, werde ich aussenden, damit sie ihn bekämpfen
und die Irrenden zum Weg der Wahrheit zurückführen.
Sie werden meinen Gläubigen die stärksten und
kräftigsten Tugenden vor Augen führen. Denn weil die
Worte ihres Zeugnisses in beider Mund ganz
übereinstimmen, werden sie den Hörern den Glauben
bringen. Deswegen sind diese beiden Zeugen der
Wahrheit nämlich solange bei mir zurückbehalten
worden, damit sogleich bei ihrem Auftreten ihr Wort
in den Herzen meiner Erwählten verstanden und
bekräftigt werde und der Spross meiner Kirche von da
an in großer Demut Bestand habe. Und sie werden zu
den Kindern Gottes, deren Namen im Buch des Lebens
stehen, sprechen.
34.
Ihre Worte an die Kinder Gottes
,O ihr Redlichen, zum
herrlichen Lob der beglückenden Gnaden des (ewigen)
Lebens erwählt, hört und versteht, was wir euch
zuverlässig berichten: Dieser Verfluchte ist vom
Teufel entsandt, um die Seelen, welche sich seinen
Vorschriften unterwerfen, in Irrtum zu führen. Wir
lebten nämlich von dieser Welt zurückgezogen, in den
Geheimnissen Gottes zurückbehalten, die den Menschen
verborgen sind. Der Sorge und Angst der Menschen
waren wir entzogen. Dazu aber sind wir aufbewahrt
und zu euch gesandt worden, um den Irrtümern dieses
Verderbers zu widersprechen. Seht also, ob wir euch
nicht an Wuchs und Alter ähneln.'
35.
Von ihren wahrhaftigen Zeichen, durch die der Betrug
des Antichrist verworfen wird
Und alle, die den
wahren Gott erkennen und bekennen wollen, folgen
diesen beiden Greisen und wahren Zeugen, die das
Banner der göttlichen Gerechtigkeit tragen, und
geben den ungerechten Irrtum auf. Denn sie werden
unter lautem Lobpreis vor Gott und den Menschen
aufleuchten, Ortschaften, Straßen und Städte, sowie
die anderen Orte, wo immer der Sohn des Verderbens
seine verderbliche Lehre ausgestreut hat, durcheilen
und dort viele Zeichen im heiligen Geist wirken. So
wird das ganze Volk, welches sie sieht, zu größter
Bewunderung geführt. Diese großen Wunderzeichen, die
auf festem Felsen gründen, werden ihnen aber
deswegen geschenkt werden, dass die verderblichen
und falschen Zeichen herabgesetzt werden. Denn wie
ein Blitz zündet und verbrennt, so handelt auch der
Sohn des Verderbens. Mit seiner schlimmen Bosheit
und Schlechtigkeit verbrennt er die Leute durch
magische Künste wie ein feuriger Blitz. Doch Henoch
und Elias werfen mit der rechten Lehre seine ganze
Kohorte gleichsam mit einem Donnerschlag
eingeschüchtert zu Boden und festigen so die
Gläubigen.
36.
Nach dem von Gott zugelassenem Tod erhalten sie den
Lohn ihrer Mühen
Sind sie jedoch mit
der Zulassung meines Willens schließlich von ihm
getötet worden, erhalten sie den Lohn für ihre Mühen
im Himmel. Dann fallen zwar die Blüten ihrer Lehre
ab, weil ihre Stimme in der Welt bereits verstummt
ist, aber in den Erwählten tritt die gute Frucht
zutage. Diese verachten die Phrasen (verba) und die
Wut der teuflischen List und sind wohlgefestigt in
der Hoffnung auf das himmlische Erbe, wie auch
Salomon auf den guten und redlichen Menschen
verweist und spricht: Das Haus des Gerechten ist am
dauerhaftesten und im Gewinn des Gottlosen liegt
Beunruhigung (Spr. 15,6). Das ist so: Das sichere
Haus (acutum tabernaculum), in dem es keinen Schmerz
(contritio) und kein Unglück gibt, ist der besondere
Spiegel des göttlichen Auges im redlichen Menschen.
