Ambrosius von Mailand (340-397)
Über die Jungfräulichkeit (De virginitae)
Cap.
I.
(S. c144)
Hochberühmt war bei den Alten jenes Urteil, welches
Salomo einst fällte, als er von zwei streitenden Weibern
angegangen wurde. Die Eine von diesen hatte Nachts im
Schlafe ihr Kind erstickt und forderte nun das Kind der
Anderen; diese aber, geleitet von dem Gefühle wahrer
Mutterliebe und frei vom Schuldbewußtsein, verteidigte
für sich mit vollem Rechte ihren eigenen Sohn. Da beide
auf ihren Behauptungen hartnäckig beharrten, wurde der
Richter unsicher und bedenklich; Salomo konnte ja nicht
über die Geheimnisse der Seele aburteilen und
verhüllter war nichts, als die eigentliche Überzeugung
der beiden Mütter. Mit Rücksicht auf die immerhin sehr
zweifelhafte Entscheidung ließ Salomo ein Schwert
bringen und befahl den Dienern, welche scheinbar der
traurigen Pflicht ihres Dienstes sich unterzogen, den
Knaben zu zerteilen, damit jede der klagenden Weiber
ihren Teil erhielte. Kaum war der Befehl erlassen, da
beruhigte sich Jene, die das fremde Kind verlangt hatte,
nicht bloß dabei, sondern heischte dringend ohne eine
Regung mütterlichen Gefühles die Ausführung des
Befehles. Die andere aber die ihr eigen Kind gar wohl
kannte, fürchtete jetzt nicht, in diesem Streite zu
unterliegen, — sie fürchtete (S. c145) nur, ihr Kind
zu verlieren. Daran denkend, sich selbst vergessend,
fing sie zu flehen an: man möge lieber das Kind
unversehrt der Fremden geben, als daß es zerteilt der
eigenen Mutter zufiele. Salomo aber fällte, nicht in
göttlicher Erleuchtung, sondern auf Grund der
menschlichen Wahrnehmung hinsichtlich der inneren
Regung, das Urtheil: jener sei der Knabe unversehrt zu
übergeben, welche der tiefe Schmerz als die wahre Mutter
kundgegeben; die Andere aber, welche kein Mitleid mit
dem, dem Tode geweihten Kinde gehabt, sei mit demselben
durch kein Band der Natur verbunden, weil sie baar sei
jeglichen Gefühles der Liebe.
Die
Wahrheit bleibt also nicht verborgen, sie bricht hervor
durch die Verstellung. So war es hier, wenn auch der
Mutter vor dem zweifelhaften Ausgange bangte, so lange
das Urteil in seiner Unsicherheit sie bedrohte. Das ist
aber zum Vorbilde geschehen in längstvergangenen Zeiten
und zu unserer Belehrung aufgezeichnet, damit wir
erkennen, daß Alles, was Lug und Trug, doch aufgedeckt
wird.
Jene beiden Frauen bedeuten nun den Glauben einerseits,
und andrerseits den Zweifel einer wankenden Seele. In
dem törichten Zweifel liegt der Ursprung jeglichen
Irrtums: in seiner fleischlichen Befangenheit verliert
er, geistig schlafend, die ganze Frucht der Zukunft, um
dann die geistigen Kinder einer ganz anderen Mutter sich
anzueignen. Während nun so der Zweifel streitet, strömt
der Glaube über, bis das Schwert Christi die innersten
Gesinnungen offenbar macht. Welches ist nun dieses
Schwert Christi? Jenes, von welchem geschrieben steht:
„Ich bin gekommen, das Schwert in die Welt zu bringen.“
Und wiederum jenes, von dem das Wort gesprochen wurde:
„Und auch deine Seele wird ein Schwert durchdringen.“
Was aber dieses Schwert ist und gilt, das sagen uns die
Worte des Apostels:[1]
„Lebendig ist das Wort Gottes und wirksam und schärfer,
als jedes zweischneidige Schwert, und dringet durch, (S.
c146) bis daß es Seele und Geist, auch Mark und Bein
scheidet und ist ein Richter der Gedanken und
Gesinnungen des Herzens.“[2]
Wir
wenden uns nunmehr zur Betrachtung einer Geschichte aus
der Zeit der Richter in Israel. Wir wollen Acht haben
auf die Erzählung von Jephte, der an seiner Tochter das
Opfer vollzog.
Cap.
II.
Jephte war ein Richter des Volkes Israel. Ungewiß über
den Ausgang des Krieges und das Schwanken des
Kriegsglückes fürchtend gelobte er dem Herrn ein
Gelübde: „wenn er die Feinde besiege, so wolle er Gott,
dem er dann seinen Triumph verdanke, zum Opfer
darbringen, was ihm zuerst auf der schwelle seines
Hauses entgegenkomme.“ Er kehrte siegreich, nachdem er
die Feinde zersprengt, in sein Haus zurück: die Erste
aber, welche dort ihm entgegentrat, eingedenk ihrer
kindlichen Pflicht, war seine Tochter, die von dem
Gelübde ihres Vaters Nichts ahnte. Dieser gedachte
sofort dessen, was er versprochen, und tiefbetrübt
seufzte er im Gedanken an die Erfüllung. „Ach, meine
Tochter!“ sprach er, „wie betrübest du mich; denn ich
habe meinen Mund aufgetan zu dem Herrn über dich!“ Sie
aber zögerte nicht, zu antworten: „Mein Vater, hast du
deinen Mund aufgetan zu dem Herrn, so tue an mir, was
du gelobet hast.“ Sie begehrte nur zwei Monate Ausstand,
damit sie hingebe auf die Berge und ihre Jungfrauschaft
beweine. Und als (S. c147) zwei Monate verflossen waren,
kehrte sie zurück zu ihrem Vater, und er tat an ihr, wie
er gelobt hatte. So muß man annehmen, obgleich die
Schrift den Ausgang nicht berichtet, weil sie es
vermeiden will, dieses Kindesopfers ausdrücklich zu
erwähnen.[3]
(S. c148)Wie nun? Billigen wir das? — Ganz gewiß nicht!
Während wir aber das Opfer des Kindes nicht billigen,
bemerken wir doch die Furcht und den Schrecken, das
Gelübde zu brechen. Aus gleichem Grunde hörte Abraham
das anerkennende Wort: „Jetzt weiß ich, daß du den Herrn
deinen Gott liebst, weil du deines eingebornen Sohnes
nicht geschont hast.“ Da haben wir ein Beispiel, an
welchem gezeigt wird, daß ein Gott gemachtes Versprechen
nicht leichtfertig darf mißachtet werden. Daß übrigens
Gott das Menschenopfer keineswegs wohlgefällig war, geht
aus derselben Erzählung deutlich hervor, weil an Stelle
des Sohnes ein Widder zum Opfertode bestimmt wurde.
Jephte hatte darnach ein Beispiel, dem er folgen konnte,
da der Herr am Blute des Menschenopfers niemals
Wohlgefallen tut. Denn in dem einen an Abraham
gerichteten Worte lag die Lehre, daß das Wohl des Kindes
den Pflichten gegen Gott nachstehe, daß jenes also Gott
hingegeben (S. c149) werden müsse, aber nicht dürfe zum
Opfer getödtet werden. Da nun hier die Tochter so sehr
besorgt war um des Vaters Versprechen, warum nahm er
keinen Anstand, das einzige Kund zu opfern? wenn jene
bei ihrem Vater um jeden Preis die Lüge verhindern
wollte, warum dachte er nicht daran, ihren Tod zu
hindern?
Es
könnte hier Jemand einwenden: Wenn Gott dort die
Opferung des Kindes nicht zuließ, warum duldet er sie
hier? Gilt denn bei Gott ein Ansehen der Person? Wir
antworten auf die letzte Frage: Gewiß nicht, vielmehr
lediglich ein Ansehen der Verdienste und Tugenden.
Während indessen der Rath unbestimmt war, mußte durch
göttlichen Ausspruch festgestellt werden, was im
Augenblick geschehen und was für die Zukunft als
Beispiel bleiben sollte. Wo ein Beispiel bereits
vorliegt, da ist das erklärende Wort ferner nicht
notwendig, weil die Art der vollbrachten Handlung offen
darlegt, was geschehen muß.
Dagegen gibt es wohl um deßwillen nicht bloß eine Art
der göttlichen Taten, weil eben auch das Verdienst nicht
ganz dasselbe ist. Hier ist der Vater von Schmerz
bewegt, es weint die Tochter: beide hegen Zweifel an der
göttlichen Erbarmung. Dagegen war Abraham nicht betrübt,
er fragte nicht nach den Gefühlen seines Vaterherzens.
Sobald er das göttliche Geheiß vernommen, zögerte er mit
dem Opfer nicht ferner, sondern beeilte sich, seinen
Gehorsam zu beweisen. Isaak zauderte nicht, seinem
Vater, der mit rascherem Schritte voranging, zu folgen;
er weinte nicht, als er gebunden wurde; er begehrte
keinen Aufschub, als das Opfer gebracht werden sollte.
Und gerade deßhalb erwies sich die Barmherzigkeit
ergiebiger, weil das Vertrauen hingebender war. Isaak
hatte Recht, daß er nicht weinte über das Beginnen des
Vaters: er war ja der Gegenstand freudigen Lachens bei
seiner Mutter gewesen. Sie hatte einst in heiligem Jubel
sich gefreut bei der Geburt des Knaben, und darum wurde
jetzt, wo er sich selbst nicht weigerte, das Opfer zu
sein, ein Widder an seine Stelle gesetzt: er zwei- (S.
c150) felte nicht an Gottes Erbarmen, er war unbesorgt
wegen seiner demütigen Unterwerfung. Hier war nun aber
bei Jephte Niemand, der den traurigen blutigen Entschluß
des Vaters hinderte, weil Jeder des Versprechens
Erfüllung heischte.
Cap.
III.
Das
blutige Opfer wird also dargebracht, und Niemand
widersetzt sich dem: das Opfer der Keuschheit soll
gebracht werden, aber da findet sich wohl Jemand, der es
hindert. Der Vater verspricht den Tod seiner Tochter und
löst das Versprechen; hier gelobt ein Vater die
Jungfräulichkeit der Tochter, aber die Ausführung einer
so frommen Hingabe stößt auf Widerspruch. Dort gibt die
trauernde Tochter ihr Blut hin wegen des Gelübdes ihres
Vaters; hier aber wird das Versprechen nicht durch
Entschluß der Erbin, nicht durch eigene
Willensentschiedenheit gelöst.
Man
richtet nun auch gegen mich Anklagen; weßhalb aber? Etwa
weil ich unrechtmäßige Ehen hindere? Aber dann mag man
auch Johannes den Täufer anklagen. Findet man sonst
Nichts in mir, was Anerkennung verlangen könnte, so mag
man immerhin das an mir verurteilen, was an jenem
Propheten ausdrücklich anerkannt ist. Oder berufe ich
mich vielleicht auf einen Zeugen, dessen ich mich
schämen müßte? Aber so erinnert euch doch nur, wo der
Grund für sein Martyrium lag! Es sind die Worte: „Nicht
erlaubt ist es dir, dieses Weib zu haben.“ Wenn das nun
von dem Weibe eines anderen Mannes galt, um wie viel
mehr gilt es von einer gottgeweihten Jungfrau! Wenn das
dem Könige gesagt wurde, um wie viel mehr muß es
einfachen Menschen gesagt werden! Dank sei aber Gott,
daß hier kein Herodes ist! Wollte Gott, es gäbe auch
keine Herodias! Ist es denn nicht mehr gestattet, zu
Gunsten der Jungfräulichkeit ein Wort zu reden? Und
warum ist denn geschrieben: „Schaffet Recht der Waise,
beschirmet die Wittwe?“ Und an einer anderen Stelle:
„Vater der Waisen und Rich- (S. c151) er der Wittwen ist
Gott?“[4]
Und wir sollten die, welche jungfräulicher Reinigkeit
sich ergeben, verlassen oder gar verurteilen?
Selbst bei den Heiden erschien die Jungfräulichkeit
zwischen Familie und Altar ehrwürdig. Während sonst bei
ihnen keine Achtung vor Verdiensten, keine Reinheit des
Herzens sich findet: so wird doch die äußerlich bewahrte
Jungfräulichkeit gerühmt. Von dem Heiligtum bei den
Heiden hält also Niemand die Jungfrauen zurück, und von
der Kirche Gottes soll die Jungfräulichkeit
fortgeschreckt werden? Dort werden die Jungfrauen
gezwungen zu einem Leben, das mit ihrer Lehre nicht
übereinstimmt; hier soll das untersagt sein, was wir
doch nicht unterlassen dürfen zu predigen? Dort zieht
man durch Belohnungen von der Vermählung ab: und hier
will man mit Beleidigungen zur Hochzeit zwingen! Dort
wird Gewalt gebraucht, um die Wahl zu ermöglichen;[5]
(S. c152) soll denn nun hier Gewalt angewendet werden,
um das heilige Gelübde zu verhindern? Und soll endlich
die Geduld der Priester jetzt soweit gehen, daß sie
trotz des dargebotenen Opfertodes das Opfer
jungfräulicher Reinigkeit, wenn es sein muß, nicht
verteidigen dürften?!
