Träume
Don Boscos
INHALTSVERZEICHNIS
Vorwort
Der
erste Traum — Ein himmlischer Auftrag
Die
Raben
Rebhühner
und Wachteln
Das
Gebet und die Tugend
Der
Teufel verleitet zu Zerstreuungen
Die
Prozession zum Marienaltar
Die
gefahrvolle Meerfahrt
Die
Katzen auf den Betten
Die
Ziegenböcklein
Der
Hirt und seine Herde
Das
Fegfeuer
Das
Neujahrsgeschenk
Die
Jungen von Lanzo
Der
große Weinstock
Die
Hölle
Die
Schlingen des Teufels
Aus
einem Römischen Brief Don Boscos
Spätberufe
Die
Schlacht mit den Heugabeln
Die
Hühner
Der
Schild des Glaubens
Der
wilde Stier
Dominikus
Savio erscheint
Die
Sanftmut des heiligen Franz von Sales
Die
Ferien
Der
heilige Franz von Sales und die Salesianer
Lilien
und Rosen
Unter
dem Schutzmantel Mariens
Ludwig
Florin Anton Colle
Die
Salesianische Gesellschaft
Die
Kastanien
Die
Entwicklung der Kongregation
Großer
Missionstraum von Südamerika
Der Traum von den zwei Säulen im Meer
Die Vision des Heiligen Don
Bosco über Verfolgung der Kirche in der Endzeit und über
die Zukunft der Kirche.
Vorwort
Über
die Träume Don Boscos ist schon viel gesprochen und
auch geschrieben worden. Man legt ihnen nämlich
prophetische Bedeutung bei, weil sich in der Tat vieles
ereignet hat, was der Heilige im Traum gesehen und gehört
hatte. In bescheidener Weise nennt Don Bosco die im
Schlaf erhaltenen Offenbarungen aber nur Träume.
Diese
Träume des Heiligen haben zwei besondere Merkmale:
1. Sie
springen nicht von einer Sache auf die andere — wie
das bei Träumen in der Regel geschieht — sondern sie
behandeln den Gegenstand sehr gründlich und ernst.
2.
Wir finden bei Don Bosco auch nichts
Sinnlos Phantastisches wie in gewöhnlichen Träumen.
Der Heilige erhielt im Schlaf Erklärungen, Weisungen
und Mitteilungen über Sachen, die zum Teil schon bald
darauf eintraten.
Ferner
kann gesagt werden: Don Bosco erhielt in seinen Träumen
Kenntnis über verborgene und zukünftige Ereignisse,
sowie über rein innere Angelegenheiten, über
Gewissenssachen. So konnte er sich mit Ereignissen
befassen, die noch in weiter Ferne lagen, und mit Orten,
die bis dahin niemand kannte. Im Jahre 1880 träumte er
z. B. von einer blitzartigen Reise von Cartagena nach
Punta Arenas. Am 4. September desselben Jahres erzählte
er diese im Traum erlebte Fahrt den Mitgliedern des 3.
Generalkapitels in Valsalice. Vier Einzelheiten davon
sind der Erwähnung wert:
1. Don
Bosco beschrieb den Lauf der Kordilleren, Täler, Seen,
hügeligen Landschaften und Gebirgsketten, die allen
Geographen der damaligen Zeit unbekannt waren. Don De
Agostini stellte später auf seiner berühmt gewordenen
Expedition alles genau so fest, wie Don Bosco es geträumt
und berichtet hatte.
2. Der
Heilige beschrieb sensationelle Eisenbahnlinien durch wüste
Gegenden. Heute ist der Traum in Erfüllung gegangen.
Die Bahnstrecken führen von Nord nach Süd den Anden
entlang und auch schon durch das Gebirge.
3.
Ferner sprach Don Bosco von reichen Bodenschätzen wie
Kohle, Petroleum, Blei und Edelmetallen, die sich in
jenem Gebirge befinden sollten. In der Tat fand man
schon bald darauf Petroleum in Comodore‑Rivadaria
im Chubut. Am 16. Dezember 1907 stieß man auf eine
reiche Petroleumquelle, als man nach Wasser bohrte.
Ferner sind Petroleumquellen bei Salta und Ingny
entdeckt worden. Kohle wurde bei Espuyen und bei Punta
Arenas gefunden. Heute fördert Argentinien schon weit
mehr als 10 000 Tonnen Erze im Jahre zutage.
4. Vom
Feuerland‑Archipel sagte Don Bosco: “Einige
dieser Inseln sind von zahlreichen Eingeborenen bewohnt,
andere sind mit Schnee und Eis bedeckt, wieder andere
sind unfruchtbar, kahl, steinig und daher unbewohnt. Im
Osten befinden sich zahlreiche Inselgruppen, die von
Eingeborenen bewohnt sind. ” De Agostini weist mit
seinem berühmt gewordenen Reisebericht an Hand von
Kartenmaterial nach, daß Don Bosco im Traume die
Wirklichkeit geschaut hatte.
Er
fand dort wirklich vor:
a) eine
mit Steppen bedeckte Ebene, die von Onas bewohnt war;
b) die
Kordillerenzone mit Schnee und Eis bedeckt und
c) die
Gruppe zahlreicher Inseln im Osten von Indianern
bewohnt.
Menschlich
gesprochen kann niemand unentdeckte Gebiete mit einer
solchen Genauigkeit beschreiben, wie Don Bosco es auf
Grund seiner Traumgesichte vermochte.
Oft
befaßte sich Don Bosco in seinen Träumen mit dem, was
ihm am Herzen lag und ihn bewegte. Besonders war es das
Seelenheil seiner Jungen wie auch das von Völkern, die
noch nicht zum Christentum bekehrt waren. Er selbst wäre
ja sehr gerne hinausgezogen, um als Missionar Seelen zu
retten. Gott führte ihn aber andere Wege. Er gab ihm
ein so ausgedehntes und ideales Arbeitsfeld, daß der
seeleneifrige Priester und Erzieher seine ganze Kraft
zur Bewältigung der Aufgabe einsetzen mußte. Infolge
seiner gewaltigen Arbeitsleistung starb Don Bosco
vorzeitig, obwohl er eine sehr widerstandsfähige
Gesundheit besaß.
Die
meisten Träume des Heiligen befassen sich mit Gefahren,
die dem Seelenheil seiner Jungen drohten. Diese Tatsache
berechtigt zu der Annahme, daß er sich große Sorge um
das ewige Heil seiner Schützlinge machte, daß er die
Gefahren kannte und den Feind alles Guten in
verschiedenen Gestalten sah. Das alles enthalten die
meisten seiner Träume, die er den Jungen erzählte und
an die er auch Belehrungen und Ermahnungen knüpfte.
Don
Bosco empfand aber auch durch seine Traumgesichte viel
Freude und Trost. Besonders freute ihn, die gewaltige
Entwicklung seiner Kongregation vorauszusehen, und er
sprach davon mit prophetischer Voraussicht. Das alles
berechtigt zu der Annahme, daß es sich bei seinen
Gesichten nicht um gewöhnliche Träume handelt.
Dr.
Theodor Seelbach
Provinzial
DER
ERSTE TRAUM — EIN HIMMLISCHER AUFTRAG
(Lemoyne
1, 123-125)
In
seinen Memoiren berichtet Don Bosco selbst über den
ersten visionären Traum, den er bereits in früher
Jugend hatte:
“Als
ich ungefähr neun Jahre alt war, hatte ich einen Traum,
der mir mein ganzes Leben lang tief im Gedächtnis
haften blieb. Im Traume schien es mir, als befände ich
mich unweit meiner Heimat, auf einem sehr geräumigen
Hof. Auf diesem hatte sich eine große Schar Jungen
versammelt. Viele von ihnen liefen munter umher, lachten
und spielten; nicht wenige aber fluchten. Als ich ihr
Fluchen vernahm, stürzte ich sofort auf sie los. Ich
wollte sie mit Schlägen und Schelten zum Schweigen
bringen.
In
dem Augenblick erschien ein hoheitsvoller Herr. Er stand
im Mannesalter und war sehr schön gekleidet. Ein weißer
Mantel umhüllte seine ganze Gestalt. Sein Antlitz
leuchtete so stark, daß ich ihn nicht anzublicken
vermochte.
Der
Herr redete mich freundlich mit meinem Namen an und gab
mir die Anweisung: “Stelle dich an die Spitze der
Jungen! “Und er fügte noch hinzu: “Nicht mit Schlägen,
sondern mit Milde, Güte und Liebe mußt du dir diese zu
Freunden gewinnen. Fange daher sofort an, sie über die
Häßlichkeit der Sünde und über den Wert der Tugend
zu unterrichten.”
Ganz
verwirrt und erschrocken gab ich zur Antwort, ich sei
ein armer, unwissender Knabe und nicht fähig, mit
diesen Jungen über Religion zu sprechen.
In
dem Augenblick hörten die Jungen mit dem Lachen, Lärmen
und Fluchen auf und scharten sich alle um den Herrn, der
soeben gesprochen hatte. Fast ohne zu wissen, was ich
tat, sagte ich: “Wer sind Sie eigentlich, daß Sie mir
etwas Unmögliches befehlen?”
Der
Herr antwortete: “Gerade weil dir diese Aufgabe unmöglich
erscheint, mußt du sie durch Gehorsam und Erwerb der
Wissenschaft möglich machen.”
Darauf
fragte ich ihn: “Aber wie und wo kann ich mir das nötige
Wissen aneignen?”
Seine
Antwort lautete: “Ich werde dir eine Lehrmeisterin
geben. Unter ihrer Leitung wirst du gelehrt werden. Ohne
sie ist alles Wissen Torheit.”
“Wer
sind Sie überhaupt”, fragte ich noch einmal, “daß
Sie in dieser Art zu mir sprechen?”
Der
Herr antwortete: “Ich bin der Sohn derer, die du
dreimal am Tage grüßest, wie deine Mutter dich gelehrt
hat.”
Darauf
wagte ich zu sagen: “Meine Mutter hat mir verboten,
mich ohne ihre Erlaubnis mit Personen zu unterhalten,
die ich nicht kenne. Bitte nennen Sie mir daher Ihren
Namen.”
Da
sagte der Herr: “Frage meine Mutter nach meinem
Namen!”
In
dem Augenblick sah ich neben ihm eine Dame von majestätischem
Aussehen. Sie war mit einem Mantel bekleidet, der über
und über so strahlte, als wäre er mit hell leuchtenden
Sternen besät. Der Herr sah, daß ich in meinen Fragen
und Antworten immer verwirrter wurde und gab mir ein
Zeichen, mich der Dame zu nähern. Diese faßte mich
liebevoll bei der Hand und sagte zu mir: “Schau
mal!” Ich blickte auf und nahm wahr, daß alle Jungen
verschwunden waren. An ihrer Stelle aber sah ich eine
Menge Ziegenböcklein, Hunde, Katzen, Bären und viele
andere Tiere.
Die
Dame sprach weiter: “Schau, dies ist dein Feld, hier
mußt du arbeiten. Werde demütig, stark und tapfer;
denn was du an diesen Tieren geschehen siehst, das
sollst du an meinen Kindern tun.”
Hierauf
blickte ich um mich und sah, daß an Stelle der wilden
Tiere ebenso viele sanfte Lämmer erschienen. Diese hüpften
vergnügt umher und blökten munter, als wollten sie den
Herrn und die Dame herzlich begrüßen.
Immer
noch im Traum begann ich zu weinen und bat die Dame,
sich verständlicher auszudrücken; denn ich begriff
nicht, was das alles bedeuten sollte. Darauf legte sie
freundlich ihre Hand auf meinen Kopf und sagte: “Zur
gegebenen Zeit wirst du alles verstehen.”
Als
sie das gesagt hatte, wurde ich durch irgendein Geräusch
geweckt, und alles war verschwunden. —
Ich
war wie betäubt. Mir war, als täten mir meine Hände
noch von den Schlägen weh, die ich ausgeteilt hatte.
Mein Gesicht schien von den Ohrfeigen zu schmerzen, die
ich von den Lausbuben erhalten hatte. Zudem beschäftigten
sich meine Gedanken mit der erhabenen Person und der
Dame sowie mit dem Gehörten und Gesagten, so daß ich
in jener Nacht keinen Schlaf mehr finden konnte.
Am
folgenden Morgen erzählte ich meinen Traum im
Familienkreise. Jeder der Angehörigen äußerte seine
Meinung dazu. Der Bruder Josef sagte: “Du wirst einmal
ein Hirte von Ziegen, Schafen oder sonstigen Tieren. ”
Meine Mutter meinte: “Wer weiß, ob er nicht Priester
werden muß. ” Anton brummte sehr trocken:
“Vielleicht wirst du einmal ein Räuberhauptmann. ”
Die Großmutter aber beschloß das Thema, indem sie
sagte: “Man darf auf Träume nichts geben.”
Ich
selber stimmte der Meinung meiner Großmutter zu, doch
konnte ich den Traum nie aus dem Gedächtnis bringen.”
(Lem.
1, 244)
Als
Johannes Bosco 16 Jahre alt war, wiederholte sich der
Traum. Er selber erzählte ihn folgendermaßen:
“Im
Traum sah ich eine vornehme Dame auf mich zukommen. Sie
führte eine überaus große Herde an. Als sie nahe bei
mir war, redete sie mich mit folgenden Worten an: Schau,
Johannes, diese ganze Herde vertraue ich deiner Obhut
an.”
Da
fragte ich: “Wie soll ich es anstellen, so viele
Schafe und Lämmer zu hüten und zu betreuen? Wo finde
ich die nötigen Weiden, auf die ich sie führen könnte?”
Die
Dame antwortete mir: “Habe keine Angst; ich werde dir
beistehen.”
Darauf
verschwand sie.
(Lem.
1, 305)
Mit
19 Jahren wiederholte sich der erste Traum noch einmal.
Im Traum sah Johannes Bosco eine erhabene, majestätische
Person, die weiß gekleidet war und in hellem Glanz
erstrahlte. Der vornehme Herr war damit beschäftigt,
eine überaus zahlreiche Jungenschar zu leiten. Er
wandte sich an Johannes und sagte: “Komm her, stelle
dich an die Spitze dieser Jungen und führe du sie
an!”
Darauf
antwortete Johannes Bosco, er sei nicht fähig, so viele
Tausende von Jugendlichen zu unterrichten und zu leiten.
Die
hoheitsvolle Person aber bestand gebieterisch auf ihrem
Befehl, bis Johannes sich an die Spitze der großen
Jungenschar stellte und sie auftragsgemäß zu führen
begann.
DIE
RABEN
(Lem.
VII, 649-651)
Am
14. April 1864 erzählte Don Bosco folgende zwei Träume,
die er einige Nächte vorher gehabt hatte:
“Am
3. April, in der Nacht vor dem Weißen Sonntag, schien
es mir im Traum, als befände ich mich auf einem Balkon
und sähe die Jungen beim Spiel. Da plötzlich sah ich,
wie sich ein großes weißes Laken über den ganzen Hof
herniedersenkte und ihn bedeckte; die Jungen spielten
aber weiter. Während ich sie noch beobachtete, sah ich
eine große Menge Raben. Sie flatterten und kreisten über
dem Tuch umher. Schließlich entdeckten sie die Ränder
des Tuches, flogen darunter, stürzten sich auf die
Jungen und hieben mit ihrem Schnabel auf sie ein. Der
Anblick erregte Mitleid. Dem einen Jungen hackten sie
die Augen aus, einem anderen zerhackten sie die Zunge,
einem dritten zerhieben sie die Stirne, und wieder einem
anderen zerrissen sie das Herz.
Was
mich aber am meisten in Erstaunen setzte, war die
Feststellung, daß keiner schrie oder sich beklagte,
sondern alle blieben kalt, ja sogar gefühllos und
suchten sich nicht zu verteidigen.
“Träume
ich vielleicht”, sagte ich, “oder bin ich wach? Wenn
ich nicht träume, wie ließe sich dann erklären, daß
die Jungen sich so mißhandeln lassen ohne vor Schmerz
zu schreien?” Aber kurz darauf hörte ich ein
allgemeines Wehklagen. Dann sah ich, wie die Verwundeten
sich erregten, und ich hörte wie sie schrieen und lärmten
und sich von den übrigen absonderten. Verwundert darüber
überlegte ich, was das bedeuten sollte.
“Vielleicht”, so dachte ich, hängt es mit dem Weißen
Sonntag zusammen. Will der Herr uns zeigen, was seine
Gnade für uns alle zu bedeuten hat? Die Raben
versinnbilden Teufel, welche die Jungen angreifen.”
Während
ich das erwog, hörte ich ein Geräusch und erwachte. Es
war schon Tag, und irgend jemand hatte an meiner Türe
geklopft. Über alles das war ich nicht wenig erstaunt,
als ich am Montag bemerkte, daß die Zahl der
Kommunionen abgenommen hatte. Am Dienstag sank sie noch
mehr und am Mittwoch waren es auffallend wenige, so daß
ich zur halben Messe schon mit Beichthören fertig war.
Ich wollte aber nichts sagen, denn die Exerzitien
standen bevor. So hoffte ich, es würde alles in Ordnung
kommen.
Gestern
am 13. April hatte ich noch einen Traum. Ich hatte den
ganzen Tag hindurch Beichte gehört und war in meinen
Gedanken noch mit den Seelen der Jungen beschäftigt,
wie das stets der Fall ist. Am Abend ging ich zu Bett,
konnte aber keinen Schlaf finden. Erst nach einigen
Stunden fing ich an zu schlafen. Es schien mir, als befände
ich mich wieder auf dem Balkon und beobachtete von dort
die spielenden Jungen. Ich gewahrte alle, auch die von
den Raben Verwundeten. Ich sah überhaupt alles. Es
erschien jemand mit einem kleinen Gefäß in der Hand,
das Balsam enthielt und ein anderer, mit einem
Leinentuch, begleitete ihn. Beide begannen die Wunden
der Jungen zu behandeln. Die Wunden heilten, sobald sie
vom Balsam berührt wurden. Einige Jungen jedoch machten
sich davon, als sie die beiden herankommen sahen. Sie
wollten nicht geheilt werden. Mir mißfiel es sehr, daß
es nicht nur einzelne waren. Nun bemühte ich mich, ihre
Namen auf ein Stück Papier zu schreiben; ich kannte nämlich
alle. Während ich nun schrieb, erwachte ich und fand
mich ohne Papier. Die Namen hatte ich mir aber durch das
Schreiben ins Gedächtnis eingeprägt und jetzt weiß
ich sie fast alle. Vielleicht habe ich auch einige
vergessen; doch dürften es nur wenige sein. Jetzt setze
ich meine Unterredung mit den Jungen fort. Mit einigen
habe ich schon gesprochen. Ich werde mich bemühen, die
Wunden aller zu heilen.
Legt
dem Traum an Wichtigkeit bei, soviel ihr wollt; meinen
Worten aber schenkt vollen Glauben. Es schadet eurer
Seele nicht im geringsten. Ich möchte jedoch haben, daß
keiner diese Dinge aus dem Oratorium trägt. Euch sage
ich alles, möchte aber haben, daß ihr alles hier
drinnen laßt.”
In
der Unterredung mit seinen Jungen hat Don Bosco gewiß
jedem einzelnen die entsprechende Erklärung zu diesem
Traum gegeben und dabei auf das hingewiesen, was der
Rabe, was die Verletzungen der Jungen und was deren
Heilung zu bedeuten habe.
Der
Rabe wird allgemein Galgenvogel genannt. Man spricht
auch von einem Unglücksraben und man betrachtet ihn als
Unheilverkünder und Pechvogel.
In
diesem Traum versinnbildet der Rabe den bösen Geist,
den Teufel, der die Menschen ins Unglück stürzen will,
indem er sie blind macht für das Gute und stumm, wenn
es sich darum handelt, ein offenes, reumütiges
Bekenntnis in der Beichte abzulegen.
Er
raubt den Menschen, die nicht vor ihm fliehen, gleichsam
den Verstand, die klare Unterscheidung zwischen Gut und
Böse und nimmt ihr Herz, ihre Liebe, für sich, d. h. für
sündhafte Freuden, in Anspruch.
Der
im zweiten Traum erwähnte Balsam bedeutet reumütiges
Vertrauen auf Gottes Barmherzigkeit, das wie Balsam
wirkt. Die Behandlung mit dem Leinentuch versinnbildet
die Abwaschung der Sünden im Bußgericht.
REBHÜHNER
UND WACHTELN
(Lem.
VIII, 11)
Diesen
Traum hatte Don Bosco am 14. Januar 1865 und er erzählte
ihn zwei Tage später seinen Jungen:
“Die
Hälfte des Monats Januar ist schon verflossen. Wie habt
ihr die Zeit benützt? Wenn es euch gefällt, erzähle
ich euch heute abend einen Traum, den ich in der
vorletzten Nacht hatte.
Ich
war unterwegs mit den Jungen des Oratoriums und mit
vielen anderen, die ich nicht kannte. Bei einem Weinberg
hielten wir an, um zu frühstücken. Die Buben liefen
herum in der Absicht, Früchte zu essen. Einer aß
Feigen, ein anderer Trauben wieder andere Pfirsiche oder
Pflaumen. Ich war mitten unter ihnen und schnitt
Weintrauben ab. Auch pflückte ich Feigen und gab sie
den Jungen. Dabei sagte ich: “Nun nimm und iß.”
Es
schien mir, als träumte ich und es tat mir leid, daß
es nur ein Traum sein sollte. Doch sagte ich mir: “Sei
es wie es wolle; wir lassen die Jungen essen. ” Mitten
in den Reihen gewahrte ich den Winzer. Als wir uns
erquickt hatten, setzten wir unseren Weg durch den
Weinberg fort. Das war aber sehr beschwerlich. Der
Weinberg war nämlich, wie es zu sein pflegt, in seiner
ganzen Länge von tiefen Furchen durchschnitten, so daß
man zuweilen hinunter‑ und wieder hinaufsteigen
oder gar springen mußte. Die Kräftigsten sprangen hinüber.
Die Kleinsten taten es ihnen nach, gelangten aber nicht
auf die dahinterliegende Reihe, sondern rollten in den
Graben. Darüber machte ich mir Sorgen und ich spähte
umher. Da sah ich eine Straße, die an der Seite des
Weinbergs entlang ging. Nun wandte ich mich mit allen
Jungen dorthin. Der Winzer hielt mich aber an und sagte:
“Sehen Sie sich vor und gehen Sie nicht auf jener Straße
X. Sie ist nicht gangbar, sie ist voll von Steinen,
Dornen, Schmutz und Furchen. Setzen Sie den eben
eingeschlagenen Weg fort. ” Ich antwortete: “Sie
haben recht, aber diese ganz Kleinen können nicht über
die Furchen kommen.”
“Oh,
das ist schnell gemacht”, erwiderte er. “Die Größten
mögen die Kleinen auf die Schultern nehmen; sie können
springen, obwohl sie die Last tragen. ” Ich war nicht
ganz davon überzeugt und ging mit meiner ganzen Schar
zum Rand des Weinbergs an die Straße heran und stellte
fest, daß der Winzer die Wahrheit gesagt hatte. Die
Straße war in einem schrecklichen Zustand und
unbrauchbar. Ich wandte mich an Don Francesia und sagte:
“Incidit in Scyllam qui vult vitare Charybdim” (=
Man verfällt der Scylla, wenn man die Charybdis meiden
will. Ein Bild aus der Odyssee. Der Sinn entspricht
unserem Sprichwort: Man kommt aus dem Regen in die
Traufe). — Wir mußten nun den Rat des Winzers
befolgen und den Pfad benützen, der neben der Straße
herlief, um so gut wie möglich durch den ganzen
Weinberg zu gelangen. Am Ende des Weinbergs stießen wir
auf eine dichte Dornenhecke. Nur mit großer Mühe
fanden wir einen Durchgang. Dann marschierten wir von
einem hohen Hügel hinunter und gelangten in ein
liebliches Tal, das ganz mit Gras und Bäumen bedeckt
war. Mitten auf einer Wiese sah ich zwei frühere Zöglinge
des Oratoriums. Kaum hatten sie mich erblickt, so kamen
sie auf mich zu und begrüßten mich. Sie blieben stehen
und sprachen mit den andern. Als sie sich so eine Weile
unterhalten hatten, sagte einer von ihnen: “Sehen Sie
da, wie schön!” Dabei zeigte er mir zwei Vögel, die
er in der Hand hatte. “Was sind das für Tiere?”,
fragte ich. “Ein Rebhuhn und eine Wachtel. Ich habe
sie gefunden. ” “Lebt denn das Rebhuhn?”, fragte
ich weiter. “Oh ja, sehen Sie es nur genau an. ” Und
er gab mir ein schönes, nur einige Monate altes
Rebhuhn. “Frißt es schon allein?” “Es fängt eben
an. ” Während ich dem Tier etwas zu fressen gab,
stellte ich fest, daß es den Schnabel in vier Teile
gespalten hatte. Darüber wunderte ich mich und fragte
den Jungen nach dem Grund dieser Erscheinung. Und er
sagte: “Weiß Don Bosco wirklich nicht, was das heißen
soll? Der in vier Teile gespaltene Schnabel des Rebhuhns
bedeutet das gleiche wie dieses selbst. ” “Das
verstehe ich nicht,” antwortete ich. “Das verstehen
Sie nicht, obwohl Sie soviel studiert haben? Wie heißt
Rebhuhn auf Latein?” “Perdix. ” Nun gut, da haben
Sie den Schlüssel zu allem. ” “Sei so gut und hilf
mir aus der Verlegenheit, ich verstehe nichts. ”
“Dann betrachten Sie doch einmal die einzelnen
Buchstaben, aus denen das Wort Perdix besteht.”
P:
soll heißen ‚perseverantia' (= Ausdauer,
Beharrlichkeit).
E:
‚Aeternitas te exspectat' (= die Ewigkeit erwartet
dich).
R:
‚Referet unusquisque secundum opera sua, prout gessit,
sive bonum, sive malum' (= einem jeden wird vergolten
werden nach seinen Werken, je nachdem er Gutes oder
Schlechtes getan hat).
D:
‚Dempto nomine' (= ausgelöscht ist jeder menschliche
Ruhm, alle Ehre, Wissenschaft und Reichtum).
I:
bedeutet ‚lbit'. So deuten die vier Teile des
Schnabels die vier letzten Dinge des Menschen an.”
“Du
hast recht. Das habe ich verstanden. Sag mir nun auch,
wo du das X gelassen hast. Was soll denn dieser
Buchstabe bedeuten?” “Wie, Sie haben doch Mathematik
studiert und wissen nicht was X bedeutet?” “X ist
die Unbekannte. ” “Statt dessen kann man auch sagen
‚der Unbekannte', nämlich der unbekannte Ort: an
einen unbekannten Ort wird er kommen (in locum suum —
an seinen Ort)”. Während ich mich über diese Erklärung
wunderte und doch überzeugt war, fragte ich ihn:
“Schenkst du mir dieses Rebhuhn? O ja, sehr gerne.
Wollen Sie auch die Wachtel sehen?”
Da
hielt er mir eine prächtige Wachtel hin; sie sah
wenigstens so aus. Ich nahm sie entgegen, hob ihre Flügel
etwas hoch und sah, daß sie voll Wunden war und ganz
unrein und eitrig aussah. Auch roch sie ekelhaft. Ich
fragte nun den Jungen, was das zu bedeuten habe. Er
antwortete: “Priester, Priester, das weißt Du nicht
und hast doch die Heilige Schrift studiert! Weißt Du
nicht mehr, daß die Hebräer in der Wüste murrten und
Gott ihnen die Wachteln sandte? Sie aßen davon und
hatten noch das Fleisch zwischen den Zähnen, als viele
tausend durch die Hand des Herrn bestraft wurden. Also
bedeutet diese Wachtel, daß der Gaumen mehr tötet als
das Schwert; hier liegt die Quelle der meisten Sünden.”
Ich
dankte dem Jungen für seine Erklärung. Inzwischen
tauchten in Hecken, auf Bäumen und im Gras Rebhühner
und Wachteln in großer Zahl auf. Sie glichen denen,
welche der Knabe in der Hand hielt, der mit mir
gesprochen hatte. Die Jungen aber fingen an, Jagd auf
die Vögel zu machen und sorgten so für ihre Mahlzeit.
Dann
machten wir uns wieder auf den Weg. Alle, die von den
Rebhühnern gegessen hatten, waren kräftig und setzten
ihren Weg fort. Diejenigen aber, die Wachteln gegessen
hatten, blieben im Tal. Sie folgten mir nicht, blieben
auch nicht beisammen und ich verlor sie aus dem Auge und
sah sie nicht wieder. — Der Traum dauerte die ganze
Nacht. Am Morgen war ich so müde und erschöpft, daß
ich mir vorkam, als wäre ich die ganze Nacht auf Reisen
gewesen.
Ich
wünsche dringend, daß diese Dinge, die ich euch hier
erzählt habe, nicht außerhalb des Oratoriums weitererzählt
werden. Unter euch könnt ihr darüber sprechen, soviel
ihr wollt; tragt aber nichts aus dem Haus.”
(Lem.
VIII, 16-17)
In
der Abendansprache am 18. Januar kam Don Bosco noch
einmal auf den Traum zu sprechen. Er sagte: “Ihr wollt
doch sicher mehr über den Traum wissen. So will ich
erklären, was Wachtel und Rebhuhn bedeuten. Das Rebhuhn
bedeutet — klar ausgedrückt — die Tugend, die
Wachtel das Laster. Warum die so schön aussehende
Wachtel bei näherem Zuschauen Wunden unter den Flügeln
hatte und ganz ekelhaft roch, wißt ihr und brauche ich
euch nicht zu erklären; es sind schändliche Dinge.
Einigen Jungen schmeckte die Wachtel gut. Sie aßen mit
Gier davon, obwohl das Fleisch faul war. Das sind jene,
die sich dem Laster ergeben.
Andere
aßen vom Rebhuhn. Es sind solche, welche die Tugend
lieben und darum auch üben. Manche hielten in der einen
Hand eine Wachtel und in der anderen ein Rebhuhn. Sie aßen
aber von der Wachtel. Das sind jene, die zwar die Schönheit
der Tugend kennen, wollen aber mit der Gnade, die Gott
ihnen schenkt, nicht mitwirken, um tugendhaft zu werden.
Wieder
andere, die in der einen Hand ein Rebhuhn und in der
anderen eine Wachtel hielten, aßen zwar vom Rebhuhn,
warfen aber begehrliche und gierige Blicke nach der
Wachtel. Das sind jene, welche die Tugend zwar üben,
aber nur mit viel Mühe und Anstrengung. An ihnen kann
man zweifeln, ob sie sich ändern oder doch bei der nächsten
Gelegenheit fallen werden.
Manche
aßen vom Rebhuhn, während Wachteln vor ihnen
herumflatterten; diese Jungen schauten aber nicht
darauf, sondern fuhren fort, ihr Rebhuhn zu essen. Das
sind jene, die tugendhaft sind und das Laster
verabscheuen und verachten. Einige aßen ein wenig vom
Rebhuhn und ein wenig von der Wachtel. Bei ihnen
wechselt die Tugend mit dem Laster ab. Sie geben sich
einer Täuschung hin, indem sie meinen, nicht schlecht
zu sein . . .
Ihr
werdet fragen: “Wer von uns aß Wachteln und wer vom
Rebhuhn?” Vielen habe ich es schon gesagt; die anderen
mögen, wenn sie wollen, zu mir kommen, und ich werde es
ihnen sagen.”
Don
Lemoyne geht noch näher auf das Bild des Rebhuhns ein
und bemerkt dazu, es sei ein sehr schlauer Vogel, der
sich mit besonderer Gewandtheit dem Jäger entziehen und
sein Nest schützen kann.
Dieser
Traum Don Boscos bedarf keiner weiteren Erklärung. Der
Heilige hat sie selbst gegeben und setzte daher auch mit
Recht voraus, daß seine Jungen Sinn und Lehre dieses
Traumes verstanden hätten.
DAS
GEBET UND DIE TUGEND
(Lem.
VIII, 33-34)
Den
folgenden Traum erzählte Don Bosco seinen Jungen am 6.
