Träume Don Boscos

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Träume Don Boscos

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort

Der erste Traum — Ein himmlischer Auftrag

Die Raben

Rebhühner und Wachteln

Das Gebet und die Tugend

Der Teufel verleitet zu Zerstreuungen

Die Prozession zum Marienaltar

Die gefahrvolle Meerfahrt

Die Katzen auf den Betten

Die Ziegenböcklein

Der Hirt und seine Herde

Das Fegfeuer

Das Neujahrsgeschenk

Die Jungen von Lanzo

Der große Weinstock

Die Hölle

Die Schlingen des Teufels

Aus einem Römischen Brief Don Boscos

Spätberufe

Die Schlacht mit den Heugabeln

Die Hühner

Der Schild des Glaubens

Der wilde Stier

Dominikus Savio erscheint

Die Sanftmut des heiligen Franz von Sales

Die Ferien

Der heilige Franz von Sales und die Salesianer

Lilien und Rosen

Unter dem Schutzmantel Mariens

Ludwig Florin Anton Colle

Die Salesianische Gesellschaft

Die Kastanien

Die Entwicklung der Kongregation

Großer Missionstraum von Südamerika

Der Traum von den zwei Säulen im Meer
Die Vision des Heiligen Don Bosco über Verfolgung der Kirche in der Endzeit und über die Zukunft der Kirche.

 

Vorwort

Über die Träume Don Boscos ist schon viel gesprochen und auch geschrieben worden. Man legt ihnen nämlich prophetische Bedeutung bei, weil sich in der Tat vieles ereignet hat, was der Heilige im Traum gesehen und gehört hatte. In bescheidener Weise nennt Don Bosco die im Schlaf erhaltenen Offenbarungen aber nur Träume.

Diese Träume des Heiligen haben zwei besondere Merkmale:

1. Sie springen nicht von einer Sache auf die andere — wie das bei Träumen in der Regel geschieht — sondern sie behandeln den Gegenstand sehr gründlich und ernst.

2. Wir finden bei Don Bosco auch nichts Sinnlos Phantastisches wie in gewöhnlichen Träumen. Der Heilige erhielt im Schlaf Erklärungen, Weisungen und Mitteilungen über Sachen, die zum Teil schon bald darauf eintraten.

Ferner kann gesagt werden: Don Bosco erhielt in seinen Träumen Kenntnis über verborgene und zukünftige Ereignisse, sowie über rein innere Angelegenheiten, über Gewissenssachen. So konnte er sich mit Ereignissen befassen, die noch in weiter Ferne lagen, und mit Orten, die bis dahin niemand kannte. Im Jahre 1880 träumte er z. B. von einer blitzartigen Reise von Cartagena nach Punta Arenas. Am 4. September desselben Jahres erzählte er diese im Traum erlebte Fahrt den Mitgliedern des 3. Generalkapitels in Valsalice. Vier Einzelheiten davon sind der Erwähnung wert:

1. Don Bosco beschrieb den Lauf der Kordilleren, Täler, Seen, hügeligen Landschaften und Gebirgsketten, die allen Geographen der damaligen Zeit unbekannt waren. Don De Agostini stellte später auf seiner berühmt gewordenen Expedition alles genau so fest, wie Don Bosco es geträumt und berichtet hatte.

2. Der Heilige beschrieb sensationelle Eisenbahnlinien durch wüste Gegenden. Heute ist der Traum in Erfüllung gegangen. Die Bahnstrecken führen von Nord nach Süd den Anden entlang und auch schon durch das Gebirge.

3. Ferner sprach Don Bosco von reichen Bodenschätzen wie Kohle, Petroleum, Blei und Edelmetallen, die sich in jenem Gebirge befinden sollten. In der Tat fand man schon bald darauf Petroleum in Comodore‑Rivadaria im Chubut. Am 16. Dezember 1907 stieß man auf eine reiche Petroleumquelle, als man nach Wasser bohrte. Ferner sind Petroleumquellen bei Salta und Ingny entdeckt worden. Kohle wurde bei Espuyen und bei Punta Arenas gefunden. Heute fördert Argentinien schon weit mehr als 10 000 Tonnen Erze im Jahre zutage.

4. Vom Feuerland‑Archipel sagte Don Bosco: “Einige dieser Inseln sind von zahlreichen Eingeborenen bewohnt, andere sind mit Schnee und Eis bedeckt, wieder andere sind unfruchtbar, kahl, steinig und daher unbewohnt. Im Osten befinden sich zahlreiche Inselgruppen, die von Eingeborenen bewohnt sind. ” De Agostini weist mit seinem berühmt gewordenen Reisebericht an Hand von Kartenmaterial nach, daß Don Bosco im Traume die Wirklichkeit geschaut hatte.

Er fand dort wirklich vor:

a) eine mit Steppen bedeckte Ebene, die von Onas bewohnt war;

b) die Kordillerenzone mit Schnee und Eis bedeckt und

c) die Gruppe zahlreicher Inseln im Osten von Indianern bewohnt.

Menschlich gesprochen kann niemand unentdeckte Gebiete mit einer solchen Genauigkeit beschreiben, wie Don Bosco es auf Grund seiner Traumgesichte vermochte.

Oft befaßte sich Don Bosco in seinen Träumen mit dem, was ihm am Herzen lag und ihn bewegte. Besonders war es das Seelenheil seiner Jungen wie auch das von Völkern, die noch nicht zum Christentum bekehrt waren. Er selbst wäre ja sehr gerne hinausgezogen, um als Missionar Seelen zu retten. Gott führte ihn aber andere Wege. Er gab ihm ein so ausgedehntes und ideales Arbeitsfeld, daß der seeleneifrige Priester und Erzieher seine ganze Kraft zur Bewältigung der Aufgabe einsetzen mußte. Infolge seiner gewaltigen Arbeitsleistung starb Don Bosco vorzeitig, obwohl er eine sehr widerstandsfähige Gesundheit besaß.

Die meisten Träume des Heiligen befassen sich mit Gefahren, die dem Seelenheil seiner Jungen drohten. Diese Tatsache berechtigt zu der Annahme, daß er sich große Sorge um das ewige Heil seiner Schützlinge machte, daß er die Gefahren kannte und den Feind alles Guten in verschiedenen Gestalten sah. Das alles enthalten die meisten seiner Träume, die er den Jungen erzählte und an die er auch Belehrungen und Ermahnungen knüpfte.

Don Bosco empfand aber auch durch seine Traumgesichte viel Freude und Trost. Besonders freute ihn, die gewaltige Entwicklung seiner Kongregation vorauszusehen, und er sprach davon mit prophetischer Voraussicht. Das alles berechtigt zu der Annahme, daß es sich bei seinen Gesichten nicht um gewöhnliche Träume handelt.

Dr. Theodor Seelbach

Provinzial

 

DER ERSTE TRAUM — EIN HIMMLISCHER AUFTRAG

(Lemoyne 1, 123-125)

In seinen Memoiren berichtet Don Bosco selbst über den ersten visionären Traum, den er bereits in früher Jugend hatte:

“Als ich ungefähr neun Jahre alt war, hatte ich einen Traum, der mir mein ganzes Leben lang tief im Gedächtnis haften blieb. Im Traume schien es mir, als befände ich mich unweit meiner Heimat, auf einem sehr geräumigen Hof. Auf diesem hatte sich eine große Schar Jungen versammelt. Viele von ihnen liefen munter umher, lachten und spielten; nicht wenige aber fluchten. Als ich ihr Fluchen vernahm, stürzte ich sofort auf sie los. Ich wollte sie mit Schlägen und Schelten zum Schweigen bringen.

In dem Augenblick erschien ein hoheitsvoller Herr. Er stand im Mannesalter und war sehr schön gekleidet. Ein weißer Mantel umhüllte seine ganze Gestalt. Sein Antlitz leuchtete so stark, daß ich ihn nicht anzublicken vermochte.

Der Herr redete mich freundlich mit meinem Namen an und gab mir die Anweisung: “Stelle dich an die Spitze der Jungen! “Und er fügte noch hinzu: “Nicht mit Schlägen, sondern mit Milde, Güte und Liebe mußt du dir diese zu Freunden gewinnen. Fange daher sofort an, sie über die Häßlichkeit der Sünde und über den Wert der Tugend zu unterrichten.”

Ganz verwirrt und erschrocken gab ich zur Antwort, ich sei ein armer, unwissender Knabe und nicht fähig, mit diesen Jungen über Religion zu sprechen.