In ihm sieht dieses Auge die Kraft seiner
Wundertaten gleichsam im Herannahen eines tödlichen
Schwertes.
Doch in den Taten,
die wie wachsende Früchte aus einem hochmütigen
Herzen hervorgehen, das in seinen Eigenwilligkeiten
Ruinen errichtet, wird eine gewisse Traurigkeit
stecken, weil dieses stolze Herz nicht auf die
Hoffnung vertraut, welche in himmlischer Sättigung
erblüht.
37.
Alle Glieder der Kirche werden durch den anmaßenden
Übermut des Antichrist in Schrecken versetzt, der
glaubt, er könne das Innerste des Himmels
durchdringen
Dass du aber siehst,
wie sich dieses unförmige Haupt mit so großem
Getöse von seiner Stelle löst, dass die ganze
erwähnte Frauengestalt in allen ihren Gliedern davon
erzittert, bedeutet: Wenn der Sohn des
Verderbens, der das Haupt der Bosheit ist, sich in
heftigem arrogantem Hochmut aus der ihm anhaftenden
Bosheit wie aus einem kleinen Irrtum erhebt, reißt
er einen größeren Wahn an sich; er möchte sich
nämlich über alle erhöhen, d.h., wenn seine
Täuschungen ans Ende gelangt sind, wird die ganze
Kirche in all ihren größeren und kleineren Kindern
in großen Schrecken versetzt und erwartet seine
wahnsinnige Anmaßung. Und es befindet sich eine
Unmenge Kot um das Haupt; es erhebt sich daraus wie
über einen Berg und versucht zur Himmelshöhe
aufzusteigen. Denn die so großen Listen der
teuflischen Nachstellung, welche viel Unreinheit
verursachen, stehen diesem Sohn der Bosheit bei,
verleihen ihm die Flügel des Stolzes und erheben ihn
zu solcher Anmaßung, dass er sogar glaubt, das
Innerste des Himmels durchdringen zu können. Auf
welche Weise? Wenn er nämlich den Willen des Teufels
vollkommen erfüllt hat, so dass er nach dem
gerechten Urteil Gottes keine Erlaubnis mehr zu
seiner so großen Macht an Bosheit und Grausamkeit
erhält, sammelt er seine ganze Horde und sagt denen,
die an ihn glauben, er wolle in den Himmel auffahren
(ire). Doch wie der Teufel nicht wusste, dass der
Gottessohn zur Erlösung der Seelen geboren werde, so
ist auch diesem großen Übeltäter (pessimus) nicht
bekannt, dass der kräftige Schlag der Hand Gottes
über ihn kommt, wenn er sich in das todbringende
Übel aller Übel einhüllt.
38.
Die Macht Gottes vernichtet in sichtbarer Stärke
gleichermaßen den Sohn des Verderbens wie den Teufel
durch ewige Verdammnis
Und
da ertönt plötzlich etwas wie ein Donnerschlag und
trifft das Haupt mit solcher Wucht, dass es von
diesem Berg herabstürzt und seinen Geist im Tod
aushaucht.
Denn die sich offenbarende Macht Gottes streckt den
Sohn des Verderbens mit solcher Kraft seines Eifers
nieder, dass er vom Hochmut, mit dem er sich gegen
Gott erhoben hatte, durch den großen Fall seiner
Anmaßung kopfüber herabstürzt und so im Tod ewiger
Verdammnis seinen Lebensodem vollständig von sich
gibt (evomit). Denn wie die Versuchungen meines
Sohnes beendet wurden, als er bei der Versuchung dem
Teufel befahl: ,Weiche Satan' und jener erschreckt
floh, so werden auch diese Verfolgungen, die der
Sohn der Bosheit über die Kirche bringt, in diesem
meinem Eifer ihr Ende finden.