Februar 1865:
“Vor
zwei oder drei Abenden habe ich etwas ganz Besonderes
geträumt. Wollt ihr haben, daß ich euch meinen Traum
erzähle? Weil ich meine Jungen liebe, sind sie mir im
Traume immer nahe.
Mir
schien es, als stände ich mitten im Hof von meinen
Jungen umgeben. Jeder von ihnen hatte eine schöne Blume
in der Hand; der eine eine Rose, der andere eine Lilie,
wieder ein anderer ein Veilchen. Es hielt also der eine
diese, der andere jene Blume in der Hand. Da erschien plötzlich
eine häßliche Katze. Sie war so groß wie ein Hund.
Sie war pechschwarz und hatte Hörner. Ihre großen
Augen waren wie glühende Kohlen, ihre Krallen waren so
stark wie Nägel und sie hatte auch einen unförmig
dicken Bauch. Diese häßliche Bestie näherte sich
langsam und ruhig den Jungen und strich dann mitten
unter ihnen einher. Plötzlich schlug sie einen mit
ihrer Tatze auf die Erde. Das gleiche tat sie bei andern
Jungen. Beim Erscheinen dieser großen Katze erschrak
ich und wunderte mich, als ich sah, daß die Jungen sich
nicht im geringsten daran störten und sich so
verhielten, als wäre nichts geschehen.
Als
ich bemerkte, daß die Katze auf mich losging, um mir
meine Blume zu entreißen, ergriff ich die Flucht. Man
hielt mich aber auf und sagte: “Nicht fortlaufen! Sag
deinen Jungen, sie sollen den Arm hochheben; dann kann
die Katze nicht an die Blumen heranreichen, um sie ihnen
aus der Hand zu reißen. ” Ich blieb stehen und hob
den Arm hoch. Die Bestie strengte sich an und versuchte
mir die Blume zu entreißen. Sie sprang hoch, um an die
Blume heranzukommen. Sie konnte sie aber nicht
erreichen, da sie zu schwer war, und plumps fiel sie zur
Erde nieder.
Die
Lilie, meine lieben Jungen, stellt die schöne Tugend
der Reinheit dar, gegen die der Teufel immer wieder
Krieg führt. Wehe den Jungen, die diese Blume nicht
hochhalten! Der Teufel nimmt sie ihnen und läßt sie
fallen. Jene halten sie nicht hoch, die ihren Körper
verwöhnen, die im Essen keine Ordnung und kein Maß
halten, die außer den Mahlzeiten essen und trinken. Es
sind solche, die jeder Anstrengung, auch dem Studium,
aus dem Wege gehen und sich dem Müßiggang hingeben.
Ferner jene, denen gewisse Bücher und Reden gefallen
und die jede Abtötung fliehen. Um Gottes willen, flieht
und bekämpft diesen Feind, sonst wird er Herr über
euch! Den Sieg zu erlangen ist nicht leicht; die Ewige
Weisheit hat aber Mittel dazu bereitgestellt: Hoc autem
genus non ejicitur nisi per orationem et jejunium” (=
diese Art — von Teufeln — wird nur durch Gebet und
Fasten ausgetrieben) Matth. 17, 20.
Haltet
eure Arme, haltet eure Blumen hoch und ihr seid sicher.
Reinheit ist eine himmlische Tugend und wer sie bewahren
will, muß sich gegen den Himmel emporrecken. Rettet
euch also durch das Gebet.
Gebete,
die euch zum Himmel erheben, sind das Morgen- und
Abendgebet, sofern sie gut verrichtet werden. Gebete
sind auch Betrachtung und die hl. Messe; Gebete sind öftere
Beichte und Kommunion; Gebete sind die Predigten und
Ansprachen der Obern; Gebet ist die Besuchung des
Allerheiligsten, der Rosenkranz und auch das Studium.
Wenn ihr Gebete verrichtet, wird euer Herz sich
ausdehnen wie ein Luftballon und sich zum Himmel erheben
und dann könnt ihr mit David sprechen: “Viam
mandatorum tuorum cucurri, cum dilatasti cor meum” (=
den Weg deiner Gebote will ich wandeln, denn du hast
mein Herz weit gemacht) Ps. 118, 32. Auf diese Weise
bringt ihr die schönste der Tugenden in Sicherheit und
der Feind mag sich noch so sehr anstrengen, er kann sie
euren Händen nicht entreißen.”
(Lem.
VIII, 40)
Am
13. Februar 1865 kam Don Bosco noch einmal auf diesen
Traum zu sprechen: “Ich habe euch gesagt, daß diese häßliche
Bestie der Teufel war, der euch zugrunde richten möchte.
Als ich euch das sagte, glaubte ich im Hinblick auf
euch, das entspräche nicht der Wirklichkeit, es sei nur
ein Phantasiegebilde. Zu meinem großen Leidwesen muß
ich aber sagen, daß die Katze auch unter euch großes
Unheil angerichtet hat. Es ist zwar nicht so, daß der
größte Teil von euch gefehlt hätte; in Anbetracht der
großen Zahl von Jungen in unserem Haus ist es nur eine
kleine Minderheit, die gefehlt hat. Und doch ist diese
Minderheit noch viel größer als ich glauben wollte.
Hier im Oratorium ereigneten sich im Ablauf weniger Tage
Dinge, die man bisher niemals darin beobachten
konnte.”
Zu
diesem Traum läßt sich sagen: Die vielen Bemühungen
Don Boscos um seine Jungen hatten als Ziel, tugendhafte
Menschen aus ihnen zu machen. Mit diesen eindringlichen
Worten hatte er sie oft ermahnt: “Jungen, bewahrt in
euren Herzen den Schatz der Tugend. Wenn ihr den
besitzt, habt ihr alles; wenn ihr ihn aber verliert,
werdet ihr die Unglücklichsten der Welt” (Lem. III,
11).
Als
schönsten Schmuck bezeichnete Don Bosco die Tugenden,
der Reinheit, der Demut, des Gehorsams und der Liebe”
(IV, 748). An erster Stelle nennt er die Reinheit. In
diesem Traum wird sie — wie in der Regel — mit der
Lilie verglichen.
Mit
der Erzählung dieses Traumes wollte der Heilige den
Jungen das Wort der Schrift einprägen: “Wachet und
betet” (Matth. 24/42); denn “wer betet, der wird
gerettet” (St. Alfons).
DER
TEUFEL VERLEITET ZU ZERSTREUUNGEN
(Lem.
VIII, 115-116)
Von
Don Bosco am 1. Mai 1865 erzählt:
“Im
Traum sah ich mich in einer Kirche, die von Jungen ganz
gefüllt war. Nur wenige gingen zur hl. Kommunion. An
der Kommunionbank stand ein großer Mann in schwarzer
Kleidung. Er hatte Hörner und hielt einen Apparat in
der Hand. Einigen Jungen zeigte er verschiedene Sachen,
die in dem Apparat zu sehen waren. Den einen ließ er
die ganze vom Spiel belebte Erholungspause sehen. Er
interessierte sich vor allem für sein Lieblingsspiel.
Einem anderen zeigte er frühere Spiele, an denen er
Vergnügen fand in der Hoffnung auf zukünftige Siege
beim Spiel. Dann zeigte er einem seine Heimat, seine
Spaziergänge daselbst, Felder und Vaterhaus; einem
andern den Studiersaal, die Bücher, Arbeiten und seine
Helfer. Dem nächsten zeigte er Obst, Süßigkeiten und
den Wein, den er im Koffer hatte, und wieder einem
andern seine Eltern und Freunde.
Aber
auch Schlimmeres ließ er sie schauen, nämlich ihre Sünden
und nicht abgegebenes Geld. Daher gingen nur wenige zu
den hl. Sakramenten. Einige sahen ihre Ferienausflüge.
Sie übersahen alles andere und betrachteten nur die früheren
Gefährten ihrer Vergnügungen.
Wißt
ihr, was dieser Traum bedeuten soll? Er will besagen, daß
der Teufel sich anstrengt, die Jungen in der Kirche zu
zerstreuen, um sie vom Empfang der hl. Sakramente
fernzuhalten. Und die Jungen sind so unklug und gehen
darauf ein.
Meine
lieben Jungen! Dieses elende Teufelswerk muß man
zerschlagen. Wißt ihr auch wie? Werft einen Blick auf
das Kreuz und dann denkt daran, daß man sich dem Teufel
in die Arme wirft, wenn man den Empfang der hl.
Kommunion vernachlässigt.”
DIE
PROZESSION ZUM MARIENALTAR
(Lem.
VIII, 129-132)
Den
folgenden Traum erzählte Don Bosco am 30. Mai 1865:
“Ich erblickte einen großen Altar, der Maria geweiht
und prächtig geschmückt war. Alle Jungen des
Oratoriums sah ich in einer Prozession zum Altare
schreiten. Sie sangen das Lob der reinsten Jungfrau,
aber nicht alle in derselben Weise, obwohl alle das
gleiche Lied sangen. Viele sangen wirklich genau und gut
nach den Noten. Einige sangen lauter, andere leiser.
Manche hatten eine heisere Stimme. Andere sangen falsch,
wieder andere gingen schweigend weiter und lösten sich
dann aus den Reihen. Einige gähnten und langweilten
sich. Manche stießen sich auch an und lachten
miteinander. Aber alle trugen Geschenke, um sie Maria
darzubringen. Die meisten brachten einen Blumenstrauß.
Diese Blumensträuße waren von verschiedener Größe
und mannigfaltiger Art. Einer hatte einen Strauß Rosen,
ein anderer Nelken, wieder ein anderer Veilchen usw.
Einige brachten der allerseligsten Jungfrau wirklich
seltsame Gaben. Die einen trugen einen Schweinekopf, die
anderen eine Katze. Es war auch einer dabei, der eine
Platte voll Kröten hatte, während andere ein
Kaninchen, ein Lamm oder andere Dinge trugen.
Vor
dem Altar stand ein schöner Jüngling. Wenn man genau
hinschaute, sah man Flügel. Vielleicht war es der
Schutzengel des Oratoriums. So wie die Jungen nach und
nach herankamen und ihre Gaben darbrachten, nahm er
diese in Empfang und legte sie auf den Altar.
Die
ersten brachten herrliche Blumensträuße und der Engel
legte sie, ohne etwas zu sagen, auf den Altar. Andere
— in großer Zahl — reichten ihm ihre Blumensträuße.
Er betrachtete sie und nahm sie auseinander. Verdorbene
Blumen nahm er heraus und warf sie weg. Dann fügte er
die Blumen wieder zu einem Strauß zusammen und legte
sie auf den Altar. Einige hatten schöne Blumensträuße,
aber Blumen dazwischen, die nicht dufteten, wie Dohlen,
Kamelien u. a. Der Engel ließ sie herausnehmen, weil
Maria nur Wirklichkeit und nicht den Schein liebt. Wenn
dann der Strauß neu geordnet war, brachte der Engel ihn
der heiligsten Jungfrau dar. Viele hatten zwischen ihren
Blumen sogar Dornen und Nägel, die der Engel wegnahm.
Schließlich
kam der Junge heran, der einen Schweinekopf trug. Der
Engel sagte zu ihm: “Hast du wirklich den Mut, diese
Gabe Maria anzubieten? Weißt du auch, was das Schwein
bedeutet? Das häßliche Laster der Unkeuschheit. Die
reinste Jungfrau Maria kann diese Sünde nicht ertragen.
Ziehe dich also zurück; du bist nicht würdig vor ihr
zu stehen.”
Dann
kamen Jungen, die eine Katze trugen und der Engel sagte
ihnen: “Ihr wagt es, der Gottesmutter solche Sachen
anzubieten? Wißt ihr nicht was eine Katze bedeutet? Sie
versinnbildet den Diebstahl und ihr bringt sie noch der
heiligsten Jungfrau! Diebe seid ihr, Diebe, die den
Kameraden Geld, Sachen, Bücher und sogar Eßwaren
wegnehmen. Ihr seid solche, die aus Ärger und Bosheit
Kleider zerreißen und das Geld der Eltern vergeuden,
weil sie die Zeit zum Lernen der Schulaufgaben nicht
ausnutzen.”
Dann
ließ er auch diese beiseite treten.
Nun
kamen diejenigen Jungen, welche Platten mit Kröten
trugen. Der Engel schaute sie zornig an. “Die Kröten
versinnbilden die schändlichen Sünden des Ärgernisgebens
und ihr wollt sie der reinsten Jungfrau bringen? Zurück!
Fort mit euch zu den übrigen Unwürdigen!” Da zogen
sie sich verwirrt zurück.
Es
kamen auch einige heran, die einen Dolch im Herzen
trugen. Der Dolch bedeutet Sakrilegien. Der Engel sagte
ihnen: “Merkt ihr nicht, daß ihr den Tod in der Seele
habt? Daß ihr Überhaupt noch lebt, ist ein besonderes
Geschenk der Barmherzigkeit Gottes. Ihr wäret sonst
verloren. Um Gottes Willen, laßt euch diesen Dolch
herausnehmen!” Auch diese wurden zurückgewiesen.
Nach
und nach kamen alle Jungen heran. Es wurden Lämmer,
Kaninchen, Fische, Nüsse, Trauben und andere Sachen
geopfert. Der Engel nahm alles und legte es auf den
Altar.
Nachdem
er die guten Jungen von den schlechten geschieden hatte,
ließ er alle, deren Gaben von Maria angenommen worden
waren, sich vor dem Altar aufstellen. Leider waren
diejenigen, die er fortgeschickt hatte, und die an der
Seite standen, zu meinem Schmerz viel zahlreicher als
ich geglaubt hatte.
Nun
erschienen zu beiden Seiten des Altares noch zwei andere
Engel. Diese brachten zwei Körbe voll herrlicher Kränze,
die aus prächtigen Rosen geflochten waren. Es waren
eigentlich keine natürlichen Rosen, sondern künstliche,
ein Sinnbild der Unsterblichkeit.
Der
Schutzengel nahm darauf die Kränze, einen nach dem
andern, und schmückte damit alle Jungen, die um den
Altar standen. Die Kränze waren verschieden groß, aber
alle von einer wunderbaren Schönheit. Denkt euch nur,
da waren nicht nur die Jungen anwesend, die sich zur
Zeit im Oratorium befinden, sondern auch noch viele
andere, die ich noch niemals gesehen hatte.
Nun
geschah etwas ganz Auffallendes. Da waren so häßliche
Jungen, daß sie fast Ekel und Abscheu einflößten.
Diese erhielten die schönsten Kränze, um anzudeuten,
daß ein so häßliches Äußere durch das Geschenk der
Tugend der Keuschheit in hervorragendem Maße ersetzt
wird. Viele andere hatten dieselbe Tugend, aber in
weniger hohem Grad erworben. Wieder andere zeichneten
sich durch die Übung anderer Tugenden aus, wie
Gehorsam, Demut und Gottesliebe. Alle erhielten Kränze,
die dem Grad ihrer Tugenden entsprachen. Darauf sagte
ihnen der Engel: “Es war der Wunsch Mariens, euch
heute mit so schönen Kränzen zu zieren. Bedenkt aber
auch, daß ihr weiter fortfahren müßt, die Tugenden zu
üben, damit sie euch nicht genommen werden. Behaltet
auch im Gedächtnis, daß es Mittel gibt, im Tugendleben
beharrlich zu sein. Es sind: 1. Demut, 2. Gehorsam, 3.
Keuschheit. Übt diese drei Tugenden, dann werdet ihr
von Maria geliebt und ihr werdet dadurch würdig werden,
eines Tages eine Krone zu empfangen, die unendlich schöner
ist als dieser Kranz. Dann stimmten die Jungen vor dem
Altar das ‚Ave maris stella' — Meerstern ich dich grüße
— an.
Nach
dem Gesang der ersten Strophe zog die Prozession, so wie
sie gekommen war, wieder ab. Dabei sangen die Jungen das
Lied: Lobet Maria, ihr gläubigen Zungen. Ihre Stimmen
waren so laut, daß ich ganz verblüfft und verwundert
war. Ich folgte noch eine Weile und entfernte mich dann,
um die Jungen zu sehen, die der Engel beiseite stehen
gelassen hatte. Ich sah sie aber nicht mehr.
Meine
Lieben! Ich weiß, welche Jungen vom Engel bekränzt und
welche fortgejagt wurden. Den einzelnen werde ich es
sagen, damit sie sich in Zukunft bemühen, der reinsten
Jungfrau solche Gaben zu bringen, die sie auch gerne
annimmt. —
Nun
noch einige Bemerkungen:
1.
Alle brachten der lieben Jungfrau Maria Blumen, und zwar
von allen Sorten. Ich beobachtete aber auch, daß alle
zwischen den Blumen mehr oder weniger Dornen hatten. Ich
dachte lange nach, was diese Dornen wohl bedeuten könnten
und kam zu der Überzeugung, daß sie Ungehorsam
darstellten: Geld behalten ohne Erlaubnis des Präfekten
und ohne die Absicht es ihm abgeben zu wollen; fragen,
ob man an einen bestimmten Ort gehen darf und dann doch
an einen anderen gehen; zu spät in die Schule kommen,
wenn die anderen schon da sind; sich heimlich Salat und
andere Speisen bereiten; in die Schlafsäle der anderen
gehen, obwohl es streng verboten ist, gleich unter
welchem Vorwand; beim Wecken nicht gleich aufstehen; die
vorgeschriebenen Andachtsübungen auslassen; schwätzen
in der Zeit des Stillschweigens; Bücher kaufen ohne sie
vorzuzeigen; Briefe durch Mittelspersonen fortschicken,
damit sie nicht gesehen werden und auf dieselbe Art
Briefe empfangen; untereinander Abmachungen treffen, Käufe
und Verkäufe tätigen.
Da
habt ihr alles, was die Dornen bedeuten. Viele von euch
werden fragen: “Ist es also Sünde, wenn man die
Hausregel übertritt?” Ich habe schon ernstlich darüber
nachgedacht und antworte euch nun mit einem bestimmten
“Ja”. Ich sage nicht es sei eine schwere oder eine
leichte Sünde. Das hängt von den Umständen ab; aber Sünde
ist es.
Man
wird einwenden: “In den Geboten Gottes steht doch
nicht, wir müßten die Hausregel befolgen. ” Hört
zu! Es ist aber in den Geboten enthalten: “Du sollst
Vater und Mutter ehren', heißt es. Wißt ihr auch, was
die Worte Vater und Mutter bedeuten? Sie schließen auch
diejenigen mit ein, welche die Stelle von Vater und
Mutter vertreten. Es steht aber in der Heiligen Schrift:
‚Gehorchet euren Vorgesetzten!' Es ist doch klar, daß
sie zu befehlen haben und ihr gehorchen müßt. Das ist
der Ursprung der Hausregel des Oratoriums und darum ist
sie verpflichtend.
2.
Einige hatten zwischen ihren Blumen auch Nägel. Nägel
haben dazu gedient, den lieben Heiland ans Kreuz zu
schlagen. Wie kamen nun die Nägel unter die Blumen? Man
fängt mit Kleinigkeiten an und aus Kleinem wird Großes.
Da wollte einer Geld haben unter einem gewissen Vorwand.
Nachher wollte er es nicht abgeben, um es auf seine Art
ausgeben zu können. Hernach fing er an, seine Schulbücher
zu verkaufen und schließlich stahl er dem Kameraden
Geld und andere Dinge. Ein anderer wollte seiner
Gaumenlust fröhnen und stahl daher Flaschenwein. Er
erlaubte sich allerhand und fiel — kurz gesagt — in
schwere Sünden. Ihr seht also, wie die Nägel zwischen
die Blumen kamen und wie der Heiland aufs neue ans Kreuz
geschlagen wurde. Der Apostel sagt: “Rursus
crucifigentes filium Dei — sie schlugen ihn aufs neue
ans Kreuz.”
3.
Viele Jungen hatten zwischen frischen und duftenden
Blumen auch verwelkte und faule in ihrem Strauß; aber
auch recht schöne waren dabei, die jedoch nicht
dufteten. Die verwelkten und faulenden Blumen bedeuten
gute Werke, aber im Stande der Todsünde verrichtet, die
also nicht verdienstvoll sind. Blumen, die nicht duften,
sind guten Werken vergleichbar, die der Menschen wegen,
aus Ehrgeiz, oder um Lehrern und Vorgesetzten zu
gefallen, verrichtet wurden. Daher machte der Engel den
Jungen Vorwürfe, weil sie es wagten, der Gottesmutter
solche Gaben darzubringen. Er schickte sie zurück,
damit sie ihren Blumenstrauß in Ordnung brächten.
Daraufhin ordneten sie ihn aufs neue, banden ihn
zusammen wie vorher und übergaben ihn dem Engel, der
ihn dann entgegennahm und auf den Altar legte. Diese
Jungen hielten sich aber nicht an eine gewisse Ordnung,
sondern brachten ihren Strauß später in Ordnung, übergaben
ihn und stellten sich dann zu jenen Jungen, die einen
Kranz erhalten hatten.
In
diesem Traum sah ich alles, was bei meinen Jungen
vorgeht, wie sie waren und wie sie sein werden. Vielen
von ihnen habe ich es schon gesagt, den andern werde ich
es noch mitteilen. Tragt aber Sorge, daß die reinste
Jungfrau von euch nur Gaben bekommt, die nicht zurückgewiesen
werden müssen.”
Aus
diesem Traum könnte man entnehmen, daß Maria nicht nur
Mittlerin aller Gnaden ist, sondern daß sie auch alle
unsere guten Werke für Gott annimmt und daß die Engel
zwischen Maria und uns stehen.
Don
Bosco hat die Nutzanwendung aus diesem Traum gezogen. Er
hat den Lohn der Tugend hervorgehoben und ebenso die
Strafe für böse Taten, die bei Jungen in einem
Internat vorkommen können.
DIE
GEFAHRVOLLE MEERFAHRT
(Lem.
VIII, 275-282)
Am
Abend des Neujahrstages 1866 erzählte Don Bosco vor der
versammelten Schar seiner Jungen den folgenden Traum:
“Mir
schien es, als befände ich mich irgendwo in der Nähe
von Castelnuovo d'Asti; es war aber anderswo. Alle
Jungen des Oratoriums spielten vergnügt auf einer großen
Wiese. Da kamen plötzlich Wasserfluten heran. Eine Überschwemmung
drohte uns von allen Seiten. Das Wasser schwoll ständig
an und kam immer näher. Der Po war über seine Ufer
getreten und gewaltige, alles verheerende Wassermassen
überfluteten das Land.
Von
Schreck überwältigt eilten wir auf eine große,
alleinstehende Mühle zu, deren Mauern so dick waren wie
die einer Festung. In ihrem Hof blieb ich mit meinen
Jungen stehen. Die Wassermassen drangen aber bis dorthin
vor. So waren wir alle gezwungen, uns in das Haus zurückzuziehen.
Bald mußten wir sogar die obersten Räume beziehen. Vom
Fenster aus überschauten wir die Überschwemmung. Die
Wasserfläche reichte wie ein ungeheurer See von den Hügeln
bei Superga bis zu den Alpenwiesen. Wir sahen die
Wasserfläche, aber keine bebauten Felder, Gemüsegärten,
Wälder, Bauernhöfe, auch keine Dörfer und Städte
mehr. Beim Ansteigen des Wassers waren wir bis in den
obersten Stock des Gebäudes gestiegen. Da alle Hoffnung
auf menschliche Hilfe geschwunden war, begann ich,
meinen lieben Jungen Mut zu machen. Ich sagte ihnen, sie
sollten sich mit vollstem Vertrauen den Händen Gottes
überlassen und in die Arme unserer lieben himmlischen
Mutter flüchten.
Bald
jedoch war das Wasser sogar bis zum obersten Stock
gestiegen. Da waren alle sehr erschrocken. Wir sahen
keine andere Rettung mehr, als uns auf ein großes Floß,
eine Art Schiff, zurückzuziehen, das in jenem
Augenblick aufgetaucht war und nahe an uns
vorbeischwamm.
Jeder
atmete bei dessen Anblick erleichtert auf und versuchte,
sich als erster zu retten. Es wagte aber doch keiner,
weil das Schiff sich dem Haus nicht ganz nähern konnte.
Eine Mauer, die etwas aus dem Wasser ragte, hinderte es
daran. Um hinüber zu kommen, bot sich nur ein langer,
schmaler Baumstamm als Hilfsmittel. Es war jedoch sehr
schwer hinüberzugehen, denn der Stamm ruhte mit einem
Ende auf dem Boot und senkte sich mit diesem, wenn es
von den Wellen geschaukelt wurde.
Ich
faßte Mut und ging als erster hinüber. Um die Jungen
zu beruhigen und das Überschreiten zu erleichtern,
bestimmte ich einige Kleriker oder Priester, welche die
Übersteigenden etwas stützen und den Ankommenden vom
Boote aus die Hand reichen sollten. Aber merkwürdig,
von dieser leichten Arbeit wurden die Kleriker und
Priester so müde, daß der eine hier, der andere dort
vor Ermüdung umsank. Das gleiche geschah auch jenen,
die an ihre Stelle traten. Verwundert wollte ich es
selber einmal probieren. Ich fühlte mich jedoch auch
bald so matt, daß ich mich nicht mehr halten konnte.
Indessen machten sich viele ungeduldige Jungen,
vielleicht aus Angst oder um sich mutig zu zeigen, eine
zweite Brücke. Sie hatten nämlich ein Brett gefunden,
das lang genug und noch etwas breiter war als der
Baumstamm. Sie warteten aber nicht auf die Hilfestellung
der Kleriker und Priester, sondern wollten voreilig hinüberlaufen.
Sie hörten auch nicht auf meine Warnung. Ich rief ihnen
zu: “Halt, halt, wenn ihr nicht hineinfallen wollt!”
So geschah es, daß viele, die von anderen gestoßen
wurden oder das Gleichgewicht verloren, hinunterfielen
und das Boot nicht erreichten. Von den trüben und
faulen Wasserfluten wurden sie verschlungen und man sah
sie nicht mehr. Bald sank dann die eigens gebaute Brücke
ein mit allen, die darauf standen. Ihre Zahl war groß;
ein Viertel all unserer Jungen wurde ein Opfer ihres
Eigenwillens.
Bis
jetzt hatte ich das eine Ende des Baumstammes
festgehalten, derweil die Jungen hinübergingen. Da
gewahrte ich, daß das Wasser noch über die hindernde
Mauer gestiegen war und fand Mittel, das Floß dicht an
die Mühle zu stoßen. Dort stand noch Don Cagliero mit
dem einen Bein auf der Fenstermauer und mit dem andern
auf dem Rand des Bootes. So ließ er die Jungen hinüberspringen,
die noch in den Räumen der Mühle zurückgeblieben
waren. Er reichte ihnen die Hand und half ihnen sicher
auf das Floß.
Aber
noch waren nicht alle Jungen gerettet. Einige waren auf
den Speicher und von dort aus auf das Dach geklettert.
Auf der höchsten Stelle hatten sie sich dicht
aneinander gedrängt, während die Überschwemmung
unaufhörlich stieg, ohne einen Augenblick auszusetzen.
Schon hatte sie die Dachrinne überflutet und bedeckte
einen Teil der Dachränder. Mit dem Wasser war aber auch
das Boot gestiegen. Ich beobachtete die armen Jungen,
die in so schrecklicher Bedrängnis waren, und rief
ihnen zu, sie sollten recht innig beten, sich ganz still
verhalten und mit den Armen ineinandergelegt
herunterkommen, um nicht auszugleiten. Sie gehorchten
und als das Floß an die Dachrinne herankam, gelangten
alle von ihren Kameraden unterstützt, an Bord. Hier sah
man in vielen Körben eine Menge Brot. Als wir alle auf
dem Floß waren — immer noch unsicher, ob wir dieser
Gefahr entrinnen würden — übernahm ich als Kapitän
das Kommando und sagte zu den Jungen: “Maria ist der
Meeresstern, sie verläßt keinen, der auf sie vertraut.
Stellen wir uns alle unter ihren Schutz. Sie wird uns
aus diesen Gefahren erretten und in einen ruhigen Hafen
führen.”
Darauf
überließen wir das Schiff den Wellen. Es kam in
Bewegung, schwamm ruhig und bewegte sich von jenem Ort.
(Facta est quasi navis institoris, de longe portans
panem suum — es gleicht dem Schiff eines Kaufmanns und
trägt von weit her sein Brot. Spr. 31/14.)
Die
vom Winde gepeitschten Wogen stießen das Floß so
schnell, daß wir, um nicht herunter zu fallen, uns eng
aneinander drückten und gleichsam nur einen Körper
bildeten.
Nachdem
wir in kurzer Zeit eine große Strecke zurückgelegt
hatten, hielt das Floß plötzlich an, drehte sich mit
außerordentlicher Geschwindigkeit um sich selbst. Es
schien unterzugehen. Aber ein sehr heftiger Wind trieb
es aus dem Strudel heraus. Dann schlug es einen regelmäßigeren
Kurs ein. Wohl kam hin und wieder ein Wirbel, aber auch
der rettende Wind und bald hielt das Schiff an einem
trockenen Gestade. Es schien ein Hügel zu sein, der
mitten aus dem Meer hervorragte und sehr schön aussah.
Viele
Jungen waren davon ganz bezaubert. Sie sagten auch, der
Herr habe die Menschen auf die Erde und nicht auf das
Wasser gesetzt. Und ohne um Erlaubnis zu fragen, verließen
sie jubelnd das Floß, luden uns auch ein, ihnen zu
folgen und stiegen ans Ufer. Ihre Zufriedenheit dauerte
aber nicht lange, denn die Fluten schwollen wieder an
und bei einem plötzlichen Wüten eines gewaltigen
Sturmes stiegen sie am Ufer empor. Nun stießen die unglücklichen
Jungen verzweifelte Schreie aus. Sie standen bald bis an
die Hüften im Wasser und verschwanden kopfüber in den
Fluten. Da rief ich: “Ja, es ist wirklich wahr. “Wer
nach seinem eigenen Kopf handeln will, muß aus seinem
eigenen Geldbeutel bezahlen.”
Das
Schiff drohte wiederum in der Gewalt des Sturmes
unterzugehen. Ich schaute auf meine Jungen; sie waren
bleich im Gesicht und keuchten. “Habt nur Mut”, rief
ich ihnen zu, “Maria wird uns nicht verlassen. ” Wir
verrichteten nun gemeinsam die Akte des Glaubens, der
Hoffnung, der Liebe und der Reue und beteten dann noch
einige Vaterunser und Gegrüßte seist du Maria und zum
Schluß noch das Salve Regina. Darauf hielten wir uns
noch einmal knieend bei den Händen und jeder betete
still für sich weiter. Trotz der Gefahr blieben einige
jedoch ziemlich gleichgültig. Sie hatten sich
aufgestellt, gingen hin und her, als wenn nichts wäre,
lachten miteinander und machten sich fast lustig über
die betende Haltung ihrer Kameraden. Da hielt das Schiff
ganz plötzlich an, drehte sich schnell um die eigene
Achse und ein wütender Sturm schleuderte jene Unglückseligen
in die Fluten. Es waren dreißig Jungen. Kaum lagen sie
in dem tiefen schlammigen Wasser, sah man nichts mehr
von ihnen. Wir stimmten das Salve Regina an und flehten
mehr denn je aus tiefstem Herzen um den Schutz des
Meeressterns Maria.
Nun
wurde es ruhig. Das Schiff schwamm wie ein Fisch immer
weiter und wir wußten nicht, wohin es uns bringen würde.
An Bord wurde eifrig und fortdauernd eine Rettungsaktion
betrieben und alles getan, um zu verhindern, daß noch
mehr Jungen ins Wasser fielen. Man gab sich auch alle Mühe,
die Hineingefallenen zu retten. Es waren ja immer wieder
einige, die sich unvorsichtig über die niedrigen Ränder
des Floßes lehnten und ins Wasser fielen. Selbst
ungezogene und schlimme Jungen waren dort, die ihre
Kameraden an den Rand des Floßes riefen und dann ins
Wasser stießen. Deswegen besorgten einige Priester kräftige
Stangen und dicke Stricke und Angelhaken. Andere
befestigten die Haken an den Stangen und teilten sie an
einzelne aus. Manche standen schon mit erhobenen Stangen
auf Posten. Sie schauten gespannt auf das Wasser und
lauschten aufmerksam auf jeden Hilferuf. Kaum fiel ein
Junge hinein, dann senkte sich die Stange und der
Schiffbrüchige klammerte sich an das Seil oder wurde
mit dem Haken an den Kleidern oder am Gürtel gepackt,
herausgezogen und gerettet. Doch gab es auch Jungen,
welche die Arbeit der Angler und der Kameraden, die
Angelhaken bereiteten und verteilten, störten und
behinderten. Die Kleriker hielten überall Aufsicht, um
die Jungen in Ordnung zu halten; es waren nämlich
viele.