In dem Augenblick hörten die Jungen mit dem Lachen, Lärmen und Fluchen auf und scharten sich alle um den Herrn, der soeben gesprochen hatte. Fast ohne zu wissen, was ich tat, sagte ich: “Wer sind Sie eigentlich, daß Sie mir etwas Unmögliches befehlen?”

Der Herr antwortete: “Gerade weil dir diese Aufgabe unmöglich erscheint, mußt du sie durch Gehorsam und Erwerb der Wissenschaft möglich machen.”

Darauf fragte ich ihn: “Aber wie und wo kann ich mir das nötige Wissen aneignen?”

Seine Antwort lautete: “Ich werde dir eine Lehrmeisterin geben. Unter ihrer Leitung wirst du gelehrt werden. Ohne sie ist alles Wissen Torheit.”

“Wer sind Sie überhaupt”, fragte ich noch einmal, “daß Sie in dieser Art zu mir sprechen?”

Der Herr antwortete: “Ich bin der Sohn derer, die du dreimal am Tage grüßest, wie deine Mutter dich gelehrt hat.”

Darauf wagte ich zu sagen: “Meine Mutter hat mir verboten, mich ohne ihre Erlaubnis mit Personen zu unterhalten, die ich nicht kenne. Bitte nennen Sie mir daher Ihren Namen.”

Da sagte der Herr: “Frage meine Mutter nach meinem Namen!”

In dem Augenblick sah ich neben ihm eine Dame von majestätischem Aussehen. Sie war mit einem Mantel bekleidet, der über und über so strahlte, als wäre er mit hell leuchtenden Sternen besät. Der Herr sah, daß ich in meinen Fragen und Antworten immer verwirrter wurde und gab mir ein Zeichen, mich der Dame zu nähern. Diese faßte mich liebevoll bei der Hand und sagte zu mir: “Schau mal!” Ich blickte auf und nahm wahr, daß alle Jungen verschwunden waren. An ihrer Stelle aber sah ich eine Menge Ziegenböcklein, Hunde, Katzen, Bären und viele andere Tiere.

Die Dame sprach weiter: “Schau, dies ist dein Feld, hier mußt du arbeiten. Werde demütig, stark und tapfer; denn was du an diesen Tieren geschehen siehst, das sollst du an meinen Kindern tun.”

Hierauf blickte ich um mich und sah, daß an Stelle der wilden Tiere ebenso viele sanfte Lämmer erschienen. Diese hüpften vergnügt umher und blökten munter, als wollten sie den Herrn und die Dame herzlich begrüßen.

Immer noch im Traum begann ich zu weinen und bat die Dame, sich verständlicher auszudrücken; denn ich begriff nicht, was das alles bedeuten sollte. Darauf legte sie freundlich ihre Hand auf meinen Kopf und sagte: “Zur gegebenen Zeit wirst du alles verstehen.”

Als sie das gesagt hatte, wurde ich durch irgendein Geräusch geweckt, und alles war verschwunden. —

Ich war wie betäubt. Mir war, als täten mir meine Hände noch von den Schlägen weh, die ich ausgeteilt hatte. Mein Gesicht schien von den Ohrfeigen zu schmerzen, die ich von den Lausbuben erhalten hatte. Zudem beschäftigten sich meine Gedanken mit der erhabenen Person und der Dame sowie mit dem Gehörten und Gesagten, so daß ich in jener Nacht keinen Schlaf mehr finden konnte.

Am folgenden Morgen erzählte ich meinen Traum im Familienkreise. Jeder der Angehörigen äußerte seine Meinung dazu. Der Bruder Josef sagte: “Du wirst einmal ein Hirte von Ziegen, Schafen oder sonstigen Tieren. ” Meine Mutter meinte: “Wer weiß, ob er nicht Priester werden muß. ” Anton brummte sehr trocken: “Vielleicht wirst du einmal ein Räuberhauptmann. ” Die Großmutter aber beschloß das Thema, indem sie sagte: “Man darf auf Träume nichts geben.”

Ich selber stimmte der Meinung meiner Großmutter zu, doch konnte ich den Traum nie aus dem Gedächtnis bringen.”

 

(Lem. 1, 244)

Als Johannes Bosco 16 Jahre alt war, wiederholte sich der Traum. Er selber erzählte ihn folgendermaßen:

“Im Traum sah ich eine vornehme Dame auf mich zukommen. Sie führte eine überaus große Herde an. Als sie nahe bei mir war, redete sie mich mit folgenden Worten an: Schau, Johannes, diese ganze Herde vertraue ich deiner Obhut an.”

Da fragte ich: “Wie soll ich es anstellen, so viele Schafe und Lämmer zu hüten und zu betreuen? Wo finde ich die nötigen Weiden, auf die ich sie führen könnte?”

Die Dame antwortete mir: “Habe keine Angst; ich werde dir beistehen.”

Darauf verschwand sie.

 

(Lem. 1, 305)

Mit 19 Jahren wiederholte sich der erste Traum noch einmal. Im Traum sah Johannes Bosco eine erhabene, majestätische Person, die weiß gekleidet war und in hellem Glanz erstrahlte. Der vornehme Herr war damit beschäftigt, eine überaus zahlreiche Jungenschar zu leiten. Er wandte sich an Johannes und sagte: “Komm her, stelle dich an die Spitze dieser Jungen und führe du sie an!”

Darauf antwortete Johannes Bosco, er sei nicht fähig, so viele Tausende von Jugendlichen zu unterrichten und zu leiten.

Die hoheitsvolle Person aber bestand gebieterisch auf ihrem Befehl, bis Johannes sich an die Spitze der großen Jungenschar stellte und sie auftragsgemäß zu führen begann.

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DIE RABEN

(Lem. VII, 649-651)

Am 14. April 1864 erzählte Don Bosco folgende zwei Träume, die er einige Nächte vorher gehabt hatte:

“Am 3. April, in der Nacht vor dem Weißen Sonntag, schien es mir im Traum, als befände ich mich auf einem Balkon und sähe die Jungen beim Spiel. Da plötzlich sah ich, wie sich ein großes weißes Laken über den ganzen Hof herniedersenkte und ihn bedeckte; die Jungen spielten aber weiter. Während ich sie noch beobachtete, sah ich eine große Menge Raben. Sie flatterten und kreisten über dem Tuch umher. Schließlich entdeckten sie die Ränder des Tuches, flogen darunter, stürzten sich auf die Jungen und hieben mit ihrem Schnabel auf sie ein. Der Anblick erregte Mitleid. Dem einen Jungen hackten sie die Augen aus, einem anderen zerhackten sie die Zunge, einem dritten zerhieben sie die Stirne, und wieder einem anderen zerrissen sie das Herz.

Was mich aber am meisten in Erstaunen setzte, war die Feststellung, daß keiner schrie oder sich beklagte, sondern alle blieben kalt, ja sogar gefühllos und suchten sich nicht zu verteidigen.

“Träume ich vielleicht”, sagte ich, “oder bin ich wach? Wenn ich nicht träume, wie ließe sich dann erklären, daß die Jungen sich so mißhandeln lassen ohne vor Schmerz zu schreien?” Aber kurz darauf hörte ich ein allgemeines Wehklagen. Dann sah ich, wie die Verwundeten sich erregten, und ich hörte wie sie schrieen und lärmten und sich von den übrigen absonderten. Verwundert darüber überlegte ich, was das bedeuten sollte. “Vielleicht”, so dachte ich, hängt es mit dem Weißen Sonntag zusammen. Will der Herr uns zeigen, was seine Gnade für uns alle zu bedeuten hat? Die Raben versinnbilden Teufel, welche die Jungen angreifen.”

Während ich das erwog, hörte ich ein Geräusch und erwachte. Es war schon Tag, und irgend jemand hatte an meiner Türe geklopft. Über alles das war ich nicht wenig erstaunt, als ich am Montag bemerkte, daß die Zahl der Kommunionen abgenommen hatte. Am Dienstag sank sie noch mehr und am Mittwoch waren es auffallend wenige, so daß ich zur halben Messe schon mit Beichthören fertig war. Ich wollte aber nichts sagen, denn die Exerzitien standen bevor. So hoffte ich, es würde alles in Ordnung kommen.