39.
Höllischer Gestank und Dunst wird den Ort seiner
Überheblichkeit erfüllen, damit die Getäuschten
zurückweichen
Daher ergreift auch sogleich ein so
übelriechender Dunst den ganzen Berg, und das Haupt
wird darin von so großem Schmutz bedeckt, dass das
dabeistehende Volk in größten Schrecken versetzt
wird. Denn der so unreine und höllische Gestank
wird den Ort seiner Überheblichkeit ganz erfüllen,
an dem jener schlimme Verleumder einen solchen
Schmutz ausspie (efferve-bat), dass man sich nach
gerechtem Urteil Gottes von da an weder an seinen
Beginn noch an sein Ende erinnern kann. Jene Scharen
sehen nämlich seine Leiche stumm auf die Erde
hingestreckt und von großer Fäulnis erfüllt; sie
erkennen, dass sie getäuscht sind und der Dunst
bleibt noch etwas länger um diesen Berg herum.
Denn jener Gestank, der den teuflischen Hochmut
umgibt (circumamplectens), erweist ihn als unrein,
damit die von ihm verführten Menschen, welche den
Gestank und jenen Schmutz wahrnehmen, ihren Irrtum
meiden und zur Wahrheit zurückkehren. Denn
als das anwesende Volk das sieht,
wird es von großer Angst erfüllt; als sie das
nämlich erblicken, überfällt sie größtes Entsetzen,
so dass sie heulend und weinend in Klagen ausbrechen
und bekennen, sie hätten sich schwer getäuscht.
40.
Nach der Niederstreckung des Sohnes des Verderbens
wird die Braut Christi vom Glanz wunderbarer
Schönheit strahlen, während die Irrenden zum Weg der
Wahrheit zurückkehren
Und
plötzlich erscheinen die Füße der erwähnten
weiblichen Gestalt glänzendweiß und leuchten heller
auf als der Glanz der Sonne.
Das
heißt: Die Stärke des Fundaments und die Stütze der
Braut meines Sohnes wird den großen Glanz des
Glaubens zeigen und jene Schönheit, die alle Anmut
irdischer Herrlichkeit übertrifft, aufweisen, wenn
der Sohn des Verderbens — wie schon gesagt wurde —
niedergestreckt ist und viele der Verirrten zur
Wahrheit zurückkehren.
41.
Der Tag des Gerichts kann niemand als Gott kennen
Doch nach dem Fall
des Gottlosen soll der sterbliche Mensch nicht zu
erfahren suchen, wann bei der Auflösung der Welt der
Jüngste Tag eintrifft, denn er kann ihn nicht
kennen. Der Vater hat ihn nämlich in seinem
verborgenen Geheimnis aufbewahrt. Bereitet euch also
zum Gericht, o Menschen! Wie aber schon erwähnt
wurde, wird der Sohn des Verderbens mit seinem
Vater, dem Teufel, und mit all seinen Künsten in der
Endzeit von meinem Sohn, dem stärksten Kämpfer,
überwunden werden, wie auch die so starken Feinde
des Samson, der sein Vorbild war, verworfen wurden,
wie geschrieben steht.
42.
Ein Beispiel von Samson
„Durch
die starke Erschütterung der Säulen stürzte das Haus
über allen Fürsten und den übrigen Leuten, die sich
darin aufhielten, zusammen und er brachte sterbend
viel mehr Menschen um, als er in seinem Leben
getötet hatte" (Ri. 16,30). Das ist so:
Dem Sohn Gottes, d.h.
dem so starken Samson, verband sich zuerst die
Synagoge. Ihr teilte er in seiner wunderbaren Lehre
die Geheimnisse (occulta) mit, welche im Alten
Testament verborgen waren, und erschloss ihr gütig
die Süße dieses Gesetzes, welche stärker als ein
Löwe war. Sie aber täuschte ihn und bewirkte, dass
seine Geheimnisse verspottet wurden; sie wollte
nicht auf seine Lehre blicken, sondern verachtete
sie in großem, hochmütigem Stolz (fastu superbiae).