Ich
stand unter einer hohen Flagge, die in der Mitte
aufgepflanzt war. Um mich herum waren viele Jungen,
Priester und Kleriker, die meine Anordnungen ausführten.
So lange sie fügsam waren und meinen Worten willig
folgten, ging alles gut. Wir waren ruhig, zufrieden und
fühlten uns sicher. Aber bald fanden einige das Floß
unbequem. Sie fürchteten eine lange Reise, beklagten
sich über die Gefahren und Entbehrungen, stritten um
den Ort der Landung und überlegten, ob man nicht eine
andere Zuflucht finden könnte. Sie gaben sich der törichten
Hoffnung hin, es sei Land in der Nähe, wo man sichere
Unterkunft finden könnte. Sie vermuteten, unser
Proviant würde ausgehen und fragten sich untereinander,
ob man nicht doch den Gehorsam verweigern sollte.
Vergebens suchte ich sie mit Vernunftsgründen zu
bewegen und zu überzeugen.
Plötzlich
waren andere Flöße in Sicht. Sie nahmen jedoch einen
anderen Kurs, als sie in unserer Nähe waren. Da
beschlossen einige unkluge Jungen, sich von mir zu
entfernen, ihren Launen zu folgen und selbst einen
Versuch zu machen. Sie warfen einige Bretter ins Wasser,
die auf unserem Floß lagen, und sie entdeckten auch
einige, die nicht weit entfernt im Wasser schwammen und
ziemlich breit waren. Sie sprangen darauf und entfernten
sich auf ihnen. Es war eine unbeschreiblich schmerzliche
Szene für mich. Sah ich doch diese Unglücklichen ihrem
Untergang entgegentreiben. Der Wind blies scharf und die
Wellen wurden stark bewegt. Einige Jungen versanken und
wurden wild hin‑ und hergeschleudert. Andere
gerieten in einen Strudel und wurden in die Tiefe
gerissen. Wieder andere stießen auf Hindernisse an der
Wasseroberfläche und verschwanden kopfüber in den
Tiefen. Einigen gelang es, auf eines der Flöße zu
springen, versanken aber bald darauf. Die Nacht war
finster und schwarz. Von weitem hörte man die
herzzerreißenden Schreie der Ertrinkenden. Alle gingen
unter. ‚In mare mundi submergentur omes illi quos non
suscipit navis ista‘m — Im Meere der Welt gehen alle
unter, die nicht von diesem Boote — dem Schiff Mariens
— aufgenommen werden.
Die
Zahl meiner lieben Jungen war nun stark verringert.
Trotzdem vertrauten wir weiter auf den Schutz der
Gottesmutter. Nach einer langen, finsteren Nacht fuhr
das Schiff in eine schmale Meerenge hinein. Diese befand
sich zwischen zwei schlammigen Ufern, die mit Gestrüpp,
dicken Felsbrocken, Kieselsteinen, Baumstämmen, Reisig,
Stücken von Leichen, Balken und Rudern bedeckt waren.
Um das Floß herum sah man Taranteln, Kröten,
Schlangen, Drachen, Krokodile, Quallen, Vipern und
tausend andere häßliche Tiere. Auf Trauerweiden, deren
Zweige bis auf unser Floß hingen, standen vierfüßige
Tiere, Riesenkatzen von ungewohnter Form, die Teile von
menschlichen Gliedern zerfleischten. Auch viele Affen
baumelten von den Zweigen herab und machten
Anstrengungen, die Jungen zu fassen und
herunterzuschleudern. Diese bückten sich aber geschickt
und entgingen so den Nachstellungen. Auf jenem Kiesgrund
war es auch, wo wir zu unserer großen Überraschung und
voll Schrecken die armen Kameraden wiedersahen, die wir
verloren hatten oder die uns verlassen hatten. Nach dem
Schiffbruch waren sie auf diesen Strand geworfen worden.
Bei einigen von ihnen waren die Gliedmaßen durch den
heftigen Anprall gegen die Klippen zerstückelt. Andere
waren im Sumpf versunken und man sah von ihnen nur noch
die Haare und einen halben Arm. Hier ragte ein Rücken,
dort ein Kopf aus dem Schlamm heraus. Auch sahen wir
einen Leichnam. Und plötzlich erscholl die Stimme eines
Jungen, der auf dem Floß war und rief: “Dort ist ein
Scheusal, welches das Fleisch des so und so frißt!”
Wiederholt rief er den Namen des Unglücklichen und
zeigte ihn den erschrockenen Kameraden.
Noch
ein anderes Bild zeigte sich unseren Augen. Nicht weit
entfernt davon erhob sich ein gewaltiger Feuerofen, in
dem eine gewaltige, heiße Glut loderte. Man sah darin
bunt durcheinander gewürfelt menschliche Körperteile,
Füße, Beine, Arme, Hände, Köpfe. Sie alle rührten
sich, kamen nach oben und verschwanden wieder in den
Flammen, gleichwie Gemüse im Kochtopf. Bei genauer
Betrachtung erkannten wir voll Schrecken viele unserer
Schüler. Über dem Feuer war etwas wie ein gewaltiger
Deckel. Darauf stand geschrieben: Das sechste und das
siebente führen hierher.”
In
der Nähe war ein weiter, hoher Hügel, bedeckt mit
zahlreichen bunt durcheinanderstehenden Wildbäumen.
Dort hielten sich viele unserer Jungen auf, die ins
Wasser gefallen waren oder sich im Laufe der Fahrt von
uns entfernt hatten. Ich stieg an Land, ohne auf die
Gefahr zu achten, und näherte mich ihnen. Da sah ich
ihre Augen, Ohren, ihr Haar und sogar ihre Herzen voller
Insekten und häßlicher Würmer, die ihnen heftige
Schmerzen bereiteten. Einer litt mehr als der andere.
Ich wollte mich einem von ihnen nähern, doch er lief
davon und verbarg sich hinter den Bäumen. Einige öffneten
vor Schmerz ihre Kleider und zeigten ihren von Schlangen
umwundenen Körper. Manche hatten Vipern an der Brust.
Da
zeigte ich allen eine Quelle, die reichlich frisches und
eisenhaltiges Wasser gab. Wer sich darin wusch, wurde im
Augenblick geheilt und konnte zum Floß zurückkehren.
Die meisten dieser Unglücklichen folgten meiner
Weisung, einige aber weigerten sich. Darauf verließ ich
die Zaudernden und wandte mich an jene, die gesund
geworden waren. Sie hatten meiner Bitte entsprochen und
waren sogleich in Sicherheit; denn die Scheusale hatten
sich verkrochen. Kaum befanden wir uns auf dem Floß, da
verließ es, vom Winde getrieben, die Meerenge nach
einer anderen Seite hin und gelangte erneut in einen
weiten Ozean ohne Grenzen.
Wir
alle beklagten das traurige Los und das bedauernswerte
Ende unserer Kameraden, die an jenem Ort zurückgeblieben
waren. Dann fingen wir an, das Lob Mariens zu singen als
Dank für den Schutz, den uns die Gottesmutter gewährt
hatte. Wie auf Befehl Mariens hörte ganz plötzlich das
Sturmesbrausen auf und das Schiff fuhr schnell und mit
einer unglaublichen Leichtigkeit auf den geglätteten
Wogen dahin. Und siehe, am Himmel erschien ein
wunderbarer Regenbogen, der sich in ein Nordlicht
verwandelte. Im Dahinfahren lasen wir darin das Wort “MEDOUM”.
Seine Bedeutung wußten wir jedoch nicht. Mir schien es
aber, daß jeder Buchstabe der Anfangsbuchstabe
folgender Worte sei: ‚Mater et Domina Omnis Universi
Maria — Maria ist die Mutter und Herrin der ganzen
Welt. '
Nach
einer langen Fahrt tauchte in weiter Ferne am Horizont
Land auf. Während wir immer näher kamen, empfanden wir
in unserem Herzen eine unaussprechliche Freude; denn
dieses Land war überaus schön. Es hatte Wälder mit
den verschiedensten Bäumen. Es bot einen entzückenden
Anblick und war von der aufgehenden Sonne beleuchtet,
die über die Hügel schien. Dieses Licht besaß einen
unsagbar beruhigenden Glanz, gleichwie der Sonnenschein
an einem herrlichen Sommerabend. Es strömte ein Gefühl
der Ruhe und des Friedens aus. Schließlich stieß das
Boot in den Sand des Strandes hinein und rutschte sogar
noch ein Stück im Sand weiter hinauf. Es hielt ganz im
Trockenen am Fuße eines herrlichen Weinberges. Von
diesem Floß darf man wohl sagen: “Eam tu Deus pontem
fecisti, quo a mundi fluctibus traicientes ad
tranquillum portum tuum deveniamus — O Gott, Du hast
es zu einer Brücke gemacht, auf der wir die Fluten des
Meeres überqueren und so Deinen ruhigen Hafen erreichen
konnten.”
Die
Jungen wünschten sogleich in den Weinberg zu gehen und
einige, neugieriger als die andern, waren mit einem
Sprung draußen auf dem Strand. Sie hatten aber nur
einige Schritte gemacht, da erinnerten sie sich an das
traurige Geschick jener, die sich vorher vom Land betören
ließen, das mitten im stürmischen Meer gelegen hatte,
und sie kehrten eilig auf das Floß zurück.
Aller
Augen waren auf mich gerichtet und man las in jedem
Gesicht die Frage: “Don Bosco, ist es Zeit
auszusteigen oder müssen wir noch hier bleiben?” Ich
überlegte kurz und sagte dann zu ihnen: “Aussteigen.
Nun ist es Zeit, wir sind jetzt sicher.”
Ein
allgemeiner Freudenruf erscholl. Alle rieben sich
zufrieden die Hände und betraten den Weinberg in bester
Ordnung. Von den Reben hingen große Trauben herab wie
im Gelobten Land, und auf den Bäumen waren Früchte
aller Art von einem nie gekosteten Geschmack. Sie waren
eine wahre Labung in der warmen Jahreszeit. Mitten in
diesem ausgedehnten Weinberg erhob sich ein Schloß, das
von einem herrlichen königlichen Garten mit starken
Mauern umgeben war.
Wir
lenkten unsere Schritte dorthin, um es zu besichtigen.
Es wurde uns freier Eintritt gewährt. Wir waren müde
und hungrig. In einem weiten mit Gold gezierten Saal
stand ein für uns gedeckter Tisch. Darauf befanden sich
die auserlesensten Speisen aller Art. Ein jeder durfte
ganz nach Belieben davon nehmen. Als wir uns gut gestärkt
hatten, trat ein edler, fein gekleideter Jüngling von
unbeschreiblicher Anmut ein. Er begrüßte uns alle mit
herzlich vertrauter Höflichkeit und nannte uns alle
dabei mit Namen. Er bemerkte unser Erstaunen über seine
Schönheit und über all das Geschaute und sagte: “Das
ist noch gar nichts. Kommt und sehet!” Wir folgten
ihm. Er ließ uns nun von der Säulenhalle aus die Gärten
betrachten und sagte, diese ständen uns zur Erholung
ganz zur Verfügung. Dann führte er uns von Saal zu
Saal, von denen einer prächtiger war als der andere in
Bauweise, Säulenarten und Ornamenten. Dann öffnete er
die Türe zu einer Kapelle und lud uns zu einem Besuch
ein. Von außen schien die Kapelle klein zu sein; aber
kaum hatten wir ihre Schwelle überschritten, da
gewahrten wir ihre große Ausdehnung, so daß wir von
einem Ende kaum das andere sehen konnten. Der Boden, die
Gewölbe und die Wände waren so reich und so kunstvoll
mit Marmor, Silber, Gold und kostbaren Edelsteinen
geziert, daß ich außer mir vor Verwunderung ausrief:
“Das ist ja eine himmlische Pracht. Ich verpflichte
mich vertraglich, immer hier zu bleiben.”
Mitten
in diesem großen Dom erhob sich auf einem prächtigen
Grund ein großes, herrliches Standbild Mariens, der
Helferin der Christen. Nachdem wir die Jungen, die sich
nach allen Richtungen hin zerstreut hatten, um die Schönheit
des heiligen Raumes genauer zu betrachten, wieder
gesammelt hatten, zog unsere ganze Schar zu diesem
Muttergottesbilde, um der reinsten Jungfrau für so
viele erwiesene Wohltaten zu danken. Da gewahrte ich
erst so richtig, wie groß diese Kirche war; denn die
Tausende von Jungen schienen nur eine kleine Gruppe in
ihrer Mitte zu sein.
Nun
standen die Jungen vor dem Marienbild und betrachteten
es. Das Antlitz der Gottesmutter war himmlisch‑schön.
Plötzlich schien sich das Bild zu bewegen und zu lächeln.
Darauf erfolgte ein Murmeln und eine Bewegung in der
Menge. Einige riefen aus: “Die Madonna bewegt die
Augen!” In der Tat richtete Maria mit
unaussprechlicher Güte ihre Augen auf die Jungen. Kurz
darauf erscholl ein zweiter Ruf von allen: “Die
Gottesmutter bewegt die Hände!” In der Tat breitete
sie langsam ihre Arme aus und hob ihren Mantel, als
wollte sie uns alle darunternehmen. Vor Erschütterung
liefen uns die Tränen über die Wangen. Und wieder
sagten einige: “Die Madonna bewegt die Lippen. ” Es
wurde nun mäuschenstill. Maria öffnete den Mund und
redete uns mit wohlklingender und überaus lieblicher
Stimme mit den Worten an: “Wenn ihr meine lieben und
treu ergebenen Kinder seid, werde ich euch eine gütige
Mutter sein.”
Bei
diesen Worten fielen wir alle auf die Knie und sangen
das Lied: “Lobet Maria, ihr gläubigen Zungen. ” So
endete die Vision. —
Seht,
meine lieben Jungen! In diesem Traum erkennen wir das stürmische
Meer dieser Welt. Wenn ihr folgsam seid, wenn ihr meinen
Weisungen und nicht den schlechten Ratgebern folgt, wenn
wir uns alle anstrengen, das Gute zu tun und das Böse
zu fliehen und alle unsere schlechten Neigungen bekämpfen,
dann werden wir am Ende unseres Lebens an diesen
sicheren Strand gelangen. Dort wird uns ein Bote Mariens
entgegenkommen und uns im Namen Gottes heimholen, damit
wir uns von unseren Mühen ausruhen, und zwar in einem königlichen
Garten, d. h. im Himmel, in seiner liebenswerten, göttlichen
Gegenwart. Wenn ihr aber das Gegenteil von dem tut, was
ich euch sage, wenn ihr nach euren eigenen Launen gehen
wollt und auf mich nicht hört, dann werdet ihr elenden
Schiffbruch erleiden.”
(Lem.
VIII, 282-283)
Don
Bosco gab später noch weitere Erklärungen zu diesem
Traum. Er sagte: “Die Wiese ist die Welt; das Wasser,
das uns zu verschlingen drohte, sind die Gefahren dieser
Welt. Die so weit ausgedehnte, furchtbare Überschwemmung
sind die Laster, die antireligiösen Grundsätze und die
Verfolgung der Guten. Die Mühle ist ein einsamer,
ruhiger Platz, der immer bedroht ist, es ist das Haus
des Brotes, die katholische Kirche. Die Körbe mit Brot
versinnbilden die heilige Eucharistie, die den Fahrern
als Wegzehrung dient. Das Floß ist das Oratorium; der
Baumstamm, der die Brücke von der Mühle zum Floß
bildete, ist das Kreuz, besonders das Opfer seiner
selbst für Gott in christlich ergebener Abtötung. Die
Meerenge, die Katzen, Affen und die übrigen Ungetüme
sind die schlechten Gelegenheiten und Versuchungen zur Sünde.
Die Insekten in den Augen, auf der Zunge, im Herzen sind
schlechte Blicke, gemeine Reden und ungeordnete
Neigungen. Der Brunnen mit eisenhaltigem Wasser, das die
Kraft hatte, alle Insekten zu töten und im Augenblick
zu heilen, sind die Sakramente der heiligen Beichte und
der heiligen Kommunion. Der Schlamm ist der Ort der Sünde
und das Feuer der Ort der Verdammnis. Man möge jedoch
wissen, daß nicht alle, die in den Schlamm fielen, die
man dann nicht mehr sah und die dann in den Flammen
brannten, auf ewig zur Hölle verdammt seien. Nein! Gott
bewahre uns davor, so etwas zu sagen. Es bedeutet aber,
daß sich diese in jenem Augenblick in der Ungnade
Gottes befanden, und wären sie in diesem Zustande
gestorben, dann wären sie auf ewig verlorengegangen.”
(Lem.
VIII, 284)
Einem
Jungen, der den Heiligen nach der heiligen Beichte
fragte, wie er ihn in jenem geheimnisvollen Traum
gesehen habe, antwortete Don Bosco: “Du warst auf dem
Floß und gingst weg um zu fischen, und dabei fielst du
mehrere Male ins Wasser. Ich habe dich aber herausgeholt
und auf das Floß zurückgebracht. ” Auf die weitere
Frage: “Erinnern Sie sich auch noch, mich gesehen zu
haben, als wir in den Dom einzogen?” antwortete Don
Bosco lächelnd: “Ja, ja.”
(Lem.
VIII, 284)
Einem
Kleriker aus Vercelli, der den Heiligen im Hof fragte,
sagte er: “Du störtest die anderen und hindertest sie
so beim Fischen.”
Einem
Priester, der ihn über seine Rolle in jener Szene
fragte, antwortete Don Bosco: “Dich habe ich, von den
andern getrennt, ganz allein und ernst in einer Ecke des
Floßes gesehen. Du warst vertieft in der Arbeit, Angeln
und Stricke herzustellen. Dann kamen die andern und
holten sich dieselben zum Fischen. ” Er fügte noch
einige andere Worte hinzu, die zwanzig Jahre später
wunderbar in Erfüllung gingen.
DIE
KATZEN AUF DEN BETTEN
(Lem.
VIII, 314-315)
August
Semeria, ein ehemaliger Schüler des Oratoriums, schrieb
im Jahre 1883 in einem Brief an Don Rua:
“Er
(Don Bosco) wollte die Wunden unserer Seelen
kennenlernen, um sie mit den entsprechenden Arzneien zu
heilen. Dazu bediente er sich auch der Träume, die er
erzählte und womit er gewöhnlich einen guten Rat
verband. Bevor er sie uns erzählte, sagte er, es gäbe
drei Arten von Träumen: Solche, die von Gott kommen, um
uns zum Guten zu bewegen; solche, die vom Teufel kommen
und Anreiz zum Bösen geben, und solche, die von der
Lage des Schlafenden herrühren. Ich glaube, daß die Träume
Don Boscos von Gott kamen.
Es
war im Jahre 1866, etwa 14 Tage vor dem Fest des
heiligen Josef, da erzählte uns Don Bosco folgendes:
“Ich
träumte, ich läge im Bett. Da kam jemand — oder es
war eine Phantasiegestalt — mit einer brennenden
Laterne in der Hand und sagte zu mir: “Don Bosco, steh
auf und folge mir”.
Ohne
die geringste Furcht stand ich auf, kleidete mich an und
ging hinter der Gestalt her. Ich konnte aber nicht ihr
Gesicht sehen. Wir gingen durch verschiedene Säle, und
zwar durch den Mittelgang zwischen den beiden
Bettenreihen, in denen schlafende Jungen lagen. Beim
Vorbeigehen bemerkte ich Katzen auf den Betten. Mit den
Hinterfüßen krallten sie sich fest in die Betten und
waren im Begriff, mit den Vorderfüßen den schlafenden
Jungen ins Gesicht zu fahren.
Ich
ging immer hinter jener Gestalt her. Schließlich hielt
sie an und ging um das Bett eines schlafenden Jungen
herum. Ich blieb stehen und fragte nach dem Grund. Sie
antwortete: “Zum Fest des heiligen Josef muß dieser
mit mir kommen. ” Daraus entnahm ich, daß er sterben
müsse.
Eindringlich
fragte ich dann: “Ich will wissen, wer du bist und in
wessen Namen du sprichst. ” Da sagte die Gestalt:
“Wenn du wissen willst, wer ich bin, da hast du es.
” Damit verschwand sie und mit ihr die Laterne, so daß
ich im Dunkel zurückblieb. Da schickte ich mich an,
wieder zu Bett zu gehen; aber unterwegs stieß ich an
einen Koffer oder an ein Bett und stolperte über etwas
anderes und erwachte.”
Nachdem
er uns das erzählt hatte, machte er uns klar, daß jene
Katzen, welche die schlafenden Jungen angegriffen
hatten, die Feinde unserer Seelen versinnbildeten. Sie
sind immer um uns herum, um uns zu Fall zu bringen, wenn
wir in der Gnade Gottes sind. Sie bringen uns um, wenn
wir nicht in der Gnade Gottes sind, falls Gott es ihnen
erlaubt, daß er unserer müde geworden ist.
“Ich
erkannte jenen Jungen”, so fuhr Don Bosco fort, “von
dem mir die Erscheinung sagte, daß er am Josefsfest
sterben müßte. Ich sage aber keinem, wer es sei, um
nicht zuviel Schrecken zu bereiten. Wir wollen sehen, ob
dieser Traum in Erfüllung geht. Indessen halten wir uns
alle bereit, um gut sterben zu können. Denen, die zu
mir zum Beichten kommen, werde ich noch einen besonders
guten Rat geben.”
Als
dann das Josefsfest vorbei war, sagte er uns, daß
gerade am Feste dieses Heiligen ein Junge aus dem
Oratorium zu Hause gestorben sei.
Im
Nachruf des Oratoriums liest man: “Am 19. März 1866
starb Lupotto Simone im Alter von 18 Jahren . . . Gemäß
der Vorhersage Don Boscos feierte er das Fest des
heiligen Josef, den er sehr verehrt hatte, im Himmel.”
DIE
ZIEGENBÖCKLEIN
(Lem.
VIII, 315)
Der
Brief Semerias fährt fort:
“An
einem anderen Tage erzählte Don Bosco: Ich träumte,
ich wäre in der Sakristei. Sie war mit Jungen gefüllt,
die alle beichten wollten. Siehe da, ein Ziegenböcklein
kam durch die Sakristei und lief zwischen meinen Jungen
herum. Es fing mit dem einen und dem andern an zu
spielen; diese verloren dadurch den guten Willen zum
Beichten und schließlich ging einer nach dem andern
hinaus. Zuletzt näherte sich das Böcklein auch mir und
hatte die Dreistigkeit, mit seinen verführerischen
Liebkosungen den Jungen von mir zu entfernen, dessen
Beichte ich gerade hörte und dicht an meiner Brust
hielt. Zornig gab ich dem Tier einen Faustschlag auf den
Kopf, brach ihm ein Horn ab und zwang es zur Flucht. Dem
Sakristan wollte ich noch einen Vorwurf machen, weil er
das Böcklein hereingelassen hatte.
Indessen
erhob ich mich, legte die heiligen Gewänder an und ging
hinaus, die heilige Messe zu feiern. Bei der heiligen
Kommunion kam durch den Haupteingang der Kirche nicht
nur ein, sondern eine ganze Menge Böcklein; sie zwängten
sich hier und da in die Bänke und nahmen den Jungen,
die zum Tisch des Herrn gehen wollten, die Lust dazu.
Einige Jungen hatten sich schon erhoben, um zum Altar zu
gehen; aber angelockt von den bösen Spielen, nahmen sie
ihren Platz wieder ein. Andere waren schon an der
Ballustrade, manche hatten sich schon am Altar
niedergekniet, gingen aber wieder zurück ohne zu
kommunizieren.
Diese
Ziegenböcklein sind die Feinde der Seele, die mit
Zerstreuungen und ungeordneten Neigungen die Jungen vom
Sakramentenempfang abhalten.”
DER
HIRT UND SEINE HERDE
(Lem.
VIII, 840-845)
Am
13. Juni 1867 hatte Don Bosco seinen Jungen angekündigt,
er würde ihnen bald einen großen Traum erzählen, den
er vor kurzem gehabt hatte. Drei Tage später, am 16.
Juni abends, löste er sein Versprechen ein und
berichtete:
“In
einer der letzten Nächte des Maimonats, am 29. oder 30.
Mai, war ich zu Bett gegangen und konnte nicht
einschlafen. Ich dachte an meine lieben Jungen und sagte
zu mir: “Wenn ich doch etwas zu ihrem Heile träumen könnte.
” Nachdem ich noch eine Weile darüber nachgedacht
hatte, beschloß ich: “Ja, jetzt will ich einen Traum
für die Jungen tun. ” Dann schlief ich ein. Kaum aber
war ich eingeschlafen, begann ich zu träumen. Mir war,
als sei ich auf einer weiten Ebene, auf der sich
zahlreiche kräftige Schafe befanden. Diese waren in
verschiedene Herden eingeteilt und weideten auf Wiesen,
die sich ausdehnten, so weit das Auge reichte. Ich
wollte mich ihnen nähern und versuchte, den Hirten zu
suchen. Dabei wunderte ich mich, daß jemand auf der
Welt so viele Schafe haben konnte. Schon nach kurzem
Suchen fand ich den Hirten. Er stand da auf seinen Stab
gelehnt. Sogleich fragte ich ihn: “Wem gehören diese
vielen, vielen Schafe?”
Da
der Hirt nicht antwortete, wiederholte ich meine Frage.
Endlich sagte er: “Was geht das dich an?” “Warum
antwortest du mir in dieser Weise?”, fragte ich.
“Nun gut, diese Herde gehört ihrem Herrn. ” Ihrem
Herrn? Das wußte ich auch, sagte ich zu mir selbst.
Aber dann fuhr ich laut fort: “Wer ist dieser Herr?”
Und der Hirt antwortete: “Mache dir keine Mühe, du
wirst es noch erfahren.”
Dann
ging ich mit ihm durch das Tal, prüfte die Schafe und
jene Gegend, in der sie herumgingen. Das Tal war an
einigen Stellen mit reichem Grün bedeckt und mit Bäumen,
die ihre Zweige weit ausbreiteten und angenehmen
Schatten spendeten. Dort wuchs sehr frisches Gras, und
es weideten dort schöne, kräftige Schafe. An anderen
Stellen war die Ebene unfruchtbar, sandig und voller
Steine. Dort wuchsen Dornsträucher, ohne Blätter, mit
gelblichen Kletten; aber nicht ein einziges frisches Gräslein
wuchs dort. Und doch weideten auch hier viele Schafe;
aber sie sahen elend aus. Verschiedene Male fragte ich
den Hirten um Auskunft über die Herde. Er aber sagte
mir, ohne auf meine Fragen zu antworten: “Du bist
nicht für sie bestimmt. An diese Schafe darfst du nicht
denken. Ich werde dir die Herde zeigen, für die du
sorgen sollst.”
“Wer
bist du denn eigentlich?”
“Ich
bin der Herr. Komm mit und sieh dort nach jener
Seite.”
Er
führte mich zu einem anderen Teil der Ebene. Dort
befanden sich Tausende und Abertausende Lämmlein, ja so
viele, daß ich sie nicht zählen konnte. Sie waren sehr
mager und vermochten nur mit Mühe zu gehen. Die Weide
war trocken, dürr und sandig. Kein frisches Gras und
auch kein Bach war zu sehen, nur ausgedürrtes Gestrüpp
und vertrocknete Sträucher. Jeder Weidefleck war von
den Lämmlein selbst vollständig verwüstet. Schon auf
den ersten Blick sah man, daß diese armen Tiere mit
Wunden bedeckt waren und schon viel durchgemacht hatten.
Sie litten auch jetzt noch. Merkwürdig! Jedes hatte
zwei dicke Hörner auf der Stirn, wie alte Tiere, und an
der Spitze der Hörner war ein Auswuchs in der Form
eines “S”. Ich stand da und war ganz verwundert und
verdutzt über den seltenen und neuartigen Auswuchs. Ich
konnte mich gar nicht beruhigen, daß die Lämmlein
schon so lange, dicke Hörner besaßen und so schnell
ihre ganze Weide verwüstet hatten. So fragte ich den
Hirten. “Wie geht denn das zu, daß diese Lämmlein
schon so große Hörner haben, obwohl sie noch so klein
sind?”
“Schau
her”, sagte er, “beobachte!”
Ich
sah genauer hin und entdeckte, daß die Lämmer am
ganzen Körper, auf dem Rücken, auf dem Kopf, an der
Schnauze, den Ohren und der Nase, auf den Beinen und
Klauen die Zahl “3” als Ziffer aufgedruckt trugen.
Was soll das bedeuten fragte ich, ich verstehe es
nicht.”
“Weshalb
verstehst du es nicht?” fragte der Hirte. Hör zu, und
du wirst alles begreifen. Diese weite Ebene ist die große
Welt. Die grasreichen Stellen sind das Wort Gottes und
die Gnade. Die unfruchtbaren und dürren Stellen sind
jene Orte, wo man das Wort Gottes nicht anhört und nur
der Welt zu gefallen sucht. Die Schafe sind die
Erwachsenen, die Lämmer sind die Jungen, und für diese
hat Gott Don Bosco gesandt. Dieser Teil der Ebene ist
das Oratorium und die Lämmer da sind deine Kinder.
Dieser dürre Ort stellt den Zustand der Sünde dar. Die
Hörner bedeuten Unehre, Schande.
Der
Buchstabe ‚S' heißt ‚scandalo', Ärgernis. Sie
gaben schlechtes Beispiel und gehen zugrunde. Unter
diesen Lämmern sind einige, welche die Hörner
abgebrochen haben. Sie gaben Ärgernis, haben nun aber
davon abgelassen. Die Zahl 3 bedeutet, daß sie die
Strafe für ihre Schuld erleiden, und zwar einen
dreifachen Mangel: einen geistlichen, einen moralischen
und einen materiellen. 1. Einen Mangel an geistlichen
Hilfen; sie werden nach geistlicher Hilfe verlangen,
aber nicht erhalten. 2. Mangel am Wort Gottes. 3. Mangel
an Brot und Nahrung. Dieses Bild stellt auch die
wirklichen Leiden vieler Jungen in der Welt dar. Im
Oratorium fehlt auch den Unmündigen das Brot und die
Nahrung nicht.”
Während
ich in Gedanken verloren alles hörte und beobachtete,
siehe da, ein neues Wunder! Die Lämmer verwandelten
alle ihr Aussehen. Sie stellten sich auf die
Hinterbeine, wuchsen und nahmen die Gestalt von Jungen
an. Ich trat näher hinzu um zu sehen, ob ich einen von
ihnen erkennen würde. Es waren alles Jungen vom
Oratorium. Viele von ihnen hatte ich aber niemals
gesehen, jedoch sie alle erklärten, sie seien aus
unserem Oratorium. Unter denen, die mir nicht bekannt
waren, waren auch einige, die sich jetzt zur Zeit im
Oratorium befinden. Es sind die, die niemals zu Don
Bosco kommen, sich keinen Rat von ihm holen, die ihn
fliehen, mit einem Wort, die Don Bosco nicht kennt. Die
große Mehrheit der Unbekannten aber waren solche, die
noch nicht im Oratorium waren oder sind.