Gestern am 13. April hatte ich noch einen Traum. Ich hatte den ganzen Tag hindurch Beichte gehört und war in meinen Gedanken noch mit den Seelen der Jungen beschäftigt, wie das stets der Fall ist. Am Abend ging ich zu Bett, konnte aber keinen Schlaf finden. Erst nach einigen Stunden fing ich an zu schlafen. Es schien mir, als befände ich mich wieder auf dem Balkon und beobachtete von dort die spielenden Jungen. Ich gewahrte alle, auch die von den Raben Verwundeten. Ich sah überhaupt alles. Es erschien jemand mit einem kleinen Gefäß in der Hand, das Balsam enthielt und ein anderer, mit einem Leinentuch, begleitete ihn. Beide begannen die Wunden der Jungen zu behandeln. Die Wunden heilten, sobald sie vom Balsam berührt wurden. Einige Jungen jedoch machten sich davon, als sie die beiden herankommen sahen. Sie wollten nicht geheilt werden. Mir mißfiel es sehr, daß es nicht nur einzelne waren. Nun bemühte ich mich, ihre Namen auf ein Stück Papier zu schreiben; ich kannte nämlich alle. Während ich nun schrieb, erwachte ich und fand mich ohne Papier. Die Namen hatte ich mir aber durch das Schreiben ins Gedächtnis eingeprägt und jetzt weiß ich sie fast alle. Vielleicht habe ich auch einige vergessen; doch dürften es nur wenige sein. Jetzt setze ich meine Unterredung mit den Jungen fort. Mit einigen habe ich schon gesprochen. Ich werde mich bemühen, die Wunden aller zu heilen.

Legt dem Traum an Wichtigkeit bei, soviel ihr wollt; meinen Worten aber schenkt vollen Glauben. Es schadet eurer Seele nicht im geringsten. Ich möchte jedoch haben, daß keiner diese Dinge aus dem Oratorium trägt. Euch sage ich alles, möchte aber haben, daß ihr alles hier drinnen laßt.”

In der Unterredung mit seinen Jungen hat Don Bosco gewiß jedem einzelnen die entsprechende Erklärung zu diesem Traum gegeben und dabei auf das hingewiesen, was der Rabe, was die Verletzungen der Jungen und was deren Heilung zu bedeuten habe.

Der Rabe wird allgemein Galgenvogel genannt. Man spricht auch von einem Unglücksraben und man betrachtet ihn als Unheilverkünder und Pechvogel.

In diesem Traum versinnbildet der Rabe den bösen Geist, den Teufel, der die Menschen ins Unglück stürzen will, indem er sie blind macht für das Gute und stumm, wenn es sich darum handelt, ein offenes, reumütiges Bekenntnis in der Beichte abzulegen.

Er raubt den Menschen, die nicht vor ihm fliehen, gleichsam den Verstand, die klare Unterscheidung zwischen Gut und Böse und nimmt ihr Herz, ihre Liebe, für sich, d. h. für sündhafte Freuden, in Anspruch.

Der im zweiten Traum erwähnte Balsam bedeutet reumütiges Vertrauen auf Gottes Barmherzigkeit, das wie Balsam wirkt. Die Behandlung mit dem Leinentuch versinnbildet die Abwaschung der Sünden im Bußgericht.

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REBHÜHNER UND WACHTELN

(Lem. VIII, 11)

Diesen Traum hatte Don Bosco am 14. Januar 1865 und er erzählte ihn zwei Tage später seinen Jungen:

“Die Hälfte des Monats Januar ist schon verflossen. Wie habt ihr die Zeit benützt? Wenn es euch gefällt, erzähle ich euch heute abend einen Traum, den ich in der vorletzten Nacht hatte.

Ich war unterwegs mit den Jungen des Oratoriums und mit vielen anderen, die ich nicht kannte. Bei einem Weinberg hielten wir an, um zu frühstücken. Die Buben liefen herum in der Absicht, Früchte zu essen. Einer aß Feigen, ein anderer Trauben wieder andere Pfirsiche oder Pflaumen. Ich war mitten unter ihnen und schnitt Weintrauben ab. Auch pflückte ich Feigen und gab sie den Jungen. Dabei sagte ich: “Nun nimm und iß.”

Es schien mir, als träumte ich und es tat mir leid, daß es nur ein Traum sein sollte. Doch sagte ich mir: “Sei es wie es wolle; wir lassen die Jungen essen. ” Mitten in den Reihen gewahrte ich den Winzer. Als wir uns erquickt hatten, setzten wir unseren Weg durch den Weinberg fort. Das war aber sehr beschwerlich. Der Weinberg war nämlich, wie es zu sein pflegt, in seiner ganzen Länge von tiefen Furchen durchschnitten, so daß man zuweilen hinunter‑ und wieder hinaufsteigen oder gar springen mußte. Die Kräftigsten sprangen hinüber. Die Kleinsten taten es ihnen nach, gelangten aber nicht auf die dahinterliegende Reihe, sondern rollten in den Graben. Darüber machte ich mir Sorgen und ich spähte umher. Da sah ich eine Straße, die an der Seite des Weinbergs entlang ging. Nun wandte ich mich mit allen Jungen dorthin. Der Winzer hielt mich aber an und sagte: “Sehen Sie sich vor und gehen Sie nicht auf jener Straße X. Sie ist nicht gangbar, sie ist voll von Steinen, Dornen, Schmutz und Furchen. Setzen Sie den eben eingeschlagenen Weg fort. ” Ich antwortete: “Sie haben recht, aber diese ganz Kleinen können nicht über die Furchen kommen.”

“Oh, das ist schnell gemacht”, erwiderte er. “Die Größten mögen die Kleinen auf die Schultern nehmen; sie können springen, obwohl sie die Last tragen. ” Ich war nicht ganz davon überzeugt und ging mit meiner ganzen Schar zum Rand des Weinbergs an die Straße heran und stellte fest, daß der Winzer die Wahrheit gesagt hatte. Die Straße war in einem schrecklichen Zustand und unbrauchbar. Ich wandte mich an Don Francesia und sagte: “Incidit in Scyllam qui vult vitare Charybdim” (= Man verfällt der Scylla, wenn man die Charybdis meiden will. Ein Bild aus der Odyssee. Der Sinn entspricht unserem Sprichwort: Man kommt aus dem Regen in die Traufe). — Wir mußten nun den Rat des Winzers befolgen und den Pfad benützen, der neben der Straße herlief, um so gut wie möglich durch den ganzen Weinberg zu gelangen. Am Ende des Weinbergs stießen wir auf eine dichte Dornenhecke. Nur mit großer Mühe fanden wir einen Durchgang. Dann marschierten wir von einem hohen Hügel hinunter und gelangten in ein liebliches Tal, das ganz mit Gras und Bäumen bedeckt war. Mitten auf einer Wiese sah ich zwei frühere Zöglinge des Oratoriums. Kaum hatten sie mich erblickt, so kamen sie auf mich zu und begrüßten mich. Sie blieben stehen und sprachen mit den andern. Als sie sich so eine Weile unterhalten hatten, sagte einer von ihnen: “Sehen Sie da, wie schön!” Dabei zeigte er mir zwei Vögel, die er in der Hand hatte. “Was sind das für Tiere?”, fragte ich. “Ein Rebhuhn und eine Wachtel. Ich habe sie gefunden. ” “Lebt denn das Rebhuhn?”, fragte ich weiter. “Oh ja, sehen Sie es nur genau an. ” Und er gab mir ein schönes, nur einige Monate altes Rebhuhn. “Frißt es schon allein?” “Es fängt eben an. ” Während ich dem Tier etwas zu fressen gab, stellte ich fest, daß es den Schnabel in vier Teile gespalten hatte. Darüber wunderte ich mich und fragte den Jungen nach dem Grund dieser Erscheinung. Und er sagte: “Weiß Don Bosco wirklich nicht, was das heißen soll? Der in vier Teile gespaltene Schnabel des Rebhuhns bedeutet das gleiche wie dieses selbst. ” “Das verstehe ich nicht,” antwortete ich. “Das verstehen Sie nicht, obwohl Sie soviel studiert haben? Wie heißt Rebhuhn auf Latein?” “Perdix. ” Nun gut, da haben Sie den Schlüssel zu allem. ” “Sei so gut und hilf mir aus der Verlegenheit, ich verstehe nichts. ” “Dann betrachten Sie doch einmal die einzelnen Buchstaben, aus denen das Wort Perdix besteht.”

P: soll heißen ‚perseverantia' (= Ausdauer, Beharrlichkeit).

E: ‚Aeternitas te exspectat' (= die Ewigkeit erwartet dich).

R: ‚Referet unusquisque secundum opera sua, prout gessit, sive bonum, sive malum' (= einem jeden wird vergolten werden nach seinen Werken, je nachdem er Gutes oder Schlechtes getan hat).