Erwäget doch nur, daß Jungfrauen früher noch als die
Apostel gewürdigt wurden, den Herrn nach seiner
Auferstehung zu schauen. Denn als der Leichnam unseres
Herrn Jesu Christi in einem neuen Grabmale beigesetzt
war, oder als — wie Matthäus berichtet — Joseph in
seinem Grabmale den Leib des Herrn beigesetzt hatte, da
bemerkten die Jungfrauen die Auferstehung. Matthäus
nennt das Grabmal ein neues, damit der Glaube nicht
Platz greifen könnte, als sei aus einem alten Grabe ein
Anderer auferstanden. Ebenso ist es bezeichnend, wenn
gesagt wird, er habe im Grabe eines Gerechten gelegen,
weil der Herr von den Toten in einer ungeahnten
Schönheit des Gerechten erstand. Auch das ist zu
beachten, daß das Grabmal dem Wortlaute nach ein fremdes
war, da der Herr ja sein eigen Grab nicht aufsuchen
konnte. Die mögen den Grab-Hügel behalten, welche noch
unter dem Gesetze des Todes sind: der Sieger über den
Tod hatte keinen ihm gehörenden Grabhügel: es konnte ja
der nicht das Grab des Todes erwählen, welcher dem Tode
die Siegestrophäen abnahm. Es sah also Maria den
auferstandenen Heiland; sie sah ihn vor Allen zuerst und
glaubte. Auch Maria Magdalena erblickte ihn, obgleich
sie im Glauben noch schwankte.
Cap.
IV
Hier ist es am Platze, auf eine nicht unwichtige Frage
aufmerksam zu machen, ob es wohl angeht, daß ihr
Jungfrauen an der Auferstehung des Herrn zweifelt.
Vergesset nicht, daß lediglich die Bewahrung der äußeren
Reinigkeit noch kein Verdienst einschließt, daß vielmehr
die innere Tugend hinzutreten muß. So sieht sich Maria
Magdalena (S. c153) gehindert, den Herrn zu berühren,
weil sie im Glauben an die Auferstehung einen Augenblick
geschwankt hatte. Die aber darf Christus berühren, die
ihn im Glauben erfaßt hat.
„Maria Magdalena stand außerhalb bei dem Grabe weinend.“[6]
Weil sie draußen war, weinte sie; wäre sie drinnen
gewesen, sie hätte nicht geweint. Sie weinte, weil sie
den Leib Christi nicht sah; sie glaubte, er sei
fortgenommen, weil ihre Augen ihn nicht erblickten.
Maria war draußen, nicht so Petrus und Johannes. Sie
waren eilends herbeigekommen und in das Grab
eingetreten; darum weinten sie nicht, kehrten vielmehr,
sich in seliger Freude beglückwünschend, zurück. Jene
aber war nicht hineingetreten; darum weinte sie und
glaubte nicht, in der Meinung, ihr Herr sei
hinterlistiger Weise fortgenommen: selbst als sie die
Engel erblickte, hielt sie zum Glauben sich noch nicht
verpflichtet. Darum sagen ihr diese: „Weib, was weinest
du, wen suchest du?“ So die Engel, und der Herr
wiederholt später dieselben Worte, um uns zu lehren, daß
die Worte der Engel den Willen Gottes verkünden.
„Weib, was weinest du? wen suchest du?“ fragt auch der
Herr. Sie, die nicht freudig geglaubt, ist in der That
ein Weib; denn der, welcher glaubt, ist nach den Worten
des Apostels[7]
erstanden „zur vollkommenen Mannheit, zum Maaße des
vollen Alters Christi.“ „Weib“ sagt der Herr, und der
Tadel, welcher in dem Worte liegt, trifft nicht das
Geschlecht, sondern den schwankenden Glauben. „Was
weinest du?“ das will sagen: in dir selbst liegt der
Grund und die Ursache deines Weinens, weil du Christus
nicht vollkommen glaubst. Du weinest, weil du Christus
nicht flehest; glaube und alsbald wirst du ihn schauen.
Er ist da und niemals ferne denjenigen, die ihn suchen.
„Was weinest du?“ das heißt: es bedarf der
Tränen
nicht, (S. c154) sondern eines bereitwilligen, deines
Gottes würdigen Glaubens. Denke nicht an das Sterbliche,
nicht an das, was vergänglich ist: und deine Tränen
werden versiegen. Warum weinest du also, da Andere sich
freudig beglückwünschen?
„Wen suchest du?“ lautet die fernere Frage. Das heißt:
Siehst du nicht, daß Christus gegenwärtig ist? Weißt du
nicht, daß er die Kraft, die Weisheit und Heiligkeit
Gottes selbst ist? Weißt du nicht, daß er die
unversehrte Reinheit ist, geboren aus der Jungfrau, daß
er immerdar aus, bei und in dem Vater ist, geboren,
nicht erschaffen, gleich dem Vater, ewig geliebt, wahrer
Gott vom wahren Gotte?
„Sie haben den Herrn weggetragen“ sagt Magdalena, „und
ich weiß nicht, wohin sie ihn gelegt haben.“ Ach, du
irrest, Weib, wenn du glaubst, Christus sei von Anderen
aus dem Grabe genommen und nicht in eigener Kraft daraus
erstanden. Wer vermöchte denn Solches über die Macht,
die Weisheit, die Heiligkeit Gottes? Nein, Christus wird
nicht aus dem Grabe des Gerechten genommen, aber auch
nicht aus dem Herzen seiner reinen, ihm ergebenen
Jungfrauen. Wollte man ihn auch hinwegnehmen, man würde
Nichts vermögen.
Dann sprach der Herr: „Maria, blicke auf zu mir!“
Solange sie nicht glaubt, nennt er sie Weib; da sie aber
beginnt, zu ihm sich zu wenden, nennt er sie Maria. Das
ist ja auch der Name jener Jungfrau, die ihn geboren,
wie auch der Name jeder Seele, welche den Herrn gläubig
aufnimmt. „Blicke auf zu mir!“ Wer auf Christus blickt,
dessen Leben wird gebessert; aber der bleibt im Irrthum,
der Christum nicht sieht.
Da
wandte sie sich, sah ihn an und rief: „Rabboni!“ das
heißt: Meister! Wer auf ihn blickt, der bekehrt sich;
wer sich belehrt, der schaut voller auf ihn; wer so ihn
anschaut, der macht wahre Fortschritte. Darum nennt sie
ihn Meister, den sie todt glaubte; sie redet den an, den
sie verloren wähnte.
(S.
c155)Jesus sprach zu ihr: „Rühre mich nicht an!“ Der
Sinn des Schwankenden im Glauben erfaßt Christus nicht.
Magdalena soll nicht berühren die Kraft, die Weisheit,
die unversehrte, himmlische Reinheit des Herrn.
„Gehe hin zu meinen Brüdern!“ Was ist das anders, als
ihr befehlen: Weine nicht ferner; gehe vielmehr hin zu
den auserwählten, treuesten Priestern! „Sage ihnen: Ich
gehe zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott
und zu eurem Gott!“ Was liegt in diesen Worten? Offenbar
dieses: Sinne hier nicht über dieses Geheimniß! Forsche
bei den Fortgeschritteneren; sie werden dir sagen, welch
ein Unterschied zwischen meinem und eurem Vater. Er, der
nach der Gottheit mir Vater ist, er ist euer Vater durch
die Annahme an Kindesstatt, die euch zu Teil geworden.
„Mein Vater“ sagt Christus und scheidet so als Sohn sich
von den Geschöpfen Gottes; „euer Vater“ aber deutet auf
die Gnade der Kindschaft Gottes. Gleichzeitig aber liegt
in den Worten „mein Gott“ ein Hinweis auf das Geheimniß
seiner Menschwerdung: er nennt ja den, welcher gemäß der
göttlichen Natur sein Vater ist, hier Gott mit Rücksicht
auf das Geheimniß seines menschlichen Leibes. Sagt er
aber „euer Gott“, so will er erinnern an den Erfolg
seiner Wirksamkeit in unseren Seelen.
Cap.
V.
In
der That: Gott ist unser Gott geworden, seitdem Christus
gelitten hat; seitdem sind auch die Jungfrauen bereit,
für die Tugend zu sterben. Kein Wort will ich über diese
Angelegenheit, kein Wort über Personen reden. Eins ist
sicher: wo die Gnade, da ist auch der Friede des Herrn.
Ich will auch Niemanden öffentlich beschuldigen: ich
will mich nur verteidigen. Ich bin ja angeklagt, und
irre ich nicht, so sind viele von euch unter meinen
Anklägern. Ich will aber lieber die Gesinnung derselben
zurückweisen, als Personen namhaft machen. Der Grund für
die Anklage liegt in dem Verbrechen, daß ich die
Keuschheit empfehle. (S. c156) Wer aber das nicht gerne
ertragen will, der verrät sich selbst.
„Du
lehrst“, sagt man, „die Jungfräulichkeit und überredest
gar Manche.“ Wollte Gott, ich würde dessen überführt und
es würden mir die Erfolge meines verbrecherischen
Wirkens gezeigt. Ich würde wahrhaftig keine Anfechtung
scheuen, wenn ich nur jene Erfolge erkannte. Ich würde
mich freuen, wenn ich durch Beispiele überführt und
nicht bloß mit Behauptungen totgemacht würde. Ich
fürchte indessen, es möge den Anschein gewinnen, als
hätte ich mir unredliche Anwälte geworben, welche mit
fremden Lobsprüchen für mich eintreten.
„Du
verbietest“, lautet die Anklage weiter, „daß die zu den
heiligen Geheimnissen zugelassenen und ewiger Keuschheit
geweihten Jungfrauen sich vermählen.“ Ach wollte Gott,
ich könnte auch die, welche dem Traualtare schon
zueilen, noch zurückrufen und sie zwingen, den
feuerfarbenen Hochzeitsschleier mit dem heiligen
Schleier der Jungfräulichkeit zu vertauschen! Oder
erscheint es denn in der Tat unwürdig, darauf zu
bestellen, daß gottgeweihte Jungfrauen von den heiligen
Altären nicht zum Traualtar geführt werden? Soll es
denen, welche ihren Gatten frei wählen können, nicht
auch erlaubt sein, Gott jedem Anderen vorzuziehen? So
ändert sich denn für mich die ganze Sachlage, da mir
nicht als Schmach erscheinen kann, was allezeit den Ruhm
des Priesters erhöht: Saatkörner nämlich unversehrter
Reinigkeit auszustreuen, das Streben nach
Jungfräulichkeit zu fördern.
Cap.
VI.
Ich
frage nun, ob mein Verhalten als verwerflich, oder als
neu, oder als unnütz unter Anklage gestellt wird? Ist
das Erstere der Fall, so sind die heiligen Gelübde
Aller, so ist auch das Leben der Engel verwerflich,
während doch dereinst nach der Auferstehung alle
glorreich Verklärten daran teilnehmen. „Denn dann
werden sie weder heiraten, noch verheiratet werden,
sondern sie werden sein, wie die (S. c157) Engel Gottes
im Himmel.“[8]
Wer nun das verwirft, der verurteilt auch das Sehnen
nach der Auferstehung. Das kann also nicht verwerflich
sein, was den Menschen als Belohnung in Aussicht
gestellt ist, und der Widerschein kann doch nicht
mißfallen, wenn die Wirklichkeit als Lohn dargeboten
wird und als Gegenstand der Sehnsucht in uns lebt.
„Es
sei denn!“ — lautet die Gegenrede — „wenn es nicht
verwerflich ist, so ist es jedenfalls eine Neuerung.“
Wir verurteilen sicher mit vollem Rechte alles Neue,
was Christus uns nicht gelehrt hat: denn Er allein ist
der Weg für die Gläubigen. Hat nun Christus nicht das
gelehrt, was wir jetzt lehren, so müßen wir selber
dieses verabscheuungswürdig nennen. Aber sehen wir doch
nur zu, ob der Herr die Jungfräulichkeit gelehrt, oder
ob er geglaubt hat, man dürfe sie schmähen! „Es gibt
Verschnittene,“ sagt er, „die sich selbst verschnitten
haben um des Himmelreiches willen.“ Das ist aber ein
erhabener Dienst, der um das Himmelreich dient. Schon
mit diesen Worten hat also Christus gelehrt, daß
ungeschwächt andauern müsse das Streben nach
Keuschheit.
Die
Apostel aber erkannten ihrerseits, daß jenes Streben
jedem andern voranstehe. „Wenn die Sache des Mannes mit
seinem Weibe sich so verhält, so ist nicht gut heiraten.“
Es erschienen ihnen also einerseits die Lasten des
ehelichen Lebens gar schwer, und andererseits erhoben
sie den Glanz der Jungfräulichkeit. Da aber der Herr
wußte, daß diese zwar allgemein dürfe angepriesen
werden, daß aber nur Wenige dem Rufe folgen würden, so
erklärte er: „Nicht Alle fassen dieses Wort, sondern nur
diejenigen, denen es gegeben ist;“ das heißt: es handelt
sich hier nicht um eine Tugend, die von der größeren
Mehrzahl erstrebt wird; auch ist ihre Übung keineswegs
mit Rücksicht auf die menschliche Schwäche bloß
gestattet, sondern lediglich mit Rücksicht auf hohe
Tugend vorgehalten. Gerade deßhalb und um zu zeigen, daß
es sich hier nicht um eine gewöhn- (S. c158) liche
Tugend handle, fügt der Herr hinzu: „Wer es fassen kann,
der fasse es.“
Deßhalb geschah es auch, daß nach jenen Worten Kindlein
zu dem Herrn gebracht wurden, daß er sie segne, welche,
noch unkundig der Verderbtheit, den Schmuck der
Reinigkeit in ihrem unschuldigen Alter bewahrten. Denn
Solcher ist das Himmelreich, die wieder keusch geworden
sind, wie die Kinder, unkundig des Lasters. So ist denn
die Jungfräulichkeit auch durch das göttliche Wort
anerkannt und es entspricht den Geboten des Herrn, diese
Tugend zu erstreben.