Während
ich voller Sorge die Schar betrachtete, nahm mich mein
Begleiter bei der Hand und sagte: “Komm mit, und du
wirst noch etwas ganz anderes sehen!” Und er führte
mich in einen abgelegenen Winkel des Tales. Dieser war
von kleinen Hügeln umgeben und mit einer Hecke üppiger
Pflanzen eingezäunt. Dort war eine grüne Wiese, wie
man sie sich nicht schöner vorstellen kann. Sie war
voll von duftenden Kräutern, Feldblumen, frischen Büschen
und klaren Bächen. Dort fand ich eine große Anzahl
anderer Jungen vor, die alle sehr fröhlich waren. Sie
wanden sich aus den Wiesenblumen ein sehr schönes und
herrliches Gewand. “Wenigstens machen dir diese
Freude”, sagte mein Begleiter. “Wer sind sie
denn?” fragte ich. “Es sind die, die sich in der
Gnade Gottes befinden. ” Ja, ich habe nie so schöne,
strahlende Dinge und Menschen gesehen und hätte mir
niemals diesen Glanz vorstellen können. Es wäre
verlorene Mühe, all dies zu beschreiben; denn es läßt
sich nicht ausdrücken, was ich alles sah.
Aber
noch ein anderes überraschendes Bild war mir
vorbehalten. Während ich dort stand und die Jungen, von
denen ich viele nicht kannte, mit großer Freude
beobachtete, sagte mein Führer: “Komm, komm nur mit,
ich zeige dir noch etwas, was dir noch größere Freude
und Zufriedenheit bereiten wird. ” Er führte mich zu
einer anderen Wiese, die über und über mit Blumen
prangte. Sie war größer und duftender als die, die ich
vorher gesehen hatte. Sie sah aus wie ein fürstlicher
Garten. Hier befanden sich zwar nicht so viele Jungen,
aber sie waren dafür von außerordentlicher Schönheit
und verbreiteten einen solchen Glanz, daß die vorher
geschauten Jungen dagegen verschwanden. Einige von ihnen
befinden sich bereits im Oratorium und andere werden später
noch kommen.
“Diese”,
sagte der Hirte, “haben die Lilie der Reinheit
bewahrt, sie sind noch mit dem Gewande der Unschuld
bekleidet. ” Ich betrachtete sie mit Entzücken. Fast
alle hatten auf dem Haupte einen aus Blumen geflochtenen
Kranz, der unbeschreiblich schön war. Die Blumen selbst
setzten sich aus sehr kleinen Blüten von überraschender
Lieblichkeit zusammen, und ihre Farben entzückten durch
ihre Leuchtkraft und Verschiedenheit. Mehr als tausend
Farben gewahrte man an einer einzigen Blume, und an
dieser wieder mehr als tausend Blüten. Den Jungen
reichten leuchtendweiße Gewänder bis zu den Füßen.
Die Kleider waren ganz mit Blumengirlanden durchwirkt,
die den Kränzen auf ihrem Haupte glichen. Ein
bezauberndes Licht, das von den Blumen ausging, umgab
die ganze Person und in ihm strahlte die ganze Freude
wider. Die Blumen spiegelten sich ineinander, die Blumen
aus dem Kranz in denen der Girlanden, und jede warf die
Strahlen zurück, die von den anderen ausgingen. Der
Strahl einer Farbe bildete, wenn er auf einen anderen
traf, neue, verschiedenartig glitzernde Strahlen, und so
entstanden von jedem Strahl neue Strahlen. Nie hätte
ich geglaubt, daß im Paradies ein so vielfältiges Entzücken
sei. Das war aber noch längst nicht alles. Die Strahlen
und Blumen aus den Kränzen der einen spiegelten sich in
den Blüten und Strahlen aller anderen. Ebenso war es
mit der Pracht der Girlanden und der Kleider. Der Glanz,
der von dem Antlitz eines Jungen kam, spiegelte sich und
verschmolz mit dem, der aus dem Angesicht der Gefährten
ausstrahlte. Und da er hundertfach auf all den
unschuldigen, klaren Gesichtern widerstrahlte, entstand
ein solch starkes Licht, daß es einen blendete und man
den Blick abwenden mußte. Schließlich strömten in
einem einzigen Strahl alle anderen zusammen und bildeten
eine Harmonie von unaussprechlichem Licht.
Das
war die derzeitige Herrlichkeit der Heiligen. Es gibt
kein menschliches Bild, um auch nur schwach anzudeuten,
wie schön jeder dieser Jungen in diesem Meer von
strahlendem Licht war. Unter ihnen achtete ich besonders
auf einige, die jetzt im Oratorium sind, und ich bin
sicher, wenn sie auch nur den zehnten Teil deren
augenblicklichen Herrlichkeit sehen könnten, wären sie
sofort bereit, ins Feuer zu gehen, sich in Stücke reißen
zu lassen, überhaupt jedes, auch noch so entsetzliche
Martyrium auf sich zu nehmen, als diesen Glanz zu
verlieren.
Als
ich nach diesem himmlischen Anblick wieder etwas zu mir
kam, wandte ich mich an meinen Führer und fragte:
“Aber sind unter meinen vielen Jungen nur so wenig
Unschuldige? Sind es nur so wenige, die der Gnade Gottes
entsprochen haben?” Und der Hirt entgegnete: “Wie,
dir scheint diese Zahl nicht groß genug? Übrigens können
die anderen, die die schöne Lilie der Reinheit und
damit die Taufunschuld verloren haben, ihren Gefährten
durch die Buße folgen. Siehst du dort? Dort auf der
Wiese befinden sich noch viele Blumen. Nun wohl, daraus
können sie sich einen Kranz flechten und ein schönes
Gewand weben und den Unschuldigen in der Herrlichkeit
folgen.”
Da
bat ich meinen Begleiter: “Gib mir noch einige Ratschläge,
die ich meinen Jungen geben kann. ” Und er antwortete:
“Wiederhole deinen Jungen immer wieder, daß sie zu
jedem Opfer bereit sein würden, wenn sie wüßten, wie
schön und kostbar die Tugend der Reinheit in den Augen
Gottes ist. Sage ihnen, sie sollten mutig diese
leuchtende Tugend üben, welche die übrigen an Glanz
und Schönheit übertrifft; denn die Keuschen wachsen
wie die Lilien vor dem Angesichte des Herrn (crescunt
tamquam lilia in conspectu Domini).”
Nun
wollte ich zu denen gehen, die ich so sehr liebte, die
so reich bekränzt waren; aber ich stolperte über etwas
am Boden. Darüber erwachte ich und ich befand mich im
Bett. —
Meine
lieben Jungen, seid ihr alle unschuldig? Vielleicht gibt
es noch einige unter euch und an diese richte ich meine
Worte. Um des Himmels willen, verliert mir nicht dieses
so unschätzbare Gut. Es ist ein Reichtum, der soviel
gilt wie das Paradies, ja, wie Gott selbst! Wenn ihr
gesehen hättet, wie schön diese Jungen waren! Das
Geschaute war in seiner Gesamtheit so schön, daß ich
alles auf der Welt hergegeben hätte, um mich weiter
dieses Anblickes zu erfreuen. Wenn ich Maler gewesen wäre,
hätte ich es für eine große Gnade gehalten, all das
wiedergeben zu können, was ich gesehen habe. Wenn ihr
die Schönheit eines unschuldigen Menschen kennen würdet,
würdet ihr alle auch noch so unangenehme Entbehrung und
Mühe, ja selbst den Tod auf euch nehmen, um den Schatz
der Unschuld zu bewahren. Die Zahl derer, die die Gnade
zurückgewonnen hatten, bereitete mir großen Trost. Ich
hatte allerdings gehofft, daß sie noch größer wäre.
Erstaunt war ich aber auch darüber, daß einer, der
hier ein guter Junge zu sein scheint, dort lange und
dicke Hörner hatte . . .”
Don
Bosco schloß mit einer warmen Ermahnung an diejenigen,
welche die Unschuld verloren hatten, damit sie sich
bereitwillig bemühen, die verlorene Gnade durch die Buße
zurückzugewinnen.
Zwei
Tage später, am 18. Juni, stieg Don Bosco wieder auf
das Podium und erläuterte den Traum. Er sagte:
“Eigentlich wären keine Erklärungen des Traumes
notwendig; doch ich wiederhole noch einmal, was ich
bereits gesagt habe. Die große Ebene bedeutet die Welt,
also auch die Orte und der Zustand, aus denen alle
Jungen hierher gerufen wurden. Die Stelle, an der die Lämmer
waren, ist das Oratorium. Die Lämmer sind alle Jungen,
die im Oratorium waren, jetzt noch sind und hier sein
werden. Die drei Wiesen, die dürre, die grüne und die
blühende, bezeichnen jeweils den Stand der Sünde, den
der Gnade und den der Unschuld. Die Hörner der Lämmer
sind die Ärgernisse, die bisher gegeben wurden.
Einige
waren da mit abgebrochenen Hörnern. Diese waren Verführer,
haben aber jetzt aufgehört Ärgernis zu geben. Die Zahl
“3”, die auf jedes Lamm gedruckt war, bedeutet, wie
ich vom Hirten erfuhr, drei Strafen, die Gott über die
Jungen schickt: 1. Mangel an geistlichen Hilfen, 2.
Mangel an moralischer Hilfe oder Entbehrung religiöser
Unterweisung und des Wortes Gottes, 3. Entbehrungen
materieller Art oder Mangel am Lebensunterhalt. Die
leuchtenden Jungen sind die, welche noch die
Taufunschuld und die schöne Tugend der Reinheit bewahrt
haben. Welche Herrlichkeit erwartet sie!
Liebe
Jungen! Machen wir uns alle mutig daran, die Tugend zu
üben. Wer nicht in der Gnade Gottes ist, der sorge mit
gutem Willen dafür, daß er sie wieder erlangt, und
dann beharre er in der Gnade mit aller Kraft und mit der
Hilfe Gottes bis zum Tode. Wenn wir nicht alle bei den
Unschuldigen und um das Unbefleckte Lamm herum sein können,
dann können wir ihm doch wenigstens folgen. Einer
erkundigte sich bei mir, ob er auch bei den Unschuldigen
gewesen sei. Ich antwortete ihm: “Nein, denn du
hattest Hörner, allerdings abgebrochene”. Dann fragte
er, ob er Wunden hätte, und ich entgegnete: “Ja. ”
Dann wollte er wissen, was diese Wunden bedeuten, und
ich sagte ihm: “Habe keine Furcht. Sie sind vernarbt
und werden verschwinden. Diese Wunden sind jetzt nicht
mehr entehrend, wie auch die Narben eines Soldaten nicht
entehrend sind, der trotz so vieler Verwundungen und,
obwohl der Feind mit aller Kraft gegen ihn anstürmte,
die Angriffe zu überwinden wußte und den Sieg
davontrug. Es sind also ehrenvolle Wunden! Aber noch
ehrenvoller ist es, wenn einer inmitten der Feinde
tapfer kämpft und ohne jede Verwundung durchkommt.
Seine Unversehrtheit erregt die Bewunderung aller.”
Als
Don Bosco diesen Traum erklärte, sagte er auch, es würde
nicht mehr lange dauern, bis man die drei Übel: Pest,
Hunger und die Nachlässigkeit im Guten bemerken würde.
DAS
FEGFEUER
(Lem.
VIII, 853-858)
Am
25. Juni 1867, nach dem gemeinsamen Abendgebet, erzählte
Don Bosco seiner ganzen Jungenschar folgenden Traum.
“Gestern abend, meine lieben Buben, hatte ich mich
hingelegt. Da ich nicht recht einschlafen konnte, dachte
ich über die Seele nach: über ihre Natur, ihre Art zu
existieren, wie sie wohl beschaffen ist, wie sie im
anderen Leben vom Körper getrennt sein und sprechen
werde, wie sie es anstelle, sich von einem Ort zum
andern zu bewegen, wie wir uns beim Wiedersehen erkennen
werden, da wir nach dem Tode doch nichts anderes als
reine Geister sind. Je mehr ich darüber nachdachte, um
so undurchdringlicher schien mir das Geheimnis.
Während
ich mich in diesen und ähnlichen Vorstellungen erging,
schlief ich ein, und es schien mir, ich ginge den Weg
nach . . . (und er nannte die Stadt). Ich wanderte eine
kurze Zeit und durchstreifte mir unbekannte
Landschaften. Auf einmal hörte ich mich beim Namen
gerufen. Es war die Stimme einer Person, die am Wege
stand. Sie sagte: “Komm mit, du kannst jetzt sehen,
was du sehen möchtest.”
Ich
gehorchte sofort. Jene Person eilte mit
Gedankengeschwindigkeit vorwärts; und ich ebenso
schnell. Wir gingen, ohne mit den Füßen den Boden zu
berühren. Als wir in eine bestimmte Gegend gekommen
waren — ich weiß nicht, wo das war —, da hielt mein
Führer an. Hoch oben erhob sich ein prächtiger Palast,
der herrlich gebaut war. Ich weiß nicht wo, oder auf
welcher Anhöhe er sich befand. Ich erinnere mich auch
nicht mehr, ob er auf einem Berge oder in der Luft auf
den Wolken war. Er war unzugänglich. Man sah keine Straße,
die zu ihm hinaufführte. Seine Tore waren in beträchtlicher
Höhe.
“Schau!
Steig hinauf in den Palast!” sagte der Führer zu mir.
“Wie soll ich das anfangen?” erwiderte ich. “Wie
kann ich dorthin gelangen? Hier unten ist kein Eingang
und Flügel habe ich nicht. ” “Geh nur hinein!”
wiederholte der andere gebieterisch. Als er aber sah, daß
ich mich nicht bewegte, sagte er: “Mach es wie ich.
Hebe die Arme und wolle entschieden, und du wirst
emporsteigen. Komm mit mir!” Bei diesen Worten hob er
die Arme zum Himmel empor. Auch ich streckte meine Arme
aus und fühlte mich sofort in die Luft emporsteigen,
einer leichten Wolke gleich. Bald befand ich mich auf
der Schwelle des großen Palastes. Der Führer war bei
mir.
Da
fragte ich ihn: “Was befindet sich da drinnen?”
“Geh
nur hinein und sieh es dir an! Hinten, in einem Saal
wirst du jemanden finden, der dir Bescheid sagt.”
Der
Führer verschwand und ich blieb allein, mir selbst überlassen.
Ich trat in die Säulenhalle ein, stieg die Treppen
empor und befand mich in einem wahrhaft königlichen
Raum. Ich durcheilte viele Säle, Gemächer mit prächtigen
Ornamenten und lange Gänge. So kam ich mit übernatürlicher
Schnelligkeit vorwärts. Jeder Saal glänzte von überraschenden
Prunkstücken und Schätzen. Es war mir aber nicht möglich,
mir alle zu merken, so schnell durchstreifte ich die
vielen Räume. Doch das Erstaunlichste war folgendes: um
mit Windeseile voranzukommen, brauchte ich meine Füße
nicht zu bewegen. Ich schwebte in der Luft und hielt die
Füße beisammen. Mühelos fuhr ich dahin, wie auf einem
Kristall, ohne jedoch das Pflaster zu berühren. So kam
ich von einem Raum in den anderen und sah schließlich
hinten, am Ende eines Ganges, eine Türe. Ich trat durch
sie ein und befand mich in einem großen Saal, der noch
prächtiger war als alle anderen. An seinem äußersten
Ende gewahrte ich einen Bischof, majestätisch auf einem
Thronsessel sitzend, gleichsam als erwarte er jemanden
zur Audienz. Ich näherte mich ihm mit Ehrfurcht und war
höchst verwundert, als ich in jenem Prälaten einen
lieben Freund erkannte. Es war der Bischof von X. ,
Monsignore N. (er nannte den Namen), der vor zwei Jahren
gestorben war. Er sah in keiner Weise leidend aus, er
war blühend frisch, freundlich und unbeschreiblich schön.
“Oh,
Monsignore, sind Sie hier?” rief ich sehr erfreut aus.
“Wie Sie sehen”, antwortete der Bischof. “Aber wie
geht denn das zu? Leben Sie noch? Sind Sie nicht
gestorben?”
“
Sicher, ich bin gestorben. ” — “Ja, wenn Sie doch
gestorben lind, wie sitzen Sie denn hier so blühend und
wohlbehalten? Wenn Sie noch leben, dann sagen Sie es nur
um des Himmels willen, sonst gibt es eine ganz
verwickelte Angelegenheit. In X. ist nämlich schon ein
anderer Bischof, Monsignore Y. , und wie wollen Sie denn
diese Geschichte in Ordnung bringen?” — “Seien Sie
nur ruhig, machen Sie sich keine Sorgen darüber, daß
ich wirklich gestorben bin . . .”
“Nun
wohl, sonst wäre nämlich schon ein anderer an Ihrem
Platze. ” — “Das weiß ich. Und Sie, Don Bosco,
sind Sie auch gestorben oder leben Sie noch?” —
“Ich lebe. Sehen Sie mich denn nicht hier mit Leib und
Seele?” — “Hierher kann man nicht mit dem Leibe
kommen. ” — “Aber ich bin doch da. ” “Das
kommt Ihnen nur so vor, als wären Sie da; aber es ist
nicht so . . . ” Da fing ich schnell an zu reden,
stellte Frage auf Frage, ohne aber eine Antwort zu
erhalten.
“Wie
ist es möglich”, sagte ich, “daß ich, der ich noch
lebe, hier bei Ihnen sein kann, obwohl Sie schon
gestorben sind?” Ich bekam Angst, der Bischof möchte
verschwinden. Deshalb bat ich ihn: “Monsignore, um des
Himmels willen, entfliehen Sie mir nicht. Ich muß so
vieles von Ihnen wissen.”
Als
der Bischof mich so erregt sah, bemerkte er: “Seien
Sie ganz ruhig, ich werde nicht fortgehen, fragen Sie
nur. ” — “Monsignore, sagen Sie mir, sind Sie
gerettet?” — “Sehen Sie mich an, wie ich rüstig,
frisch und strahlend bin. ” Sein Aussehen gab mir
wirklich Hoffnung, daß er gerettet war. Aber das genügte
mir noch nicht und ich fing wieder an: “Aber sagen Sie
mir doch, sind Sie gerettet oder nicht?” — “Ja,
ich bin am Orte der Rettung. ” — “Aber sind Sie
denn im Paradies beim Herrn oder im Fegfeuer?” —
“Ich bin am Orte der Rettung; aber Gott habe ich noch
nicht gesehen. Ich habe nötig, daß ihr für mich
betet. ” “Wie lange werden Sie noch im Fegfeuer
bleiben müssen?” “Sehen Sie hier!” Er reichte mir
ein Stück Papier und fügte hinzu: “Lesen Sie!” Ich
nahm das Papier und sah es genau an; aber ich bemerkte
nichts Geschriebenes und sagte: “Ich sehe nichts
darauf. ” — “Sehen Sie zu, was da geschrieben
steht. Lesen Sie!” — “Ich habe schon nachgesehen
und tue es noch; aber lesen kann ich nicht, denn es
steht hier nichts geschrieben. ” — “Sehen Sie
genauer hin!” — “Ich sehe ein Papier mit roten,
hellblauen, grünen und violetten Blumenmustern, aber
von Buchstaben keine Spur. ” — “Es sind Ziffern
dort. ” — “Ich sehe weder Ziffern noch Zahlen. ”
Der Bischof blickte auf das Papier, das ich in den Händen
hielt und sagte dann: “Nun weiß ich, warum Sie nicht
verstehen. Nehmen Sie das Papier von der anderen Seite.
” Ich untersuchte das Blatt mit größter
Aufmerksamkeit, drehte es nach allen Seiten, aber weder
oben noch unten konnte ich etwas lesen. Nur schien es
mir, als erblickte ich beim Drehen und Wenden in den
Blumenzeichnungen die Zahl 2”.
Der
Bischof fuhr fort: “Wissen Sie, warum man von der
anderen Seite lesen muß? Weil die Urteile des Herrn
andere sind als die der Welt. Das, was man bei den
Menschen für Weisheit hält, ist Torheit bei Gott.”
Ich
wagte nicht, auf einer deutlicheren Erklärung zu
bestehen und sagte: “Monsignore, trachten Sie nicht
darnach, mir zu entweichen. Ich möchte noch andere
Fragen an Sie stellen.”
“Fragen
Sie nur, ich höre zu.”
“Werde
ich mich retten?” — “Hoffen Sie es. ” —
“Machen Sie meiner Qual ein Ende. Sagen Sie mir
schnell, ob ich mich retten werde. ” — “Das weiß
ich nicht. ” — “Dann sagen Sie mir wenigstens, ob
ich in der Gnade Gottes bin oder nicht. ” — “Ich
weiß es nicht. ” — “Aber ich bitte Sie, haben Sie
doch die Güte und sagen Sie es mir. ” — “Sie
haben Theologie studiert, und daher können Sie die
Antwort wissen und sie sich selbst geben.”
“Wie,
Sie sind am Orte der Rettung und wissen diese Dinge
nicht?” — “Sehen Sie, der Herr läßt dies wissen,
wen er will. Und wenn er will, daß dieses Wissen
mitgeteilt werden soll, gibt er dazu den Befehl und die
Erlaubnis. Anders kann niemand den noch Lebenden solches
kundtun.”
Mich
drängte eine lebhafte Sucht, in einem fort zu fragen
und ich fragte in Eile, aus Furcht, der Bischof würde
sich zurückziehen. “Nun sagen Sie mir doch etwas, was
ich den Jungen von Ihnen erzählen soll. ” — “Sie
wissen so gut wie ich, was Sie tun sollen. Sie haben die
Kirche, das Evangelium und die Heilige Schrift, die
Ihnen alles sagen. Sagen Sie ihnen, sie sollen ihre
Seele retten; denn alles andere ist nutzlos.”
“Das
wissen wir schon, daß wir die Seele retten müssen.
Geben Sie mir eine besondere Anweisung, wie man sie
retten kann, als Andenken an Sie. Ich werde das den
Jungen in Ihrem Namen kundtun. ” — “Sagen Sie
ihnen, daß sie gut werden und gehorsam sein sollen.”
“Wer
weiß denn diese Dinge nicht. ” — “Sagen Sie
ihnen, sie sollen sittsam sein und beten. ” — “Drücken
Sie sich doch praktischer aus. ” — “Sagen Sie
ihnen, daß sie oft beichten und kommunizieren müssen.
” — “Noch etwas Genaueres. ” — “Ich will es
Ihnen sagen, da Sie es wollen. Sagen Sie ihnen, daß sie
einen Nebel vor den Augen haben. Wenn einer dazu kommt,
diesen Nebel zu sehen, ist er schon ein gutes Stück
voran. Sie mögen den Nebel fortschaffen, wie man in den
Psalmen liest: Nubem dissipe — Zerstreue den Nebel.
” — “Was ist denn dieser Nebel eigentlich?” —
“Es sind alle Dinge der Welt, die uns daran hindern,
die himmlischen Dinge zu sehen, wie sie sind. ” —
“Und was müssen wir tun, um diesen Nebel
fortzubringen?” — “Sie mögen die Welt so nehmen,
wie sie ist: mundus totus in maligno positus est — Die
ganze Welt liegt im argen. Dann werden sie die Seele
retten. Sie sollen sich nicht vom Schein der Welt täuschen
lassen. Die Jungen meinen, daß die Vergnügen, Freuden
und Freundschaften der Welt sie glücklich machen können
und warten nur auf den Augenblick, sie zu genießen. Sie
mögen aber daran denken, daß alles Eitelkeit und
Geistesplage ist. Sie mögen sich daran gewöhnen, die
Dinge der Welt zu sehen, nicht wie sie scheinen, sondern
wie sie sind.”
“Wodurch
entsteht dieser Nebel hauptsächlich?”
“Wie
die Tugend, die am meisten im Paradies leuchtet, die
Reinheit ist, so entsteht Finsternis und Nebel hauptsächlich
durch die Sünden der Unsittlichkeit und Unreinheit. Das
ist wie eine schwarze, sehr dichte Wolke, welche die
Sicht nimmt und die Jungen hindert, den Abgrund zu
sehen, auf den sie zugehen. Sagen Sie ihnen deshalb, daß
sie sorglich die Tugend der Reinheit bewahren sollen;
denn die sie besitzen, florebunt sicut lilium in
civitate Dei — werden wie die Lilie im Reiche Gottes
blühen. ” — “Was ist nötig, um die Reinheit zu
bewahren? Sagen Sie es mir, damit ich es meinen lieben
Jungen in Ihrem Namen kundtue.”
“Notwendig
sind: Zurückhaltung, Gehorsam, Fliehen des Müßigganges
und Gebet. ” — “Und was noch?” — “Gebet,
Fliehen des Müßigganges, Gehorsam und Zurückhaltung.
” — “Sonst nichts?” — “Gehorsam, Zurückhaltung,
Gebet und Fliehen des Müßigganges. Empfehlen Sie ihnen
diese Dinge. Sie genügen. ” Ich wollte noch soviel
fragen, aber es fiel mir nichts mehr ein. Als nun der
Bischof mit dem Sprechen aufgehört hatte, verließ ich
eilig den Saal und lief ganz begierig zum Oratorium, um
euch diese Ratschläge mitzuteilen. Ich flog mit der
Schnelligkeit des Windes dahin und fand mich in einem
Augenblick am Eingang des Oratoriums. Da blieb ich
stehen und dachte: “Warum bin ich nicht länger beim
Bischof X. geblieben? Ich hätte noch weit mehr erfahren
können! Ich habe übel daran getan, mir eine so günstige
Gelegenheit entfliehen zu lassen. Ich hätte noch so
viele andere schöne Dinge lernen können.”
Schnell
eilte ich mit der gleichen Geschwindigkeit zurück, mit
der ich gekommen war, besorgt, Monsignore nicht mehr
anzutreffen. Wiederum betrat ich jenen Palast und bald
darauf den Saal. Aber welche Veränderung war in den
wenigen Augenblicken vor sich gegangen. Der Bischof war
nun sehr bleich, wie Wachs, und lag auf einem Bett. Er
sah aus wie eine Leiche. In seinen Augen standen ihm die
letzten Tränen. Er lag im Todeskampf. Nur an einer
geringen Bewegung der Brust, in letztem Röcheln,
gewahrte man, daß er noch lebte. Ich näherte mich ihm
bekümmert. “Monsignore”, fragte ich ihn, “was ist
geschehen?” — “Lassen Sie mich”, antwortete er
mit einem Seufzer. “Monsignore, ich hätte noch viel
zu fragen.”
“Lassen
Sie mich allein, ich leide sehr. ” — “Aber was
kann ich für Sie tun?” — “Beten Sie für mich und
lassen Sie mich gehen. ” — “Wohin?” —
“Dorthin, wohin mich Gott mit seiner allmächtigen
Hand führt. ” — “Aber ich bitte Sie, Monsignore,
sagen Sie mir wohin!” — “Ich leide zu sehr, lassen
Sie mich!” — “Dann sagen Sie mir wenigstens, was
ich für Sie tun kann”, wiederholte ich. — “Beten
Sie!” — “Nur noch ein Wort: Haben Sie keinen
Auftrag, den ich in der Welt ausführen kann? Soll ich
ihrem Nachfolger nichts bestellen?” — “Gehen Sie
zum jetzigen Bischof von X. und sagen Sie ihm von mir
das und das. ” Was er sagte, ist nichts für euch,
meine lieben Jungen, und deshalb lasse ich es weg.
Der
Bischof fuhr noch fort: “Ferner sagen Sie den und den
Personen diese und jene geheimen Dinge. ” (Auch über
diese Aufträge schwieg Don Bosco; aber es scheint, daß
das Erste wie auch das Zweite Ermahnungen und Heilmittel
für gewisse Nöte jener Diözesen waren.)
“Sonst
nichts?” fragte ich noch. “Sagen Sie Ihren Jungen,
daß sie mein Wohlwollen immer in reichem Maße besaßen.
Solange ich noch lebte, habe ich für sie gebetet und
auch jetzt vergesse ich sie nicht. Nun mögen sie auch für
mich beten. ” — “Dessen seien Sie sicher, ich
werde das bestellen und sofort werden wir für Sie zu
beten anfangen. Sie aber mögen, gleich wenn Sie im
Paradiese sind, unserer gedenken.”
Der
Bischof sah inzwischen noch leidender aus. Es war eine
Qual, ihn anzusehen. Er litt sehr. Es war ein außerordentlich
schwerer Todeskampf. “Lassen Sie mich”, sagte er
noch, “lassen Sie mich gehen, wohin der Herr mich
ruft. ” — “Monsignore! — Monsignore!”
stammelte ich, immer wieder von neuem durch unsagbares
Mitleid gedrängt. “Lassen Sie mich, lassen Sie
mich!” Es schien nun mit ihm zu Ende zu gehen. Eine
unsagbare Macht zog ihn von dort in ein weiter zurückgelegenes
Zimmer. So verschwand er.
Erschrocken
und bewegt von solchem Leiden, wandte ich mich zur
Umkehr. Aber ich stieß in jenem Saal mit dem Knie gegen
etwas, erwachte und befand mich in meinem Zimmer zu
Bett. Wie ihr seht, ist das ein Traum wie alle anderen
Träume, und das, was euch betrifft, braucht keine Erklärungen;
denn es wird wohl von allen verstanden worden sein. In
diesem Traum habe ich sehr viel über die Seele und das
Fegefeuer gelernt. in dem Umfange, wie jetzt, habe ich
diese Dinge noch nie verstanden. Ich sah alles so klar,
daß ich es niemals vergessen werde.”
“So
endet die Erzählung unserer Erinnerungen. Es scheint,
daß dem Heiligen in zwei verschiedenen Bildern der
Stand der Gnade der Seelen im Reinigungsorte und ihre Sühneleiden
dargestellt wurde. ” (Lem. VIII, 859.)
“Ich,
der Schreiber, fragte einige Zeit nachher Don Bosco, ob
er die Aufträge, die er von jenem Bischof erhalten
hatte, auch ausgeführt hätte. Im Vertrauen, mit dem er
mich ehrte, antwortete er mir: “Ja, ich habe meine
Aufgabe getreulich ausgeführt. ” (Lem. VIII, 859.)
DAS
NEUJAHRSGESCHENK
(Lem.
IX, 11-17)
Geträumt
in der Nacht vom 30. zum 31. Dezember 1867. Am Abend des
31. Dezember 1867 versammelte Don Bosco die Jungen in
der Kirche. Nach dem Gebete stieg er auf die Kanzel und
sprach:
“In
diesen Tagen pflegen die Eltern ihren Kindern ein
Neujahrsgeschenk zu geben und die Freunde beschenken
sich gegenseitig. Ich bin es auch gewohnt, es jedes Jahr
so zu halten, und zwar gebe ich an diesem Tage meinen
lieben Jungen ein Andenken, das ihnen für das kommende
Jahr als Wegweiser dienen soll.
Deshalb
überlegte ich schon seit einigen Tagen, welches
Neujahrsgeschenk ich euch, meinen lieben Jungen, geben
sollte. Trotz aller Bemühungen fand ich keinen dafür
geeigneten Gedanken. Auch letzte Nacht, als ich mich
schon hingelegt hatte, dachte ich wieder und wieder darüber
nach, was ich euch an diesem Abend Heilsames für das
Jahr 1868 sagen sollte. Ich konnte mich aber auf nichts
Bestimmtes festlegen. Schließlich war ich nach langer
Zeit, als mich diese lebhafte Sorge immer noch nicht
losgelassen hatte, gleichsam im Zustand zwischen Schlaf
und Wachen, in jenem Zustand, in dem man sich selber
noch fühlt und sich seiner bewußt ist. Es war ein
Schlaf, in dem man noch weiß, was man tut, hört, was
gesprochen wird, und man antwortet, wenn man gefragt
wird. In diesem Zustand geriet ich in die Gewalt eines
Traumes, der kein Traum war. Es schien mir immer noch,
als sei ich in meinem Zimmer. Als ich es verlassen
wollte, fand ich mich an der Stelle des Balkons vor
einem schönen Garten. Der Garten war von einer Mauer
umgeben. Über seinem Eingang stand in mächtig großen
Ziffern die Zahl: 68.
Ein
Pförtner geleitete mich in den Garten, und dort sah ich
unsere Jungen. Sie vergnügten sich, schrien und hüpften
fröhlich umher. Viele drängten sich um mich und wir
besprachen mancherlei miteinander. Wir wandelten alle
durch den Garten. Als wir ein Stück des Weges gegangen
waren, sah ich an der Mauer in einer Ecke viele Jungen
zusammengedrängt, die mit einigen Priestern und
Klerikern sangen und beteten.