D: ‚Dempto nomine' (= ausgelöscht ist jeder menschliche Ruhm, alle Ehre, Wissenschaft und Reichtum).

I: bedeutet ‚lbit'. So deuten die vier Teile des Schnabels die vier letzten Dinge des Menschen an.”

“Du hast recht. Das habe ich verstanden. Sag mir nun auch, wo du das X gelassen hast. Was soll denn dieser Buchstabe bedeuten?” “Wie, Sie haben doch Mathematik studiert und wissen nicht was X bedeutet?” “X ist die Unbekannte. ” “Statt dessen kann man auch sagen ‚der Unbekannte', nämlich der unbekannte Ort: an einen unbekannten Ort wird er kommen (in locum suum — an seinen Ort)”. Während ich mich über diese Erklärung wunderte und doch überzeugt war, fragte ich ihn: “Schenkst du mir dieses Rebhuhn? O ja, sehr gerne. Wollen Sie auch die Wachtel sehen?”

Da hielt er mir eine prächtige Wachtel hin; sie sah wenigstens so aus. Ich nahm sie entgegen, hob ihre Flügel etwas hoch und sah, daß sie voll Wunden war und ganz unrein und eitrig aussah. Auch roch sie ekelhaft. Ich fragte nun den Jungen, was das zu bedeuten habe. Er antwortete: “Priester, Priester, das weißt Du nicht und hast doch die Heilige Schrift studiert! Weißt Du nicht mehr, daß die Hebräer in der Wüste murrten und Gott ihnen die Wachteln sandte? Sie aßen davon und hatten noch das Fleisch zwischen den Zähnen, als viele tausend durch die Hand des Herrn bestraft wurden. Also bedeutet diese Wachtel, daß der Gaumen mehr tötet als das Schwert; hier liegt die Quelle der meisten Sünden.”

Ich dankte dem Jungen für seine Erklärung. Inzwischen tauchten in Hecken, auf Bäumen und im Gras Rebhühner und Wachteln in großer Zahl auf. Sie glichen denen, welche der Knabe in der Hand hielt, der mit mir gesprochen hatte. Die Jungen aber fingen an, Jagd auf die Vögel zu machen und sorgten so für ihre Mahlzeit.

Dann machten wir uns wieder auf den Weg. Alle, die von den Rebhühnern gegessen hatten, waren kräftig und setzten ihren Weg fort. Diejenigen aber, die Wachteln gegessen hatten, blieben im Tal. Sie folgten mir nicht, blieben auch nicht beisammen und ich verlor sie aus dem Auge und sah sie nicht wieder. — Der Traum dauerte die ganze Nacht. Am Morgen war ich so müde und erschöpft, daß ich mir vorkam, als wäre ich die ganze Nacht auf Reisen gewesen.

Ich wünsche dringend, daß diese Dinge, die ich euch hier erzählt habe, nicht außerhalb des Oratoriums weitererzählt werden. Unter euch könnt ihr darüber sprechen, soviel ihr wollt; tragt aber nichts aus dem Haus.”

 

(Lem. VIII, 16-17)

In der Abendansprache am 18. Januar kam Don Bosco noch einmal auf den Traum zu sprechen. Er sagte: “Ihr wollt doch sicher mehr über den Traum wissen. So will ich erklären, was Wachtel und Rebhuhn bedeuten. Das Rebhuhn bedeutet — klar ausgedrückt — die Tugend, die Wachtel das Laster. Warum die so schön aussehende Wachtel bei näherem Zuschauen Wunden unter den Flügeln hatte und ganz ekelhaft roch, wißt ihr und brauche ich euch nicht zu erklären; es sind schändliche Dinge. Einigen Jungen schmeckte die Wachtel gut. Sie aßen mit Gier davon, obwohl das Fleisch faul war. Das sind jene, die sich dem Laster ergeben.

Andere aßen vom Rebhuhn. Es sind solche, welche die Tugend lieben und darum auch üben. Manche hielten in der einen Hand eine Wachtel und in der anderen ein Rebhuhn. Sie aßen aber von der Wachtel. Das sind jene, die zwar die Schönheit der Tugend kennen, wollen aber mit der Gnade, die Gott ihnen schenkt, nicht mitwirken, um tugendhaft zu werden.

Wieder andere, die in der einen Hand ein Rebhuhn und in der anderen eine Wachtel hielten, aßen zwar vom Rebhuhn, warfen aber begehrliche und gierige Blicke nach der Wachtel. Das sind jene, welche die Tugend zwar üben, aber nur mit viel Mühe und Anstrengung. An ihnen kann man zweifeln, ob sie sich ändern oder doch bei der nächsten Gelegenheit fallen werden.

Manche aßen vom Rebhuhn, während Wachteln vor ihnen herumflatterten; diese Jungen schauten aber nicht darauf, sondern fuhren fort, ihr Rebhuhn zu essen. Das sind jene, die tugendhaft sind und das Laster verabscheuen und verachten. Einige aßen ein wenig vom Rebhuhn und ein wenig von der Wachtel. Bei ihnen wechselt die Tugend mit dem Laster ab. Sie geben sich einer Täuschung hin, indem sie meinen, nicht schlecht zu sein . . .

Ihr werdet fragen: “Wer von uns aß Wachteln und wer vom Rebhuhn?” Vielen habe ich es schon gesagt; die anderen mögen, wenn sie wollen, zu mir kommen, und ich werde es ihnen sagen.”

Don Lemoyne geht noch näher auf das Bild des Rebhuhns ein und bemerkt dazu, es sei ein sehr schlauer Vogel, der sich mit besonderer Gewandtheit dem Jäger entziehen und sein Nest schützen kann.

Dieser Traum Don Boscos bedarf keiner weiteren Erklärung. Der Heilige hat sie selbst gegeben und setzte daher auch mit Recht voraus, daß seine Jungen Sinn und Lehre dieses Traumes verstanden hätten.

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DAS GEBET UND DIE TUGEND  

(Lem. VIII, 33-34) 

Den folgenden Traum erzählte Don Bosco seinen Jungen am 6. Februar 1865:

“Vor zwei oder drei Abenden habe ich etwas ganz Besonderes geträumt. Wollt ihr haben, daß ich euch meinen Traum erzähle? Weil ich meine Jungen liebe, sind sie mir im Traume immer nahe.

Mir schien es, als stände ich mitten im Hof von meinen Jungen umgeben. Jeder von ihnen hatte eine schöne Blume in der Hand; der eine eine Rose, der andere eine Lilie, wieder ein anderer ein Veilchen. Es hielt also der eine diese, der andere jene Blume in der Hand. Da erschien plötzlich eine häßliche Katze. Sie war so groß wie ein Hund. Sie war pechschwarz und hatte Hörner. Ihre großen Augen waren wie glühende Kohlen, ihre Krallen waren so stark wie Nägel und sie hatte auch einen unförmig dicken Bauch. Diese häßliche Bestie näherte sich langsam und ruhig den Jungen und strich dann mitten unter ihnen einher. Plötzlich schlug sie einen mit ihrer Tatze auf die Erde. Das gleiche tat sie bei andern Jungen. Beim Erscheinen dieser großen Katze erschrak ich und wunderte mich, als ich sah, daß die Jungen sich nicht im geringsten daran störten und sich so verhielten, als wäre nichts geschehen.

Als ich bemerkte, daß die Katze auf mich losging, um mir meine Blume zu entreißen, ergriff ich die Flucht. Man hielt mich aber auf und sagte: “Nicht fortlaufen! Sag deinen Jungen, sie sollen den Arm hochheben; dann kann die Katze nicht an die Blumen heranreichen, um sie ihnen aus der Hand zu reißen. ” Ich blieb stehen und hob den Arm hoch. Die Bestie strengte sich an und versuchte mir die Blume zu entreißen. Sie sprang hoch, um an die Blume heranzukommen. Sie konnte sie aber nicht erreichen, da sie zu schwer war, und plumps fiel sie zur Erde nieder.

Die Lilie, meine lieben Jungen, stellt die schöne Tugend der Reinheit dar, gegen die der Teufel immer wieder Krieg führt. Wehe den Jungen, die diese Blume nicht hochhalten! Der Teufel nimmt sie ihnen und läßt sie fallen. Jene halten sie nicht hoch, die ihren Körper verwöhnen, die im Essen keine Ordnung und kein Maß halten, die außer den Mahlzeiten essen und trinken. Es sind solche, die jeder Anstrengung, auch dem Studium, aus dem Wege gehen und sich dem Müßiggang hingeben. Ferner jene, denen gewisse Bücher und Reden gefallen und die jede Abtötung fliehen. Um Gottes willen, flieht und bekämpft diesen Feind, sonst wird er Herr über euch! Den Sieg zu erlangen ist nicht leicht; die Ewige Weisheit hat aber Mittel dazu bereitgestellt: Hoc autem genus non ejicitur nisi per orationem et jejunium” (= diese Art — von Teufeln — wird nur durch Gebet und Fasten ausgetrieben) Matth. 17, 20.