Daher verkündete er erzürnt (commotus), dass das
Reich Gottes von ihr genommen und einem anderen Volk
verliehen werde. Also zog er unter vielen
Wunderzeichen mit einer sehr großen Schar nach
Jerusalem hinauf und wurde durch den Unglauben
derer, die ihre Kleider auf dem Weg ausbreiteten,
getötet. Dort schenkte er ihnen durch die Wunder,
durch die er von seiner Braut verraten worden war,
was er verheißen hatte. Und mit demselben Zorneifer
verließ er diese seine Braut, als er vorher
verkündete, dass ihr Haus öde zurückgelassen werde.
Doch der Vater jener Braut, nämlich die teuflische
Täuschung, verband sie mit einem anderen Mann, d.h.
mit dem Unglauben. Da sandte der Sohn Gottes kluge
Wölfe, nämlich die Apostel aus. Sie verbrannten mit
dem Feuer des Heiligen Geistes die Saaten ihrer
Feinde, d.h. sie vertauschten die
Gesetzesvorschriften mit geistiger Einsicht. So
wurde die Synagoge mit ihrem Vater verbrannt,
nämlich der schlimme Unglaube der Synagoge
vernichtet. Darauf tötete er unter großen Zeichen
und erstaunlichen Wundertaten die Ungläubigen, so
dass alle vor lauter Betroffenheit erzitterten, als
sie sagten, sie fürchteten, dass die Römer kommen
und ihr Land und Volk vertilgen (tollere) würden.
Deshalb sammelten sie ihre Horde, um ihn zu
verderben, doch er verbarg sich auf einem Berg im
Gebet; damals bat er darum, dass jener Kelch an ihm
vorübergehen möge, wenn es möglich wäre.
Doch Judas Iskarioth
verriet ihn und lieferte ihn den Händen seiner
Feinde aus. Er aber verheimlichte die Stärke seiner
Kraft, die er im Haar, d. h. in seinem Vater besaß.
Das wusste das Volk nicht, nur im Glauben ist es
erfassbar, wie man die Haare am Kopf sieht. Als er
später leiden wollte, zeigt er die Kraft seiner
Stärke; er ergreift nämlich den Kinnbacken eines
Esels, als er zu den Töchtern Jerusalems sagt, sie
sollten nicht über ihn, sondern über sich selbst
weinen. So setzte er ihnen zu (illas occidens),
indem er ihnen nämlich den Schrecken der künftigen
Übel voraussagte.
Und als er so
erschöpft am Kreuz Durst empfand, ging vom
Heidenvolk ein Quell des Glaubens aus. Er schämte
sich nicht, davon zu trinken und sagte auch, dass es
so vollbracht sei. Daher stieg er auch, als er
aushauchte, in die Hölle, d.h. zur Buhlerin hinab,
als seine Feinde ihn belagerten, da sie Wächter an
sein Grab stellten. Doch er erstand vom Tod und
gelangte mit den zwei Torflügeln — mit seinen
besonderen Erwählten und mit dem ganzen Volk, die er
aus der Hölle befreite — ins himmlische Reich. Aber
es fragte ihn die allerschönste Braut — nämlich die
Kirche, die so mit ihm vereint war — begierig (diligentissime),
wie sie seine Kraft erkennen könnte. Er aber
enthüllte ihr seine Kräfte nicht sofort auf einmal (repente),
sondern nach und nach, wie es ihm angemessen schien
(cum discretione). Wieso? Sobald die Gläubigen den
katholischen Glauben empfangen hatten, glaubten
manche von ihnen, dass sie, wie unter dem alten
Gesetz, so auch im neuen bis zur Vervollkommnung
wandeln müssten. Das war die Fessel aus frischen
Sehnen, welche jedoch noch nicht ganz ausgetrocknet
waren. Daher sprach die Kirche zu der noch
unerfahrenen großen Menge: ,Das ist die Kraft meines
Bräutigams.' Und das Volk, welches das hörte, wollte
Gott in plötzlicher Begeisterung, als es diese Worte
vernahm, nur verehren, aber nicht nach der Weisung
(in significatione) des Heiligen Geistes wandeln.