Ich
näherte mich diesen Jungen, betrachtete sie, konnte sie
aber noch nicht alle recht erkennen. Zum großen Teil
waren sie mir sogar fremd. Ich hörte, sie sangen das
‚Miserere' und verrichteten die Gebete für
Verstorbene. Ich trat zu ihnen und sagte: “Was tut ihr
hier? Warum betet ihr das ‚Miserere'? Was ist die
Ursache eurer Trauer. Ist vielleicht jemand
gestorben?”
“Oh,
das wissen Sie nicht?” antworteten sie. “Ich weiß
von nichts. ” — “Wir beten für die Seele eines
Jungen, der an dem Tage zu der und der Stunde gestorben
ist. ” — “Aber wer denn?” — “Wie?”
erwiderten sie, “Sie wissen nicht, wer das ist?” —
“Aber nein!”
“Man
hat ihm nicht Bescheid gesagt”, sagten sie zueinander.
Dann wandten sie sich an mich: “Nun gut, hören Sie,
der und der ist gestorben. ” Und sie nannten mir den
Namen. “Wie, der ist tot?” — “Ja, er ist tot,
aber er ist gut gestorben, sogar beneidenswert. Er hat
mit großer Zufriedenheit und zu unserer Erbauung die
Sterbesakramente empfangen. Ergeben in den Willen
Gottes, zeigte er die lebhaftesten Gefühle der Frömmigkeit.
Nun bei der Beerdigung beten wir für seine Seele. Aber
wir hoffen, sie ist schon im Besitz des Himmels und
betet für uns. Vielmehr sind wir sicher, daß sie schon
im Himmel ist.”
“So
ist er also eines guten Todes gestorben. Es geschehe der
Wille Gottes! Ahmen wir seine Tugenden nach und bitten
wir den Herrn, er möge uns die Gnade eines guten Todes
gewähren. ” Als ich so gesprochen hatte, entfernte
ich mich von jenen. Immer noch war eine große Schar
Jungen um mich herum. Von neuem spazierten wir durch den
Garten. Nachdem wir ein gutes Stück des Weges gegangen
waren, kamen wir an eine sehr schöne, grünende Wiese.
Ich fragte mich, wie geht denn das zu? Gestern abend
legte ich mich in mein Bett, und jetzt bin ich mit den
Jungen, die hier und dort herumlaufen, in diesem Garten.
Siehe
da, eine andere, zahlreiche Schar von Jungen bildete
einen Kreis um irgend etwas. Ich konnte aber nicht
feststellen, was es war. Jedoch sah ich, daß sie
knieten. Die einen beteten, andere sangen. Ich trat
hinzu und sah, daß sie eine Bahre umgaben. Ich hörte
sie die Gebete für die Verstorbenen beten und das
‚Miserere' singen. “Für wen betet ihr?” fragte
ich sie. Sie antworteten mir traurig: “Ein anderer
Junge ist gestorben. Er ist gut gestorben. Er hat die
heiligen Sakramente zu unserer Erbauung empfangen und
Empfindungen von großer Frömmigkeit gezeigt. Jetzt ist
schon die Beerdigung. Er war acht Tage lang krank. Seine
Eltern kamen auch, ihn zu besuchen.”
Ich
fragte nun nach dem Namen des Toten und er wurde mir
genannt. Schmerzlich ergriffen rief ich aus: “Oh, das
tut mir aber leid! Das war einer, der mich so gern
hatte, und ich habe ihm nicht das letzte Lebewohl sagen
können . . . Auch den anderen habe ich nicht mehr
gesehen, bevor er starb. — Sterben jetzt alle? Hier
ein Toter, dort ein anderer! . . . Ist es möglich? Erst
gestern starb einer und heute schon wieder einer . . .
” — “Was sagen Sie da?” wurde mir geantwortet,
“einer starb vor kurzem und der andere jetzt. Es
scheint Ihnen erst wenig Zeit verflossen zu sein und
doch sind es mehr als drei Monate her, seit der erste an
dem und dem Tage, zu der und der Stunde gestorben
ist.”
Als
ich das hörte, dachte ich: “Träume ich oder träume
ich nicht? Es war mir, als träumte ich nicht und ich wußte
nicht, was ich von dem Gehörten sagen sollte. Wir
setzten unseren Spaziergang durch das Gebüsch fort, und
als wir ein längeres Stück des Weges gegangen waren, hörte
ich von neuem das ‚Miserere‘ singen. Ich blieb
stehen und mit mir hielten alle an, die mich
begleiteten. Ich sah eine große Schar von Jungen, die
sich uns näherte. Ich fragte die, die an meiner Seite
standen: “Was tun die Jungen dort? Wohin gehen sie?”
Sie kamen von nicht weit her und waren alle sehr
traurig. Tränen standen in ihren Augen. Ich beeilte
mich, zu ihnen zu kommen und fragte sie: “Was fehlt
euch?”
“Ach,
wenn Sie wüßten! . . . ” — “Was ist denn?” —
“Ein Junge ist gestorben. ” — “Wie? überall
sehe ich Tote. Wer ist denn euer Kamerad, den man soeben
beerdigt hat?” Die Jungen antworteten unter großem
Erstaunen: “Wie, wissen Sie noch nichts? Wissen Sie
noch nicht, daß jener soundso gestorben ist?” —
“Der ist auch tot?” — “Ja, der Arme! Seine
Eltern sind nicht einmal gekommen, ihn zu besuchen . . .
, aber. . . ” — “Was aber? Ist er vielleicht
keines guten Todes gestorben”'
“Oh
nein! Ein Tod wie der seine ist keineswegs wünschenswert.
” — “Starb er denn ohne den Empfang der
Sakramente?” — “Zuerst sträubte er sich gegen
ihren Empfang, und dann empfing er sie; aber er hatte
nicht viel Verlangen danach und zeigte keine echte Reue,
so daß wir wenig erbaut von ihm waren. Wir zweifeln
sogar sehr an seinem ewigen Heil und es schmerzt uns, daß
ein Junge des Oratoriums so schlecht gestorben sein
soll. —
Ich
versuchte sie zu trösten und sagte: “Wenn er die
Sterbesakramente empfangen hat, so wollen wir hoffen, daß
er gerettet ist. Man darf an der göttlichen
Barmherzigkeit nicht verzweifeln. Sie ist so groß!”
Es gelang mir aber nicht, ihnen diese Hoffnung
mitzuteilen und sie zu trösten.
Während
ich noch schmerzlich berührt und verwirrt darüber
nachdachte, in welcher Zeit diese Jungen gestorben wären,
tauchte auf einmal jemand auf, den ich nicht kannte. Als
er herangekommen war, sagte er: “Sieh, also sind es
drei!” Ich unterbrach ihn: “Und wer bist du, daß du
mich so vertraulich mit Du” anredest, ohne mich jemals
gesehen zu haben?”
“Hör
zu”, sagte er, “und ich werde dir nachher erzählen,
wer ich bin. Möchtest du eine Erklärung haben von dem,
was du gesehen hast?” — “Ja, was bedeuten diese
Zahlen?” Er antwortete: “Über dem Garteneingang
hast du die Zahl ‚68' gesehen. Sie bedeutet das Jahr
1868. In diesem Jahr müssen die drei Jungen, die dir
gezeigt wurden, sterben. Wie du gesehen hast, sind die
beiden ersten gut vorbereitet. Den dritten vorzubereiten
ist deine Aufgabe.”
Ich
dachte darüber nach, ob das wirklich wahr sein sollte,
daß die drei lieben Jungen im Jahre 1868 sterben müßten
und fuhr fort: “Aber wie kannst du mir dieses
sagen?” — “Paß auf, und warte mal ab. Du wirst
schon sehen”, antwortete er.
An
der Sicherheit und Liebenswürdigkeit, mit der er so
sprach, erkannte ich in dem Fremden einen Freund und
setzte mit ihm gemeinsam den Weg fort; noch ganz
versunken in die Worte, die ich gehört hatte.
“Aber
träume ich vielleicht?” fragte ich ihn. “Dies ist
doch kein Traum; denn ich bin wach! Ich sehe, ich höre,
ich erkenne. ” Da sagte er zu mir: “Schon gut. Dies
ist Wirklichkeit. ” Und ich: “Wirklichkeit? Ich
bitte dich um einen Gefallen. Du hast mir von der
Zukunft gesprochen und nun sprich von der Gegenwart. Ich
habe einen Wunsch. Teile mir etwas mit, das ich meinen
Jungen morgen abend sagen und als Neujahrsgeschenk
mitgeben kann. ” Und er: “Sag deinen Jungen, daß
die beiden ersten auf den Tod vorbereitet waren, weil
sie in ihrem Leben die heilige Kommunion häufig
empfingen, und zwar in der rechten Verfassung. So
empfingen sie diese bei ihrem Tode zur Erbauung aller.
Aber der letzte ging in seinem Leben nicht oft zur
heiligen Kommunion, solange er gesund war, und deshalb
empfing er sie bei seinem Tode mit wenig Freude. Sag
ihnen, wenn sie gut sterben wollen, mögen sie oft zur
heiligen Kommunion gehen, und zwar mit der nötigen
Vorbereitung, und das erste dabei ist eine gute Beichte.
Der Leitsatz für das folgende Jahr sei also dieser: Die
andächtige und häufige heilige Kommunion ist das
wirksamste Mittel, um gut zu sterben und so seine Seele
zu retten. Und nun komm mit und paß auf!” Er bog
etwas weiter in einen Gartenweg ein. Ich folgte ihm. Auf
einmal sah ich an einer weiten, offenen Stelle meine
Jungen versammelt. Da blieb ich stehen, um sie zu
beobachten. Ich kannte sie alle und es schien mir, als wären
sie alle gerade so, wie ich sie oft gesehen hatte, und
nicht anders. Doch als ich sie ein wenig näher
untersucht hatte, sah ich etwas, das mich mit Staunen
und Schrecken erfüllte. Bei vielen kamen unterhalb der
Mütze aus der Stirn zwei kleine Hörner hervor. Sie
waren bei den einen länger, bei den andern kürzer.
Einige hatten sie noch ganz, andere zerstört. Manche
trugen nur mehr das Mal, daß sie Hörner gehabt hatten,
doch waren diese bis auf die Wurzeln vollständig
vernichtet. Man sah sie nicht mehr hervorstehen oder
wachsen. Waren sie einmal zerstört, so traten sie noch
etwas hervor und bildeten sich immer wieder von neuem.
Einigen war es nicht genug, Hörner zu haben, sie
teilten mit ihnen starke Stöße an ihre Gefährten aus.
Es waren auch einige dabei, die nur ein einziges Horn
auf der Mitte ihrer Stirne hatten. Das Horn war aber außerordentlich
groß und diese Jungen waren die schrecklichsten. Schließlich
waren auch andere da, deren reine Stirne niemals von
derart häßlichen Dingen verunstaltet war . . .
Ich
möchte hier bemerken, daß ich jedem von euch
insbesondere sagen könnte, welche Rolle er im Garten
spielte.
Ich
entfernte mich ein wenig von den Jungen und erreichte,
nur noch von meinem Führer begleitet, eine kleine Anhöhe.
Von dort aus sah ich in einem weiten Gelände sehr viel
Volk, das sich gegenseitig bekämpfte. Es waren
Soldaten. Lange Zeit stritten sie erbittert, ohne
Mitleid mit irgend jemandem. Viel Blut war geflossen.
Deutlich sah ich die Erschlagenen zu Boden gleiten. Ich
fragte meinen Begleiter: “Wie kommt es, daß sich
diese Menschen so wütend und auf solche Art
umbringen?” “Großer Krieg im Jahre 1868”, rief
mein Führer, “und dieser Krieg wird erst nach großem
Blutvergießen enden.”
“Wird
der Krieg sich vielleicht in unserem Lande abspielen?
Welches Volk ist das? Sind es Italiener oder Feinde?”
“Sieh
dir die Soldaten an. Dann wirst du ihre Kleidung
erkennen und wissen, welcher Nation sie angehören.”
Darauf
betrachtete ich sie aufmerksam und sah, daß sie
verschiedener Nationalität waren. Der größte Teil
trug nicht die Uniform unserer Soldaten, aber es waren
auch Italiener dabei.
“Das
heißt”, fuhr der Führer fort, “daß sich auch die
Italiener an diesem Krieg beteiligen werden.”
Wir
verließen nun jenes Schlachtfeld und gelangten bald in
einen anderen Teil des Gartens. Da hörte ich auf einmal
lautes Rufen: “Fort von hier, Flucht, laßt uns von
hier fliehen, wenn wir nicht alle sterben wollen!” Und
ich sah viele Leute, die schreiend flüchteten. Mitten
unter ihnen waren zahlreiche gesunde und starke
Menschen, die zur Erde sanken und sofort starben. “Was
ist mit diesen Fliehenden?” fragte ich irgendeinen aus
der Menge. “Die Cholera tötet so viele, und wenn wir
nicht flüchten, sterben auch wir”, war die Antwort.
“Aber
was sehe ich denn eigentlich alles?” wandte ich mich
an meinen Führer. “Überall herrscht der Tod!” —
“Große Cholera im Jahre 1868”, rief er aus. “Wie
ist das möglich, Cholera im Winter? Und sie sterben,
obwohl es so kalt ist?” — “In Reggio in Calabrien
sterben daran täglich fünfzig.”
Wir
gingen noch weiter und sahen eine endlose Menge von
Leuten, bleich, niedergeschlagen, abgezehrt, erschöpft
und mit zerfetzten Kleidern. Ich konnte die Ursache der
Erschöpfung und Hagerkeit dieser Leute nicht begreifen
und fragte meinen Freund: “Was haben jene? Was soll
das heißen?” — “Große Teuerung im Jahre 1868”,
antwortete er. “Weißt du nicht, daß diese nichts
haben, um ihren Hunger zu stillen?” — “Wie, in
einem solchen Zustand sind sie vor lauter Hunger?”
fragte ich. — “Ja, so ist es in der Tat.”
Unterdessen
betrachtete ich diese Menge. Die Leute riefen:
“Hunger! Hunger!” Sie suchten Brot, um zu essen,
fanden aber keines. Sie suchten etwas für den Durst,
der ihnen in der Kehle brannte; aber sie fanden kein
Wasser.
Da
sagte ich voller Furcht zu meinem Gefährten: “Aber
fallen denn in diesem Jahre alle Übel auf unsere Erde?
Sollte es kein Mittel geben, um all das Unglück von den
Menschen fernzuhalten?” — “Doch, es gäbe dieses
Mittel, wofern alle Menschen zusammen ein übereinkommen
träfen, sich der Sünde zu enthalten, das Fluchen
dranzugeben, Jesus im Sakrament zu ehren und zur
Allerseligsten Jungfrau zu beten, die von ihnen schmählich
verlassen ist.”
“Aber
dieser Hunger und diese Dürre, beziehen sie sich auf
die körperliche oder geistige Nahrung?” Er
antwortete: “Sie beziehen sich sowohl auf die eine wie
auf die andere. Die einen entbehren sie, weil sie
dieselbe nicht wollen, die anderen, weil sie diese nicht
haben können.”
“Und
das Oratorium, wird es auch unter diesen Übeln zu
leiden haben? Werden auch meine Jungen an der Cholera
sterben?” Mein Führer schaute mich vom Kopf bis zu
den Füßen an. Dann sagte er: “Unter Umständen, das
heißt, wenn alle deine Jungen einig sind, die
Beleidigung Gottes von sich fernzuhalten und Jesus im
Sakrament und die heilige Jungfrau zu verehren, werden
sie gerettet sein; denn mit diesem doppelten Schutz
erreicht ihr alles, ohne ihn aber nichts. Wenn sie es
jedoch nicht so machen, dann müssen auch sie sterben.
Aber gib acht! Ein einziger, der eine Todsünde begehen
würde, kann genügen, um den Unwillen Gottes und die
Cholera auf das Oratorium herabzuziehen.”
Ich
fragte noch: “Werden meine Jungen auch an Mangel von
Nahrungsmitteln zu leiden haben?” — “Nur zu sehr!
Auch deine Jungen werden unter den Auswirkungen der
Teuerung zu leiden haben. ” — “Mir scheint, daß
die Teuerung nur auf Don Bosco fallen würde, weil ich
überlegen und sorgen muß, um ihnen Nahrung zu
verschaffen. Wenn das Brot in unserem Haus fehlt, werden
die Jungen nicht daran denken.”
“Du
wirst den Hunger spüren und auch deine Jungen müssen
es. Ihre Eltern oder Wohltäter werden Mühe haben, um
ihre Pension zu bezahlen und ihnen all die anderen Dinge
zum Leben zu bieten. Viele werden nichts mehr bezahlen können.
Und so werden auch sie leiden. ”'
“Aber
werden sie auch unter dem Mangel an geistiger Nahrung
leiden?” — “Ja, einige, weil sie diese Speise
nicht mehr haben wollen; andere, weil sie dieselbe nicht
erlangen können.”
Während
dieses Gespräches gingen wir immer weiter in den Garten
hinein. Plötzlich sah ich, wie der Himmel sich mit
dunklen Wolken bedeckte. Sie zeigten den nahen Sturm an.
Ein furchtbarer Wind erhob sich. Ich blickte umher und
ich sah die Jungen in weiter Ferne laufen. Darauf ließ
ich den Führer zurück und eilte ihnen nach, um mich
mit ihnen in Sicherheit zu bringen. Aber bald verlor ich
sie aus den Augen. Blitze und Donner folgten
aufeinander. Es schien, als müßten wir alle in jedem
Augenblick vom Blitz erschlagen werden. Obendrein fiel
ein gewaltiger Platzregen. Noch nie hatte ich ein solch
heftiges Gewitter gesehen. Ich lief im Garten herum und
suchte meine Jungen und irgendein Obdach; aber ich fand
nichts. Die ganze Gegend war verödet. Ich suchte das
Tor, um hinauszukommen. Doch konnte ich es trotz meiner
Eile nicht erreichen. Vielmehr entfernte ich mich immer
mehr von demselben. Zuletzt fiel ein schrecklicher
Hagel, der so dicht war, wie ich ihn vorher noch nie
gesehen hatte. Einige Körner trafen mich mit solcher
Wucht auf den Kopf, daß sie mich weckten und ich fand
mich auf meinem Bette. Ich versichere euch, daß ich nun
noch viel müder war, als beim Zubettgehen. —
Wie
gesagt, sah ich diese Dinge im Traum, und ich möchte
sie euch nicht erzählen, daß ihr sie für wahre
Begebenheiten annehmt; aber, da man von ihnen etwas
lernen kann, wollen wir einen Nutzen daraus ziehen.
Halten wir das für einen Traum, was uns nicht paßt;
aber halten wir die Dinge für wahr, die uns zu unserem
Heile dienen können. Um so mehr, da schon so manches
eingetroffen ist, was ein andermal gesagt wurde. Deshalb
könnte es auch diesmal so kommen. Machen wir es uns
zunutze, halten wir uns bereit für den Tod, beten wir
zur Muttergottes und halten wir die Sünden fern von
uns.
Endlich
gebe ich euch den Leitsatz: Die häufige gute Beichte
und Kommunion sind ein großes Mittel, unsere Seele zu
retten. Gute Nacht.”
Der
Berichterstatter dieser Vision ist der Theologiestudent
Stefano Bourlot, dessen Aufzeichnung das Datum vom 29.
1. 1868 und seine Unterschrift trägt. Er schreibt:
“Ich gebe eine einfache Nacherzählung vom Traume Don
Boscos, so wie es mir scheint, daß ich ihn gehört
habe, in derselben Reihenfolge, ohne jedoch alle von ihm
gebrauchten Worte wiederzugeben, weil ich sie nicht mehr
genau weiß. Aber ich weiß sicher, daß der Sinn des
Traumes so ist, wie ich ihn aufgeschrieben habe, und das
mag genügen. ” (Lem. IX, 17.)
Zusammen
mit Gioachino Berto und Don Giuseppe Bologna begann
Stefano Bourlot die Verwirklichung des Traumes zu
beobachten und schriftlich zu fixieren, da dies der
erste Traum Don Boscos war, den er selbst im Oratorium
gehört und miterlebt hat.
Don
Bourlot war später Missionar in Amerika. Während
seines Aufenthaltes in Italien erklärte er am 12.
Oktober 1889:, ich kann unter Eid versichern, daß der
angekündigte Tod der drei Zöglinge Don Boscos eintraf,
wie es Don Berto und Don Bologna ebenfalls bezeugen können.
” (Lem. IX, 19.)
Der
erste Zögling, der nach der Vorhersage starb, war der
Kleriker Giuseppe Mazzarello. Er starb im Kolleg von
Lanzo am 22. Januar, wo die Jungen zum großen Teil Don
Bosco noch fremd waren, wie es in der Vision angegeben
war. Don Bosco hatte vorher Andeutungen gemacht: der
erste sei ein Kleriker (zu Bourlot) und sein
Familienname fange mit ‚M‘ an (öffentlich). (Lem.
IX, 50.)
Der
zweite Zögling, der nach der Vorausschau starb, war
Pietro Correchio. Er starb am 24. Mai. Seine Eltern
besuchten ihn in seiner achttägigen Krankheit. Don
Bosco konnte ihm das letzte “Auf Wiedersehen” nicht
sagen, da er von Turin abwesend war. Nur von diesem
hatte Don Bosco die Bahre gesehen; denn von den dreien
war er der einzige, der im Oratorium starb. (Lem. IX,
211-212.)
Der
dritte Zögling war G. B. Bonenti, der im Hospital
starb. Er war von aufgedunsener Gestalt und ziemlich
apathisch, auch in geistlichen Dingen. Er empfing die
heiligen Sakramente gleichgültig, da er die Todesgefahr
nicht erkannte. Don Bosco erhielt Bescheid, ging hin,
hatte Einfluß auf ihn und bereitete ihn auf den Tod
vor. Er hörte auch seine Beichte. Am nächsten Tage
ging Don Bosco noch einmal hin, half ihm und gab ihm
noch einmal die Lossprechung. Dann starb der Junge am
22. September. Seine Eltern konnten ihn nicht besuchen,
weil er Vollwaise war. (Lem. IX, 352.)
An
die Schau der übrigen Dinge (Pest, Hunger und Krieg)
konnte sich Don Bosco siebzehn Jahre später noch gut
erinnern. Er sagte im Jahre 1884: Der Beginn der geträumten
Ereignisse lag im Jahre 1868; aber sie werden sich erst
im Jahre 1888 ganz verwirklicht haben. Das wird eine
Zeit großer Geschehnisse für die Kirche sein, wenn
diese nicht verzögert werden, was von freien Ursachen
abhängt. ” (Lem. IX, 465.)
Daß
Don Bosco sich dieser Visionen so genau erinnerte, ist
vielleicht ein Zeichen dafür, daß er über sie
nachdachte und auf ihre Erfüllung achtete. Auch sah Don
Bosco das Schlachtfeld erst von einem erhöhten Teil des
Gartens aus, weiter entfernt vom Eingang liegen. Das könnte
bedeuten, daß die Ereignisse über den Garten, der das
Jahr 1868 bedeutete, hinausragen (C. Burg).
Im
Jahre 1868 und in den vier folgenden Jahren trat die
Cholera nur da und dort vereinzelt auf und in geringem
Ausmaße. 1873 war sie in Treviso und Venedig. Sie
suchte die Provinzen Padua, Brescia und Parrna heim.
Drei Monate hindurch zählte man hier durchschnittlich
fast 100 Fälle am Tag. Zwei Drittel erlagen der Seuche
innerhalb weniger Stunden.
Mit
fürchterlicher Gewalt trat die Cholera im Jahre 1884
auf. Man zählte in der Provinz Cuneo 3334 Fälle und
1655 Tote. In der Provinz Genua 2619 Fälle und 1438
Tote. In der Provinz Spezia 1388 Fälle und 610 Tote. In
der Provinz Neapel 15 977 Fälle und 7944 Tote. In der
Stadt Neapel 14 233 Fälle und 7000 Tote.
Wahrscheinlich
sind aber diese Zahlen noch zu niedrig angegeben. Auch
in den drei folgenden Jahren forderte die Cholera in
Italien noch viele Opfer. (Lem. IX, 456-467.)
Weiter
hatte Don Bosco Krieg vorausgesagt. Er begann 1868 in
Spanien, als revolutionäre Truppen die Königin
Isabella II. entthronten, und zwar nicht ohne Blutvergießen,
weil viele königstreue Regimenter sie verteidigten. Die
Revolutionäre brachten keine Ordnung und gingen auch
gegen die Kirche vor. 1868 und 1869 waren schwere Jahre
für Spanien. Die provisorische Regierung, die sich
nicht stark genug fühlte, die Ordnung
aufrechtzuerhalten, setzte zur Bildung der neuen
Regierung fest, daß es eine konstitutionelle Monarchie
sein sollte. Daher bot man die spanische Krone
verschiedenen Angehörigen der königlichen Familie an.
Aber alle lehnten sie ab. Darauf versuchte man den
Prinzen Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen auf den
spanischen Thron zu erheben. Dieser war katholisch und
ein Verwandter des Königs von Preußen, Wilhelms I. Im
Einvernehmen mit diesem nahm er das Anerbieten an. Da
erklärte der Kaiser Napoleon III. , er dulde keinen
ausländischen Fürsten auf dem spanischen Königsthron.
Deshalb verzichtete Prinz Leopold. Doch Napoleon
forderte, der König von Preußen sollte erklären, daß
er jetzt und auch später nicht zugeben wolle, daß ein
Angehöriger seiner Familie die spanische Krone annehme.
Der König weigerte sich, dieser Forderung nachzukommen.
Deshalb erklärte ihm Napoleon am 19. Juli 1870 den
Krieg. Die Deutschen siegten, Napoleon verlor sein
Kaisertum. In Frankreich wurde die Republik ausgerufen,
der Garribaldi mit seinen italienischen Freiwilligen zu
Hilfe kam. Viktor Emanuel, der König von Italien,
eroberte 1870 die Stadt Rom und entriß so dem Papst
seine weltliche Macht. Italien erwarb in Afrika die
Kolonie Massana am Roten Meer. Es versuchte von dort die
Schutzgewalt über Abessinien zu gewinnen. Seine diesbezüglichen
Bemühungen scheiterten aber unter starken Verlusten.
Auch
die Hungersnot traf ein, wie Don Bosco vorhergesagt
hatte. Die Zeitungen des Jahres 1868 sind voll davon.
Besonders in Süditalien und vor allem in Sizilien war
das Elend groß, so daß Scharen von Leuten durch die
Felder und Schluchten zogen, um ihren Hunger mit
allerlei Gras und Wurzeln zu stillen. Davon erkrankten
viele und starben.
Im
September und Oktober setzten in den Alpen schwere
Unwetter mit Regenfällen ein. Davon wurden in Savoyen,
in der Schweiz und in Norditalien zahllose Bauernhöfe,
Herden und die schon eingebrachte Ernte weggeschwemmt
und vernichtet.
Außerdem
belegte der König durch ein Gesetz vom 7.7.1868 jeden
Zentner Getreide, Mais, Roggen, Hafer, Hülsenfrüchte
und Kastanien mit einer Mahlsteuer. Diese mußten von
Kunden an den Müller entrichtet werden, der auf diese
Art gleichsam zum Steuereinnehmer geworden war, als zum
Verteiler von Getreide. Jedes Mahlen im Hause war
verboten. Die Steuer machte den zehnten Teil des Preises
aus und die Regierung hoffte 60 Millionen Lire aus
dieser Steuer zu ziehen. Da gab es in ganz Italien Aufstände
mit Erschießungen und Kerker. In diesen Jahren
richteten die Flüsse Po und Ticino große Überschwemmungen
an. Die Cholera hielt den Fremdenverkehr und den Handel
von Italien fern. Der Ätna brach aus. Orkane und
Erdbeben richteten Schaden an. 1884 war ein
Erdbeben
in Ligurien, 1888 eines in Calabrien, während zugleich
gewaltige Schneefälle in Oberitalien Verheerungen
anrichteten. Die Vision Don Boscos reichte zweifellos über
Italien hinaus. Er hatte auch Menschen gesehen, die von
Durst gequält wurden und kein Wasser finden konnten.
Davon findet sich im “Corrier del'Algerie” von 1868
eine Notiz: Ganz Algerien wurde durch die Ungunst des
Sommers 1867 in solch einen Mangel an allernotwendigsten
Mitteln gebracht, daß man im Mai 1868 ausrechnete, es
seien durch Not, Mühsal, Hunger und Durst mindestens
200 000 Araber umgekommen. Der französische Bischof
Levigerie suchte das Elend in Algerien zu lindern.
(Über
die Voraussagen Krankheit, Krieg und Hungersnot und ihre
Erfüllung: Lem. IX, 464‑472.)
DIE
JUNGEN VON LANZO
(Lem.
IX, 133-136)
Don
Bosco befand sich in Lanzo, war gesundheitlich nicht,
gut beisammen und konnte sich darum mit den Jungen nicht
befassen. Die Nächte waren unruhig und schwere Träume
plagten ihn. Einer dieser Träume bezog sich auf das
Kolleg von Lanzo. Don Bosco erzählte ihn am Morgen
seiner Abreise, am 17. April 1868 dem Direktor des
Kollegs. Das war damals Don G. B. Lemoyne. Don Bosco
trug ihm auf, diesen Traum den Insassen des Kollegs
mitzuteilen. Da Don Lemoyne aber ebenfalls am 17. April
wegfuhr, um in Mirabello die Exerzitien zu predigen,
unterrichtete er das Kolleg von Lanzo durch einen Brief
von der Vision Don Boscos. Dieser Brief sei hier
wiedergegeben:
18.
April 1868
Meine
lieben Jungen im Kolleg von Lanzo!
In
der Eile des Abreisens konnte ich mich nicht mehr von
euch verabschieden, wie ich es gewünscht hätte. Nun
aber in Turin angekommen, schreibe ich euch, was ich
euch hätte sagen wollen. Hört aber aufmerksam zu; denn
es ist der Herr, der zu euch durch den Mund Don Boscos
spricht.
In
der letzten Nacht, die Don Bosco in Lanzo verbrachte,
schlief er sehr unruhig. Wie Ihr wißt, liegt mein
Zimmer neben dem seinen. Nun wachte ich plötzlich
zweimal auf, ohne zu wissen warum. Ich meinte, ein
langgezogenes, erschreckendes Geheul vernommen zu haben.
Ich setzte mich im Bett auf und hörte gespannt hin. Das
Geräusch kam genau aus dem Zimmer Don Boscos. Am Morgen
dachte ich über das Gehörte nach und beschloß, mit
Don Bosco darüber zu reden. “Es ist wahr”, sagte
er, “heute Nacht habe ich Träume gehabt, die mich
wirklich traurig machen. Mir war, ich stände am Ufer
eines nicht breiten Flusses; aber das Wasser war schäumend
und trübe. Alle Jungen aus dem Kolleg von Lanzo waren
bei mir und versuchten, auf das jenseitige Ufer zu
kommen. Viele nahmen den Anlauf, sprangen und erreichten
gIeich das Trockene am anderen Ufer. Brave Turner,
jawohl! Aber andere verfehlten es. Einer kam mit den Füßen
gerade auf den Uferrand, fiel aber zurück und wurde vom
Wasser mit fortgerissen. Ein anderer verschwand mitten
in der Strömung. Manche schlugen mit dem Magen oder mit
dem Kopf auf Felssteine, die mitten aus den Wellen
herausragten. Sie spalteten sich den Kopf oder das Blut
lief ihnen aus dem Munde. ” Don Bosco schaute diesem
Schauspiel längere Zeit zu. Er schrie und gab
Anweisungen, daß sie den Anlauf mit Klugheit nähmen.
Aber vergebens! Der Strom war mit Leibern bedeckt, die
von einem Wasserfall in den anderen stürzten und an
einem Felsen zerschmetterten, der an der Biegung des
Flusses aufragte: Dort war das Wasser tiefer und dort
verschwanden sie in einem Strudel. Abyssus abyssum
invocat — ein Strudel erzeugt den anderen.
Wie
viele von meinen armen, lieben Jungen, die jetzt der
Lesung meines Briefes zuhören, sind im Wasser in
Gefahr, für immer verlorenzugehen. Aber warum bestanden
Jungen, die so lebhaft und froh und tüchtig im Springen
waren, diese Probe so schlecht? Weil sie, während sie
sprangen, irgendeinen untüchtigen und unglückseligen
Kameraden hatten, der ihnen ein Bein stellte oder sie am
Mantel zurückhielt oder sie mit einem Puff kopfüber
vorwärts stieß, so daß der Anlauf gestört wurde und
sie den Sprung verfehlten.