Haltet eure Arme, haltet eure Blumen hoch und ihr seid sicher. Reinheit ist eine himmlische Tugend und wer sie bewahren will, muß sich gegen den Himmel emporrecken. Rettet euch also durch das Gebet.

Gebete, die euch zum Himmel erheben, sind das Morgen- und Abendgebet, sofern sie gut verrichtet werden. Gebete sind auch Betrachtung und die hl. Messe; Gebete sind öftere Beichte und Kommunion; Gebete sind die Predigten und Ansprachen der Obern; Gebet ist die Besuchung des Allerheiligsten, der Rosenkranz und auch das Studium. Wenn ihr Gebete verrichtet, wird euer Herz sich ausdehnen wie ein Luftballon und sich zum Himmel erheben und dann könnt ihr mit David sprechen: “Viam mandatorum tuorum cucurri, cum dilatasti cor meum” (= den Weg deiner Gebote will ich wandeln, denn du hast mein Herz weit gemacht) Ps. 118, 32. Auf diese Weise bringt ihr die schönste der Tugenden in Sicherheit und der Feind mag sich noch so sehr anstrengen, er kann sie euren Händen nicht entreißen.”

 

(Lem. VIII, 40)

Am 13. Februar 1865 kam Don Bosco noch einmal auf diesen Traum zu sprechen: “Ich habe euch gesagt, daß diese häßliche Bestie der Teufel war, der euch zugrunde richten möchte. Als ich euch das sagte, glaubte ich im Hinblick auf euch, das entspräche nicht der Wirklichkeit, es sei nur ein Phantasiegebilde. Zu meinem großen Leidwesen muß ich aber sagen, daß die Katze auch unter euch großes Unheil angerichtet hat. Es ist zwar nicht so, daß der größte Teil von euch gefehlt hätte; in Anbetracht der großen Zahl von Jungen in unserem Haus ist es nur eine kleine Minderheit, die gefehlt hat. Und doch ist diese Minderheit noch viel größer als ich glauben wollte. Hier im Oratorium ereigneten sich im Ablauf weniger Tage Dinge, die man bisher niemals darin beobachten konnte.”

Zu diesem Traum läßt sich sagen: Die vielen Bemühungen Don Boscos um seine Jungen hatten als Ziel, tugendhafte Menschen aus ihnen zu machen. Mit diesen eindringlichen Worten hatte er sie oft ermahnt: “Jungen, bewahrt in euren Herzen den Schatz der Tugend. Wenn ihr den besitzt, habt ihr alles; wenn ihr ihn aber verliert, werdet ihr die Unglücklichsten der Welt” (Lem. III, 11).

Als schönsten Schmuck bezeichnete Don Bosco die Tugenden, der Reinheit, der Demut, des Gehorsams und der Liebe” (IV, 748). An erster Stelle nennt er die Reinheit. In diesem Traum wird sie — wie in der Regel — mit der Lilie verglichen.

Mit der Erzählung dieses Traumes wollte der Heilige den Jungen das Wort der Schrift einprägen: “Wachet und betet” (Matth. 24/42); denn “wer betet, der wird gerettet” (St. Alfons).

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DER TEUFEL VERLEITET ZU ZERSTREUUNGEN

(Lem. VIII, 115-116)

Von Don Bosco am 1. Mai 1865 erzählt:

“Im Traum sah ich mich in einer Kirche, die von Jungen ganz gefüllt war. Nur wenige gingen zur hl. Kommunion. An der Kommunionbank stand ein großer Mann in schwarzer Kleidung. Er hatte Hörner und hielt einen Apparat in der Hand. Einigen Jungen zeigte er verschiedene Sachen, die in dem Apparat zu sehen waren. Den einen ließ er die ganze vom Spiel belebte Erholungspause sehen. Er interessierte sich vor allem für sein Lieblingsspiel. Einem anderen zeigte er frühere Spiele, an denen er Vergnügen fand in der Hoffnung auf zukünftige Siege beim Spiel. Dann zeigte er einem seine Heimat, seine Spaziergänge daselbst, Felder und Vaterhaus; einem andern den Studiersaal, die Bücher, Arbeiten und seine Helfer. Dem nächsten zeigte er Obst, Süßigkeiten und den Wein, den er im Koffer hatte, und wieder einem andern seine Eltern und Freunde.

Aber auch Schlimmeres ließ er sie schauen, nämlich ihre Sünden und nicht abgegebenes Geld. Daher gingen nur wenige zu den hl. Sakramenten. Einige sahen ihre Ferienausflüge. Sie übersahen alles andere und betrachteten nur die früheren Gefährten ihrer Vergnügungen.

Wißt ihr, was dieser Traum bedeuten soll? Er will besagen, daß der Teufel sich anstrengt, die Jungen in der Kirche zu zerstreuen, um sie vom Empfang der hl. Sakramente fernzuhalten. Und die Jungen sind so unklug und gehen darauf ein.

Meine lieben Jungen! Dieses elende Teufelswerk muß man zerschlagen. Wißt ihr auch wie? Werft einen Blick auf das Kreuz und dann denkt daran, daß man sich dem Teufel in die Arme wirft, wenn man den Empfang der hl. Kommunion vernachlässigt.”

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DIE PROZESSION ZUM MARIENALTAR

(Lem. VIII, 129-132)

Den folgenden Traum erzählte Don Bosco am 30. Mai 1865: “Ich erblickte einen großen Altar, der Maria geweiht und prächtig geschmückt war. Alle Jungen des Oratoriums sah ich in einer Prozession zum Altare schreiten. Sie sangen das Lob der reinsten Jungfrau, aber nicht alle in derselben Weise, obwohl alle das gleiche Lied sangen. Viele sangen wirklich genau und gut nach den Noten. Einige sangen lauter, andere leiser. Manche hatten eine heisere Stimme. Andere sangen falsch, wieder andere gingen schweigend weiter und lösten sich dann aus den Reihen. Einige gähnten und langweilten sich. Manche stießen sich auch an und lachten miteinander. Aber alle trugen Geschenke, um sie Maria darzubringen. Die meisten brachten einen Blumenstrauß. Diese Blumensträuße waren von verschiedener Größe und mannigfaltiger Art. Einer hatte einen Strauß Rosen, ein anderer Nelken, wieder ein anderer Veilchen usw. Einige brachten der allerseligsten Jungfrau wirklich seltsame Gaben. Die einen trugen einen Schweinekopf, die anderen eine Katze. Es war auch einer dabei, der eine Platte voll Kröten hatte, während andere ein Kaninchen, ein Lamm oder andere Dinge trugen.

Vor dem Altar stand ein schöner Jüngling. Wenn man genau hinschaute, sah man Flügel. Vielleicht war es der Schutzengel des Oratoriums. So wie die Jungen nach und nach herankamen und ihre Gaben darbrachten, nahm er diese in Empfang und legte sie auf den Altar.

Die ersten brachten herrliche Blumensträuße und der Engel legte sie, ohne etwas zu sagen, auf den Altar. Andere — in großer Zahl — reichten ihm ihre Blumensträuße. Er betrachtete sie und nahm sie auseinander. Verdorbene Blumen nahm er heraus und warf sie weg. Dann fügte er die Blumen wieder zu einem Strauß zusammen und legte sie auf den Altar. Einige hatten schöne Blumensträuße, aber Blumen dazwischen, die nicht dufteten, wie Dohlen, Kamelien u. a. Der Engel ließ sie herausnehmen, weil Maria nur Wirklichkeit und nicht den Schein liebt. Wenn dann der Strauß neu geordnet war, brachte der Engel ihn der heiligsten Jungfrau dar. Viele hatten zwischen ihren Blumen sogar Dornen und Nägel, die der Engel wegnahm.

Schließlich kam der Junge heran, der einen Schweinekopf trug. Der Engel sagte zu ihm: “Hast du wirklich den Mut, diese Gabe Maria anzubieten? Weißt du auch, was das Schwein bedeutet? Das häßliche Laster der Unkeuschheit. Die reinste Jungfrau Maria kann diese Sünde nicht ertragen. Ziehe dich also zurück; du bist nicht würdig vor ihr zu stehen.”