Hier wollen wir das Beispiel unseres göttlichen Lehrers
nachahmen. Nachdem er vorher daran erinnert hat, daß das
Eheband nicht dürfe gelöset werden, „es sei denn um des
Ehebruchs willen,“ enthüllt er die Schönheit des
Gnadengeschenkes der Jungfräulichkeit. So lehrt er, daß
die Ehe nicht zu verwerfen, sondern zu billigen ist;
aber gleichzeitig, daß der Ehe das Streben nach
jungfräulicher Keuschheit vorzuziehen. — Und wer hat
sich denn so weit von der Wahrheit verirrt, daß er die
Ehe verdamme? Aber wer ist denn auch so sehr allen
vernünftigen Denkens baar, daß er die Lasten der Ehe
nicht erkannte? „Denn ein unverheiratetes Weib und eine
Jungfrau ist auf das bedacht, was des Herrn ist, damit
sie an Leib und Geist heilig sei. Die Verheiratete aber
ist auf das bedacht, was der Welt ist, wie sie dem Manne
gefallen möge.“[9]
Obgleich nun diejenige, welche sich vermählt, nicht
fehlt, es sei denn durch die Übernahme jener
Beschwerden, so wird sie gleichwohl eben um der
letzteren willen kaum ohne ein Reuegefühl bleiben. Sind
ja doch gar schwer die Nöten der Geburt, schwer auch
die Sorgen für körperliche und geistige Erziehung der
Kinder. Den Vermählten ist deßhalb auch vorher der
Befehl geworden, daß sie durch solche Beschwerden sich
nicht dürfen ihren Pflichten abwendig machen lassen.
Manche Frau mag ja in den Wehen sich entschlossen (S.
c159) haben, der Ehe zu entsagen: andere, welche die
Beschwerden des Ehestandes nicht selbst erfahren haben,
lassen durch fremde Erfahrung sich abschrecken. Gerade
deßhalb sagt der Apostel: „Bist du gebunden, so suche
nicht frei zu werden.“ „Bist du gebunden“, sagt er; denn
die Gatten sind durch das Band der Liebe gebunden, und
die Erweise gegenseitiger Zuneigung umschlingen ihre
Herzen immer fester.
Schön mögen also immerhin die Bande der Ehe sein, aber
es sind immer Bande, die an das Joch der Welt fesseln,
weil die Gattin mehr dem Manne als Gott zu gefallen
wünscht und strebt. Süß mögen auch die Wunden sein, die
die Liebe schlägt, und vorzuziehen jenen Küssen, von
welchen die Schrift sagt:[10]
„Besser sind die Wunden des Liebenden, als die listigen
Küsse des Hasses.“ So verwundete Petrus, während Judas
den Kuß darbot; diesen verdammt sein falscher Kuß; jenen
bessert die Wunde, die er geschlagen. Dem Kusse des
Judas entströmt das Gift des Verrathes, die Schuld Petri
wird durch Tränen getilgt. In Übereinstimmung mit den
Worten des Propheten singt deßhalb die Kirche: „Ich bin
krank, verwundet vor Liebe.“[11]
So soll Keiner von denen, welche den Ehestand erwählt
haben, die Jungfräulichkeit schmähen: aber ebensowenig
sollen die, welche jungfräulicher Keuschheit sich
geweiht haben, die Ehe verurteilen. Längst ja hat die
Kirche Jene als falsche Lehrer verdammt, welche das
eheliche Band zu lösen wagen. Unsere heilige Kirche
bezieht jenes Wort[12]
auf sich: „Komme, mein Geliebter, lass’ uns hinausgehen
aufs Feld, lass’ uns weilen in den Dörfern! Früh morgens
wollen wir in die Weinberge gehen, daß wir sehen, ob der
Weinstock blühe, ob die Fruchtblüten sich aufgetan.“
Der Acker ist der schönste, der Früchte und Blüten
gleichzeitig in reichster Fülle trägt: das aber ist die
Kirche in dem Reichtum ihrer Früchte. Hier erblickt man
die duftende Blüte der (S. c160) Jungfräulichkeit, den
reifen Ernst der Wittwen, die Frucht gesegneter
christlicher Ehen: Alles, um die Ernte des Herrn zu
einer glorreichen zu machen.
Cap.
VII.
Weder verwerflich, noch neu erscheint also das Streben
nach jungfräulicher Reinheit. Wir wollen sehen, ob es
etwa mit Recht unnütz genannt werden darf. Wir wissen,
daß Einige gemeint haben: die Welt, das menschliche
Geschlecht ginge zu Grunde, die Ehen selbst würden auf
die Dauer in Frage gestellt. Aber wer hat denn bis zur
Stunde je eine Gattin gesucht, ohne eine zu finden? Wann
hat man um Jungfrauen Kriege begonnen? Wo ist jemals um
einer Jungfrau willen, auf die Mehrere Anspruch erhoben,
Jemand getötet worden? Die Ehen haben das wohl zur
Folge, daß der Ehebrecher mit der Gattin getötet, daß
der Räuber der Gattin durch Krieg verfolgt wird.[13]
Das ist allezeit zum Nachtheile des Landes
ausgeschlagen. Um einer gottgeweihten Jungfrau willen
ist noch Niemand verurteilt. Die Keuschheit wird ja
nicht durch Androhung einer Strafe erhalten; nein, die
Religion vermehrt, der Glaube beschützt sie.
(S.
c161)Sollte nun Jemand meinen, durch die heiligen
Gelübde der Keuschheit würde das menschliche Geschlecht
an Zahl geringer, so möge er bedenken, daß da, wo wenige
Jungfrauen, auch weniger Menschen sind; daß aber, wo die
Jungfräulichkeit in Blüte steht, auch die Menschenzahl
größer ist. Beachtet doch nur, wie viele Jungfrauen die
Kirche zu Alexandrien, die morgenländische Kirche
überhaupt und die afrikanische Kirche Gott alljährlich
weihet. Hier werden weniger Menschen geboren, als dort
Jungfrauen den Schleier nehmen. Der ganze Erdkreis kann
also tatsächlich Zeugnis ablegen, daß die
Jungfräulichkeit nicht unnütz ist; das gilt um so mehr,
als ja durch eine Jungfrau der Welt das Heil gekommen
ist, welches Schätze beseligender Früchte einschließt.
Will man gleichwohl Verbote erlassen, so möge man auch
verbieten, daß die Gattin in standesmäßiger
Enthaltsamkeit lebe; vielleicht könnte ja die Ehe dann
zahlreicher mit Nachkommenschaft gesegnet werden. Man
sollte unter jener Voraussetzung sogar verlangen, daß
eine Frau während längerer Abwesenheit ihres Gatten
diesem die Treue nicht bewahre, damit nicht diese Zeit
vorübergehe, ohne daß sie einem Kinde das Leben gibt.
Den
Jünglingen soll es nach der Meinung der Ankläger
schwerer werden, zur Ehe zu gelangen! Und wenn es ihnen
nun bequemer gemacht wird, wie dann? Es lohnt hier doch
der Mühe, mit denjenigen ein Wort zu reden, welche für
das Verbot der Jungfräulichkeit eintreten. Wir dürfen
also untersuchen, wer diese sind: ob sie bereits
vermählt sind oder nicht. Ist Ersteres der Fall, so
haben sie keinen Grund für ihre Furcht. Sind sie nicht
vermählt, so sollen sie sich doch nicht selbst die
Schmach antun, daß sie gerade die Vermählung mit Jener
anstreben, die ihnen hierin nicht zu willfahren gedenkt.
Vielleicht sind es auch Väter, welche um die Verbindung
der eigenen Töchter sorgen, aber sich darüber grämen,
daß Jungfrauen Gott geweihet werden? Diese haben aber
erst recht keinen Grund, zu fürchten, wenn sie guten
Rath annehmen wollen; unter einer geringen An- (S. c162)
zahl von Jungfrauen werden ja ihre eigenen Töchter um so
leichter gewählt werden.
Gar
Manche sagen auch, die Jungfrauen dürften erst in
reiferem Alter den heiligen Schleier nehmen. Ich will
nicht in Abrede stellen, daß es großer Vorsicht Seitens
des Priesters bedarf, damit nicht leichtfertiger Weise
eine Jungfrau zu den Gelübden zugelassen werde. Es soll
also der Priester gar sehr auf das Alter sehen, aber auf
Alter und Reife im Glauben und in der Tugend. Er soll
prüfen die Reife der Schamhaftigkeit, die Gewohnheit
heiligen Ernstes, die erprobte Treue der Sitten, die
echte Gesinnung der Keuschheit: dann soll er endlich
fragen, ob die Hut der Mutter treu, ob der Verkehr der
Gespielen lauter gewesen. Ist all’ dieses in guter
Ordnung, so fehlt der Jungfrau auch nicht die Reife des
Alters; ist es mangelhaft, so möge die Aufnahme
verzögert werden, da es sich hier um eine Unreifheit
mehr in den Sitten als im Alter handelt.
Es
wird also keineswegs das blühendere Alter einfach
zurückgewiesen: es wird vielmehr das Innere geprüft. Die
heilige Thekla hat sich wahrlich nicht durch Alter, wohl
aber Durch Tugend bewährt erwiesen. Was sollen wir hier
noch weiter anführen, da jedes Alter Gott wohlgefällig
und vollkommen vor Christus ist? Wir können doch
wahrlich nicht die Tugend schlechthin eine Zugabe des
Alters nennen: vielmehr ist umgekehrt das Alter ein
Zuwachs der Tugend. Darf man sich ferner über die in
früher Jugend abgelegten Gelübde wundern, wenn man von
den Martern zarter Kinder lieset? Es ist ja geschrieben:
„Aus dem Munde der Unmündigen und Säuglinge hast du dir
Lob bereitet.“ Zweifeln wir etwa, daß die Jugend dem in
treuer Bewahrung der Keuschheit nachfolgt, den die
Kindheit treu bis zum Tode in den Marterqualen bekennt?
Und scheint es uns in der Tat unglaublich, daß zarte
Jungfrauen Christo nachfolgen zur Herrlichkeit, da doch
Knaben ihm in die Wüsten folgten? Oder lesen wir nicht,
daß bei der wunderbaren Brodvermehrung viertausend
Menschen von fünf Broden gespeiset wurden, „ungerechnet
die Knaben und Frauen?“
(S.
c163)So verwehre denn Niemand den Kindern den Zutritt zu
Christus, da sie selbst für seinen Namen den Martertod
bestanden: „Solcher ist das Himmelreich.“ Der Herr ruft
sie und du willst ihnen wehren? Gerade von ihnen gilt
das Wort: „Lasset diese zu mir kommen!“ So verscheuchet
denn auch nicht die Jungfrauen vom Heiligthume. Von
ihnen steht geschrieben: „Darum lieben dich die
Mägdlein,“ und sie haben dich geführt in das Haus ihrer
Mutter. Scheidet doch nicht die Jugend von der Liebe
Christi, den ja einst das Kindlein schon im Schooße
seiner Mutter in prophetischer Begeisterung bekannte.
Cap.
VIII.
Gleich bei der Gründung der Kirche suchten ganze
Schaaren den Herrn auf. Warum? Weil er die Hand den
Kranken auflegte und sie heilte. Da ward nicht erst eine
bestimmte Zeit zur Heilung abgewartet, nicht erst ein
bestimmter Platz aufgesucht. Denn an allen Orten und zu
allen Zeiten fehlt es nicht an Heilmitteln. Im einsamen
Hause wird Maria vom Engel gegrüßt, im Hause Davids zur
Prophetin gesalbt. Überall aber heilt Jesus: auf der
Wanderung, im Hause, in der Wüste. Auf der Wanderung
ward jenes Weib geheilt, die den Saum seines Gewandes
berührte; im Hause ward die Tochter des
Synagogenvorstehers auferweckt: in der Wüste ward die
ganze große Schaar erquickt. Wir lesen gleichfalls:[14]
„Als aber die Sonne untergegangen war, brachten Alle,
welche Kranke von verschiedenen Gebrechen hatten,
dieselben zu ihm: und er legte einem Jeden die Hände auf
und machte sie gesund.“ Er machte also gesund in der
Wüste und nach Untergang der Sonne und indem er die
Hände auflegte, um sich so als Gott und Mensch zu
offenbaren. Nicht mit Unrecht also suchten ihn die
Schaaren nach Anbruch des Tages.
(S.
c164) Wir beachten die innegehaltene Ordnung. Beim
Untergange der Sonne werden Kranke zu Christus gebracht:
nach Anbruch des Tages suchen ihn die Schaaren auf. Wann
wird denn auch Christus gesucht, wenn nicht bei Tage?
Denn wer im Lichte wandelt, der scheidet nicht von
Christus. Deßbalb ist auch die Nacht noch erfüllt mit
dem Jammer der Kranken; der Tag aber sieht alsbald den
Glauben des Volkes, den Jubel der Geheilten, damit
erfüllet werde, was geschrieben steht[15]:
„Am Abend kehret Weinen ein, und am Morgen Freude.“ Und
wo gibt es eine größere Gnadenerweisung an die Schaaren
des Volkes, als diese, daß sie auch in die Wüste dem
Herrn folgen dürfen?
Gleichzeitig lehrt er uns, daß dem Vollkommenen
Überhebung nicht nahen dürfe; nicht der Menge der
Kranken, die er heilen soll, weicht er aus, sondern nur
dem Stolze auf die vollbrachten Werke. Wollen wir
demnach selig werden, wollen wir der vollen Genesung
unseres Geistes würdig werden, so muß alle Üppigkeit,
alle Leichtfertigkeit ferne bleiben von uns. Auf dem
dürren, rauhen Wege dieses Lebens müssen wir
bereitwillig Christus folgen, der alle Freuden der
Sinnlichkeit flieht.