Auch
diese Armen, Unglücklichen — es sind jedoch nur
wenige —, die die Partei des Teufels ergreifen und
ihre Kameraden zu verderben suchen, hören sich gerade
jetzt die Lesung meines Briefes mit an. Diesen sage ich
mit Don Boscos eigenen Worten: Warum wollt ihr mit euren
schlechten Reden in den Herzen der Kameraden die Flammen
der Leidenschaft entfachen, die sie auf ewig verderben müssen?
Warum lehrt ihr das Böse denen, die vielleicht noch
unschuldig sind? Warum haltet ihr euch mit euren
Kindereien und gewissen Machenschaften von den
Sakramenten fern und wollt die Worte dessen, der euch
den Weg zum Paradiese zeigen kann, nicht anhören? Das
einzige, was ihr euch dabei zuzieht, ist der Fluch
Gottes! Denkt an die scharfen Drohungen Jesu Christi,
von denen ich euch so oft gesprochen habe. Meine lieben
Jungen! Hört! Auch ihr, die ihr anderen Ursache zum Bösen
seid, seid meine lieben Jungen. Ihr habt sogar in meinem
Herzen einen besonderen Platz, weil ihr ihn nötiger
habt als alle anderen.
Laßt
die Sünde, rettet eure Seele. Wenn ich mir vorstellen müßte,
daß ein einziger von euch verlorenginge, hätte ich in
meinem Leben keine einzige ruhige Minute mehr. Denn euer
Heil ist mein einziger Gedanke, der einzige Wunsch
meines Herzens, die einzige Sorge meines Lebens! Gute
Christen sollt ihr werden! Helfen will ich euch, das
Paradies zu gewinnen. Ihr hört auf mich, nicht wahr?”
Es
ist nicht nötig, daß ich euch den Traum erkläre. Ihr
habt ihn schon verstanden. Das Ufer, auf dem sich Don
Bosco befindet, ist das gegenwärtige Leben. Das gegenüberliegende
Ufer ist die Ewigkeit, das Paradies. Das Wasser des
Stromes, das die Jungen von ihrer Richtung abbringt und
mitschleppt, ist die Sünde, die zur Hölle führt.
Don
Bosco, der bei einem solchen Geschehen von Angst überwältigt
wurde, machte allerlei Anstrengungen, schrie, erwachte
und dachte bei sich: “Oh, wenn ich doch einige, die
ich erkannt habe, zurechtweisen könnte! Wie gerne würde
ich das tun! Aber morgen muß ich abreisen!”
Während
er sich das sagte, schlief er wieder ein. Da schien es
ihm, als sei er auf einer großen Wiese, wo ihr alle
auch wart. Ihr spieltet und spranget herum. Aber welch
schrecklicher Anblick! Auf derselben Wiese gingen und
liefen wilde Tiere aller Gattungen herum. Löwen mit
feurigen Augen, Tiger, die ihre Krallen zeigten und den
Boden aufkratzten, Wölfe, die geduckt unter den
verschiedenen Gruppen der Jungen umherschlichen, Bären,
die mit schrecklichem Hohnlachen auf den Hinterbeinen saßen,
die Vorderbeine öffneten, um euch in die Arme zu schließen.
In welch häßlicher Gesellschaft wart ihr! Aber mehr!
Welch schändliche Herrschaft übten diese wilden Tiere
über euch aus. Wütend stürzten sie sich auf euch.
Einige von euch lagen auf der Erde hingestreckt, und
diese Ungeheuer standen auf euch und zerrissen und
zerfleischten euch mit ihren Krallen und ihren Bissen
und töteten euch. Andere Jungen flohen verzweifelt, da
sie von den Bestien verfolgt wurden. Sie zogen sich zu
Don Bosco zurück und erbaten seine Hilfe. Vor Don Bosco
wichen die wilden Tiere zurück. Manche Jungen suchten
sich selbst zu verteidigen. Es gelang ihnen jedoch
nicht, weil die Kraft der Tiere zu groß war. So wurden
auch sie zerfleischt. Wieder andere — seht nur, welche
Unvernunft — blieben stehen, statt zu fliehen. Sie
warteten auf die Ungeheuer, lächelten ihnen zu,
schmeichelten ihnen und schienen große Lust zu haben,
von den Bären erdrosselt zu werden. Der arme Don Bosco
lief hier‑ und dorthin, strengte sich an, die
einen wie die anderen zu sich zu rufen. Er schrie, aber
er konnte noch so schreien, es gehorchten ihm zwar
viele, jedoch einige hörten nicht auf ihn. Die Wiese
war bedeckt mit den Leichnamen der armen getöteten
Jungen und mit den Leibern der Verwundeten. Das Stöhnen,
das Gebrüll und Geheul der wilden Tiere und das Rufen
Don Boscos mischten sich seltsam ineinander. Mitten in
einer heftigen Bewegung erwachte Don Bosco zum zweiten
Male. —
Das
ist der Traum Don Boscos und ihr wißt, von welcher Art
die Träume Don Boscos sind. Ihr könnt euch meinen
Kummer vorstellen, als ich diese Erzählung hörte. Es
war mir unsagbar schwer, mich von euch zu trennen; aber
nachdem ich diesen Traum gehört hatte, wäre ich auf
der Stelle zu euch zurückgekehrt, wenn die Pflicht des
Gehorsams mich nicht zurückgehalten hätte. Wenn ich
euch weniger gern hätte, wäre ich jetzt ruhiger.
Wer
sind diese Löwen, Tiger und Bären? Das ist der Satan
mit seinen Versuchungen. Einige besiegen ihn, weil sie
sich einem Führer anvertrauen. Andere werden seine
Opfer und stimmen seinen Vorspielungen zu. Manche lieben
sogar die Sünde. Sie lieben den Teufel und geben sich
aus freien Stücken in seine Krallen. Meine lieben
Kinder! Werdet ihr tapfer sein? Denkt ihr immer daran,
daß ihr eure Seeie zu retten habt?
Don
Bosco sagte mir noch: “Ich habe alle diese Jungen
gesehen. Ich habe gewisse Füchse erkannt. Aber ich
wahre mein Geheimnis und sage es niemandem. Sobald ich
nach Lanze, zurückkehren kann, will ich jedem seinen
Teil sagen. Diesmal haben mich meine Zahnschmerzen daran
gehindert, mit allen zu sprechen. Ein andermal, wenn ich
wiederkomme, werde ich die zurechtweisen, die
zurechtgewiesen werden müssen.”
Also,
meine lieben Jungen, ich weiß nichts, da Don Bosco mir
nichts gesagt hat. Aber wenn ich auch jetzt noch nichts
weiß, so wird doch einmal der Tag kommen, an dem ich
alles wissen werde, nämlich am Tage des Gerichtes. Es
wird schmerzlich für mich sein, vielleicht von dem
einen oder anderen die ganze Ewigkeit getrennt zu sein,
obwohl ich soviel gearbeitet und meine Jugend für euch
geopfert habe und euch aus ganzem Herzen liebte. Wenn
ihr jetzt nicht anfangt, den Herrn zu lieben, werdet ihr
es auch nicht mehr tun, wenn ihr alt geworden seid.
Adolescens iuxta viam suam, etiam cum senuerit, non
recedet ab ea — Wenn ein Jugendlicher einmal auf
Abwege geraten ist, wird er dieselben selbst im Alter
nicht verlassen.
Meine
lieben Jungen, meine geliebten Kinder, verachtet meine
Worte nicht, die von unserem lieben Don Bosco kommen.
Gebraucht die wenigen Tage eures Lebens, um das Paradies
zu gewinnen.
DER
GROSSE WEINSTOCK
(Lem.
IX, 155-164)
Diese
Vision erzählte Don Bosco am 30. April und am 1. Mai
1868. Er hatte sie erst für sich behalten und gar nicht
erzählen wollen. Aber er kam zur Überzeugung, daß er
sie erzählen müsse. Er sagte selbst:
“Ich
habe euch etwas zu sagen; denn ich glaube, wenn ich es
euch nicht sagen würde, müßte ich vorzeitig ins
Grab.”
Er
hatte keine Ruhe mehr und wurde von schrecklichen
Gesichtern belästigt. So sah er in der letzten Nacht,
da er in Lanzo schlief (die Nacht vom 16. zum 17. April
1868), ein grauenerregendes Scheusal in sein Zimmer
eindringen. Es sah aus wie eine Kröte, war aber von der
Größe eines Ochsen. Das Ungeheuer sprang auf das Bett
und suchte Don Bosco zu verschlingen. Dieser schrie,
heulte und schlug gegen die Wand. Davon erwachte Don
Lemoyne, der im Zimmer nebenan schlief. Don Bosco
bezeichnete sich mit dem Kreuzzeichen und gebrauchte
Weihwasser. Als ihn das Ungetüm schließlich verließ,
hörte er von oben deutlich die Worte: “Warum sprichst
du nicht?” . . .
“Nun
war es der Wille Gottes, daß ich euch das Geschaute erzähle.
Daher will ich euch den ganzen Traum erzählen, sowohl
weil ich im Gewissen dazu verpflichtet bin, als auch um
mich von diesen Gesichten zu befreien. Danken wir dem
Herrn für diese Barmherzigkeit. Auf welche Weise Gott
uns auch seinen Willen kundtut, sorgen wir nur immer, daß
wir seinen Anweisungen folgen, die uns gegeben wurden
und daß wir die Mittel gebrauchen, die uns für das
Heil unserer Seelen angeboten wurden. Ich habe bei
dieser Gelegenheit den Gewissenszustand eines jeden von
euch kennengelernt.”
“Ich
träumte nun ein viertes Mal, und diesen Traum muß ich
euch klarlegen. Es war in der Nacht des Gründonnerstags
(9. April). Kaum umfing mich ein leichter Schlaf, so
schien es mir, ich wäre in den Säulenhallen, umgeben
von unseren Priestern, Klerikern, Assistenten und
Jungen. Dann schien es mir, ihr wäret alle verschwunden
und ich sei etwas weiter in denHof gegangen. Bei mir
waren noch Don Rua, Don Cagliero, Don Francesia, Don
Savio und der Knabe Preti. Ein wenig weiter abseits
standen Josef Buzzetti und Don Stefan Rumi, der im
Seminar in Genua und unser großer Freund ist. Auf
einmal änderte das Oratorium von heutzutage sein
Aussehen und war wieder unser Haus in den Anfängen, als
fast nur die eben Genannten dort waren. Man beachte, daß
der Hof an weite, unbegrenzte Ländereien angrenzte.
Diese waren auch unbewohnt und dehnten sich bis an die
Wiesen der Zitadelle aus. Die ersten Jungen liefen dort
oft herum und spielten. Ich befand mich unter den
Fenstern meines Zimmers, ungefähr dort, wo heute die
Schreinerei ist. Der Platz war damals ein Gemüsegarten.
Während
wir dasaßen und über die Angelegenheiten des Hauses
sprachen, wie auch über die Fortschritte der Jungen,
sahen wir hier vor dem Pfeiler (an welchem das Pult
gelehnt war, von dem herab Don Bosco sprach), der die
Pumpe stützt, in dessen Nähe die Türe zum Hause
Pinardi war, aus der Erde einen sehr schönen Weinstock
hervorkommen, und zwar denselben, der einst an dieser
Stelle stand. Wir wunderten uns, daß der Weinstock nach
so vielen Jahren wieder sproßte und einer fragte den
anderen, was das zu bedeuten habe. Der Weinstock wuchs
zusehends und wurde ungefähr mannshoch. Dann fing er
an, überaus zahlreiche Sprößlinge und Triebe hierhin,
dorthin und nach allen Seiten auszustrecken und seine Blätter
zu entfalten. In kurzer Zeit hatte er sich über unseren
ganzen Hof ausgedehnt und wuchs noch weiter darüber
hinaus. Eigenartig war es, daß seine Schößlinge nicht
in die Höhe trieben, sondern sich parallel zum Boden
ausdehnten, wie ein überaus großes Laubdach, das frei
in der Luft schwebte und ohne sichtbare Stütze war. Schön
und grün waren die hervortgetriebenen Blätter und die
langen Triebe waren erstaunlich gesund und kräftig.
Bald kamen schöne Trauben heraus, die Beeren wurden
dick und der Wein färbte sich.”
Don
Bosco und alle, die bei ihm waren, sahen erstaunt zu und
sagten: “Wie konnte dieser Weinstock nur so schnell
wachsen? Was wird nun geschehen?” Da sagte Don Bosco
zu den anderen: “Laßt uns beobachten, was nun
folgt!” Ich gab genau acht, mit weit geöffneten
Augen, ohne mit den Wimpern zu zucken und sah, daß auf
einmal alle Beeren auf die Erde fielen und sich in
ebensoviel lebhafte und fröhliche Jungen verwandelten.
Von ihnen ward augenblicklich der ganze Hof des
Oratoriums und der Platz ausgefüllt. Der Weinstock überschattete
alles. Die Jungen sprangen, spielten, schrieen und
liefen unter diesem einzigartigen Laubdach umher, so daß
es ein großes Vergnügen war, sie zu sehen. Hier waren
alle Jungen, die jemals im Oratorium und in den übrigen
Kollegs waren, sind und sein werden. Daher kannte ich
sehr viele von ihnen nicht.
Alsdann
trat jemand an meine Seite und betrachtete ebenfalls die
Jungen. Zuerst wußte ich nicht, wer es war. Es ist euch
bekannt, daß Don Bosco in seinen Träumen einen Führer
hat. Plötzlich breitete sich ein geheimnisvoller
Schleier vor uns aus und vernichtete das freundliche
Schauspiel.
Dieser
lange Schleier war nicht höher als der Weinstock. Er
schien an den Trieben desselben befestigt und hing wie
ein Bühnenvorhang seiner vollen Länge nach bis auf den
Boden herab. Man sah nur noch den oberen Teil des
Weinstockes gleich einer breiten Wand aus Grün.
Augenblicklich verstummte all die Fröhlichkeit bei den
Jungen und es folgte ein bedrücktes Schweigen.
“Sieh
her”, sagte der Führer zu mir und zeigte auf den
Weinstock.
Ich
ging näher heran und sah, daß der schöne Weinstock
der mit Wein beladen war, nur Blätter hatte. Auf denen
standen die Worte des Evangeliums geschrieben: “Nihil
invenit in ea! — Er fand keine Frucht an ihm.” Ich
wußte nicht, was das zu bedeuten hatte und fragte den
Unbekannten: “Wer bist du? . . . Was soll dieser
Weinstock vorstellen?”
Jener
hob den Schleier von dem Weinstock in die Höhe und
darunter erschien nur eine gewisse Anzahl unserer Jungen
aus der Schar, die ich vorher gesehen hatte. Sie waren
mir zum großen Teil unbekannt. “Diesen,” erwiderte
er, “fällt das Gute sehr leicht; aber sie tun es
nicht in der Absicht, um dem Herrn Freude zum machen. Es
sind solche, die sich den Anschein geben, als wirkten
sie Gutes, damit sie sich den Guten gegenüber nicht bloßstellen.
Solche sind es, die die Hausordnung genau befolgen, aber
aus Berechnung, um Vorwürfe zu vermeiden und die
Achtung der Vorgesetzten nicht zu verlieren. Sie zeigen
sich ihnen gegenüber zwar fügsam; aber sie bringen
keine Frucht von den Belehrungen, Anregungen und den
erzieherischen Bemühungen, an denen sie in diesem Hause
teilhaben oder teilhaben werden. Ihr Trachten geht
dahin, sich ehrenvolle und erträgliche Stellen in der
Welt zu verschaffen. Sie kümmern sich nicht darum,
ihren Beruf zu prüfen, sie weisen die Einladung des
Herrn zurück, wenn Er sie ruft. Gleichzeitig geben sie
aber Absichten vor, welche sie nicht haben, weil sie
irgendeinen Schaden fürchten. Alles in allem, es sind
solche, die das Gute aus eirem gewissen Zwang tun, und
darum nützt es ihnen nichts für die Ewigkeit.”
So
sagte er. O, wie schmerzlich war es für mich, bei
diesen auch einige zu sehen, die ich für sehr gut
hielt, für anhänglich und aufrichtig.
Der
Freund fuhr fort: “Das ist noch nicht das ganze Übel.
” Er ließ den Vorhang fallen und es erschien wieder
der obere Teil des Weinstockes in seiner ganzen
Ausdehnung. “Nun sieh von neuem!” sagte er zu mir.
Ich betrachtete die Zweige. Zwischen den Blättern sah
man viele Trauben. Beim ersten Anblick schien es mir,
sie versprächen eine reiche Ernte. Ich freute mich
schon; aber als ich näher hinzutrat, sah ich, daß
diese Trauben beschädigt und verdorben waren. Sie waren
schimmelig. Einige waren voller Würmer und Insekten,
die daran nagten; andere waren von den Vögeln und
Wespen angefressen. Wieder andere waren faul und
ausgetrocknet. Ich schaute sehr genau hin und überzeugte
mich, daß man von diesen Trauben nichts Gutes mehr
ernten könnte. Sie verpesteten nur die Luft in ihrer
Umgebung mit dem häßlichen Geruch, der von ihnen
ausging.
Nun
hob mein Freund den Schleier von neuem und rief:
“Siehe da!” Es erschienen zwar nicht die zahlreichen
Jungen, die ich zu Anfang des Traumes gesehen hatte,
jedoch viele, ja sehr viele von ihnen. Ihre Gesichter,
die erst so schön waren, sahen nun häßlich aus, waren
dunkel und voll von ekelhaftem Ausschlag. Sie
gingengebeugt, körperlichbehindertund schwermütig
daher. Keiner sprach. Es waren einige dabei, die schon
früher hier im Hause und in unseren Kollegs gewohnt
hatten, und auch solche, die jetzt darin sind. Sehr
viele von ihnen kannte ich noch nicht * Alle waren sehr
niedergeschlagen und wagten nicht, ihren Blick zu
erheben. Ich, der Priester, und einige, die mich
umringten, waren erschrocken und sprachlos. Schließlich
fragte ich meinen Führer: “Wie kommt das? Warum waren
diese Jungen erst so schön und froh und nun sind sie so
häßlich und traurig?” Der Führer antwortete: “Das
sind die Folgen der Sünde. ” Unterdessen gingen die
Jungen an mir vorbei und der Führer sagte: “Beobachte
sie gut!” Aufmerksam betrachtete ich sie und sah, daß
alle auf den Stirnen und Händen ihre Sünden
geschrieben trugen. Ich erkannte einige wieder, die mich
in Erstaunen setzten. Ich hatte sie immer für Tugendblüten
gehalten und nun entdeckte ich, daß sie sehr schwere
Gebrechen in ihrer Seele trugen.
Während
die Jungen vorbeizogen, las ich auf ihrer Stirne:
“Unsittlichkeit (immodestia), — Ärgernis (scandalo),
— Bosheit (malignita), — Stolz (superbia), Faulheit
(ozio), — Genußsucht (gola), — Neid (invidia), Zorn
(ira), — Rachsucht (spirito di vendetta), — Fluchen
(bestemmia), — Unglaube (irreligione), — Ungehorsam
(disubbidienza), — Sakrileg (sacrilegio), —
Diebstahl (furto).”
Mein
Führer erklärte dazu: “Nicht alle sind jetzt schon
so, wie du sie siehst. Aber eines Tages werden sie
einmal so sein, wenn sie sich nicht bessern. Viele
dieser Sünden sind an und für sich noch nicht schwer;
aber sie sind dennoch Ursache und Anfang des
schrecklichen Versagens und ewigen Verlorenseins. Qui
spernit modica paulatim decidet. — Wer auf kleine
Vergehen nicht achtet, wird langsam in schwere fallen.
Die Genußsucht führt zur Unzucht und Unkeuschheit, die
Mißachtung der Obern bringt die Verachtung der Priester
und der Kirche mit sich, usw.”
Von
diesem Anblick ganz trostlos, zog ich meine Brieftasche
heraus und einen Bleistift, um mir die Namen der
bekannten Jungen und ihre Sünden oder wenigstens das
Hauptlaster eines jeden zu notieren. Ich wollte sie
zurechtweisen und bessern. Aber der Führer faßte mich
am Arm und fragte: “Was tust du da?” — “Ich
schreibe auf, was ich auf ihrer Stirne geschrieben
finde, damit ich sie zurechtweisen kann und sie sich
bessern. ” — “Das ist nicht erlaubt,” antwortete
der Freund. “Warum nicht?” — “Es fehlen ihnen
die Mittel nicht, um frei von diesen Gebrechen zu leben.
Sie haben die Regeln. Diese sollen sie beobachten. Sie
haben Vorgesetzte, ihnen mögen sie gehorchen. Sie haben
die Sakramente, die sollen sie oft empfangen. Sie haben
die Beichte, die sollen sie nicht entweihen, indem sie Sünden
verschweigen. Sie haben die heilige Kommunion, die
sollen sie nicht mit einer durch schwere Schuld
beschmutzten Seele empfangen. Sie mögen ihre Augen behüten,
schlechte Kameraden fliehen, keine schlechten Bücher
lesen und sich von schlechten Reden fernhalten, usw.
usw. Sie sind in diesem Hause und die Hausordnung kann
sie retten. Wenn es läutet, sollen sie gleich bereit
sein zum Gehorsam. Sie dürfen keine Ausflüchte suchen,
um ihre Meister zu täuschen und müßig zu sein. Das
Joch der Vorgesetzten sollen sie nicht abschütteln,
ihre Obern nicht als lästige Aufseher, parteiische
Ratgeber oder gar als Feinde ansehen und Siege feiern,
wenn es ihnen gelingt, deren Schwächen zu entdecken
oder mit ihren eigenen Fehlern ungestraft durchzukommen.
Sie mögen Ehrfurcht haben, gerne in der Kirche beten
und sonst zu den für das Gebet bestimmten Zeiten ohne
zu stören und zu schwätzen pünktlich erscheinen. Im
Studiersaal sollen sie studieren, in der Werkstatt
arbeiten und sich überall sittsam betragen. Studium,
Arbeit und Gebet: das läßt sie gut bleiben, usw.”
Trotz
dieses abschlägigen Bescheides fuhr ich fort, meinen Führer
inständig zu bitten, daß er mich jene Namen
aufschreiben lasse. Der riß mir aber sehr energisch die
Brieftasche aus der Hand, warf sie auf die Erde und
sagte: “Ich sage dir, du schreibst diese Namen nicht
auf. Die Jungen können durch die Gnade Gottes und die
Stimme des Gewissens erkennen, was sie tun oder lassen müssen.”
“Also
soll ich meinen lieben Jungen nichts offenbaren können?
Dann sag du mir wenigstens, was ich ihnen verkünden und
welche Anweisungen ich ihnen geben soll. ” — “Du
kannst ihnen sagen, was du behältst, ganz nach deinem
Belieben.”
Er
ließ nun den Vorhang fallen und wiederum zeigte sich
der Weinstock vor unseren Augen. Seine Zweige waren fast
ohne Blätter und trugen schöne rote und reife Trauben.
Ich trat näher hinzu und betrachtete sie genau und
fand, sie waren wirklich so, wie sie von weitem
aussahen. Ihr Anblick erfreute und es war ein Genuß,
sie nur anzusehen. Sie strömten einen sehr süßen Duft
aus. Alsbald hob der Freund den Vorhang. Unter dem weit
ausgedehnten Laubdach waren viele Jungen, die bei uns
sind oder waren oder bei uns noch sein werden. Sie waren
sehr schön und strahlten vor Freude. “Diese,” sagte
er, “entsprechen deinen Bemühungen und bringen gute
Früchte. Sie üben die Tugend und werden dir viel Trost
bereiten. ” Ich freute mich, war aber zugleich
traurig; denn sie waren längst nicht so zahlreich, wie
ich gehofft hatte. Während ich sie betrachtete, läutete
es zum Mittagessen und die Jungen gingen. Auch die
Kleriker gingen an ihren Bestimmungsort. Ich blickte
umher und sah niemanden mehr. Auch der Weinstock mit
seinen Zweigen und Trauben war verschwunden. Ich suchte
meinen Bekannten und fand ihn nicht mehr. Dann erwachte
ich und konnte noch ein wenig ausruhen. ” —
Am
Freitag, den 1. Mai, setzte Don Bosco seine Erzählung
fort:
“Wie
ich euch gestern abend sagte, erwachte ich, da es mir
schien, als hätte es geläutet. Aber ich schlief wieder
ein, und zwar ruhig und fest. Dann erfaßte es mich
wieder zum zweiten Male. Ich schien in meinem Zimmer zu
sein und war mit der Erledigung der Post beschäftigt.
Nun ging ich hinaus auf den Balkon und betrachtete einen
Augenblick die Kuppel der neuen Kirche, die gigantisch
emporwuchs. Dann stieg ich in die Säulengänge hinab.
Nach und nach kamen unsere Priester und Kleriker von
ihren Arbeiten zurück und umringten mich. Don Rua, Don
Cagliero, Don Francesia und Don Savio befanden sich
unter ihnen. Ich unterhielt mich mit meinen Freunden über
verschiedene Dinge, als sich. auf einmal das Bild änderte.
Die Maria‑Hilf‑Kirche verschwand. Es
verschwanden auch alle übrigen Gebäude des Oratoriums,
so wie sie jetzt sind, und wir standen wieder vor dem
alten Haus Pinardi. Und siehe, wieder sproß aus der
Erde ein Weinstock hervor, und zwar an derselben Stelle,
an der der erste gestanden hatte, als wenn er aus
denselben Wurzeln käme. Er wurde gerade so hoch und
breitete seine Zweige in horizontaler Richtung aus und
überschattete damit eine sehr weite Fläche. Die Zweige
bedeckten sich mit Blättern, Trauben und schließlich
sah ich die Trauben reifen. Aber dann erschienen nicht
mehr die Scharen der Buben. Die Trauben waren geradezu
gewaltig, wie die aus dem Gelobten Lande. Es wäre die
Kraft eines Mannes nötig gewesen, um eine einzige
fortzuschaffen. Die Beeren waren außerordentlich dick
und von länglicher Form. Ihre Farbe war ein schönes
Goldgelb. Sie schienen sehr reif zu sein. Eine einzige hätte
unseren Mund gefüllt; kurz, sie sahen so schön aus, daß
einem das Wasser im Munde zusammenlief und jede schien
zu sprechen: “Iß mich!”
Auch
Don Cagliero betrachtete mit Don Bosco und den übrigen
Priestern dieses Schauspiel. Don Bosco rief aus:
“Welch erstaunliche Weintrauben!”
Don
Cagliero machte nicht erst solche Komplimente, sondern
ging zum Weinstock und brach einige Beeren ab. Eine
davon steckte er in den Mund und biß hinein; aber
angeekelt und mit weit geöffnetem Mund spie er sie
wieder aus, und zwar so heftig, als wollte er sich übergeben.
Die Traube hatte einen verdorbenen Geschmack, als wenn
sie faul gewesen wäre. “Pfui!” rief Don Cagliero,
nachdem er mehrere Male ausgespuckt hatte. Das ist Gift.
Mit dem Zweig kann man einen Christenmenschen
umbringen!”
Alle
sahen hin, aber keiner sprach. Da trat jemand aus der
Sakristeitüre der alten Kapelle ernst und entschlossen
heraus. Er näherte sich uns und blieb an der Seite Don
Boscos stehen. Don Bosco fragte ihn: “Wie kommt es, daß
so schöne Trauben so schlecht schmecken?” Der Mann
antwortete nicht, sondern ging, holte ein Rutenbündel,
ein besonders knotiges, stellte sich vor Don Savio und
bot es ihm an mit den Worten: “Nimm und schlag auf
diesen Rebzweig. ” Don Savio weigerte sich und trat
einen Schritt zurück. Da wandte sich der Mann an Don
Francesia, bot ihm die Rute an und sagte: “Nimm und
schlag zu!” Dabei zeigte er ihm ebenso wie Don Savio
die Stelle, wohin er zu schlagen hätte. Don Francesia
zuckte die Achseln, streckte sein Kinn vor und schüttelte
ein wenig den Kopf. Das sollte nein' heißen.
Der
Mann stellte sich nun vor Don Cagliero, faßte ihn beim
Arm und hielt ihm die Rute hin mit den Worten: “Nimm
und schlag zu, triff ihn und schlag ihn nieder!” Dabei
zeigte er ihm, wohin er schlagen sollte. Don Cagliero
sprang aber erschreckt einen Schritt zurück und legte
seine Hände auf dem Rücken übereinander und rief:
“Das fehlt uns gerade noch!” Der Führer hielt ihm
die Rute zum zweiten Male hin und wiederholte: “Nimm
und schlag zu!” Don Cagliero stieß hervor: “Mir
nicht, mir nicht! Ich nicht, ich nicht!” und lief voll
Furcht weg, um sich hinter meinem Rücken zu verbergen.
Als
jener das sah, stellte er sich, ohne eine Miene zu
verziehen, geradeso vor Don Rua hin: “Nimm und schlag
zu!” Don Rua kam wie Don Cagliero, um sich hinter
meinem Rücken zu schützen. Nun befand ich mich diesem
eigenartigen Manne gegenüber. Er blieb vor mir stehen
und sagte: “Nimm und schlag du auf diese Zweige!”
Ich machte große Anstrengungen, um zu sehen, ob ich träumte
oder bei klarem Verstande wäre, doch es schien mir, daß
all die Dinge wahr seien. Dann fragte ich den Mann:
“Wer bist du, daß du so zu mir sprichst? Sag mir,
warum soll ich diese Zweige schlagen? Warum soll ich sie
abschlagen? Ist es ein Traum oder eine Täuschung? Was
ist das? In wessen Namen sprichst du? Sprichst du
vielleicht in Gottes Namen zu mir?”
“Geh
zum Weinstock”, antwortete er, “und lies, was auf
seinen Blättern steht!” Ich trat hinzu und besah mir
die Blätter mit Aufmerksamkeit und las darauf
geschrieben: “Ut quid terram occupat (= Warum nimmt er
noch einen Platz auf der Erde ein?)” “Das steht im
Evangelium”, sagte mein Führer.
Ich
hatte genügend verstanden, aber ich wandte ein: “Ehe
zugeschlagen wird, denk daran, daß man im Evangelium
auch liest, wie der Herr auf die Bitten des Winzers
wartete, bis man den nutzlosen Baum an den Wurzeln düngte
und ihn pflegte und wie er ihn nur dann ausreißen
wollte, nachdem man alles versucht hätte, damit er gute
Frucht brächte.”
“Sicherlich,
man wird einem Aufschub der Strafe zustimmen können;
aber unterdessen paß auf und du wirst sehen. ” Dabei
zeigte er auf den Weinstock. Ich sah hin, verstand aber
nichts.
“Komm
und sieh her”, wiederholte er. “Lies, was steht auf
den Beeren geschrieben?” Don Bosco trat näher und
sah, daß alle Beeren eine Aufschrift trugen und zwar
den Namen eines Schülers und die Bezeichnung seiner
Schuld. Ich las die vielen Aufzeichnungen und bei den
folgenden erschrak ich besonders: Stolz — wortbrüchig
— unmäßig — heuchlerisch — nachlässig in der
Erfüllung aller seiner Pflichten — Verleumder —
rachsüchtig — herzlos — Gottesraub — verachtet
die Autorität der Vorgesetzten — Stein des Anstoßes
— Anhänger von Irrlehren. Ich sah die Namen jener,
‚quorum Deus venter est' (= deren Gott der Bauch ist),
die Namen derer, die die ‚scientia inflat‘ (= die
das Wissen aufbläht), und jener, die, ‚quaerunt quae
sua sunt, non quae Jesu Christi' (= die den eigenen
Vorteil suchen, aber nicht die Sache Jesu Christi),
solche, die gegen die Vorgesetzten und gegen die
Hausordnung hetzten. Da standen die Namen gewisser Unglücklicher,
die bei uns waren, oder jetzt noch bei uns sind. Auch
eine Zahl neuer Namen war da von solchen, die in Zukunft
zu uns kommen werden.