Dann kamen Jungen, die eine Katze trugen und der Engel sagte ihnen: “Ihr wagt es, der Gottesmutter solche Sachen anzubieten? Wißt ihr nicht was eine Katze bedeutet? Sie versinnbildet den Diebstahl und ihr bringt sie noch der heiligsten Jungfrau! Diebe seid ihr, Diebe, die den Kameraden Geld, Sachen, Bücher und sogar Eßwaren wegnehmen. Ihr seid solche, die aus Ärger und Bosheit Kleider zerreißen und das Geld der Eltern vergeuden, weil sie die Zeit zum Lernen der Schulaufgaben nicht ausnutzen.”

Dann ließ er auch diese beiseite treten.

Nun kamen diejenigen Jungen, welche Platten mit Kröten trugen. Der Engel schaute sie zornig an. “Die Kröten versinnbilden die schändlichen Sünden des Ärgernisgebens und ihr wollt sie der reinsten Jungfrau bringen? Zurück! Fort mit euch zu den übrigen Unwürdigen!” Da zogen sie sich verwirrt zurück.

Es kamen auch einige heran, die einen Dolch im Herzen trugen. Der Dolch bedeutet Sakrilegien. Der Engel sagte ihnen: “Merkt ihr nicht, daß ihr den Tod in der Seele habt? Daß ihr Überhaupt noch lebt, ist ein besonderes Geschenk der Barmherzigkeit Gottes. Ihr wäret sonst verloren. Um Gottes Willen, laßt euch diesen Dolch herausnehmen!” Auch diese wurden zurückgewiesen.

Nach und nach kamen alle Jungen heran. Es wurden Lämmer, Kaninchen, Fische, Nüsse, Trauben und andere Sachen geopfert. Der Engel nahm alles und legte es auf den Altar.

Nachdem er die guten Jungen von den schlechten geschieden hatte, ließ er alle, deren Gaben von Maria angenommen worden waren, sich vor dem Altar aufstellen. Leider waren diejenigen, die er fortgeschickt hatte, und die an der Seite standen, zu meinem Schmerz viel zahlreicher als ich geglaubt hatte.

Nun erschienen zu beiden Seiten des Altares noch zwei andere Engel. Diese brachten zwei Körbe voll herrlicher Kränze, die aus prächtigen Rosen geflochten waren. Es waren eigentlich keine natürlichen Rosen, sondern künstliche, ein Sinnbild der Unsterblichkeit.

Der Schutzengel nahm darauf die Kränze, einen nach dem andern, und schmückte damit alle Jungen, die um den Altar standen. Die Kränze waren verschieden groß, aber alle von einer wunderbaren Schönheit. Denkt euch nur, da waren nicht nur die Jungen anwesend, die sich zur Zeit im Oratorium befinden, sondern auch noch viele andere, die ich noch niemals gesehen hatte.

Nun geschah etwas ganz Auffallendes. Da waren so häßliche Jungen, daß sie fast Ekel und Abscheu einflößten. Diese erhielten die schönsten Kränze, um anzudeuten, daß ein so häßliches Äußere durch das Geschenk der Tugend der Keuschheit in hervorragendem Maße ersetzt wird. Viele andere hatten dieselbe Tugend, aber in weniger hohem Grad erworben. Wieder andere zeichneten sich durch die Übung anderer Tugenden aus, wie Gehorsam, Demut und Gottesliebe. Alle erhielten Kränze, die dem Grad ihrer Tugenden entsprachen. Darauf sagte ihnen der Engel: “Es war der Wunsch Mariens, euch heute mit so schönen Kränzen zu zieren. Bedenkt aber auch, daß ihr weiter fortfahren müßt, die Tugenden zu üben, damit sie euch nicht genommen werden. Behaltet auch im Gedächtnis, daß es Mittel gibt, im Tugendleben beharrlich zu sein. Es sind: 1. Demut, 2. Gehorsam, 3. Keuschheit. Übt diese drei Tugenden, dann werdet ihr von Maria geliebt und ihr werdet dadurch würdig werden, eines Tages eine Krone zu empfangen, die unendlich schöner ist als dieser Kranz. Dann stimmten die Jungen vor dem Altar das ‚Ave maris stella' — Meerstern ich dich grüße — an.

Nach dem Gesang der ersten Strophe zog die Prozession, so wie sie gekommen war, wieder ab. Dabei sangen die Jungen das Lied: Lobet Maria, ihr gläubigen Zungen. Ihre Stimmen waren so laut, daß ich ganz verblüfft und verwundert war. Ich folgte noch eine Weile und entfernte mich dann, um die Jungen zu sehen, die der Engel beiseite stehen gelassen hatte. Ich sah sie aber nicht mehr.

Meine Lieben! Ich weiß, welche Jungen vom Engel bekränzt und welche fortgejagt wurden. Den einzelnen werde ich es sagen, damit sie sich in Zukunft bemühen, der reinsten Jungfrau solche Gaben zu bringen, die sie auch gerne annimmt. —

Nun noch einige Bemerkungen:

1. Alle brachten der lieben Jungfrau Maria Blumen, und zwar von allen Sorten. Ich beobachtete aber auch, daß alle zwischen den Blumen mehr oder weniger Dornen hatten. Ich dachte lange nach, was diese Dornen wohl bedeuten könnten und kam zu der Überzeugung, daß sie Ungehorsam darstellten: Geld behalten ohne Erlaubnis des Präfekten und ohne die Absicht es ihm abgeben zu wollen; fragen, ob man an einen bestimmten Ort gehen darf und dann doch an einen anderen gehen; zu spät in die Schule kommen, wenn die anderen schon da sind; sich heimlich Salat und andere Speisen bereiten; in die Schlafsäle der anderen gehen, obwohl es streng verboten ist, gleich unter welchem Vorwand; beim Wecken nicht gleich aufstehen; die vorgeschriebenen Andachtsübungen auslassen; schwätzen in der Zeit des Stillschweigens; Bücher kaufen ohne sie vorzuzeigen; Briefe durch Mittelspersonen fortschicken, damit sie nicht gesehen werden und auf dieselbe Art Briefe empfangen; untereinander Abmachungen treffen, Käufe und Verkäufe tätigen.

Da habt ihr alles, was die Dornen bedeuten. Viele von euch werden fragen: “Ist es also Sünde, wenn man die Hausregel übertritt?” Ich habe schon ernstlich darüber nachgedacht und antworte euch nun mit einem bestimmten “Ja”. Ich sage nicht es sei eine schwere oder eine leichte Sünde. Das hängt von den Umständen ab; aber Sünde ist es.

Man wird einwenden: “In den Geboten Gottes steht doch nicht, wir müßten die Hausregel befolgen. ” Hört zu! Es ist aber in den Geboten enthalten: “Du sollst Vater und Mutter ehren', heißt es. Wißt ihr auch, was die Worte Vater und Mutter bedeuten? Sie schließen auch diejenigen mit ein, welche die Stelle von Vater und Mutter vertreten. Es steht aber in der Heiligen Schrift: ‚Gehorchet euren Vorgesetzten!' Es ist doch klar, daß sie zu befehlen haben und ihr gehorchen müßt. Das ist der Ursprung der Hausregel des Oratoriums und darum ist sie verpflichtend.

2. Einige hatten zwischen ihren Blumen auch Nägel. Nägel haben dazu gedient, den lieben Heiland ans Kreuz zu schlagen. Wie kamen nun die Nägel unter die Blumen? Man fängt mit Kleinigkeiten an und aus Kleinem wird Großes. Da wollte einer Geld haben unter einem gewissen Vorwand. Nachher wollte er es nicht abgeben, um es auf seine Art ausgeben zu können. Hernach fing er an, seine Schulbücher zu verkaufen und schließlich stahl er dem Kameraden Geld und andere Dinge. Ein anderer wollte seiner Gaumenlust fröhnen und stahl daher Flaschenwein. Er erlaubte sich allerhand und fiel — kurz gesagt — in schwere Sünden. Ihr seht also, wie die Nägel zwischen die Blumen kamen und wie der Heiland aufs neue ans Kreuz geschlagen wurde. Der Apostel sagt: “Rursus crucifigentes filium Dei — sie schlugen ihn aufs neue ans Kreuz.”