Folgen wir ihm durch den Glanz des Tages! Es ist der
Tag, der in seiner Kirche hell leuchtet, jener Tag, den
Abraham sah mit hoher Freude. Folgen wir Christo durch
den Glanz des Tages; im Dunkel der Nacht findet man ihn
nicht. „Auf meinem Bettlein in den Nächten suchte ich
ihn, den meine Seele liebet: ich suchte ihn, aber ich
fand ihn nicht; ich rief ihn, aber er hörte mich nicht.“[16]
Auch in der Unruhe des Lebens, auf den Wegen des
öffentlichen Treibens wird Christus nicht gefunden.
Daher die Klage: „Ich will aufstehen und herumgehen in
der Stadt, in den Gassen und Straßen suchen ihn, den
meine Seele liebt; ich suchte ihn, aber ich fand ihn
nicht.“ Wir dürfen also den Herrn da nicht suchen, wo
wir ihn nicht (S. c165) finden können. Was hat denn
Christus mit dem Treiben des Forums gemein? Er ist der
Friede und auf dem Forum herrscht der Streit: er ist die
Gerechtigkeit, hier ist Ungerechtigkeit; er ist allezeit
tätig, hier herrscht eitler Müssiggang; er ist lauter
Liebe, und wie viel Schmähsucht verletzt auf dem Forum
die Gesetze der Liebe! Hier stehen Götzen, denen die
Menschen ihr Opfer bringen; Christus aber wohnt in
seiner heiligen Kirche. An einem anderen Orte wendeten
wir uns bereits an eine Wittwe mit tadelnden Worten,
aber sie mußte erkennen, daß es uns nicht darum zu tun
war, sie zu schmähen, sondern bloß zu mahnen. So möge
sie auch jetzt mich nicht als einen harten Menschen
beurteilen, sondern nur als sehr besorgt um sie: ich
begehre Zulassung, um ihr die volle Aussöhnung zu
bieten: denn in der Kirche wird die Wittwe zur
Gerechtigkeit geführt, im Gewirre des öffentlichen
Lebens wird sie betrogen. So meiden wir denn das Treiben
des Forums und der Straße!
Dann aber sage zu der Weisheit: „Du bist meine
Schwester,“ und nenne die Klugheit „deine Freundin,
damit sie dich bewahre vor dem fremden und buhlerischen
Weibe… Sie schaut aus dem Fenster ihres Hauses nieder
auf die Straßen.“[17]
Fliehen wir also die öffentlichen Straßen. Es schließt
nicht bloß eine Kränkung ein, den nicht gefunden zu
haben, welchen man suchte; nein es bleibt auch nicht
ohne eigentlichen Nachtheil, da wo man es nicht durfte,
mehr aus Vorwitz als in rechter Gesinnung gesucht zu
haben: in den Häusern von Männern nämlich, die sich zu
Unrecht den Namen von Lehrern beilegen.
Hüten wir uns, daß nicht die Kirche jene Worte[18]
auf sich um unseretwillen beziehen müsse: „Da fanden
mich die Wächter, die in der Stadt umhergehen; die
schlugen mich und verwundeten mich; die Wächter der
Mauern nahmen mir meinen Mantel.“ Wir wiederholen es:
nicht in sich (S. c167) selbst, nein in uns ist die
Kirche verwundet. So hüten wir uns denn, daß wir nicht
durch unseren Fall die Kirche verwunden; hüten wir uns,
daß Jemand „uns den Mantel nehme“, das heißt den Schmuck
der Weisheit und Geduld, welcher die weichlichere
Umhüllung ausschließt. Denn „die mit weichen Kleidern
angethan sind, die weilen in den Häusern der Könige.“
Uns aber hat Christus den Mantel verliehen, in den er
auch seine Apostel und seinen eigenen heiligen Leib
hüllte. Befiehlt er nun, demjenigen, welcher den Rock
erbitte, auch noch den Mantel zu geben, so heißt das
nichts anderes, als: wir sollen das Gewand unserer
Weisheit ihm geben und den, welcher vorher nackt und
bloß war, damit bekleiden.
Cap.
IX.
So
suchen wir denn Christus dort, wo ihn die Kirche sucht,
auf jenen Höhen, um deren Gipfel der himmlische Duft
erhabenster Tugendwerke sich weht. Er meidet die
Straßen, er entzieht sich dem geräuschvollen Treiben des
Marktes, nach jenen Worten: „Flieh’, mein Geliebter, und
werde gleich einem Rehe, gleich jungen Hirschen auf den
Gewürzbergen!“[19]
Verhaßt all’ denen, welche, wie niedriges Gewürm,
immerdar am Boden haften, wohnt der Herr nur bei
erhabener Tugend; er weilt nur bei solchen Töchtern der
Kirche, welche von sich sagen können:[20]
„Wir sind Gott ein Wohlgeruch Christi unter denen, die
gerettet werden, und unter denen, die zu Grunde gehen:
den Einen nämlich ein Geruch des Todes zum Tode, den
Andern ein Geruch des Lebens zum Leben,“ solchen
nämlich, welche mit lebendigem Glauben den
Auferstandenen umfassen.
(S.
c167)Diejenigen also haben die Höhe des Glaubens in
mutigem Tugendlaufe erstiegen, welche glauben, daß
Jesus gestorben und begraben ist, die im Geiste seinen
heiligen Leib zu dem Felsengrabe geleitet und mit
Spezereien gesalbt haben; die aber auch wissen, daß der
Herr glorreich auferstanden ist. Wo aber ist Christus
hiernach sicherer zu finden, als in dem Geiste weiser
Priester?!
Der
Herr selbst deutet uns an, wo er zu finden ist. „Ich bin
eine Blume des Feldes und eine Lilie in den Tälern, ja
wie eine Lilie mitten unter den Dörnern.“[21]
Siehe da, wo er weilt: „Eine Blume des Feldes“ nennt er
sich, weil er die offene Einfalt reiner Herzen liebt und
aufsucht; „eine Lilie in den Tälern“, weil er die
höchste Blüthe heiliger Demut ist. „Wie eine Lilie
unter den Dörnern erscheint er: oder erwächst er nicht
unter den geistigen Beschwerden dieses Lebens, unter den
Reueschmerzen der Seele als göttliche Blume voll
himmlischen Duftes? Darum ruht auch das Auge Gottes
versöhnt auf solchen Herzen, die in Reue vor ihm sich
beugen.
Das
ist die Wüste, meine Töchter! welche zum Himmelreiche
führt; das ist auch jene Wüste, welche im
Lilienblütenschmuck erglänzt nach den Worten des
Propheten[22]:
„Da freuet sich die öde, ungebahnte Wüste, da frohlocket
die Einöde und blühet wie eine Lilie.“ In dieser Wüste
erhebt sich der gute Baum, welcher gute Früchte trägt:
er beginnt seine Zweige weithin auszudehnen, seine
Wipfel aber reichen zum Himmel, zum Schooße der Gottheit
hinauf. Möchte doch auch den Baum unseres Lebens ein
befruchtender Strahl der Gottheit treffen, so daß das
Wort paßte:[23]
„Wie ein Apfelbaum unter den Bäumen des Waldes, so ist
mein Geliebter unter den Söhnen.“ Dann würde die Kirche
sich freuen und jubelnd ausrufen: „Unter seinem
Schatten, wonach ich verlangt habe, sitze ich, und seine
Früchte sind süß meinem Gaumen.“
(S.
c168)Ja, die Kirche würde in unserem Anblicke und
erfreut über die Frucht unseres Glaubens, die schon
gezeitigt ist, ausrufen: „Er führet mich in die Keller,
gefüllt mit Wein, und ordnet in mir die Liebe.“ Die
Liebe kann ja nicht ohne den Glauben bestehen: die
Kirche aber hat als dreifache Bürgschaft für ihre
göttliche Stiftung: Glauben, Hoffnung, Liebe. Ist die
Hoffnung lebendig geworden, ist der Glaube fest
gegründet, dann wird auch die Liebe eingesenkt, und ihr
Band umschlingt dann die Kirche.
Cap.
X.
So
habt ihr denn erkannt, wo Christus gesucht wird; suchet
nun auch zu erkennen, wie man verdient, daß Christus uns
sucht. Rufe den heiligen Geist an mit jenen Worten des
hohen Liedes:[24]
„Hebe dich, Nordwind, und komme, Südwind! Durchwehe
meinen Garten, so werden feine Gewürze fließen. Mein
Geliebter komme in seinen Garten und esse die Früchte
seiner Äpfel.“ Der Garten des ewigen Wortes ist die in
frommer Gesinnung erblühende Seele: die Werke ihrer
Tugend sind die Früchte.
Er
kommt also, und du magst essen oder trinken, wenn du
Christus rufest, so ist er da und spricht zu dir:
„Kommet, esset mein Brod und trinket den Wein, den ich
euch gemischt habe.“[25]
Auch wenn du schläfst, steht er pochend an deiner Thüre.
Ja er kommt oft, aber nicht immer, auch nicht zu Allen,
sondern nur zu jener Seele, welche sagen kann: „Abgelegt
zur Nachtzeit habe ich mein, Gewand.“[26]
Hinsinken muß erst in der Nacht dieses Lebens die Hülle
des sterblichen Leibes, wie auch der Herr seines
irdischen Fleisches sich entäußerte, um für dich über
die Mächte und Gewalten dieser Welt zu triumphieren.
„Wie soll ich aber das Gewand wieder anziehen?“ spricht
die Gott geweihete Seele ferner. So vollständig entwöhnt
(S. c169) sie sich der fleischlichen Handlungen, so
vollständig entäußert sie sich irdischer Gesinnung, daß
sie gar nicht weiß, wie sie jene — auch wenn sie wollte
— von Neuem annehmen könnte. Die Gewöhnung im Guten hebt
die alt und lieb gewordene böse Gewohnheit auf.
„Ich habe meine Füße gewaschen, wie soll ich sie wieder
besudeln?“ Das Evangelium belehrt uns, daß das Waschen
der Füße das Geheimniß des Glaubens bedeutet und das
Zeichen wahrer Demut ist, nach jenen Worten des Herrn:[27]
„Wenn nun ich, euer Herr und Meister, euch die Füße
wasche, um wie viel mehr müsset dann ihr der Eine des
Andern Füße waschen.“ Dieses Wort mahnt zur Demut.
Hinsichtlich des Geheimnisses aber muß daran erinnert
werden, was der Herr zu Petrus sagt: „Wenn ich dir die
Füße nicht wasche, so wirst du keinen Teil an mir
haben.“ Ward das dem Petrus gesagt, was wird dann uns
gelten?
Wer
aber die Füße gewaschen hat, der bedarf nach dem
Ausspruche des Herrn nichts weiter; aber darum soll er
sich auch hüten, sie wieder zu besudeln. Die Kirche sagt
mit Recht: „Ich habe meine Füße gewaschen,“ aber sie
setzt nicht hinzu: Wie werde ich sie nochmals waschen?
sondern: „Wie soll ich sie wieder besudeln?“ So ganz hat
sie vergessen der alten Makel und Schmach. So zeigt uns
der Herr durch äußere Handlung, wie wir die geistigen
Spuren unserer Handlungen abwaschen sollen. Hast du
einmal deine Füße mit dem lebendigen Quellwasser aus
Himmels Höhen gewaschen und im Geheimniß des Sakramentes
dich gereinigt: ach! dann hüte dich aber auch, daß nicht
von Neuem der Schmutz fleischlicher Begierden und
sündhafter Handlungen dich besudle.
Das
sind aber jene Füße, die David im Geiste gewaschen, wenn
er uns lehrt, wie wir vermeiden, sie wieder zu
beflecken: „Es stehen unsere Füße in deinen Vorhöfen,
(S. c170) Jerusalem!“[28]
Da denkt er nicht an leibliche, sondern an geistige
Füße. Denn wie könnte ein sterblicher, irdischer Mensch
seine leiblichen Füße setzen in die Räume des Himmels?
Jerusalem ist aber nach dem Zeugnisse des Apostels der
Himmel: er sagt ja nicht minder: „Unser Wandel ist im
Himmel!“[29]
der Wandel in gläubiger frommer Sitte.
Cap.
XI.
Wer
nun so lebt, der darf sagen: „Mein Geliebter streckte
seine Hand durch die Oeffnung, und ich erzitterte, da
ich sie berührte. Ich stand auf, meinem Geliebten zu
öffnen.“[30]
Es ist recht, daß wir bei der Ankunft des Herrn in
tiefster Seele erschüttert werden. Wenn schon Maria bei
der Ankunft des Engels erschrack, um wie viel mehr
müssen wir bewegt werden bei der Ankunft Christi! Wenn
göttliches Leben einströmt in unsere Seele, dann weicht
die irdische Gesinnung, und die alten Gewohnheiten des
äußerlichen Menschen schwinden. Darum eile mit tiefer
Bewegung ihm entgegen. Siehe, Christus weilt an der
Pforte, er klopft an der Thüre deines Hauses: wenn du
ihm öffnest, so tritt er ein, er mit seinem himmlischen
Vater.