“Sieh
die Früchte des Weinstockes”, sagte immer noch ernst
der Mann. Sie sind bitter, schlecht, untauglich für das
ewige Heil.”
Ohne
weiteres zog ich die Brieftasche heraus, nahm den
Bleistift und wollte einige Namen aufschreiben. Aber der
Führer faßte meinen Arm, wie beim ersten Male, und
sagte: “Was tust du?” — “Laß mich die bekannten
Namen aufschreiben, damit ich diese Jungen unter vier
Augen ermahne und sie bessere.”
Ich
bat aber vergebens. Der Führer gestattete es mir nicht.
Ich sagte ihm noch: “Wenn ich ihnen sage, wie die
Dinge sich verhalten, in welch schlechtem Zustand sie
sind, werden sie sich bessern.”
Er
antwortete aber: “Wenn sie dem Evangelium nicht
glauben, werden sie dir auch nicht glauben. ” Ich fuhr
fort zu bitten, etwas aufschreiben zu dürfen, um
Anhaltspunkte für die Zukunft zu haben. Aber jener Mann
antwortete mir nichts weiter, sondern ging mit dem
Rutenbündel zu Don Rua und forderte ihn auf, einen der
Stöcke herauszunehmen. “Nimm und schlag zu!” Don
Rua verschränkte die Arme, senkte den Kopf und
murmelte: “Geduld!” Dann warf er einen Blick auf Don
Bosco. Dieser nickte zustimmend. Da nahm Don Rua den
Stock in seine Hände, ging zu dem Weinstock und schlug
auf die bezeichnete Stelle ein. Kaum hatte er aber die
ersten Schläge getan, da winkte der Führer ihm, aufzuhören
und wir sahen die Beeren aufschwellen und dicker werden.
Sie wurden ekelhaft. Sie sahen aus wie Schnecken, ohne
jedoch solche zu sein. Sie waren immer noch gelb und
verloren die Form der Trauben nicht. Der Führer rief
sodann: “Paßt auf! Laßt den Herrn seinen Zorn
entflammen!”
Und
siehe, der Himmel bewölkte sich und ein Nebel, so
dicht, daß man auch in geringer Entfernung nichts mehr
sehen konnte, bedeckte den ganzen Weinstock. Alles wurde
dunkel. Blitze zuckten, Donner rollten. Die Blitze
fielen so oft überall in unseren Hof, daß sie
erschreckten. Die Zweige bogen sich von wütenden Winden
gezerrt. Blätter flogen umher. Schließlich kam ein
heftiger Sturm über den Weinstock. Ich wollte
davonlaufen, aber mein Führer hielt mich zurück und
sagte: “Siehe diesen Hagel!” Ich schaute hin und sah
den Hagel mit Körnern, die so dick waren, wie ein Hühnerei.
Zum Teil war er schwarz, zum andern rot. Jedes Hagelkorn
war an einem Ende spitz und am anderen stumpf, ähnlich
einem Hammer oder einer Keule. Der schwarze Hagel schlug
auf den Boden in meiner Nähe ein und etwas entfernter
sah man den roten fallen.
“Wie
ist das denn?” fragte ich den Führer. “Ich habe
niemals solchen Hagel gesehen. ” “Geh mal heran”,
antwortete mir der unbekannte Freund. “Dann wirst du
sehen. ” Ich trat ein wenig näher zu dem schwarzen
Hagel; aber es ging ein so schlechter Geruch von diesem
aus, daß ich davon zurückgehalten wurde. Der andere
bestand immer mehr darauf, daß ich näher hinzutrete.
Deswegen hob ich ein Korn vom schwarzen Hagel auf, um es
genauer zu untersuchen; aber ich mußte es sofort wieder
auf die Erde werfen, so sehr widerte mich der Pestgeruch
an. Ich sagte: “Ich kann nichts entdecken. ” Und der
andere: “Schau gut hin und du wirst sehen!” Ich tat
mir Gewalt an und da sah ich auf jedem dieser schwarzen
Eisstücke geschrieben: Immodestia (= Unsittlichkeit).
Nun
ging ich zum roten Hagel. Obwohl er kalt war, brannte
doch alles an den Stellen, wohin er fiel. Ich las ein
Korn auf. Es roch ähnlich schlecht. Aber ich erkannte
etwas leichter darauf geschrieben: Superbia (= Hochmut).
Als ich das sah, schämte auch ich mich und rief aus:
“So sind das die Hauptlaster, die diesem Hause
drohen?”
“Dies
sind die beiden Hauptlaster, die nicht nur diesem Hause
drohen, sondern vielmehr noch auf der ganzen Welt eine
große Zahl von Seelen zugrunde richten. Zu seiner Zeit
wirst du sehen, wie viele Menschen von diesen beiden
Lastern in die Hölle gestürzt werden.”
“Was
soll ich also meinen lieben Jungen sagen, damit sie
Abscheu davor bekommen?” — “Das wirst du bald
wissen”, sagte er und ging fort. Indessen stürmte der
Hagel unter Blitz und Donner weiter auf den Weinstock
ein. Die Trauben waren zerdrückt und zerquetscht, als
wenn sie in der Kufe unter den Füßen des Keltertreters
gewesen wären. Der Saft träufelte heraus. Ein
schrecklicher Geruch verbreitete sich und schien einem
den Atem zu nehmen.
Von
jeder Beere ging ein verschiedenartiger Geruch aus, aber
der eine war noch widerlicher als der andere, je nach
Art und Zahl der Sünden. Ich konnte es nicht mehr
aushalten und hielt mir das Taschentuch vor die Nase.
Schnell wandte ich mich um, um in mein Zimmer zu gehen;
aber ich sah keinen meiner Gefährten mehr; weder Don
Francesia, noch Don Rua, noch Don Cagliero. Sie hatten
mich allein gelassen und waren geflohen. Alles war wüst
und still. Ich wurde von einem solchen Grauen gepackt,
daß ich mich auf die Flucht begab, und im Forteilen
erwachte ich. —
Wie
ihr seht, ist dieser Traum ziemlich häßlich; aber das,
was am Abend und in der Nacht nach der Erscheinung des
Kröten‑Ungeheuers geschah, werden wir übermorgen,
am Sonntag, den 3. Mai, erzählen, und das ist noch viel
schrecklicher. Jetzt könnt ihr die Folgerungen daraus
noch nicht erkennen, aber ich beschränke mich darauf,
sie bei anderer Gelegenheit kundzutun, da wir heute
keine Zeit mehr haben. Ich lasse euch nun schlafengehen,
um euch nicht die Nachtruhe zu rauben. ” —
Der
Berichterstatter ist wohl Don Lemoyne selbst, da er es
nicht für notwendig erachtet, sich auf andere zu
berufen. Auch die Art seines Berichtes in seiner
Genauigkeit, Anschaulichkeit und Ausführlichkeit
scheint darauf hinzuweisen. Auch hatte Don Bosco diesen
Traum in Lanzo, wo Don Lemoyne damals Direktor war.
Über
den unbekannten Führer sagt Don Lemoyne folgendes:
“Don Bosco pflegte ihm manchmal den ‚Unbekannten' zu
nennen, um den großartigsten Teil dessen, was er
geschaut hatte, zu verbergen, oder wir können auch
sagen, um das zu verdecken, was zu klar das Hineinragen
des Übernatürlichen anzeigte.
Wir
gebrauchten das intime Vertrauen, mit dem er uns ehrte,
auch in bezug auf diesen ‚Unbekannten', und fragten
ihn öfters danach. Don Boscos Antworten waren nicht
immer ganz klar; aber wir konnten uns auch an anderen
Anzeichen überzeugen, daß der Führer nicht immer
derselbe war, und so war er vielleicht das eine Mal ein
Engel des Herrn, ein andermal irgendein verstorbener Schüler,
nun der heilige Franz von Sales, dann wieder der heilige
Josef oder andere Heilige. Zu anderen Malen sagte Don
Bosco ausdrücklich, er sei von Luigi Comollo oder
Dominikus Savio oder von Ludwig Collo begleitet
gewesen.”
DIE
HÖLLE
(Lem.
IX, 167-182)
Berichterstatter
ist Don Lemoyne selbst. Er schreibt:
“Wir
haben hier getreulich aufgeschrieben, was wir ausführlich
vom Ehrwürdigen gehört haben und was uns mündlich
oder schriftlich von zahlreichen priesterlichen Zeugen
mitgeteilt wurde. Wir haben alles in einem einzigen
Berichte zusammengeordnet. Dies war eine schwierige
Arbeit, weil wir mit mathematischer Genauigkeit jedes
Wort, jede Verbindung, und den Zusammenhang zwischen den
einzelnen Szenen, die Aufeinanderfolge der verschiedenen
Tatsachen, Unterweisungen, Vorwürfe und aller
dargelegten, aber nicht erklärten Ideen, darunter
vielleicht etwas Unverstandenes, wiedergeben wollten.
Ist es gelungen? Wir können dem Leser versichern, daß
wir mit größtem Fleiß nur das eine suchten: so getreu
wie möglich die lange Ansprache Don Boscos
wiederzugeben.”
Am
3. Mai 1868 erzählte Don Bosco:
“Ich
habe euch von dem schrecklichen Krötenungeheuer
gesprochen, das mich in der Nacht des 17. April zu
verschlingen drohte und wie mir bei seinem Verschwinden
eine Stimme sagte: “Warum sprichst du nicht?” Ich
wandte mich nach der Seite, woher die Stimme gekommen
war und sah neben meinem Bette deutlich eine menschliche
Gestalt. Da ich nun verstanden hatte, warum mir der
Vorwurf gemacht wurde, fragte ich: “Was muß ich
unseren Jungen sagen?” — “Das, was du gesehen hast
und was dir in den letzten Träumen gesagt wurde. Was du
noch weiter zu wissen gewünscht hast, wird dir in der
kommenden Nacht geoffenbart werden!” Damit verschwand
die Erscheinung.
Ich
dachte daher den ganzen folgenden Tag an die böse
Nacht, die mir bevorstände, und als der Abend kam,
konnte ich mich nicht entschließen, schlafen zu gehen.
Ich blieb am Tisch sitzen und las bis Mitternacht. Der
Gedanke erfüllte mich mit Schrecken, daß ich noch
andere, furchterregendere Bilder sehen müßte. Schließlich
tat ich mir Gewalt an und ging zu Bett. Um nicht so
schnell einzuschlafen und aus Angst, daß mir meine
Phantasie die bewußten Träume brächte, legte ich das
Kopfkissen an die Wand und auf die Bettstelle, so daß
ich fast im Bett saß. Aber schnell überfiel mich der
Schlaf, ohne daß ich es merkte. Ich war zu müde.
Siehe, da stand plötzlich in meinem Zimmer, nahe bei
meinem Bett, der Mann von der vorhergehenden Nacht. (Don
Bosco nannte ihn öfter den Mann mit der Mütze.) Er
sagte zu mir: “Steh auf und folge mir!”
Ich
antwortete: “Um der Liebe willen, ich bitte dich, laß
mich hierbleiben, ich bin wirklich zu müde. Sieh, schon
seit einigen Tagen bin ich sehr von Zahnschmerzen gequält.
Laß mich ausruhen. Ich habe schreckliche Träume
gehabt. Ich bin ganz erschöpft. ” Ich sagte ihm das;
denn das Erscheinen dieses Mannes ist immer ein
Vorzeichen für große Aufregung, Ermüdung und
Schrecken. Doch jener antwortete mir: “Steh auf, wir
haben keine Zeit zu verlieren!” Da stand ich auf und
folgte ihm. Unterwegs fragte ich ihn: “Wohin willst du
mich jetzt führen?” — “Komm nur, das wirst du
schon sehen”, antwortete er.
Er
führte mich an einen Ort, von dem aus sich eine weite
Ebene ausbreitete. Ich schaute umher, aber ich sah
nirgends die Grenzen dieses Geländes, so weit dehnte es
sich aus. Es war wirklich eine Wüste. Nichts Lebendiges
befand sich dort. Man sah keine einzige Pflanze, keinen
Fluß. Das gelbe, verdorrte Gras bot einen traurigen
Anblick. Ich wußte weder, wo ich mich befand, noch was
ich tun sollte. Da sah ich auf kurze Zeit meinen Führer
nicht mehr. Ich fürchtete, mich verirrt zu haben. Don
Rua war nicht da, auch Don Francesia nicht, noch jemand
anders. Da entdeckte ich den Freund wieder. Er kam mir
entgegen. Ich atmete auf und fragte: “Wo bin ich?”
“Komm
mit mir und du wirst sehen!”
“Gut!
Ich werde mit dir gehen!”
Er
ging voran, ich hinterher. Wir sprachen kein Wort. Nach
einem langen und traurigen Weg dachte Don Bosco, daß er
durch die so weite Ebene gehen müßte und er sagte
sich:, Meine armen Zähne! Ich Armer, mit meinen
geschwollenen Beinen . . .”
Auf
einmal öffnete sich vor mir eine Straße. Da brach ich
das Schweigen und fragte den Führer: “Wohin müssen
wir jetzt gehen?” “Hierher”, antwortete er.
Wir
gingen auf der Straße weiter. Sie war schön, breit,
geräumig und gut gepflastert.
(Via
peccantium complanata lapidibus, et in fine illorum
inferi, et tenebrae, et poenac. Ecclesiasticus
XXI, 11 — Der Weg der Sünder ist mit Steinen
gepflastert, ihr Ende ist die Hölle, Finsternis und
Strafe.)
Zu
beiden Seiten, hinter einem Graben, waren prächtige, grüne
Hecken, die mit lieblichen Blumen bedeckt waren.
Besonders die Rosen kamen überall zwischen den Blättern
hervor. Auf den ersten Blick schien dieser Weg eben und
bequem und ich schlug ihn ein, ohne irgendwie Verdacht
zu schöpfen. Als ich aber weiterging, nahm ich wahr, daß
er fast unmerklich nach unten führte. Obwohl ich unschlüssig
war, ging ich auf ihm mit solcher Leichtigkeit, daß es
mir schien, als würde ich durch die Luft getragen. Ich
merkte sogar, daß ich vorankam, fast ohne meine Füße
zu bewegen. Wir liefen schnell. Ich überlegte, daß ein
so langer Weg später beim Heimkehren viel Mühe und
Anstrengung kosten würde und sagte zu meinem Freund:
“Wie sollen wir denn zum Oratorium zurückkommen?”
“Das
braucht dich nicht zu bekümmern”, antwortete er mir.
“Der Herr ist allmächtig und will, daß du gehst. Er,
der dich führt und der dich heißt, voranzugehen, wird
auch Mittel wissen, wie er dich zurückbringt.”
Die
Straße ging immerzu abwärts. Wir hielten diesen Weg
zwischen Blumen und Rosen weiter ein. Da sah ich hinter
mir auf der gleichen Straße alle Jungen des Oratoriums.
Sehr viele waren dabei, die ich noch niemals gesehen
hatte. Ich fand mich mitten unter ihnen. Während ich
sie beobachtete, gewahrte ich plötzlich, daß der eine
oder andere hinfiel. Sie waren dann im gleichen
Augenblick zu einem schrecklichen Abhang gezogen, den
man in einiger Entfernung gewahrte, und von dem ich
nachher sah, daß er in einen Hochofen mündete. Ich
fragte meinen Begleiter. “Was ist es, das die Jungen
hinfallend macht?”
Junes
extenderunt in Iaqueum; juxta iter scandalum posuerunt.
Ps. 139, 6 — Sie spannten Schlingen, an den Weg legten
sie Verderben.
“Komm
etwas näher heran!” sagte er mir. Ich trat näher
hinzu und sah, daß die Jungen zwischen vielen Schlingen
hindurchgingen. Einige waren dicht über den Boden
gespannt, andere in Kopfhöhe. Man sah sie nicht. Es
wurden viele Jungen beim Gehen von diesen Schlingen gefaßt,
ohne daß sie die Gefahr merkten. Im Augenblick, da sie
gefesselt wurden, machten sie einen Sprung, dann lagen
sie auf der Erde mit den Beinen in der Luft. Wenn sie
hernach wieder aufgestanden waren, fingen sie an, ganz
überstürzt auf den Abgrund zuzulaufen. Einer hatte den
Kopf in der Schlinge, ein anderer den Hals, einer die Hände,
wieder einer einen Arm oder ein Bein, einer war um die
Lenden gefesselt. Alle wurden sie sofort
hinuntergezogen. Die Schlingen auf der Erde schienen aus
Werg zu sein. Sie waren kaum sichtbar, Spinngeweben ähnlich
und sahen nicht aus, als könnten sie großes Unheil
anrichten. Und doch bemerkte ich, daß auch Jungen, die
in diese Schlingen, gerieten, fast alle auf die Erde
fielen. Ich war erstaunt und der Führer sagte mir.
“Weißt du, was das ist?”
“Nur
ein wenig Werg”, antwortete ich.
“Es
ist sozusagen nichts”, sagte er, “es ist nichts
anderes als Menschenfurcht, das Bedachtsein auf die
Achtung bei den Menschen.”
Wie
ich nun sah, daß immer noch viele in die Schlinge
gerieten, fragte ich. “Wie geht das nur zu, daß sie
von diesen Fäden gefesselt werden? Und wer zieht sie
so?”
Und
er: “Geh näher hinzu und paß auf, dann wirst du es
schon sehen.”
Ich
gab etwas acht und sagte dann: “Aber ich sehe
nichts.”
“Du
mußt besser aufpassen”, sagte er wieder. Da nahm ich
nun selbst eine von diesen Schlingen und zog sie an mich
und fand, daß das Ende des Fadens nicht kam. Ich zog
noch weiter und sah kein Aufhören des Fadens; dagegen fühlte
ich, daß ich selbst gezogen wurde. Ich folgte dem Faden
und kam an den Eingang einer schrecklichen Höhle. Dort
blieb ich stehen; denn ich wollte nicht in das dunkle
Loch hinein. Ich zog den Faden an mich und bemerkte, daß
es mir wirklich gelang; aber es kostete gewaltige
Anstrengung.
Und
siehe da, als ich viel gezogen hatte, kam nach und nach
ein schmutziges, großes Ungetüm heraus, das Schauder
einflößte. Es hielt mit großer Kraft das eine Ende
eines Seiles in seinen Krallen, an welchem alle jene
Schlingen zusammen befestigt waren. Wenn einer in die
Schlingen geriet, war es also dieses Ungeheuer, das ihn
sofort an sich zog. Ich sagte mir: “Es ist verlorene Mühe,
mit diesem häßlichen Ungeheuer seine Kraft messen zu
wollen; denn das besiege ich doch nicht. Es ist besser,
man bekämpft es mit dem heiligen Kreuzzeichen und mit
Stoßgebeten. ” Daher kehrte ich zu meinem Führer zurück.
Der fragte mich. “Weißt du nun, wer es ist?” —
“Oh, und ob ich das weiß! Der Satan ist es, der diese
Schlingen legt, um meine Jungen in die Hölle zu
ziehen.”
Ich
betrachtete die vielen Schlingen sehr aufmerksam. An
jeder stand ihr Name geschrieben: die Schlinge des
Stolzes, des Ungehorsams, des Neides, des 6. Gebotes,
des Diebstahls, der Unmäßigkeit, der Trägheit, des
Zornes usw. Dann ging ich etwas zurück, um zu sehen, in
welchen Schlingen sich die meisten Jungen verfingen. Und
ich sah, es waren Unwahrhaftigkeit, Ungehorsam und
Stolz. An die Schlinge des Stolzes waren die anderen
beiden Schlingen angebunden. Danach sah ich noch viele
andere Schlingen, die eine große Verheerung
anrichteten; aber nicht so groß, wie die ersten
Schlingen. Ich beobachtete weiter und sah viele Jungen,
die viel schneller liefen als die anderen und fragte.
“Warum diese Eile?”
“Weil
sie von den Schlingen der Menschenfurcht gezogen
werden”, antwortete er. Ich sah noch aufmerksamer hin
und gewahrte, daß zwischen diesen Schlingen hier und da
von weiser Hand viele Messer angebracht waren, um die
Schlingen durchschneiden und zerreißen zu können. Das
größte Messer war für die Schlinge des Stolzes und
stellte die Betrachtung dar. Ein anderes, ziemlich großes
Messer, jedoch kleiner als das erste, bedeutete die
geistliche Lesung, wenn sie gut gemacht wird. Es waren
da auch noch zwei Schwerter. Das eine bezeichnete die
Andacht zum Allerheiligsten Altarsakrament, besonders
die häufige heilige Kommunion; das andere Schwert
bedeutete die Andacht zur Mutter Gottes. Es war da auch
ein Hammer oder die heilige Beichte und auch noch andere
Messer als Symbol der verschiedenen Andachten zum
heiligen Josef, zum heiligen Aloysius usw. usw. Mit
diesen Waffen befreiten sich viele von ihren Schlingen,
wenn sie hineingeraten waren, oder sie verteidigten sich
damit, um nicht gefangen zu werden.
In
der Tat sah ich Jungen, die so zwischen diesen Schlingen
hindurchgingen, daß sie niemals hineingerieten. Sie
gingen daher, ehe die Schlinge fiel, oder wenn sie
gingen, als die Schlinge gerade fiel, wußten sie sich
zu wenden, so daß die Schlinge auf ihre Schulter fiel
oder den Rücken oder hierhin und dorthin, aber ohne sie
zu fangen.
Als
der Führer sah, daß ich alles genügend betrachtet
hatte, ließ er mich den Weg weitergehen, der an beiden
Seiten mit Rosen begrenzt war. Jedoch nach und nach, je
weiter ich fortschritt, wurden die Rosen an den Hecken
seltener, und lange Dornen wurden sichtbar. Schließlich
konnte ich gar keine Rose mehr entdecken, soviel ich
auch danach ausschaute. Zuletzt wurde die Hecke ganz
dornig, von Hitze ausgedörrt und ohne Blätter. Es
kamen aus dem wuchernden, trockenen Gestrüpp Ranken
hervor, die am Boden dahinkrochen, ihn ganz dicht
bedeckten und dermaßen mit Dornen übersät hatten, daß
man nur mehr mit großer Mühe einhergehen konnte. Wir
waren in einer Talsenkung angekommen, deren Wände alles
Umliegende verdeckten. Die Straße, die immer weiter abwärts
führte, wurde schrecklich: aufgerissenes Pflaster, Gräben,
Stufen, Geröll und runde Felsblöcke. Ich hatte alle
meine Jungen aus den Augen verloren. Viele von ihnen
hatten diesen gefährlichen Weg verlassen und sich
anderswohin gewandt.
Ich
ging weiter, und je weiter ich vorankam, desto rauher
und abschüssiger wurde der Weg. Ein paarmal rutschte
ich aus und stürzte zu Boden. Dann blieb ich etwas
sitzen, um ruhig zu atmen. Zuweilen stützte mich mein Führer
und half mir wieder auf die Beine. Bei jedem Schritt
knickten meine Gelenke ein und es kam mir vor, als lösten
sie die Schienbeine. Ich sagte keuchend zu meinem Führer:
“Aber mein Lieber! Meine Beine können mich nicht mehr
halten. So erschöpft wie ich bin, kann ich den Weg
nicht weiter fortsetzen. ” Der Führer ging jedoch
nicht auf meine Worte ein. Er machte mir Mut und ging
weiter. Als er aber schließlich sah, daß ich todmüde
und in Schweiß gebadet war, führte er mich auf einen
kleinen Treppenabsatz, den die Straße bildete. Hier
setzte ich mich hin, holte tief Atem und ruhte etwas
aus. Dabei sah ich über mir den Weg, den wir schon zurückgelegt
hatten. Er schien mir schreckhaft steil aufwärts zu
gehen und war voller Felsspitzen und losgelöster
Steine. Ich blickte auch nach unten, auf den Weg, den
ich noch gehen sollte und schloß die Augen vor
Schauder.
Schließlich
rief ich: “Laß uns umkehren, um derLiebe willen! Wenn
wir weitergehen, wie können wir jemals ins Oratorium
zurückkommen? Es ist unmöglich, hinterher diesen
Steilhang wieder hinaufzuklettern!” Der Führer
antwortete mir sehr energisch: “Nun, wo wir schon so
weit sind, willst du nicht mehr mitgehen und allein
bleiben?”
Bei
dieser Drohung sagte ich mit kläglicher Stimme: “Wie
könnte ich ohne dich zurück‑ oder
weitergehen?”
“Nun
gut, also folge mir”, sagte der Führer. Darauf erhob
ich mich und wir stiegen den Weg weiter hinab. Die Straße
wurde immer schrecklicher und war schließlich so abschüssig,
daß man kaum noch aufrecht stehen konnte. Und siehe da,
in diesem Abgrund, der in ein dunkles Tal auslief,
tauchte ein gewaltiges Gebäude auf, das zu unserem Weg
hin ein sehr hohes, geschlossenes Tor hatte. Endlich
gelangten wir unten im Abgrund an. Eine beklemmende
Hitze drohte mich zu ersticken. Dicker, fast grüner
Rauch erhob sich über jenen Mauern. Dazwischen sprangen
blutrote Flammen auf. Ich schaute an den Mauern hinauf,
sie waren höher als ein Berg. Don Bosco fragte den Führer:
“Wo sind wir? Was ist das?”
Er
antwortete: “Lies die Inschrift über dem Tor und du
wirst daraus erkennen, wo wir uns befinden.”
Ich
schaute hin. Über dem Tor stand geschrieben: Ubi non
est redemptio — (wo es keine Erlösung gibt). Ich
erkannte, daß wir vor den Toren der Hölle standen. Der
Führer ging mit mir um die Mauern dieser schrecklichen
Stadt herum. Von Zeit zu Zeit, in regelmäßigen Abständen,
sah man so ein eisernes Tor wie das erste. Zu Füßen
eines halsbrecherischen Abstiegs und über allen Toren
war eine Inschrift, die jedes Mal verschieden lautete:
Discedite a me maledicti, in ignem aeternum, qui paratus
est diabolo et angelis eius . . . (= hinweg von mir, ihr
Verfluchten, ins ewige Feuer, das dem Satan und seinem
Anhange bereitet ist) Matth. 25, 41. Omnis ergo arbor,
quae non facit fructum bonum excidetur et in ignem
mittetur (= jeder Baum, der keine gute Frucht
hervorbringt, wird umgehauen und ins Feuer geworfen)
Matth. 3, 10.
Ich
nahm meinen Notizblock, um diese Inschriften
abzuschreiben; aber der Führer sagte: “Halt! Was
machst du da?” — “Ich schreibe mir die Inschriften
ab. ” — “Das ist nicht nötig; sie stehen alle in
der Heiligen Schrift und einige hast du ja selbst unter
deinen Säulenhallen anbringen lassen. ” Bei diesem
Anblick wollte ich gern zum Oratorium zurückkehren, und
ich machte schon einige Schritte dazu. Der Führer
wandte sich aber nicht um. So gingen wir weiter. Er führte
mich durch eine ungeheure tiefe Schlucht, und schließlich
fanden wir uns neuerdings unten an dem abschüssigen
Weg, den wir heruntergekommen waren, und zwar vor dem
ersten Tor. Da auf einmal wandte sich der Führer um.
Sein Gesicht war düster und er runzelte die Brauen. Er
gab mir ein Zeichen mit der Hand, etwas zurückzutreten,
und sagte: “Paß auf!”
Ich
zitterte, blickte auf und sah in einer großen
Entfernung auf dem steilen Weg jemanden, der ganz überstürzt
heruntersauste. Wie er immer näher kam, versuchte ich
sein Gesicht zu beobachten und schließlich erkannte ich
in ihm einen meiner Jungen. Seine zerzausten Haare sträubten
sich auf seinem Haupte und zum Teil flogen sie rückwärts
durch die Luft. Die Arme streckte er nach vorn, wie
einer, der sich vor dem Ertrinken retten will. Er wollte
anhalten, konnte es aber nicht. Er schlug mit den Füßen
gegen die vorspringenden Steine und durch dieses
Stolpern stürzte er noch schneller herab. Ich schrie:
“Laufen wir hin, wir wollen ihn festhalten und ihm
helfen!” Dabei streckte ich meine Hände nach ihm aus.
Der Führer aber sagte: “Laß das!” — “Warum
soll ich ihn nicht aufhalten?” — “Weißt du nicht,
wie schrecklich die Rache Gottes ist? Glaubst du, du könntest
einen anhalten, der vor dem brennenden Zorn des Herrn
flieht?”
Da
wandte der Junge den Kopf zurück und schaute mit
fiebernden Augen, ob der Zorn Gottes ihn noch immer
verfolgte. Unterdessen sauste er bis unten hin und
schlug gegen das eherne Tor, als wenn er auf seiner
Flucht keine bessere Bleibe gefunden hätte. Da fragte
ich: “Warum schaute der Junge sich so entsetzt um?”
— “Weil der Zorn Gottes durch alle Tore der Hölle
hindurchgeht und ihn selbst noch mitten im Feuer quält.”
In
der Tat, von dem Aufschlag sprang das Tor auf. Es dröhnte,
seine Riegel gingen auseinander und hinter ihm öffneten
sich gleichzeitig mit einem ohrenbetäubenden Donner
zwei, zehn, hundert, tausend andere Tore, die von dem
Aufschlagen des Jungen aufgestoßen wurden, der von
einem unsichtbaren, unwiderstehlichen, sehr schnellen
Sturmwind fortgetragen wurde. Alle diese ehernen Tore,
von denen eines immer dem anderen gegenüberlag, wenn
sie auch weit voneinander entfernt waren, blieben einen
Augenblick offen. Da sah ich weit hinten etwas, das wie
die Öffnung eines Hochofens aussah. Und als der Junge
dort hineinstürzte, sprangen Feuermassen auf. Die Tore
fielen wieder zu, genau so schnell, wie sie aufgegangen
waren. Ich nahm meine Brieftasche, um mir den Vor‑
und Zunamen jenes Unglücklichen aufzuschreiben; aber
der Führer faßte meinen Arm und gebot mir: “Halt,
passe weiter aufl” Da gewahrte ich etwas Neues. Ich
sah drei andere Jungen aus unseren Häusern jenen
Abstieg herunterstürzen. Es war, als kollerten drei
Steine, einer hinter dem andern sehr schnell herunter.
Die Jungen streckten die Arme von sich und schrieen laut
vor Entsetzen. Sie kamen unten an und schlugen gegen das
erste Tor. In diesem Augenblick erkannte sie Don Bosco
alle drei. Das Tor öffnete sich hinter ihnen, und die
anderen tausend Tore ebenfalls. Die Jungen wurden durch
den sehr langen Gang hindurchgetrieben. Man hörte einen
langgezogenen, höllischen Lärm, der sich immer mehr
entfernte. Die Jungen verschwanden und die Tore
schlossen sich wieder. Viele andere gerieten so nach und
nach dorthin. Einen armen Jungen sah ich hinabstürzen,
der von einem schlechten Kameraden mit Püffen getrieben
wurde. Manche sausten allein hinab, andere mit Gefährten.
Manche kamen Arm in Arm, andere, wenn sie sich auch
nicht eingehakt hatten, waren Seite an Seite. Alle
hatten ihre Sünde auf der Stirne geschrieben. Ich rief
sie voll Kummer an, während sie hinabstürzten. Die
Jungen hörten mich aber nicht. Sie schlugen gegen die Höllentore,
diese öffneten sich und schlossen sich wieder und es
folgte eine Grabesstille.
“Da
hast du die Hauptursachen der Verdammnis”, sagte der Führer
zu mir. Es sind die schlechten Kameraden und Bücher und
die perversen Gewohnheiten. Die Schlingen, die du vorher
gesehen hast, zogen sie in den Abgrund. ” Als ich so
viele stürzen sah, sagte ich verzweifelt: “Aber so
arbeiten wir ja umsonst in unseren Häusern, wenn doch
so viele Jungen ein solches Ende haben.” Der Führer
antwortete mir: “Das ist ihr augenblicklicher Zustand.
Wenn sie nun stürben, kämen sie ohne weiteres
hierher.”
“Oh,
dann will ich mir ihre Namen aufschreiben, um sie
zurechtzuweisen und sie auf den Weg zum Paradiese zu
bringen.”
“Ja,
glaubst du denn, daß gewisse von diesen sich bessern würden?