3. Viele Jungen hatten zwischen frischen und duftenden Blumen auch verwelkte und faule in ihrem Strauß; aber auch recht schöne waren dabei, die jedoch nicht dufteten. Die verwelkten und faulenden Blumen bedeuten gute Werke, aber im Stande der Todsünde verrichtet, die also nicht verdienstvoll sind. Blumen, die nicht duften, sind guten Werken vergleichbar, die der Menschen wegen, aus Ehrgeiz, oder um Lehrern und Vorgesetzten zu gefallen, verrichtet wurden. Daher machte der Engel den Jungen Vorwürfe, weil sie es wagten, der Gottesmutter solche Gaben darzubringen. Er schickte sie zurück, damit sie ihren Blumenstrauß in Ordnung brächten. Daraufhin ordneten sie ihn aufs neue, banden ihn zusammen wie vorher und übergaben ihn dem Engel, der ihn dann entgegennahm und auf den Altar legte. Diese Jungen hielten sich aber nicht an eine gewisse Ordnung, sondern brachten ihren Strauß später in Ordnung, übergaben ihn und stellten sich dann zu jenen Jungen, die einen Kranz erhalten hatten.

In diesem Traum sah ich alles, was bei meinen Jungen vorgeht, wie sie waren und wie sie sein werden. Vielen von ihnen habe ich es schon gesagt, den andern werde ich es noch mitteilen. Tragt aber Sorge, daß die reinste Jungfrau von euch nur Gaben bekommt, die nicht zurückgewiesen werden müssen.”

Aus diesem Traum könnte man entnehmen, daß Maria nicht nur Mittlerin aller Gnaden ist, sondern daß sie auch alle unsere guten Werke für Gott annimmt und daß die Engel zwischen Maria und uns stehen.

Don Bosco hat die Nutzanwendung aus diesem Traum gezogen. Er hat den Lohn der Tugend hervorgehoben und ebenso die Strafe für böse Taten, die bei Jungen in einem Internat vorkommen können.

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DIE GEFAHRVOLLE MEERFAHRT

(Lem. VIII, 275-282)  

Am Abend des Neujahrstages 1866 erzählte Don Bosco vor der versammelten Schar seiner Jungen den folgenden Traum:

“Mir schien es, als befände ich mich irgendwo in der Nähe von Castelnuovo d'Asti; es war aber anderswo. Alle Jungen des Oratoriums spielten vergnügt auf einer großen Wiese. Da kamen plötzlich Wasserfluten heran. Eine Überschwemmung drohte uns von allen Seiten. Das Wasser schwoll ständig an und kam immer näher. Der Po war über seine Ufer getreten und gewaltige, alles verheerende Wassermassen überfluteten das Land.  

Von Schreck überwältigt eilten wir auf eine große, alleinstehende Mühle zu, deren Mauern so dick waren wie die einer Festung. In ihrem Hof blieb ich mit meinen Jungen stehen. Die Wassermassen drangen aber bis dorthin vor. So waren wir alle gezwungen, uns in das Haus zurückzuziehen. Bald mußten wir sogar die obersten Räume beziehen. Vom Fenster aus überschauten wir die Überschwemmung. Die Wasserfläche reichte wie ein ungeheurer See von den Hügeln bei Superga bis zu den Alpenwiesen. Wir sahen die Wasserfläche, aber keine bebauten Felder, Gemüsegärten, Wälder, Bauernhöfe, auch keine Dörfer und Städte mehr. Beim Ansteigen des Wassers waren wir bis in den obersten Stock des Gebäudes gestiegen. Da alle Hoffnung auf menschliche Hilfe geschwunden war, begann ich, meinen lieben Jungen Mut zu machen. Ich sagte ihnen, sie sollten sich mit vollstem Vertrauen den Händen Gottes überlassen und in die Arme unserer lieben himmlischen Mutter flüchten.

Bald jedoch war das Wasser sogar bis zum obersten Stock gestiegen. Da waren alle sehr erschrocken. Wir sahen keine andere Rettung mehr, als uns auf ein großes Floß, eine Art Schiff, zurückzuziehen, das in jenem Augenblick aufgetaucht war und nahe an uns vorbeischwamm.

Jeder atmete bei dessen Anblick erleichtert auf und versuchte, sich als erster zu retten. Es wagte aber doch keiner, weil das Schiff sich dem Haus nicht ganz nähern konnte. Eine Mauer, die etwas aus dem Wasser ragte, hinderte es daran. Um hinüber zu kommen, bot sich nur ein langer, schmaler Baumstamm als Hilfsmittel. Es war jedoch sehr schwer hinüberzugehen, denn der Stamm ruhte mit einem Ende auf dem Boot und senkte sich mit diesem, wenn es von den Wellen geschaukelt wurde.

Ich faßte Mut und ging als erster hinüber. Um die Jungen zu beruhigen und das Überschreiten zu erleichtern, bestimmte ich einige Kleriker oder Priester, welche die Übersteigenden etwas stützen und den Ankommenden vom Boote aus die Hand reichen sollten. Aber merkwürdig, von dieser leichten Arbeit wurden die Kleriker und Priester so müde, daß der eine hier, der andere dort vor Ermüdung umsank. Das gleiche geschah auch jenen, die an ihre Stelle traten. Verwundert wollte ich es selber einmal probieren. Ich fühlte mich jedoch auch bald so matt, daß ich mich nicht mehr halten konnte. Indessen machten sich viele ungeduldige Jungen, vielleicht aus Angst oder um sich mutig zu zeigen, eine zweite Brücke. Sie hatten nämlich ein Brett gefunden, das lang genug und noch etwas breiter war als der Baumstamm. Sie warteten aber nicht auf die Hilfestellung der Kleriker und Priester, sondern wollten voreilig hinüberlaufen. Sie hörten auch nicht auf meine Warnung. Ich rief ihnen zu: “Halt, halt, wenn ihr nicht hineinfallen wollt!” So geschah es, daß viele, die von anderen gestoßen wurden oder das Gleichgewicht verloren, hinunterfielen und das Boot nicht erreichten. Von den trüben und faulen Wasserfluten wurden sie verschlungen und man sah sie nicht mehr. Bald sank dann die eigens gebaute Brücke ein mit allen, die darauf standen. Ihre Zahl war groß; ein Viertel all unserer Jungen wurde ein Opfer ihres Eigenwillens.

Bis jetzt hatte ich das eine Ende des Baumstammes festgehalten, derweil die Jungen hinübergingen. Da gewahrte ich, daß das Wasser noch über die hindernde Mauer gestiegen war und fand Mittel, das Floß dicht an die Mühle zu stoßen. Dort stand noch Don Cagliero mit dem einen Bein auf der Fenstermauer und mit dem andern auf dem Rand des Bootes. So ließ er die Jungen hinüberspringen, die noch in den Räumen der Mühle zurückgeblieben waren. Er reichte ihnen die Hand und half ihnen sicher auf das Floß.

Aber noch waren nicht alle Jungen gerettet. Einige waren auf den Speicher und von dort aus auf das Dach geklettert. Auf der höchsten Stelle hatten sie sich dicht aneinander gedrängt, während die Überschwemmung unaufhörlich stieg, ohne einen Augenblick auszusetzen. Schon hatte sie die Dachrinne überflutet und bedeckte einen Teil der Dachränder. Mit dem Wasser war aber auch das Boot gestiegen. Ich beobachtete die armen Jungen, die in so schrecklicher Bedrängnis waren, und rief ihnen zu, sie sollten recht innig beten, sich ganz still verhalten und mit den Armen ineinandergelegt herunterkommen, um nicht auszugleiten. Sie gehorchten und als das Floß an die Dachrinne herankam, gelangten alle von ihren Kameraden unterstützt, an Bord. Hier sah man in vielen Körben eine Menge Brot. Als wir alle auf dem Floß waren — immer noch unsicher, ob wir dieser Gefahr entrinnen würden — übernahm ich als Kapitän das Kommando und sagte zu den Jungen: “Maria ist der Meeresstern, sie verläßt keinen, der auf sie vertraut. Stellen wir uns alle unter ihren Schutz. Sie wird uns aus diesen Gefahren erretten und in einen ruhigen Hafen führen.”

Darauf überließen wir das Schiff den Wellen. Es kam in Bewegung, schwamm ruhig und bewegte sich von jenem Ort. (Facta est quasi navis institoris, de longe portans panem suum — es gleicht dem Schiff eines Kaufmanns und trägt von weit her sein Brot. Spr. 31/14.)

Die vom Winde gepeitschten Wogen stießen das Floß so schnell, daß wir, um nicht herunter zu fallen, uns eng aneinander drückten und gleichsam nur einen Körper bildeten.