Christus, unser Heiland, spendet aber seine Segnungen
nicht bloß, nachdem er in die Seele eingetreten ist;
nein, schon vorher lenkt er seine Gnadenströmungen in
die Seele, die ihm entgegenkommen will. Noch erzittert
die Seele unter der Berührung seiner göttlichen Hand;
kaum hat sie das Thor ihres Herzens für Christus
geöffnet, da sinken schon die Bande, die Fleisch und
Blut aus Sinnlichkeit geflochten: „Ich stand auf,“ kann
sie sagen mit der Braut des hohen liedes, „meinem
Geliebten aufzumachen: meine Hände triefen von Myrrhen,
und meine Finger waren voll der köstlichsten Myrrhen.“
So trug Nikodemus, jener Lehrer in Israel, der zuerst
von dem Geheimnisse der Taufe hören durfte, (S. c171)
Myrrhe und Aloe zum Grabe des Herrn, um seinen heiligen
Leichnam damit zu salben. Ist nun beides nicht Sinnbild
des himmlischen Geruches vollkommenen Glaubens?
So
steigt der Duft der Seele empor, welche Christo zu
öffnen beginnt; die treu und fest glaubt, daß sein
heiliger Leib die Verwesung nicht geschaut hat, daß er
vielmehr als eine duftende, ewig grünende Himmelsblüthe
glorreich die Hülle des Grabes durchbrochen hat. Wie
kann es anders sein? Ist doch sein Name wie ausgegossen
Oel! Daß es für uns dufte, darum hat er sich bis zur
Menschwerdung vernichtet.
So
lange das ewige Wort beim Vater weilte, erfreute es in
Himmelsduft nur die Engel und Erzengel. Der Vater aber
öffnete seinen Mund und sprach:[31]
„Siehe, ich mache dich zum Lichte der Heiden, daß du
mein Heil bis an der Erde Gränzen bringest.“ Da stieg
der Sohn hernieder, und Alles strömte über von dem nie
geahnten Wohlgeruche des Wortes. Es entquoll dem Herzen
des Vaters das Wort, das herabkam, und der heilige Geist
hauchte in alle Herzen die Liebe. „Denn ausgegossen,“
sagt der Apostel, „ist die Liebe Gottes in unseren
Herzen durch den heiligen Geist.“
Er
verschloß seine Himmelslehre, wie der Duft
eingeschlossen bleibt im Gefäße, bis seine Stunde
gekommen nach den Worten des Propheten:[32]
„Der Herr gab mir eine beredte Zunge, daß ich zu reden
wüßte, wann die Zeit gekommen.“ Es kam die Stunde, er
that auf seinen Mund, und wie kostbares Oel waren seine
Worte.Ausgegossen ward das Oel über die Juden, aber
aufgesammelt von den Völkern; ausgegossen in Judäa
streut es seinen Wohlgeruch durch alle Lande. Es hat die
Wasser der Gnade berührt und geheiligt: es strömt fort
seit jener Zeit und nie wird es versiegen. Kommet ihr
heiligen Jungfrauen, tretet hinzu, nehmet von diesem
Oele, bewahret es sicher, daß es nicht verrinnet. Hüte
den Schatz in keuschem, treuem, (S. c172) demüthigem
Sinne! So könnet ihr Christus aufnehmen und sagen: „Ich
machte aus meinem Geliebten den Riegel meiner Thür;“ nun
tritt er ein und dringt bis in die Tiefen der Seele.
Cap.
XII.
Wohlan denn, Seele, auch du bist aus dem erwählten
Volke: denn bei Gott gilt kein Unterschied nach
irdischem Range, nichts gilt ihm goldverbrämtes Gewand,
nichts kostbarer Halsschmuck; auch du bist eine jener
Jungfrauen, die des Körpers Schönheit durch den Glanz
der Seele vergeistigen! So vergiß denn auch nicht auf
deinem Lager während der Nacht allezeit Christi zu
gedenken und auf seine Ankunft zu harren.
Scheint er dir aber zu zögern, so erhebe dich von deinem
Lager! Gibst du weichlicher Ruhe dich hin, lässest du ab
vom Gebete, erhebst du deine Stimme nicht in heiligen
Psalmengesängen: dann scheint er zu zögern. Weihe ihm
die Erstlinge des erwachenden Tages, bringe ihm dar die
Erstlinge deiner Werke. Hast du nicht gehört, daß er
dich gerufen mit den Worten: „Komme vom Libanon, meine
Braut! komme vom Libanon! Du wirst herniedersteigen und
hindurchgehen vom Beginne des Glaubens an.“ Ja, du wirst
herniedersteigen, um in der Welt zu kämpfen; aber du
wirst hindurchschreiten durch die Welt bis zu Christus,
um bei ihm deine Triumphe zu feiern. — Er hat dir
gesagt, daß er dich befreit von den Angriffen der Löwen
und Leoparden, das heißt der gewaltigen Feinde unserer
Seelen; und hast du nicht gehört, daß ihm die Schönheit
deiner Tugend gar sehr gefällt? daß der Geruch deiner
Kleider, das heißt deiner jungfräulichen Reinigkeit, ihm
ist wie des Weihrauchs Geruch? Hast du nicht gehört, daß
du bist wie ein verschlossener Garten, wie ein Paradies,
gefüllt mit herrlichen Früchten? Ach siehe, daß der
Hauch des göttlichen Geistes umwehe über dem Lager und
mit heiligem, reinem Sinne dich erfülle. Dann zögert er
nicht; dann wird er dir antworten: „Ich schlafe, aber
mein Herz wachet.“
(S.
c173)Du hast das Pochen seiner göttlichen Hand an die
Thüre deines Herzens, du hast seine Stimme gehört: „Thue
mir auf, meine Schwester, meine Freundin, meine Taube,
meine Unbefleckte; denn mein Haupt ist voll des Thaues,
meine Locken sind voll nächtlicher Tropfen!“ Wie der
Thau des Himmels die Dürre der Nacht verscheucht, so hat
der Herr Jesus Christus mit dem Thaue des ewigen Lebens
die Finsterniß irdischen Daseins erquickt. So hört das
gequälte Haupt auf unter der Hitze zu leiden. Das Haupt
des Herrn strömt über von Thau, Anderen aber zum
höchsten Gewinne. Ist ja Christus auch dein Haupt, er,
dessen Freigebigkeit niemals erschöpft wird trotz der
täglichen Spende.
Weißt du nun, wie jener Thau nicht irdischen Ursprunges
ist? Siehe, seine Locken sind voll nächtlicher Tropfen.
Und sind das Locken irdischen Schmuckes, Waffen der
Eitelkeit, Lockmittel der Sinnlichkeit? Nein, der
Nasiräer, dessen Haupthaar kein Scheermesser berührt,
läßt sein Haupt umwallen von Strahlen göttlicher
Tugendwerke. Bewahre dir solche Locken! Vergiß es nicht:
so lange Samson sie in ganzer Fülle bewahrte, konnte er
nicht überwunden werden. Er gab sie preis, und seine
Kraft wich von ihm.
Siehe, so wünscht dich Christus, so hat er dich erwählt.
Oeffnest du ihm dein Herz, so tritt er ein: er hat es
versprochen, und er täuscht niemals. Umfasse ihn, den du
so lange gesucht hast; tritt nahe hin zu ihm, und der
Strahl seiner Gnade wird dich erleuchten. Halte ihn fest
umschlossen; bitte ihn, daß er nicht von dir weiche.
Aber er geht von dir, wenn er Gleichgültigkeit bemerkt;
er bleibt nicht, wenn du ihn vernachlässigst.
Was
sagt aber die Braut des hohen Liedes? „Ich suchte ihn,
aber ich fand ihn nicht; ich rief ihn, aber er
antwortete mir nicht.“ Glaube jedoch nicht, daß du ihm
mißfallest, weil du gerufen, geöffnet, gefleht hast und
er doch von dir gewichen ist: er läßt ja nicht selten
zu, daß wir geprüft werden. Was antwortete er einst, da
die Schaaren ihn baten, daß er nicht von ihnen gehen
möge? „Auch anderen Städten muß ich das Wort des Herrn
verkünden denn (S. c174) dafür bin ich gesandt.“ Will es
dich denn bedünken, daß er von dir fortgegangen, so gehe
hin, von Neuem ihn zu suchen.
Fürchte also jene Wächter nicht, von denen es im hohen
Liede heißt: „Sie gehen sichtbar in der Stadt umher.“
Fürchte nicht die Wunden, die sie schlagen können;
denen, die Christo folgen, schaden sie nimmer. Und
könnten sie selbst dein Leibesleben dir nehmen, so
bleibt doch Christus, der das Leben selbst ist, dir
nahe. Hast du ihn gefunden, so denke nur auf Eins, wo du
mit ihm weilen mußt, daß er dich nicht verlasse. Gar
schnell scheidet er von denen, die ihn vernachlässigen.
Cap.
XIII.
Wer
anders aber kann dich lehren, wie du Christus
zurückhältst, als unsere heilige Kirche? Ja, sie hat es
dich schon gelehrt, wenn du nur jene Worte des hohen
Liedes erkennen willst: „Kaum war ich an ihnen
vorübergegangen, da fand ich ihn, den meine Seele liebt;
ich hielt ihn und will ihn nimmer lassen.“ Und wodurch
wird er gehalten? Ach nur durch die Bande der Liebe, nur
durch die hingebende Gesinnung eines treuen Gemütes.
Wenn du willst, so kannst auch du ihn halten; suche nur
eifrig, fürchte keine Mühe, keine Pein! Oft genug wird
er gerade mitten in den Qualen des Körpers, ja unter den
Händen der Verfolger gefunden. „Kaum war ich an ihnen
vorübergegangen“ hieß es ja. Ja, du bist nur um einen
Schritt, du bist soeben aus den Händen der Verfolger
entronnen, du bist noch nicht unterlegen den Mächten der
Welt, siehe, da eilt Christus bereits dir entgegen und
gestattet nicht, daß deine Prüfung länger währe.
Dann kannst du, wenn du so den Herrn gesucht und
gefunden hast, sagen: „Ich hielt ihn und will ihn nimmer
lassen, bis ich ihn bringe ins Haus meiner Mutter, in
das Gemach meiner Gebärerin.“ Was ist dieses Haus und
Gemach deiner Mutter, wenn nicht die innerste Tiefe
deines Wesens? (S. c175) Dieses Haus bewahre rein und
unbefleckt von der Schmach sinnlichen Begehrens: dann
wird wie auf heiligem Fundamente zum erhabenen
Priesterthum hier dein geistig Haus sich erbauen, und
der Geist Gottes wird in ihm wohnen. Wer so Christus
sucht und bittet, der wird von ihm nicht verlassen,
nein, der wird um so öfter das Glück seiner Heimsuchung
erfahren. Ist er ja mit uns bis zu der Welt Ende!
Sagt das hohe Lied: „Er streckte seine Hand durch die
Fenster“, so deutet das auf das Auge unserer Seele, mit
welchem wir die Werke Christi erkennen. Dann blickt
unser Geist auf zu ihm, um die Liebe des göttlichen
Wortes zu empfangen. Halte also offen dein Auge und frei
von dem Raube, mit welchem die Sünde es verdunkeln kann.
Nicht nach weltlicher Lust soll es schauen, sondern nur
auf ihn mit reinem, jungfräulichem Blicke. In gleicher
Weise sei auch dein Ohr geschlossen: sein einziger
Schmuck sei — mit Verachtung allen Gehänges — der treue
Entschluß, zu hören, was zu ewigem Nutzen gereicht.
Das
Thor aber, das du zur Nachtzeit sollst geschlossen
halten, daß Niemand eintreten könne, ist unser Mund,
welcher sich kaum jemals öffnen soll, wenn nicht
Christus gerufen. Darum heißt es ja auch: „Ein
verschlossener Garten bist du, meine Schwester, meine
Braut! ein verschlossener Garten, eine versiegelte
Quelle.“ Soll nun dein Mund sich öffnen zu
törichtem,
eitlen Gerede, da du über himmlische Dinge nicht einmal
reden darfst, wenn du nicht dem Rufe des ewigen Wortes
entgegnest? Was kümmern dich alle Anderen? Nur mit
Christus sollst du reden! Wenn einst niedergeschrieben
wurde, daß die Frauen in der Kirche schweigen sollten,
um wie viel weniger ziemt es dann Jungfrauen und
Wittwen, bei jeder Gelegenheit ihren Mund zu öffnen? Wie
leicht kann da ein Wort wider die Tugend dir
entschlüpfen, das du vergebens dann zurückrufen
möchtest.
Hätte Eva diese Vorschrift der Schweigsamkeit beachtet,
so wäre Adam nicht verführt worden, und sie selbst hätte
auf die listige Frage der Schlange nicht geantwortet.
Eva aber schaute hin auf die Frucht, und so trat der Tod
durch (S. c176) die Augen ein in ihre Seele, als sie der
Schlange antwortete. Nicht anders ergeht es dir, wenn du
Thörichtes, Sündhaftes oder Vermessenes, ja wenn du auch
nur dann redest, wo du es nicht solltest. Geschlossen
sollen deine Lippen bleiben, bis die Stimme des Herrn
zum Reden dich auffordert.
Ist
dann das Wasser der Taufe niedergerieselt über dein
Haupt, dann wirst du mit Christus der Welt absterben, um
mit ihm wieder zu erstehen. „Wenn ihr“ ,sagt der
Apostel,[33]
„mit Christo den Kindheitslehren dieser Welt abgestorben
seid, warum urteilet ihr noch, als lebtet ihr in der
Welt? Rühret nicht an, kostet nicht, tastet nicht an
Das, was zum Verderben gereicht, wenn man es gebraucht.“
Fern von dem Keuschen muß jede Verderbtheit sein:
begrabet also für immer, was Welt und Fleisch euch an
Sorge bereitet! „Wenn ihr nun mit Christo auferstanden
seid, so suchet, was droben ist, wo Christus ist, der
zur Rechten Gottes sitzet.“ Wenn ihr ihn suchet, so
werdet ihr auch den Vater sehen, zu dessen Rechten er
sitzet.