Für den Augenblick würden sie erschrecken; aber dann würden
sie darüber hinweggehen und sagen: das ist ja nur ein
Traum und sie würden es noch schlimmer treiben als
zuvor. Andere würden, da sie sich entdeckt sehen, zu
den Sakramenten gehen; aber dies käme dann doch nicht
von Herzen und wäre nicht verdienstvoll, weil es nicht
gut gemacht wird. Manche würden aus einer
augenblicklichen Furcht vor der Hölle beichten; aber
sie würden ihr Herz doch nicht frei machen von der Anhänglichkeit
an die Sünde. ” — “Also gibt es für diese
Unseligen keine Rettung mehr? Gib mir einen besonderen
Rat, damit sie nicht verlorengehen.”
“Nun,
sie haben die Obern; ihnen sollen sie gehorchen. Sie
haben die Regeln; die sollen sie beachten. Sie haben die
Sakramente; die sollen sie empfangen.”
Da
stürzte wieder eine Schar Jungen hinab und die Tore
standen einen Augenblick offen. Der Führer sagte:
“Komm, geh du auch hinein!”
Ich
wich entsetzt zurück. Ich war ganz versessen darauf,
ins Oratorium zurückzukommen, um die Jungen zu ermahnen
und aufzuhalten, damit keine weiteren verlorengingen.
Aber der Führer bestand auf seinem Willen. “Komm,
hier kannst du allerhand lernen. Willst du lieber allein
gehen oder soll ich bei dir bleiben?” Das sagte er,
damit ich meine Schwäche einsehe und zugleich die
Notwendigkeit seines gütigen Beistandes erkannte. Ich
antwortete ihm: “Hier, allein, an diesem Ort des
Schreckens? Ohne deine wohlwollende Hilfe? Wer soll mir
denn den Rückweg zeigen?”
Plötzlich
wurde ich ganz mutig bei der Erwägung: ehe man in die Hölle
kommt, muß man gerichtet sein und das bin ich noch
nicht. Daher sagte ich ganz entschlossen: “Gehen wir
nur hinein!”
Wir
kamen in einen nicht breiten, schrecklichen Gang. Es
ging voran, schnell wie der Blitz. Über jedem der
inneren Tore leuchtete in mattem Glanz eine drohende
Inschrift: Ibunt impii in ignem aeternum — die
Gottlosen werden in das ewige Feuer kommen. Die Mauern
rundherum waren mit Inschriften bedeckt. Ich bat meinen
Führer, sie lesen zu dürfen, und er sagte: “Lies
nur, soviel, wie du Lust hast. ” Ich sah nun alles an.
Irgendwo sah ich geschrieben: “Dabo ignem in carnes
corum ut comburantur in sempiternum” — (= ich werde
ihren Leibern Feuer geben, damit sie ewig brennen). —
“Cruciabuntur die ac nocte in saecula saeculorum” (=
sie werden gequält, Tag und Nacht, in alle Ewigkeit).
An einer anderen Stelle stand geschrieben: Hic
universitas malorum per omnia saecula saeculorum” (=
hier ist die Gesamtheit der Bösen durch ewige Zeiten)
— “Nullus est hic ordo, sed sempiternus horror
inhabitat” (= hier wohnt keine Ordnung, sondern ewiger
Schrecken) Job 10, 22. — “Fumus tormentorum suorum
in aeternum ascendit” (= der Durst ihrer Qualen erhebt
sich auf ewig). — “Non est pax impiis” (= für die
Gottlosen gibt es keinen Frieden). — “Clamor et
stridor dentium” (Heulen und Zähneknirschen) Matth.
8, 12.
Während
ich herumging und die Inschriften las, kam der Führer,
der mitten im Hof geblieben war, zu mir und sagte:
“Von
hier an kann keiner mehr einen Kameraden haben, der ihm
beisteht, oder einen Freund, der ihn tröstet, noch ein
Herz, das ihn liebt. Hier gibt es keinen mitleidigen
Blick mehr, kein wohlwollendes Wort. Wir haben die
Grenze überschritten. Und du, willst du nur sehen, oder
auch etwas probieren?”
“Ich
will nur sehen,” sagte ich.
“Nun,
dann komm mit”, fuhr der Freund fort. Er nahm mich bei
der Hand und führte mich zu der Pforte, die er öffnete.
Sie führte in einen Gang. In diesem befand sich hinten
ein großes Fenster. Es war mit einem großen
Kristallglas vom Fußboden bis oben zum Gewölbe hin
verschlossen; man konnte aber hindurchsehen. Ich ging
einen Schritt vor und blieb plötzlich stehen, weil mich
ein unbeschreiblicher Schrecken packte. Meinen Augen bot
sich etwas, wie ein ungeheurer, kesselartiger Abgrund,
der in Schluchten auslief, die bis in das Innere der
Berge vordrangen. Diese Untiefe, die Schluchten, alles
war voll Feuer; aber nicht wie wir es auf Erden sehen,
sondern da drinnen glühte alles wegen der großen Hitze
in weißer Glut. Das Gemäuer, die Gewölbe, das
Pflaster, Eisen, Steine, Holz, Kohlen, alles war weiß
und glänzend. Sicherlich war dieses Feuer heißer als
1000 und aber 1000 Grad. Nichts wurde aber eingeäschert
oder vom Feuer verzehrt. Ich kann diese Höhle überhaupt
nicht so beschreiben, wie sie in ihrer ganzen
schrecklichen Wirklichkeit war. (Praeparata
est enim ab heri Thopheth, a rege praeparata, profunda,
et dilatata. Nutrimenta
eius, ignis et ligna multa: fletus Domini sicut torrens
sulphuris succendens eam. Isaias
XXX, 33 — Bereitet ist vom König längst eine Feuerstätte
tief und weit. Da brennt Feuer und viel Holz. Der Hauch
des Herrn steckt es in Brand gleich einem
Schwefelregen). Als ich da stand und ganz erstaunt
schaute, eilte aus einem Gang in äußerster
Geschwindigkeit ein Junge. Erst schien er nichts zu
merken; dann aber stieß er einen sehr schrillen Schrei
aus, als wenn er in einen See von flüssigem Erz fiele.
Er stürzte mitten hinein, wurde weiß wie das übrige
und verharrte dann unbeweglich. Einen Augenblick hörte
man noch das Echo seiner brechenden Stimme. Voll Grauen
betrachtete ich den Jungen noch eine Weile und mir
schien, es war einer von meinen Jungen aus dem
Oratorium.
“Aber
ist es nicht einer von meinen Jungen?” fragte ich den
Führer. Ist es nicht der und der?” — “Ja,
sicher”, antwortete er mir.
“Aber
warum ändert er seine einmal angenommene Lage nicht?
Warum ist er so glühend weiß und verbrennt nicht?”
Und
er: “Du wolltest sehen, darum laß jetzt das Reden.
Schau hin und du wirst sehen. übrigens “Omnis enim
igne salietur et omnis victima sale salietur — (=
jeder wird mit Feuer gesalzen und jedes Opfer mit Salz
gewürzt) Mark. 9, 48.
Kaum
sehe ich wieder hin, da kommt ein anderer Junge mit
verzweifelter Heftigkeit und größter Geschwindigkeit
und stürzt in den gleichen Abgrund. Es war auch einer
vom Oratorium. Kaum war er hineingefallen, da rührte er
sich nicht mehr. Auch er hatte einen einzigen,
herzzerreißenden Schrei ausgestoßen, der sich mit dem
letzten Nachhall desjenigen vermischte, den der Junge
von sich gab, der vorher hineingestürzt war. Danach
kamen geradeso noch andere Jungen hinein. Ihre Zahl
wurde immer größer. Alle stießen denselben Schrei aus
und wurden unbeweglich und glühend, wie die
vorhergehenden.
Ich
sah, daß der erste steif geworden war, indem er eine
Hand und einen Fuß in die Luft streckte, wie wenn er
daran aufgehängt wäre. Der zweite war bis zum Boden
gebeugt. Einer hatte die Füße in der Luft, ein anderer
das Gesicht nach unten. Manche waren wie aufgehängt und
hielten sich nur mit einem Fuß und einer Hand. Manche
saßen oder lagen. Einige waren an einer Seite
angelehnt, standen oder knieten und hatten die Hände in
ihren Haaren verkrampft. So waren nun viele Jungen
beieinander wie Statuen, in Stellungen, von denen eine
schmerzvoller war als die andere. Es kamen immer noch
mehr Jungen in den Glutofen; zum Teil kannte ich sie,
manche aber waren mir unbekannt. Da fiel mir ein, was in
der Bibel steht, daß man so die ganze Ewigkeit hindurch
bleiben wird, wie man in die Hölle stürzt. Lignum in
quocut, que loco ceciderit, ibi erit” wohin der Baum fällt,
da bleibt er liegen).
Mein
Entsetzen wurde immer größer. Ich fragte den Führer:
“Aber wissen denn die, welche mit solcher
Geschwindigkeit heraneilen nicht, daß sie hierher
kommen?”
“Oh,
sicher wissen sie, daß sie ins Feuer kommen. Sie wurden
tausendmal zurechtgewiesen; aber sie laufen und zwar
freiwillig, weil sie die Sünde, die sie nicht
verabscheuen, nicht lassen wollten, weil sie die
Barmherzigkeit Gottes, die sie unaufhörlich zur Buße
rief, verachteten und zurückwiesen. Dann wird die göttliche
Gerechtigkeit wach; sie drängt, folgt und verfolgt sie
und sie können dann nicht mehr anhalten, bis sie an
diesem Orte angekommen sind.”
“Oh,
was müssen diese Unglücklichen für eine Verzweiflung
haben, da ihnen die Hoffnung fehlt, wieder
hinauszukommen!” sagte ich.
“Willst
du die innere Wut und Raserei ihrer Seelen kennelernen?
Dann tritt etwas näher heran”, sagte der Führer.
Ich
ging einige Schritte näher zum Fenster und sah, daß
viele dieser Elenden sich gegenseitig schlugen und
einander starke Verwundungen beibrachten. Sie bissen
sich wie wütend, Hunde. Andere zerkratzten sich das
Gesicht, sie rissen sich die Hände auf, zogen sich das
Fleisch ab und schleuderten es voll Ekel in die Luft. In
diesem Augenblick wurde auf einmal der obere Teil der Hölle
wie aus Glas. Man sah ein Stück Himmel hindurchleuchten
und die strahlenden Gestalten der Kameraden, die auf
ewig gerettet waren. Da bebten die Verdarmmten in
heftigem Neid und keuchten; denn diese Gerechten hatten
sie vormals verspottet und ausgelacht. ‚Peccator
videbit et irascetur; dentibus suis fremet et tabescet'
— (= der Sünder sieht und knirscht mit den Zähnen
und vergeht vor Kummer). Ich fragte den Führer: “Sag
mir, warum höre ich denn keine Stimme?” — “Tritt
näher heran”, antwortete er mir. Ich ging bis dicht
an das Glas des Fensters und hörte, daß manche
aufheulten. Sie krümmten sich vor Weinen. Manche
fluchten oder beteten zu den Heiligen. Es war ein lautes
und wirres Durcheinander von Rufen und Schreien. Daher
fragte ich meinen Freund. “Was sagen sie? Was schreien
sie?”
Er
antwortete: “Sie denken an das Los ihrer guten
Kameraden, und da müssen sie bekennen: nos insensati!
Vitam illorum aestimabamus insaniam et finem illorum
sine honore. Ecce quomodo computati sunt inter filios
Dei, et inter sanctos sors illorum est: ergo erravimus a
via veritatis' — (= Wir Toren! Für Unsinn hielten wir
ihr Leben und ihr Ende für ehrlos. Seht, wie sie nun
unter die Kinder Gottes gezählt sind und zu den
Heiligen gehören). Darum rufen sie: ‚Lassati sumus in
via iniquitatis et perditionis. Erravimus per vias
difficiles, viam autem Domini ignoravimus. Quid nobis
profuit superbia? . . . Transierunt omnia illa tamquam
umbra' (= Müde sind wir geworden auf dem Weg der Sünde
und des Verderbens. Wir irrten auf schlechten Straßen
herum, doch den Weg des Herrn erkannten wir nicht. Was nützt
uns unser Hochmut? Wie Schatten ging das alles vorüber)
Weisheit 5, 4ff.
Das
sind die Klagelieder, die hier die ganze Ewigkeit über
erschallen werden. Aber umsonst das Schreien, umsonst
die Anstrengungen, umsonst das Weinen. ‚Omnis dolor
irruet super eos' (= alle Qual wird über sie
hereinbrechen).
Hier
gibt es keine Zeit mehr; hier ist Ewigkeit.”
Während
ich voller Schrecken viele meiner Jungen in diesem
Zustand betrachtete, kam mir plötzlich der Gedanke. Wie
ist es nur möglich, daß diese alle hier verdammt sind?
Diese Jungen waren noch gestern abend im Oratorium und
zwar am Leben. Mein Freund sagte: “Die du hier siehst,
sind alle tot, was die göttliche Gnade angeht, und wenn
sie jetzt stürben und sich nicht änderten, wären sie
verdammt. Aber verlieren wir keine Zeit. Vorwärts!”
Von
dort gingen wir dann durch einen Gang, der abwärts zu
einem tiefen unterirdischen Raum führte. Von da aus
gelangten wir in eine andere Höhle, über deren Eingang
geschrieben stand: ‚Vermis eorum non moritur, et ignis
non extinguitur . . . Dabit Dominus omnipotens, ignem et
vermes in carnes eorum, ut urantur et sentiant usque in
sempiternum' (= ihr Wurm stirbt nicht und das Feuer
erlischt nicht . . . Mark. 9, 43 u. 45, 47 . . . Der
allmächtige Herr wird Feuer und Würmer ihren Leibern
geben, daß sie brennen und leiden auf ewig. Judith XVI,
21).
Hier
sah man die Gewissensbisse. Wie heftig waren sie bei
denen, die in unseren Häusern erzogen worden waren!
Sie
erinnerten sich an all die einzelnen, nicht
nachgelassenen Sünden und an die gerechte Verdammnis.
Es fiel ihnen ein, daß sie tausend Hilfen, sogar außerordentliche,
hatten, um sich zum Herrn zu bekehren, um im Guten
beharrlich zu sein und das Paradies zu erlangen. Sie
erinnerten sich der vielen Gnaden, die Maria ihnen
versprochen, angeboten und verliehen hatte, denen sie
aber nicht entsprochen hatten. Sich leicht retten zu können
und doch unwiderruflich verloren zu sein. Sie dachten an
die vielen guten Vorsätze, die sie gemacht, aber nicht
gehalten hatten. Ach! Mit guten, aber unwirksamen Vorsätzen
ist ja der Weg zur Hölle gepflastert, sagt das
Sprichwort.
Und
da sah ich all die Jungen vom Oratorium wieder, die ich
kurz zuvor an dem Glutofen gesehen hatte. Von denen
einige mir jetzt zuhören, einige sind schon hier bei
uns gewesen und viele kannte ich nicht. Ich trat etwas näher
hinzu und sah, daß alle über und über voller Würmer
und mit anderen ekelhaften Tieren behaftet waren. Diese
nagten und zehrten ihnen am Herzen, in den Augen, Händen,
Beinen, Armen und überall. Es war so jammervoll, daß
man es mit Worten überhaupt nicht wiedergeben kann. Die
Jungen blieben unbeweglich, jeder Belästigung
ausgesetzt und konnten sich nicht im geringsten wehren.
Ich trat noch dichter an sie heran, damit sie mich sähen.
Dabei hoffte ich, mit ihnen sprechen zu können und
irgend etwas von ihnen zu hören.
Aber
niemand sprach von ihnen und es sah mich auch keiner an.
Da fragte ich den Führer, warum das so sei, und erhielt
die Antwort, daß sie in der anderen Welt keine Freiheit
mehr hätten. Jeder leidet dort die ganze Strafe, die
Gott ihm auferlegt hat, und das bleibt so und kann nicht
geändert werden. Er fügte noch hinzu: “So, nun mußt
du auch mitten ins Feuer, welches du gesehen hast!”
“Nein,
o nein!” rief ich entsetzt. “Wenn man in die Hölle
kommt, muß man zuerst ins Gericht. Da war ich aber noch
nicht. Deshalb will ich auch nicht in die Hölle.”
“Sag
mal”, gab mir der Freund zu überlegen, “willst du
nicht lieber in die Hölle gehen und deine Jungen
befreien als draußen bleiben und deine Jungen in
solcher Qual lassen?”
Ich
geriet durch diese Worte ganz außer Fassung und sagte:
“Oh! Meine Jungen, die habe ich gerne und will, daß
alle gerettet werden! Aber können wir es nicht so
einrichten, daß weder ich noch die anderen dort hinein
müssen?”
“Wohl!
Du hast noch Zeit und sie auch; du mußt nur alles tun,
was du kannst. ” Da wurde mir das Herz weit und ich
sagte mir: “Die Arbeit macht mir nicht viel aus, wenn
ich nur meine überaus lieben Jungen aus solcher Marter
befreien kann.”
“Also
komm mit hinein”, fuhr der Freund fort, “und
betrachte die Güte und Allmacht Gottes, die liebevoll
tausend Hilfen anbietet, um deine Jungen zur Buße zu
bewegen und sie vor dem ewigen Tode zu retten. ” Er
nahm mich bei der Hand, um mich in die Höhle zu
bringen. Doch beim ersten Schritt befand ich mich
unversehens in einem prächtigen Saal mit kristallenen Türen.
Vor diesen hingen in regelmäßigen Abständen weite
Schleier, die ebenso viele Verbindungsräume zur Hölle
hin verdeckten. Der Führer zeigte auf einen dieser Vorhänge.
Auf demselben stand geschrieben: Sechstes Gebot. Und er
sagte: Die Übertretung dieses Gebotes ist die Ursache,
daß so viele Jungen auf ewig verlorengehen.” —
“Aber haben sie denn nicht gebeichtet?” fragte ich.
“Sicher
haben sie gebeichtet; aber die Sünden gegen die
Reinheit haben sie schlecht gebeichtet oder sogar ganz
verschwiegen. Z. B. es hat einer eine solche Sünde
vier‑ oder fünfmal begangen; er beichtet aber
zwei‑ oder dreimal. Manche haben eine solche Sünde
in ihrer Kindheit getan und haben sie aus Scham nie
gebeichtet oder haben sie schlecht gebeichtet und nicht
alles gesagt. Andere hatten keine Reue und keinen
Vorsatz. Einige, anstatt richtig zu bekennen, überlegten
sogar, wie sie den Beichtvater täuschen könnten. Wer
in einer solchen Verfassung stirbt, der begibt sich
selber unter die Zahl der Verdammten und zwar für die
ganze Ewigkeit. Nur diejenigen, welche aus ganzem Herzen
bereuen, sterben in der Hoffnung auf das ewige Heil und
werden auf ewig glücklich sein.
“Willst
du noch sehen, warum dich die göttliche Barmherzigkeit
hierhergeführt hat?”
Er
hob den Schleier und ich sah eine Gruppe Knaben aus dem
Oratorium. Ich kannte sie alle. Wegen dieser Sünde
wurden sie verdammt. Unter ihnen waren einige, die sich
jetzt nur scheinbar gut führen.
“Wenigstens
laß mich jetzt die Namen dieser Jungen aufschreiben,
damit ich sie besonders ermahnen und zurechtweisen
kann”, bat ich.
“Ist
nicht nötig”, sagte er.
“Was
soll ich ihnen denn sagen?”
“Predige
überall gegen die Zuchtlosigkeit. Es genügt, wenn man
sie im allgemeinen aufmerksam macht. Vergiß auch nicht,
daß die Jungen, wenn du mit ihnen redest, wohl leicht
versprechen, aber nicht immer mit festem Vorsatz. Dazu
ist nämlich die Gnade Gottes notwendig, die aber deinen
Jungen niemals fehlen wird, wenn darum gebetet wird. Der
liebe Gott zeigt seine Allmacht ganz besonders im
Erbarmen und Verzeihen. Du mußt also beten und opfern.
Die Jungen sollen auf deine Unterweisung achten und ihr
Gewissen fragen. Es wird ihnen sagen, was sie tun müssen.”
Dann
sprachen wir fast eine halbe Stunde lang über die
notwendigen Voraussetzungen für eine gute Beichte.
Dabei sagte der Führer verschiedene Male mit
eindringlicher Stimme: “Avertere! . . . Avertere!”
— “Was soll das heißen?” fragte ich. “Das Leben
ändern, das Leben ändern!”
Ich
war ganz verwirrt von diesen Enthüllungen, senkte den
Kopf und wollte mich zurückziehen. Er rief mich aber
und sagte: “Du hast noch nicht alles gesehen. ”
Dabei wandte er sich nach einer anderen Seite und zog
wieder einen Vorhang hoch. Auf dem stand geschrieben:
“Qui volunt divites fieri, incidunt in tentationem et
Iaqueum diaboli” (= die reich werden wollen, geraten
in Versuchung und in die Schlinge des Teufels, 1. Ti. 6,
9). Ich las es und sagte: “Das paßt nicht auf meine
Jungen; denn sie sind arm, genau wie ich auch. Wir sind
nicht reich und trachten auch nicht darnach, es zu
werden. Daran denken wir nicht einmal. ” Der Schleier
wurde gelüftet und ich sah im Hintergrund eine Anzahl
Jungen, die ich alle kannte. Sie litten wie diejenigen,
die wir zuvor gesehen hatten. Der Führer deutete auf
sie und sagte: “Oh, die Inschrift gilt auch für deine
Jungen.”
“Erkläre
mir das ‚divites' (reich).”
Und
er sagte: “Z. B. haben einige deiner Jungen ihr Herz
an einen materiellen Gegenstand gehängt, und diese Anhänglichkeit
hindert sie an der Liebe zu Gott. Sie fehlen deshalb
gegen die Nächstenliebe, die Frömmigkeit und Sanftmut.
Man kann das Herz nicht nur durch den Gebrauch der
Reichtümer verderben, sondern auch durch die Begierde
darnach, um so mehr, als dieses Trachten die
Gerechtigkeit verletzt. Zwar sind deine Jungen arm; aber
wisse, daß die Sucht gut zu essen und zu trinken und
der Müßiggang sehr schlechte Ratgeber sind. Einige
Jungen hast du, die in ihrer Heimat gestohlen haben,
manchmal sogar ganz beträchtlich. Sie denken aber nicht
an die Rückerstattung, obwohl sie diese leisten könnten.
Manche bemühen sich, mittels eines Dietrichs die
Vorratskammern zu öffnen. Es wird sogar versucht, in
die Zimmer des Präfekten und Ökonoms einzudringen. Sie
durchsuchen die Koffer der Kameraden, um Eßwaren, Geld
oder andere Dinge zu stehlen. Sie bringen Hefte und Bücher
auf die Seite . . .” Er nannte mir auch die Namen der
Jungen und fuhr fort: “Einige sind hier, die haben
sich aus der Innentür des Oratoriums Kleidungsstücke,
Wäsche, Decken und Mäntel angeeignet, um sie nach
Hause zu schicken. Manche sind hier, weil sie anderen
absichtlich einen schweren Schaden zugefügt haben;
wieder andere, weil sie Geliehenes nicht zurückgegeben
haben. Es sind auch welche hier, weil sie das Geld, das
sie dem Obern abgeben sollten, für sich zurückbehalten
haben.” Dann sagte er noch: “Da diese dir nun
gezeigt wurden, mache sie auf ihre Fehler aufmerksam.
Sage ihnen, sie sollen die unnötigen und schädlichen Wünsche
zurückweisen, dem Gesetz Gottes gehorchen und auf ihre
Ehrlichkeit sehr bedacht sein, sonst wird ihre
Begierlichkeit sie zu schlimmeren Ausschweifungen drängen,
die sie in Leiden, Tod und Verderben stürzen.”
Ich
konnte mir nicht erklären, warum für gewisse Dinge,
die unsere Jungen für so gering ansehen, ihnen so
schreckliche Strafen bevorstünden. Aber der Freund
durchkreuzte meine Betrachtungen und sagte: “Erinnere
dich an das, was dir bei den verdorbenen Trauben am
Weinstock gesagt wurde! (:Viele dieser Sünden sind an
und für sich noch nicht schwer, aber sie sind dennoch
Anfang und Ursache schrecklichen Versagens und ewigen
Verlorenseins. Qui spernit modica paulatim decidet).
Nun
hob er einen anderen Schleier empor, der viele andere
Jungen verdeckte. Ich kannte sie alle; sie sind im
Oratorium. Auf dem Schleier stand geschrieben: ‚Radix
omnium malorum' (= Die Wurzel alles Bösen)! Er fragte
mich. “Was heißt das? Welche Sünde ist damit
gemeint?” — “Mir scheint, nichts anderes als der
Stolz.” — “Nein”, sagte er. — “Ich habe aber
immer gehört, der Stolz sei die Wurzel aller Sünden.”
— “Ja, im allgemeinen sagt man, daß es der Stolz
sei; aber welches war denn die erste Sünde bei Adam und
Eva im besonderen? Warum wurden sie aus dem Paradiese
vertrieben?”
“Es
war der Ungehorsam.”
“Jawohl,
und der Ungehorsam ist die Wurzel aller Übel.”
“Was
soll ich meinen Jungen davon sagen?”
“Paß
auf. Die Jungen, die du hier siehst, sind die
Ungehorsamen. Sie sind auf dem Wege, sich ein sehr
beklagenswertes Ende zu bereiten. Die und die, von denen
du meinst, sie wären am Schlafen, stehen nachts auf und
gehen im Hof spazieren. Sie kümmern sich nicht um
Verbote und gehen hin, wo es gefährlich ist. Sie
klettern auf den Gerüsten von Neubauten herum und
bringen dabei ihr Leben in Gefahr. Einige gehen wohl der
Hausordnung entsprechend in die Kirche; aber sie tun
dort nicht, was sie sollen, sondern denken etwas ganz
anderes. Sie bauen in ihren Träumereien Luftschlösser
und stören die anderen. Einige suchen sich einen
bequemen Platz zum Anlehnen und Gemütlichmachen, um während
des Gottesdienstes zu schlafen. Von manchen nimmst du
an, sie gingen in die Kirche; sie gehen aber nicht
hinein. Wehe dem, der das Gebet vernachlässigt! Wer
nicht betet, der wird verdammt! Einige, anstatt
mitzusingen oder das kleine Offizium zu beten, lesen
etwas ganz anderes als Gebetbücher, und gewisse sollten
sich schämen, denn sie lesen dann sogar verbotene Bücher.”
Er
nannte noch andere Übertretungen des Gehorsams, die
ernste Unordnungen verursachen.
Als
er zu sprechen aufgehört hatte, sah ich ihn ganz erschüttert
an. Er schaute auch mich an und ich fragte ihn noch.
“Kann ich all dies meinen Jungen erzählen?” —
“Ja, du kannst ihnen alles sagen, was dir wieder einfällt.”
— “Was für einen Rat soll ich ihnen geben, damit
solch schwere Unordnungen nicht wieder vorkommen?” —
“Schärfe ihnen immer wieder ein, daß auch in
Kleinigkeiten der Gehorsam gegen Gott, die Kirche, die
Eltern und die Obern sie retten wird.”
“Und
was sonst noch?”
“Sage
deinen Jungen, daß sie sich sehr vor dem Müßiggang hüten
sollen. Das war die Ursache zur Sünde Davids. Sag
ihnen, sie sollen sich immer beschäftigen; dann hat der
Teufel keine Zeit, sie zu bedrängen.” Ich senkte den
Kopf und versprach, es zu berichten.
Ich
war von all dem Schrecklichen, das ich gesehen hatte,
ganz erschöpft und wandte mich an meinen Freund: “Ich
danke dir für deine Güte, die du mir gezeigt hast und
bitte dich, mich wieder hinauszulassen.” Er sagte:
“Komm mit!”, machte mir Mut, nahm mich bei der Hand
und stützte mich, denn ich war ganz matt. Als wir aus
dem Saal heraus waren, durcheilten wir in einem
Augenblick den grauenvollen Hof und den langen Gang,
durch den wir hereingekommen waren. Ehe wir über die
Schwelle des letzten Bronzetores gingen, wandte er sich
zu mir und sagte: “Du hast die Qualen bei anderen
gesehen; nun mußt du die Hölle auch etwas fühlen.”
“Nein,
nur nicht!” rief ich erschreckt.
Er
bestand aber darauf, doch ich weigerte mich immerzu.
“Du
brauchst keine Angst zu haben; komm und probier nur
etwas. Faß mal diese Mauer an.”
Ich
hatte keinen Mut dazu und wollte mich davonmachen. Er
hielt mich aber fest und sagte: “Und doch mußt du es
spüren!” Dabei faßte er mich resolut am Arm und zog
mich zur Mauer. “Berühre sie doch nur ein einziges
Mal; nur damit du sagen kannst, du wärst in den Mauern
der ewigen Qual gewesen und hättest sie angefaßt. Dann
kannst du verstehen, wie heiß die innere Mauer sein muß,
wenn die äußerste schon so schrecklich ist. Siehst du
diese Mauer?” Ich betrachtete die Mauer mit größerer
Aufmerksamkeit. Sie war äußerst dick. Der Führer fuhr
fort: “Das ist nun die tausendste Mauer, eh man zum
ewigen und eigentlichen Feuer der Hölle kommt. Tausend
Mauern schließen es ein. Jede Mauer ist tausend Maßeinheiten
dick und tausend Maßeinheiten von der nächsten
entfernt, und jede Maßeinheit ist tausend Meilen lang.
Diese Mauer ist eine Million Meilen vom wirklichen Feuer
der Hölle entfernt und erst ein kleiner Anfang der
wirklichen Hölle.”
Als
er das gesagt hatte, zog ich mich wieder zurück, um die
Wand nicht zu berühren. Da nahm er meine Hand, öffnete
sie mit Gewalt und brachte sie an die Steine dieser
tausendsten Mauer. In dem Augenblick fühlte ich ein so
intensives und schmerzliches Brennen, daß ich zurücksprang.
Ich stieß einen lauten Schrei aus und erwachte davon.
Ich fand mich in meinem Bette sitzend und es war mir,
als brenne meine Hand. Ich rieb sie mit der anderen, um
die Empfindung zu vertreiben. Als es Morgen wurde, sah
ich, daß die Hand tatsächlich geschwollen war. Der
eingebildete Eindruck dieses Feuers hatte eine solche
Kraft, daß sich in der Folge die Haut der Handinnenfläche
abschälte und neu wurde. —
Ihr
müßt wissen, daß ich euch diese Dinge nicht in der
ganzen Furchtbarkeit erzählt habe, so wie ich sie sah
und wie sie auf mich Eindruck gemacht haben, um euch
nicht so sehr zu erschrecken. Wir wissen, daß der Herr
nur in Bildern von der Hölle spricht. Wenn er sie uns
beschrieben hätte, wie sie ist, dann würden wir nichts
verstanden haben. Kein Sterblicher kann diese Dinge
begreifen. Gott kennt sie und kann sie mitteilen, wem er
will.
Mehrere
Nächte darauf war ich immer noch verstört und konnte
von diesem Schrecken nicht schlafen. Ich habe euch nur
in kurzem erzählt, was ich in sehr langen Träumen
gesehen habe. Ich habe vieles ganz kurz zusammengefaßt.
Später werde ich euch noch Belehrungen halten über die
Menschenfurcht, sowie über das, was das VI. und VII.
Gebot betrifft und über den Stolz. Ich werde nichts
anderes tun, als diese Träume erklären; denn sie sind
in Übereinstimmung mit der Heiligen Schrift, ja sie
sind gewissermaßen nur ein Kommentar zu dem, was man
dort über diese Dinge liest.” —
Don
Bosco erzählte diese Vision nicht nur in Turin, sondern
auch in Mirabello und in Lanzo. Seinen Priestern und
Klerikern sagte er in vertraulichen Gesprächen noch
mehr davon, was er vor allen Jungen nicht erzählte.
Bei
der Beschreibung der Schlingen gab er einen neuen
Begriff von der Hinterlist des Teufels und von seiner
Art, die Opfer in die Hölle zu ziehen. Er sprach in dem
Zusammenhang von schlechten Gewohnheiten.
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