Doch so erkannte man seine Stärke nicht. Darauf
erhob sich in edler Art die Jungfräulichkeit wie
neue Stricke, die noch nie gebraucht wurden, da ja
auch die Jungfräulichkeit bisher nicht als rühmlich
galt. Diese Fessel berührte den Sohn Gottes zwar
stark, zeigte ihn aber dennoch nicht vollständig.
Die Kirche aber richtete sich empor und sprach: ,O
meine Freunde, das sind die stärksten Kräfte meines
Bräutigams!' Und mit großem Geschrei stürzte sich
eine Menge Volk plötzlich über ihn und rief: ,Wir
haben ihn in seiner größten Kraft überlistet!' Doch
auch so wurden seine Kräfte nicht sichtbar. Später
wurde die Kirche durch die sieben Gaben des Heiligen
Geistes — wie durch seine sieben Locken —
unerschütterlich. Diese wurden mit einem starken
Pflock als Stütze der apostolischen Verkünder
eingeschlagen. Als daher auf diese Weise das Netz
des Glaubens geknüpft war, rief die Kirche: ,O wie
stark ist mein Bräutigam mit seinen sieben Locken!'
Und alles Volk, das sie hörte, fiel über ihn her und
glaubte, er habe keine größeren Kräfte. Doch auch
diesmal verkannte man seine Kraft.
Von da an vergoss die
Kirche viele Tränen, weil sie die Stärke der
heiligen Dreifaltigkeit nicht kannte. Sie erklärte,
dass sie zwar die Menschheit des Gottessohnes
gesehen, doch seine Gottheit noch nicht vollständig
begriffen habe. Davon bewegt, offenbarte er durch
seinen geliebten Johannes zur Ehre des Vaters und in
der Glut des Heiligen Geistes die Geheimnisse der
heiligen Dreifaltigkeit, soweit es dem Menschen
gestattet ist, sie zu kennen. Und so bettet (reclinans)
er sein Haupt in den Schoß seiner Braut und ruht
darin bis zu den großen Spaltungen, die durch den
Sohn des Verderbens stattfinden werden. Dort nimmt
man ihm (abscidetur) durch das Abscheren seiner
Locken seine Kraft, da die Menschen jener Zeit mehr
danach trachten, dem Sohn des Verderbens als ihm zu
folgen und sagen: ,Was bedeutet das, o Gott, dass
wir so große und viele Wunder sehen?' Und so wird
seine Kraft geschwächt, als der wahre Glaube von der
Blindheit des Unglaubens verdunkelt zu werden
schien. Doch seine Kräfte werden wieder erwachen,
wenn Henoch und Elias erscheinen. Deswegen schlägt
er den Stolz und die Anmaßung tapfer nieder und
vernichtet den Sohn des Verderbens mit allen
teuflischen Listen und den übrigen Vergehen. Er wird
die teuflischen Laster noch viel härter zerschlagen,
sobald die Kirche unter dem christlichen Namen von
der gegenwärtigen vergänglichen Welt in die Ewigkeit
übergeht, als er es vorher tat, da der göttliche
Kult noch zeitweise in der Welt Ansehen genoss (vigeret).
Was bedeutet das? Wenn die Welt bereits zu Ende
geht, werden auch die teuflischen Verfolgungen und
das so starke Wirken der Tugendkräfte in den
Menschen zeitweise aufhören.
Wer aber scharfe
Ohren zum inneren Verständnis besitzt, lechze in
leidenschaftlicher Liebe zu meinem Abbild nach
diesen Worten und schreibe sie ins Gewissen seiner
Seele ein.
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