Willst du aber Christus suchen, so darfst du nicht in
Aeußerlichkeit dich verlieren, nicht im freien
Weltverkehr dich zerstreuen. Was soll diese geschwätzige
Zunge, dieser gezierte Gang, dieses neugierige
Aufhorchen, dieser üppige Blick? Der Apostel versagt dir
irdischen Verkehr, und er heißt dich über die Grenzen
der Natur hinaus mit Geistesflügeln zum Himmel dich zu
erheben. „Was droben ist, habet im Sinne, nicht was auf
der Erde.“ Weil das aber unmöglich ist, so lange wir von
den Banden des Leibes gehalten sind, und weil die Seele
erst, wenn sie gelöst ist von diesen Banden, sich zum
Himmel erschwingen kann, darum fügt er hinzu: „denn ihr
seid gestorben, und euer Leben ist verborgen mit Christo
in Gott.“ Ist dem so, so hat die Welt keinen Theil mehr
an uns; denn Christus ist der Welt gestorben und lebet
nun Gott.
(S.
c177)So habe denn wohl Acht, wie Christus gesucht sein
will, wie er aber thörichtes Geschwätz nicht liebt. Es
öffnet die Jungfrau die Thore ihres Herzens dem ewigen
Worte Gottes; „er aber“, muß sie mit der Braut sagen,
„war weggegangen und entwichen; meine Seele verlor sich
selbst, da er redete.“ Sie verlor sich aus der Welt und
ihrem Treiben und blieb in Christo. „Ich habe ihn
gesucht,“ sagt sie, „aber ich fand ihn nicht.“ So ist
es: lange und andauernd will er gesucht werden.
Cap.
XIV.
„Da
fanden mich die Wächter, die in der Stadt umhergehen.“
Welches ist diese Stadt, wer sind die Wächter? Das ist
jene Stadt, von der geschrieben steht: „Ihre Thore
werden am Tage nicht geschlossen werden, denn Nacht wird
nicht daselbst sein.“ Es ist das himmlische Jerusalem,
in welches du nur mit voller, unbefleckter Reinheit
treten kannst: nichts Gemeines kann dort eingehen.
Finden wir nun die Stadt, so wollen wir in sie eintreten
und anstaunen ihr Licht, ihre Mauern, ihre Bewohner,
ihre Fundamente, und auch die Wächter der Mauern. Wie
aber werden wir dort Zugang finden? Dort ist Leben, aber
es ist nur ein Weg, der zum Leben führt, und dieser Weg
ist Christus: ihm also müssen wir folgen. Im Himmel
selbst ist die Stadt gegründet. Wie wir dort
hingelangen, lehrt uns Johannes, wenn er sagt:[34]
„Und er führte mich im Geiste auf einen großen, hohen
Berg und zeigte mir die heilige Stadt Jerusalem, welche
von Gott aus dem Himmel herabstieg.“ Im Geiste also
müssen wir uns dorthin aufschwingen; das Fleisch kann
nimmer hin gelangen.
„Es
hatte aber die Stadt eine hohe, große Mauer mit zwölf
Thoren, auf den Thoren zwölf Engel, und Namen waren
darauf geschrieben, welches die Namen der zwölf (S.
c178) Stämme Israels sind.“ Auf den Thoren standen die
Namen der Patriarchen, auf den zwölf Grundsteinen der
Mauer aber die Namen der Apostel; der Eckstein ist
Christus, auf dem der ganze Bau ruhet, Gott aber ist
außer- und innerhalb, er ist überall; „denn die Stadt
hat die Klarheit Gottes.“ Darum also seid ihr, heilige
Jungfrauen und ihr Alle, die ihr gerecht seid und
unbefleckt die Reinheit euerer Seele bewahret, darum
seid ihr Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes.
Dort werdet ihr Theil haben an der Herrlichkeit des
himmlischen Vaterlandes, wenn ihr Christus dort gesucht
habt, wenn ihr eingetreten seid durch den Glauben und
kostbare Tugendwerke; dort werdet ihr verklärt sein in
dem Lichte, das die Patriarchen umstrahlt, gegründet auf
die Apostel, in stetem Verkehr mit den Engeln.
Wer
nun Christus allezeit gesucht hat, der kann, wenn er
treu aushält, den Engeln Gottes begegnen, welche die
Stadt bewachen. Nur müßte er den Herrn suchen auch auf
dem Lager nach den Worten des Psalmisten: „So habe ich
dein gedacht auf meinem Lager;“ bei Nacht, in Erinnerung
an jene Worte: „In der Nacht erhebet eure Hände zu
meinem Heiligtume.“ Er müßte ihn suchen auch in der
Stadt, aber in der Stadt unseres Gottes; auf dem Markte,
aber auf jenem, wo der Richter des göttlichen Gesetzes
sitzet, und auf den Gassen, wo Jene versammelt sind,
welche eingeladen werden zu dem himmlischen Gastmahle.
Wenn aber Jemand geschmückt mit solch’ hehren
Verdiensten zu den Engeln kommt, wie kann er verwundet
werden? Es gibt ein gutes Schwert, das heilsame Wunden
schlägt. Oder trifft das Wort des Herrn nicht so, ohne
zu schaden? Das sind die Wunden der Liebe; und „besser
sind die Wunden des Liebenden, als die listigen Küsse
des Hassers.“[35]
Das Wort des Herrn läutert und reinigt. „Selig aber
sind, die ein reines Herz haben, denn sie werden Gott
anschauen.“
(S.
c179)
Cap.
XV.
So
suche ihn denn, jungfräuliche Seele! Doch nein, suchen
wir ihn vielmehr Alle! Mit Gebet und heissem Flehen
müssen wir Gott einladen, daß er mit dem milden Hauche
seiner Gnade uns berühre, daß er das überströmende milde
Erbarmen des Wortes uns zuwende. So sagt die Braut des
hohen Liedes: „Er setzte mich auf die Wagen Aminadabs.“[36]
So lange nämlich unsere Seele im Körper weilt, gleicht
sie einem Wagen mit unbändigen Rossen, und sie bedarf
deßhalb eines kundigen Lenkers. Aminadab war der Vater
Naasons, eines Fürsten in Juda; er ist ein Vorbild
Christi, der als der wahre König seines Volkes auch
unsere Seele mit dem Zügel seines Wortes lenkt, damit
sie nicht in den Abgrund versinkt, gleich den Wagen, von
wildgewordenen, unbändigen Rossen gezogen.
Vier Rossen gleich sind die Leidenschaften unserer
Seele: Zorn, Habgier, Wollust, Furcht. Unter ihrer
Herrschaft kennt die Seele sich selbst nicht: der
irdische Leib beschwert die Seele und reißt sie wider
ihren Willen mit der Gewalt unsinniger Tiere fort. Dann
folgt sie unaufhaltsam dem Anstoß der Leidenschaft, bis
diese unter dem mächtigen Drucke des göttlichen Wortes
sich beruhigt. So handelt der Hirt unserer Seele, einem
weisen Wagenlenker vergleichbar; er hindert, daß der
sterbliche Leib der unsterblichen Seele die Freiheit der
Bewegung raube.
Vor
Allem soll man deßhalb die leidenschaftlichen Regungen
der sinnlichen Natur beherrschen und mittels der (S.
c180) Vernunft zügeln. Aber auch darauf soll man sehen,
daß Gleichmäßigkeit in dem Gebrauche der Fähigkeiten
waltet, damit es nicht so ergeht, als wenn ein
langsames, träges Roß hindert, oder als wenn ein
stürmisches stete Unruhe bereitet: leicht bäumt sich das
wilde, boshafte Roß, belästigt das Nebengespann und
bringt, sich überschlagend, das Gefährt zum Sturze.[37]
Hier soll nun der gute Lenker besänftigen, wie Christus
es tut, der auf das Feld der Wahrheit uns führt und den
zerschmetternden Fall in die Tiefen des Irrtums
verhindert. Zum Himmel droben führt sicherer Weg, aber
abwärts birgt der Weg viele Gefahren. Wer dann treu das
Joch des Wortes getragen, der kommt zum Hause des Herrn,
wo seiner als Nahrung harret das Brod, das vom Himmel
herabgekommen ist.
Cap.
XVI.
Damit wir aber nicht ferner gefährlichem Falle
ausgesetzt seien, so wird das ewige Wort eingeladen,
herniederzusteigen in jenen Nutzgarten,[38]
in dem die gnadenreichen Früchte priesterlichen Lebens
reifen, das so harte Prüfungen auflegt, das so voll von
anstrengender Arbeit, aber auch so fruchtbar an heiliger
Tugend ist. So ergrünte ja auch der Stab Aarons nicht in
natürlicher Weise, sondern lediglich durch göttliche
Kraft. Ja, der Herr möge herniedersteigen in seinen
Garten, um die Früchte des Glaubens dort zu ernten und
an dem Dufte der Blüten sich zu laben, nach den Worten:[39]
„Ich habe gepflückt meine Myrrhe mit meinen Gewürzen,
gegessen mein Brod mit meinem Honig.“ Aus den
Blüten
verschiedener Tugend sammelt die Kirche, (S. c181) der
Biene vergleichlich, um geistigen Honig, gleichsam zur
Speise für den Herrn, zu bereiten.
Alles also haben wir in Christo. Jede Seele soll zu ihm
hingehen, gleichviel ob sie an Fleischessünden todkrank
ist, wie mit Nägeln festgeheftet an sündhafte Begierden,
oder ob sie, trotz ihrer Bemühungen in Gebet und
Betrachtung, noch in Unvollkommenheit wanket, oder ob
sie endlich in einzelnen Tugenden bereits die Höhe der
Vollkommenheit erstiegen hat: jede Seele ist in der
mächtigen Hand des Herrn, und Christus ist für uns
Alles. Willst du, daß deine Wunde heile: er ist der
Arzt; glühst du vor Fieberhitze: er ist erfrischende
Quelle; sinkst du zusammen unter der Ungerechtigkeit
deiner Werke: er ist die ewige Gerechtigkeit; bedarfst
du der Hilfe: er ist die Allmacht; fürchtest du den Tod:
er ist das Leben; verlangst du zum Himmel: er ist der
Weg; willst du die Finsterniß fliehen: er ist das Licht;
suchst du Speise: er ist das Brod des Lebens. „Kostet
also und sehet, wie süß der Herr ist; selig der Mann,
der auf ihn hoffet.“[40]
Auf
ihn hoffte jenes Weib, das am Blutflusse litt und
alsbald geheilt wurde, weil sie vertrauend zu ihm
hintrat. So tritt auch du hin, meine Tochter, berührt
vom Glauben, beseelt den Saum seines Gewandes. Alsbald
wird der überwallende Strom deiner sinnlichen Begierden
erstarren, wenn du nur gläubig voll Verehrung das
leiseste Wort aus seinem göttlichen Munde annimmst, wenn
du zitternd niedersinkest zu den Füßen des Herrn. O
Glaube, kostbarer als alle Schätze! stärker als alle
Macht der Welt! heilbringender, als alle Wissenschaft
des Arztes! Kaum trat das Weib zu ihm hin, so fühlte sie
schon die Kraft und erlangte Heilung. So trifft der
Strahl, wenn du dein Auge dem Lichte zuwendest, dich
erleuchtend, noch ehe du dessen inne wirst, und die
Wirkung ist da, ehe du sie fühlst. Altes, unheilbares
Leiden, das aller Kunst der Ärzte spottet, das nicht
weicht trotz des aufgewendeten ganzen Vermögens, wird
geheilt bei (S. c182) der bloßen Berührung des Gewandes.
Sowie jenes Weib, sollst du, o Jungfrau, in Ehrfurcht
dem Herrn dich nahen, in festem Glauben ihn verehren.
Wie
groß ist nun die Begnadigung, wenn diejenige, welche
sich scheut, vor die Menschen hinzutreten, sich nicht
schämt, ihren Fehler zu bekennen! Verheimliche deine
Fehltritte nicht, bekenne nur mutig, was der Herr doch
schon weiß; schäme dich nicht, dessen auch die Propheten
sich nicht schämten. „Heile mich, o Herr! und ich werde
geheilt werden!“ spricht Jeremias.[41]
So sprach auch jenes Weib, das den Saum des Gewandes
Christi berührte: „Heile mich, Herr! und ich werde
geheilt werden; rette mich, und ich werde gerettet sein;
denn du, o Herr, bist mein Ruhm und mein Preis, und
genesen wird nur, den du heilest.“
Will nun Jemand dir einwenden, weil auch die Gläubigen
gar manche Versuchung erdulden müssen: „Wo ist des Herrn
Wort? Es komme doch!“ — so vergiß nicht, daß auch zu dem
Herrn einst gesagt wurde: „Er möge herabsteigen vom
Kreuze, so wollen wir ihm glauben; er hat auf den Herrn
vertraut, der rette ihn jetzt, wenn er ein Wohlgefallen
an ihm hat.“ Wenn man in solcher Weise höhnend zu dir
spricht, als ruhe dein Vertrauen auf törichter Fabel,
so antworte nimmer. Wollte doch auch Christus die
Spötter nicht eines einzigen Wortes würdigen! Ihn allein
sollst du fragen, nur ihm antworten. Redest du zu jenen,
sie glauben dir nicht; fragst du sie, so lassen sie dich
ohne Antwort. So sprich denn mit dem Propheten zu deinem
Heilande: „Ich war ohne Beschwerden, da ich dir folgte,
und Menschentage habe ich nicht begehrt.“[42]
(S. c183)So sprach auch jenes Weib, und sofort war sie
geheilt. Obgleich matt und krank, da sie so lange den
Herrn gesucht hatte, sprach sie doch: „Ich hatte keine
Beschwerden, da ich dir folgte.“ So ist es in der That:
wer Christus folgt, der fühlt keine Beschwerden, weil er
die Mühseligen gerade zu sich ruft, um sie zu erquicken.
So folgen wir ihm denn, von dem mit Recht der Prophet
sagt:[43]
„Die auf den Herrn hoffen, erneuern ihre Kraft,
befiedern sich wie Adler, laufen und werden nicht müde,
geben und werden nicht matt.“
So
scheuen wir denn nicht das Bekenntnis. Mit Jeremias
können wir sagen: „Du weißt es, o Herr! was herausging
aus meinen Lippen, lag stets offen vor dir.“ Darum
scheue ich mich nicht, die eigenen Sünden zu bekennen,
und zu bitten: „Laß zu Schanden werden, die mich
verfolgen, aber mich laß nicht zu Schanden werden!“
Petrus scheute sich nicht zu rufen: „Weiche von mir,
Herr! denn ich bin ein sündiger Mensch.“ Der weise,
hehre Mann, in dem die Kraft der Kirche ruht und das
höchste Amt der Leitung: er erkennt, daß es für ihn
nichts Nützlicheres gebe, als sich über den Erfolg des
unternommenen Werkes nicht zu überheben. Darum sagt er:
„Weiche von mir, Herr!“ Er bittet nicht in der Absicht,
verlassen zu werden, sondern lediglich, um sich vor
Hochmut zu bewahren.
Auch Paulus redet von dem Stachel des Fleisches, der
bewirke, daß er selbst sich nicht überhebe. Gefährlich,
einschmeichelnd muß dieser Stolz sein, da selbst Paulus
ihn fürchtet. Und doch ist der nicht leicht zum Falle zu
bringen, der fürchtet, sich um der empfangenen
Offenbarungen willen überheben zu können. Aber einem
tapferen Kämpfer gleich (S. c184) freut er sich, unter
den Gefahren, welche die Leiblichkeit ihm bereitet, die
Seele zu bewahren und zu retten.
Cap.
XVII.
So
sollst auch du, wenn du erkennst, wie die göttlichen
Gnadengeschenke überreichlich dir zuströmen, deine
eigene Tugend wohl abmessen. Gott dem Herrn zolle Dank,
betrachte die Armseligkeit deines Leibes, wie man den
Ballast eines Schiffes ansiehet. Laß dich nie in den
mächtigen Wogen dieser Welt von dem gefahrdrohenden
Winde des Hochmutes dahintreiben. So verläßt die Biene,
wenn sie heftigere Luftströmungen bemerkt, ihr Versteck
unter kleinen Steinchen erst dann, wenn sie durch
ruhige, stille Luft hinfliegen kann, damit die Windstöße
das schwache Ruder ihrer kleinen Flügel nicht
zerbrechen. — So glaubten Paulus und Barnabas schon
durch den bloßen Anblick des heidnischen Opfers ihr
Gewissen zu beschweren. So hüte auch du dich,
jungfräuliche Seele, daß die Strömungen dieser Welt dich
nicht zu unbesonnenem Fluge veranlassen.
Auch die Seele hat ja ihre Flügel, wie der Prophet sagt:[44]
„Wer sind die, welche wie Wolken daher fliegen und wie
Tauben mit ihren Jungen?“ So durchfliegt die Seele in
einem Augenblicke den Erdkreis. Ungehindert sind die
Gedanken der Weisen; aber zu je höherem Fluge bis zum
Himmel selbst sie sich erheben, desto weniger werden sie
durch irdische Hindernisse zurückgehalten. Derjenige,
welcher Gott anhängt und das göttliche Abbild seiner
Seele treu in sich bewahrt, der schwingt sich, getragen
von dem Hauche der Gnade, empor bis zu jenem erhabenen
Orte, wo Gott selber thront: dann aber verachtet er
Alles, was in der Welt ist. Das Auge unverwandt auf die
ewigen Tugenden gerichtet, steigt er über die Welt hoch
hinaus. Über ihr Können geht ja die Gerechtigkeit, die
Keuschheit, die Güte, (S. c185) die Liebe, die Weisheit:
finden sich diese Tugenden in der Welt, so sind sie doch
nicht in ihr erwachsen, sondern von oben in sie
verpflanzt.
Das
gestand selbst Satan, da er alle Reiche der Welt und
ihre Herrlichkeit bot. Darum konnte der Herr sagen: „Es
kommt der Fürst dieser Welt, aber an mir hat er Nichts.“
Lernet denn auch ihr, in der Welt und doch ihr entrückt
sein. Ist der Leib an die Erde gebunden, so schwinget
desto freier die Flügel eurer Seele. Ein überirdisch
Leben führt Jener, der Gott in seiner Seele trägt. „Aber
wir können doch Gott nicht nachahmen?!“ So ahmen wir die
Apostel nach, welche die Welt gehaßt hat, weil sie nicht
von der Welt waren. Sie ahmet nach, ihnen folget! Wenn
du nun meinst, daß es menschlicher Kraft schwer falle,
über die Welt hinaus sich zu erheben, so hast du Recht;
aber vergiß doch nicht, daß auch die Apostel erst als
Schüler Christi in seiner treuen Nachfolge gelernt und
verdient haben, mitten in der Welt ein himmlisches Leben
zu führen. So sei auch du, jungfräuliche Seele, Christi
lernbegierige Schülerin: dann bittet er auch für dich,
wie er für seine Apostel gebeten hat. „Nicht für sie
allein bitte ich,“ hat er zu seinem Vater gesagt,
„sondern für Alle, die durch ihr Wort an mich glauben
werden, damit Alle Eins sind.“ Der Herr will, daß wir
Alle Eins seien, damit wir Alle ein überirdisch Leben
führen.
So
seien wir denn nicht träge; erheben wir uns von der Erde
und ihrem Treiben. Wird ja die Kraft der Flügel durch
Übung vermehrt. Folgt die Seele Gott, strebt sie in
erhabenem Fluge dem Hause des Herrn zu, dort zu wohnen:
so erquickt sie sich an dessen Herrlichkeit und nährt
Muth und Kraft durch das erhabene Beispiel göttlicher
Tugenden. Dann streift sich mehr und mehr ab alles
irdische Begehren, alle niedrige Gesinnung, welche den
Tempel des Herrn nicht beflecken dürfen. Sind wir nun in
Wahrheit Tempel Gottes, so entsagen wir denn für immer
aller fleischlichen Sorge.
(S.
c186)
Cap.
XVIII.
Man
soll übrigens nicht glauben, daß wir alten Dichtern und
Philosophen folgen, wenn wir eben von Flügeln der Seele
sprachen, wenn wir das Bild eines Wagens mit seinen
Rossen auf sie anwenden. Wir haben vielmehr lediglich an
die heiligen Schriftsteller uns gehalten. So schreibt
der Prophet Ezechiel:[45]
„Die Hand des Herrn kam über mich; und ich schaute, und
siehe, es kam ein ungestümer Wind von Mitternacht her,
eine große Wolke, Feuer darin. Glanz um sie her und
mitten in dem Feuer war es wie lichthelle. Und darin war
die Gestalt von vier lebenden Wesen. — Ihre Gesichter
aber waren so gestaltet: ein Menschengesicht, dann ein
Löwengesicht zur Rechten bei allen Vieren, dann ein
Rindgesicht zur Linken bei allen Vieren und überdieß ein
Adlergesicht bei allen Vieren — ihre Flügel aber waren
ausgespannt.“
Hier haben wir jene Darstellung der Seele kennen
gelernt. Die vier lebenden Wesen deuten auf die vier
Seelentätigkeiten: in dem Menschengesichte wird das
Vernünftige, in dem Löwen das Mutige, in dem Rinde das
Begehrliche, in dem Adler das Erkennende ausgedrückt. So
sprechen auch die griechischen Philosophen bei der Seele
von einem: λογιστικόν, θυμηθικόν, ἐπιθυμητικόν,
διορατικόν, die lateinischen aber von: prudentia,
fortitudo, temperantia, iustitia.[46]
Die Klugheit eignet der (S. c187) menschlichen Vernunft;
der Starkmut ruht auf einer gewissen Kraft, die
gewaltigen Muth und Verachtung des Todes lehrt; die
Mäßigkeit bindet durch heilige Liebe und durch
Betrachtung der himmlischen Geheimnisse die Gelüste des
Fleisches; die Gerechtigkeit aber, mehr für Andere, als
für sich selbst besorgt, — mehr bedacht auf das
öffentliche Wohl, als auf eigenen Nutzen, übersieht und
durchforscht Alles von erhabenem Standpunkte aus.
Deßhalb wird auch die Seele, sofern sie die Tugend der
Gerechtigkeit anstrebt, mit einem Adler verglichen, weil
sie dann alles rein Irdische unbeachtet läßt und nur in
Erforschung der himmlischen Geheimnisse versenkt die
Glorie der Auferstehung für sich gewinnt. Deßhalb ist
auch zu ihr gerade gesagt: „Dem Adler gleich wird deine
Jugend erneuert.“[47]
Es
ist darnach auch dem königlichen Sänger ganz
entsprechend, von Flügeln der Seele zu reden. An einem
anderen Orte[48]
sagt er: „Unsere Seele ist entronnen, wie ein Vogel dem
Stricke der Jäger,“ und wiederum:[49]
„Ich vertraue auf den Herrn; wie saget ihr zu meiner
Seele: Fliehe, wie ein Sperling auf den Berg?“ Die Seele
hat (S. c188) also ihre Flügel, mit denen sie sich frei
erbeben kann von der Erde, deren Kräftigung in der
fortgesetzten Uebung guter Werke besteht. So soll denn
die Seele auch die Gnade des Herrn in sich anregen und
dessen, was hinter uns liegt, vergessend dem zustreben,
was vor uns liegt, was in der Ewigkeit uns bestimmt ist.
Sie soll ferne sich halten von den Ehren des
öffentlichen Lebens, ferne von der sengenden Glut
weltlicher Leidenschaft; es möchte ihr sonst gehen, wie
jenem mythischen Ikarus, dessen künstliche Flügel unter
den Strahlen der Sonne sich lösten, so daß er elend
niederfiel. Es mag gestattet sein, in ernster Rede
dieser Fabel zu gedenken: in ihrer Tiefe liegt ja
ohnehin die Lehre verborgen, daß der Seelenflug durch
die Welt nur für die gereifte Tugend ohne Gefahr ist,
daß aber die unerfahrene, leichtsinnige Jugend gar bald
den Gelüsten der Welt anheimfällt, und dann, wenn das
Band der Wahrheit, das die Seele mit Gott verknüpft,
gelockert ist, in unsäglichem Elende zur Erde
niedersinkt.
Nicht leicht ist dieser Aufschwung für Alle; gar
schwierig ist der Lebenslauf, wenn die Seelenfähigkeiten
mit einander im Kampfe liegen. Herrscht aber hier volle
Übereinstimmung, so wird der Prophet auch in uns jenes
Rad erblicken, das er in seinem Gesichte schaute „auf
dem Boden neben den Wesen, und das Rad war wie
vierfach.“[50]
Das Rad sinnbildet unser Leibesleben, wenn dieses
getragen ist von dem Tugendleben der Seele und den
Vorschriften des Evangeliums gemäß verläuft. So wie im
Gesichte Ezechiels das „Rad im Rade“ erschien, so ist
unser Leben im Leben. Steht ja das Leben der Heiligen
für Vergangenheit und Zukunft nicht im Widerspruch, und
außerdem wird im Leibesleben das ewige Leben begonnen.
Ist
diese Übereinstimmung vorhanden, dann wird auch zu uns
die Stimme Gottes erschallen und in unserem Herzen wird
wie auf einer Throngestalt sich niederlassen eine (S.
c189) Gestalt, anzusehen wie ein Mensch; das ist das
Wort, das „Fleisch geworden“. Dieser Gottmensch ist der
Beherrscher unserer Seelentätigkeiten, der Lenker
unserer Sitten. Je nach dem Maaße unserer Verdienste
besteigt er für uns den Berg oder das Schiff. Das ist
aber jenes Schiff, das die Apostel führt, in dem Petrus
seinen Fischfang hält. Kein gemeines Schiff ist das,
welches auf’s hohe Meer geführt, das heißt: von den
Ungläubigen getrennt wird. Warum aber ist es gerade ein
Schiff, das der Herr besteigt, von dem aus die
Volksschaaren belehrt werden? Weil die Kirche jenes
Schiff ist, das unter wehender Kreuzesflagge von dem
Hauche des göttlichen Geistes getrieben hinsegelt durch
die stürmende Welt. Von hier aus hält Petrus seinen
Fischzug. Bald heißt ihn der Herr das Netz, dann wieder
die Angel auswerfen. Ausgeworfen wird die Angel in die
Welt, um vor Allen aus ihr, wie aus des Meeres Tiefe,
den ersten Märtyrer Stephanus zu heben, der in sich den
Schatz birgt, der Christus muß gezollt werden: der
Märtyrer Christi ist ja der Schatz der Kirche. Jener
nun, der von der Erde zuerst zum Himmel heranstieg, war
als Diacon von Petrus gewonnen, wie einst der Fisch, den
er an der Angel aus dem Meere hob: so ward auch
Stephanus unter Strömen Blutes zum Himmel emporgetragen.
In seinem Munde ruhete der Schatz, da er Christus in
feierlicher Rede bekannte. — Welcher Schatz ruht in uns,
wenn nicht das „Wort Gottes?“ Gottes Netz und Angel
werden ausgeworfen. Das Netz holt Schaaren des Volkes
aus der Tiefe; die Angel bringt einzelne Auserwählte.
Ach, daß es mir vergönnt wäre, jene heiligen Angel in
meinem Munde zu fühlen, die zu voller Gluth mein Herz
entzündete, und mit seliger Wunde nur ewiges Heil
gewänne!
Cap.
XIX.
Tretet denn ein, jungfräuliche Seelen, in die Netze der
Apostel, welche nicht auf Menschen, sondern auf Gottes
Geheiß ausgeworfen werden. Es ist das Netz himmlischer
Weisheit und Lehre, es ist das Himmelreich nach jenem
(S. c190) Worte des Herrn: „Das Himmelreich ist gleich
einem Netze, das ins Meer geworfen ward.“
Ihr
habt gehört, daß der Herr zu Simon gesprochen: „Fahre
hinaus in die Tiefe, und werfet eure Netze zum Fange
aus.“ Vorher hatte Petrus an dem Ufer in seichtem Wasser
den Fang versucht. Ein Geheimniß liegt hier verborgen.
„Tiefe Wasser“, sagt der weise Mann,[51]
„sind die Worte aus des erfahrenen Mannes Herzen.“ Ja,
tief ist des Mannes Herz ohne Seichtigkeit. Hier senke
ein die siegesgewissen Worte deines gläubigen Mundes. So
ruft der Herr den Petrus mit dem einfachen Worte:
„Komme, ich will dich zum Menschenfischer machen.“
Ein
anderes Geheimniß birgt sich hier noch: „Fahre hinaus in
die Tiefe!“ sagt der Herr zu Petrus, der gewissermaßen
auf ödem Sandgefilde sich befand, so lange er der
Synagoge angehörte: da gab es keine Tiefe des Wassers.
Wird dem Petrus nun der Befehl: „Fahre hinaus in die
Tiefe oder auf die Höhe des Meeres,“ so heißt das nichts
anderes, als: „Fahre hin zu Christus!“ Er ist ja der
Höchste, wie Zacharias dem Sohne bekennt: „Du wirst,
mein Sohn, Prophet des Allerhöchsten genannt werden!“ In
ihm ruht auch die Tiefe der Reichthümer der Weisheit und
der Allwissenheit des ewigen Gottes.
Dort also ist die Tiefe der Wasser, d. h. des Glaubens,
wo Christus ist. Jene Gewässer sind das, von denen der
Psalmist singt:[52]
„Es sahen dich die Wasser, o Gott! es sahen dich die
Wasser und fürchteten sich, es bebten die Tiefen.“ Bei
den Juden fehlte die Tiefe des Herzens; darum sagte der
Herr: „Dieses Volt ehrt mich mit den Lippen, aber ihr
Herz ist weit von mir entfernt.“ Christus liebt es im
Herzen zu weilen nach seinem eigenen Worte:[53]
„Gleichwie Jonas drei Tage und drei Nächte in dem Bauche
des Fisches gewesen, also wird auch der Sohn des
Menschen drei Tage und drei Nächte im Herzen der Erde
sein.“
(S.
c191)Petrus selbst gibt aber deutlich genug kund, daß
die Worte des Herrn: „Fahre hinaus in die Tiefe!“ vom
Glauben zu verstehen seien. „Meister,“ sagt er, „wir
haben die ganze Nacht gearbeitet und Nichts gefangen;
aber auf dein Wort will ich die Netze auswerfen.“ Die
Nacht umgab den Petrus, ehe er Christus erblickte. Der
Tag war ihm noch nicht angebrochen, weil ihm das wahre
Licht noch verborgen war. Die Synagoge ist Nacht, die
Kirche erst ist Tag. Deßhalb sagt auch Paulus:[54]
„Die Nacht ist vorgerückt, der Tag aber hat sich genahet.“
Gebenedeit sei das Licht, welches die Finsternis der
allen Treulosigkeit vertreibt und den Tag echten
Glaubens anbrechen läßt. Tag ward es für Petrus, Tag
auch für Paulus. Deßhalb gelten heute, an ihrem Feste,
die Worte des heiligen Geistes:[55]
„Ein Tag bringt dem anderen das Wort herfür.“ Beide
verkünden aus der Fülle ihres Herzens den Glauben an
Jesus Christus, und selig der doppelt heilige Tag, der
uns das wahre Licht gebracht hat!
Was
wir im Evangelium lesen, das wiederholt sich vielleicht
im Himmel. Dort reden Christus, der Herr, und Petrus
vielleicht wie einst. „Fahre hinaus in die Tiefe!“
spricht der Herr noch immer, und es ist mir, als hörte
ich Petrus sagen: „Meister! wir haben die ganze Nacht
gearbeitet und Nichts gefangen.“ Die Vigilfeier fand
statt: aber gar Wenige haben dazu sich eingefunden. Wenn
unsere Frömmigkeit und unsere andächtige Geistesstimmung
schwindet, so mühen sich Petrus und Paulus um uns. Oder
hat nicht Paulus gesagt: „Wer wird schwach, ohne daß ich
zugleich schwach werde?“[56]
Lasset doch, meine Geliebten! die Apostel für euch sich
abmühen! Es ist ein traurig Wort, wenn sie sagen müssen:
„Wir haben die ganze Nacht gearbeitet und Nichts
gefangen.“ Keiner von den Reicheren hat wohl heute
gefastet. Ihnen sagt deßhalb Petrus[57]
mit Recht: „Wandelt in Furcht, so lange ihr hier
pilgert, da (S. c192) ihr wisset, daß ihr nicht mit
vergänglichem Golde oder Silber erlöset seid von dem
eitlen Wandel, der sich von den Vätern auf euch vererbt
hat, sondern mit dem kostbaren Blute Christi, als eines
unbefleckten und tadellosen Lammes.“ Gold und Silber hat
euch also nicht befreiet, sondern die Bewährung des
Glaubens rettet euch, die kostbarer ist als vorzügliches
Gold.
Ein
treuer Knecht bemüht sich, dem Herrn den Preis wieder zu
erwerben, der für ihn gezahlt ist. Ihr, jungfräuliche
Seelen! sollet dabei nicht denken an Erwerben von Gold
und Silber; oder hat Christus euch um diesen Preis
erkauft? Haltet den Preis bereit; er wird nicht immer
eingefordert, aber du schuldest ihm immer. Dein Heiland
hat sein Blut für dich hingegeben: so schuldest auch du
ihm dein Blut. Gab er es für dich, so gib auch du es für
ihn. Wir waren einem gar bösen Gläubiger verpfändet
durch unsere Sünden, wir hatten den Schuldschein
vollzogen, den wir nur mit unserem Blute einlösen
konnten, da kam der Herr Jesus, um sein Blut für uns
hinzugeben. Du kannst dein Blut freilich nicht
hingeben.
Wenn nun ein treuer Knecht den Preis, um den er erworben
ward, nicht ganz erstatten kann, so muß er doch
wenigstens so sich halten, daß er des Preises nicht
unwürdig erscheint. So zeiget auch Ihr euch würdig des
so hohen Preises; es möchte sonst Christus, der uns
gereinigt, der uns wieder erworben hat, klagend
ausrufen, wenn er in Sünden euch findet: „Welcher Nutzen
ist nun in meinem Blute, wenn ich zur Verwesung
hinabsteige?“[58]
Wundert euch nicht, wie der zur Verwesung herabsteigen
könnte, dessen Fleisch, wie es an einer anderen Stelle
heißt, die Verwesung nicht geschaut hat. Er stieg ja
auch hinab zu dem Orte der Verwesung, da er in die
Vorhölle eintrat: aber unverweslich seiner Natur nach,
gestattete er der Verwesung keine Gewalt über sich.
Cap.
XX.
Um
aber auf Früheres zurückzugreifen, so bittet den Herrn,
daß auch an mich das Wort ergehe: „Fahre hinaus auf die
Tiefe des Meeres und wirf dort die Netze aus.“ Wer kann
ohne Gottes Geheiß und Schutz diesen Fischzug
unternehmen, zumal wenn solches Wogen und Stürmen der
Welt entgegensteht? Wenn aber der Herr es will, so
befiehlt er, die Netze einzusenken, und es wird eine
Menge Fische gefangen, so daß nicht allein das Schiff
des Petrus, sondern auch das andere gefüllt wird, zum
Zeichen, daß alle die verschiedenen Kirchen makellose
Gemeinden erhalten werden. Gepriesen sei aber der Herr,
daß er im Hinblicke auf unser Mühen uns Genossen im
heiligen Dienste gegeben. So können wir denn auch in
dieser unserer Kirche zu Mailand bitten, da der
apostolische Fischer nicht fehlt: „Zeige uns, Herr,
Seelen; die Arbeiter, sie dir zu gewinnen, fehlen
nicht!“
Es
sind aber nicht bloß die eigenen, nein! es sind auch die
Netze der Apostel, die wir auswerfen. In ihnen und in
sicheren Stätten apostolischer Anordnung möge eure
Schaar, jungfräuliche Seelen, Zugang finden! Auch euch
möge Petrus zum Leben rufen! Wenn er schon den Wittwen
zu Hülfe kam, um wie viel mehr tritt er für Jungfrauen
auf! Er konnte die Thränen der Wittwen nicht ertragen,
und von Mitleid bewegt erweckte er die Ernährerin.[59]
— Paulus möge euch erwecken, der verlangt hat, daß ihr
geehrt würdet, wenn er sagt: „Es ist aber gut, wenn sie
bleiben, wie auch ich bin.“ So ruft er durch den Hinweis
auf die Ehre, wie er mit Wort und Beispiel selbst die
Jungfräulichkeit lehrt. Jene, welche Alles verließen und
dem Herrn folgten: Petrus und Johannes, mögen eurer sich
annehmen.
Beachtet aber auch, was jener große Fischer gewonnen
hat. Während er vorher auf dem Meere seinen Gewinn
suchte, fand er darnach das Leben Aller. Den armen
Fischerkahn verließ er, das Ruderholz legte er nieder,
und er fand Gott den Herrn, er (S. c194) gewann das
ewige Wort. Er senkte das Garn und befestigte seinen
Glauben; er legte das Netz zusammen und hob Tausende von
Menschen. Er verachtete das Meer dieses Lebens: da
gewann er den Himmel. Während er also auf dem erregten
Meere sich abmühete, da gründete er Jene, welche in
ihrem wankenden Geiste eines festen Stützpunktes
entbehrten, auf den Felsen.
Weisen wir denn öfters hin auf die himmlische Kunst des
Fischers, damit wir desto tiefer von seiner inneren
Kraft überzeugt werden. War jener Diener Gottes niedrig,
um so erhabener wird der Evangelist; war er arm, wie nur
Jemand sein kann, so ist er an Tugend desto reicher;
erschien er aller äußeren Ehre baar, doppelt strahlt der
Schmuck des Glaubens. Je weniger dem armen Fischer die
Welt anvertraut, um so viel mehr vertrauen wir ihm: es
sind ja nicht seine, es sind himmlische Worte, die er
redet. Das arme Herkommen, der geringe Stand gestattet
nicht, daß wir menschliches Wissen hier erwarten, mehrt
aber die Gewißheit, daß göttliche Weisheit waltet. Wer
das Gesetz nicht erlernt hat, und doch versteht, was des
Gesetzes ist, der ist sich selbst Gesetz! wer das Gesetz
nicht erlernt hat und doch Erhabeneres noch als das
Gesetz redet, der hat von Jenem es empfangen, von dem
das Gesetz selbst seinen Ursprung hat.
Woher denn so Plötzlich die erhabene Würde? Jene beiden
Fischer werden auf dem Berge der Verklärung einmal dem
Gesetzgeber, zum Anderen dem Vollzieher des Gesetzes
beigesellt. Und wie erhaben ist der arme Fischer! Moses
überschreitet mit der wunderbaren Schärfe seines Geistes
zwar alles Irdische und steigt über die Höhen
menschlichen Wissens hinaus bis zu des Himmels Gestirnen
und bis zum Himmel selbst: aber der Geist des Fischers
wird auch durch die Wolken nicht gehemmt; keine Zeit
setzt ihm Schranken, nicht einmal die Geheimnisse des
göttlichen Wesens können sich ihm verschließen. Er
erblickt das Wort selbst bei Gott und schauet, wie das
Wort Gott war. Ja selbst im Hinblick auf die
Menschengestalt zögert Petrus nicht, den Sohn Gottes in
sterblicher Hülle zu erkennen. (S. c195) So ging dann
auf den Namen des Schöpfers selbst über die Annahme
sterblichen Fleisches, welche dem ewigen Rechtsanspruche
auf die Gottheit beigefügt ward.
Wenn Moses sagt: „Gott sprach“ und „Gott schuf“, so
bezeichnet er den Vater und den Sohn; er erkannte ihn
wohl, ich kannte ihn noch immer nicht. Inzwischen hat
das Volk auch nach dem Gesetze noch geirrt, aber seitdem
das Evangelium verkündet ward, hat es geglaubt. Groß und
wunderbar ist die Gnade des Herrn in den verschiedenen
Wirkungen. In Moses war sie groß, da er die Welt
beschrieb; in Petrus, da er die Welt verachtete.
Die hier zugänglichen Texte dienen einem schnellen
Nachschlagen oder einem gemütlichen Schmökern. Sie
können und wollen jedoch in keiner Weise moderne
Textausgaben ersetzen: Wer wissenschaftlich mit diesen
Texten arbeiten will oder muss, kommt um die
Konsultation moderner Übersetzungen und Editionen nicht
herum. Besonders Studierende sollten sich vor der
Versuchung hüten, diese Texte würden sie vor einem Gang
in die Universitätsbibliothek bewahren. Textquelle
Dr. Gregor Emmenegger
Université Fribourg CH:
http://www.unifr.ch/bkv/ |