Nachdem wir in kurzer Zeit eine große Strecke zurückgelegt hatten, hielt das Floß plötzlich an, drehte sich mit außerordentlicher Geschwindigkeit um sich selbst. Es schien unterzugehen. Aber ein sehr heftiger Wind trieb es aus dem Strudel heraus. Dann schlug es einen regelmäßigeren Kurs ein. Wohl kam hin und wieder ein Wirbel, aber auch der rettende Wind und bald hielt das Schiff an einem trockenen Gestade. Es schien ein Hügel zu sein, der mitten aus dem Meer hervorragte und sehr schön aussah.

Viele Jungen waren davon ganz bezaubert. Sie sagten auch, der Herr habe die Menschen auf die Erde und nicht auf das Wasser gesetzt. Und ohne um Erlaubnis zu fragen, verließen sie jubelnd das Floß, luden uns auch ein, ihnen zu folgen und stiegen ans Ufer. Ihre Zufriedenheit dauerte aber nicht lange, denn die Fluten schwollen wieder an und bei einem plötzlichen Wüten eines gewaltigen Sturmes stiegen sie am Ufer empor. Nun stießen die unglücklichen Jungen verzweifelte Schreie aus. Sie standen bald bis an die Hüften im Wasser und verschwanden kopfüber in den Fluten. Da rief ich: “Ja, es ist wirklich wahr. “Wer nach seinem eigenen Kopf handeln will, muß aus seinem eigenen Geldbeutel bezahlen.”

Das Schiff drohte wiederum in der Gewalt des Sturmes unterzugehen. Ich schaute auf meine Jungen; sie waren bleich im Gesicht und keuchten. “Habt nur Mut”, rief ich ihnen zu, “Maria wird uns nicht verlassen. ” Wir verrichteten nun gemeinsam die Akte des Glaubens, der Hoffnung, der Liebe und der Reue und beteten dann noch einige Vaterunser und Gegrüßte seist du Maria und zum Schluß noch das Salve Regina. Darauf hielten wir uns noch einmal knieend bei den Händen und jeder betete still für sich weiter. Trotz der Gefahr blieben einige jedoch ziemlich gleichgültig. Sie hatten sich aufgestellt, gingen hin und her, als wenn nichts wäre, lachten miteinander und machten sich fast lustig über die betende Haltung ihrer Kameraden. Da hielt das Schiff ganz plötzlich an, drehte sich schnell um die eigene Achse und ein wütender Sturm schleuderte jene Unglückseligen in die Fluten. Es waren dreißig Jungen. Kaum lagen sie in dem tiefen schlammigen Wasser, sah man nichts mehr von ihnen. Wir stimmten das Salve Regina an und flehten mehr denn je aus tiefstem Herzen um den Schutz des Meeressterns Maria.

Nun wurde es ruhig. Das Schiff schwamm wie ein Fisch immer weiter und wir wußten nicht, wohin es uns bringen würde. An Bord wurde eifrig und fortdauernd eine Rettungsaktion betrieben und alles getan, um zu verhindern, daß noch mehr Jungen ins Wasser fielen. Man gab sich auch alle Mühe, die Hineingefallenen zu retten. Es waren ja immer wieder einige, die sich unvorsichtig über die niedrigen Ränder des Floßes lehnten und ins Wasser fielen. Selbst ungezogene und schlimme Jungen waren dort, die ihre Kameraden an den Rand des Floßes riefen und dann ins Wasser stießen. Deswegen besorgten einige Priester kräftige Stangen und dicke Stricke und Angelhaken. Andere befestigten die Haken an den Stangen und teilten sie an einzelne aus. Manche standen schon mit erhobenen Stangen auf Posten. Sie schauten gespannt auf das Wasser und lauschten aufmerksam auf jeden Hilferuf. Kaum fiel ein Junge hinein, dann senkte sich die Stange und der Schiffbrüchige klammerte sich an das Seil oder wurde mit dem Haken an den Kleidern oder am Gürtel gepackt, herausgezogen und gerettet. Doch gab es auch Jungen, welche die Arbeit der Angler und der Kameraden, die Angelhaken bereiteten und verteilten, störten und behinderten. Die Kleriker hielten überall Aufsicht, um die Jungen in Ordnung zu halten; es waren nämlich viele.

Ich stand unter einer hohen Flagge, die in der Mitte aufgepflanzt war. Um mich herum waren viele Jungen, Priester und Kleriker, die meine Anordnungen ausführten. So lange sie fügsam waren und meinen Worten willig folgten, ging alles gut. Wir waren ruhig, zufrieden und fühlten uns sicher. Aber bald fanden einige das Floß unbequem. Sie fürchteten eine lange Reise, beklagten sich über die Gefahren und Entbehrungen, stritten um den Ort der Landung und überlegten, ob man nicht eine andere Zuflucht finden könnte. Sie gaben sich der törichten Hoffnung hin, es sei Land in der Nähe, wo man sichere Unterkunft finden könnte. Sie vermuteten, unser Proviant würde ausgehen und fragten sich untereinander, ob man nicht doch den Gehorsam verweigern sollte. Vergebens suchte ich sie mit Vernunftsgründen zu bewegen und zu überzeugen.

Plötzlich waren andere Flöße in Sicht. Sie nahmen jedoch einen anderen Kurs, als sie in unserer Nähe waren. Da beschlossen einige unkluge Jungen, sich von mir zu entfernen, ihren Launen zu folgen und selbst einen Versuch zu machen. Sie warfen einige Bretter ins Wasser, die auf unserem Floß lagen, und sie entdeckten auch einige, die nicht weit entfernt im Wasser schwammen und ziemlich breit waren. Sie sprangen darauf und entfernten sich auf ihnen. Es war eine unbeschreiblich schmerzliche Szene für mich. Sah ich doch diese Unglücklichen ihrem Untergang entgegentreiben. Der Wind blies scharf und die Wellen wurden stark bewegt. Einige Jungen versanken und wurden wild hin‑ und hergeschleudert. Andere gerieten in einen Strudel und wurden in die Tiefe gerissen. Wieder andere stießen auf Hindernisse an der Wasseroberfläche und verschwanden kopfüber in den Tiefen. Einigen gelang es, auf eines der Flöße zu springen, versanken aber bald darauf. Die Nacht war finster und schwarz. Von weitem hörte man die herzzerreißenden Schreie der Ertrinkenden. Alle gingen unter. ‚In mare mundi submergentur omes illi quos non suscipit navis ista‘m — Im Meere der Welt gehen alle unter, die nicht von diesem Boote — dem Schiff Mariens — aufgenommen werden.

Die Zahl meiner lieben Jungen war nun stark verringert. Trotzdem vertrauten wir weiter auf den Schutz der Gottesmutter. Nach einer langen, finsteren Nacht fuhr das Schiff in eine schmale Meerenge hinein. Diese befand sich zwischen zwei schlammigen Ufern, die mit Gestrüpp, dicken Felsbrocken, Kieselsteinen, Baumstämmen, Reisig, Stücken von Leichen, Balken und Rudern bedeckt waren. Um das Floß herum sah man Taranteln, Kröten, Schlangen, Drachen, Krokodile, Quallen, Vipern und tausend andere häßliche Tiere. Auf Trauerweiden, deren Zweige bis auf unser Floß hingen, standen vierfüßige Tiere, Riesenkatzen von ungewohnter Form, die Teile von menschlichen Gliedern zerfleischten. Auch viele Affen baumelten von den Zweigen herab und machten Anstrengungen, die Jungen zu fassen und herunterzuschleudern. Diese bückten sich aber geschickt und entgingen so den Nachstellungen. Auf jenem Kiesgrund war es auch, wo wir zu unserer großen Überraschung und voll Schrecken die armen Kameraden wiedersahen, die wir verloren hatten oder die uns verlassen hatten. Nach dem Schiffbruch waren sie auf diesen Strand geworfen worden. Bei einigen von ihnen waren die Gliedmaßen durch den heftigen Anprall gegen die Klippen zerstückelt. Andere waren im Sumpf versunken und man sah von ihnen nur noch die Haare und einen halben Arm. Hier ragte ein Rücken, dort ein Kopf aus dem Schlamm heraus. Auch sahen wir einen Leichnam. Und plötzlich erscholl die Stimme eines Jungen, der auf dem Floß war und rief: “Dort ist ein Scheusal, welches das Fleisch des so und so frißt!” Wiederholt rief er den Namen des Unglücklichen und zeigte ihn den erschrockenen Kameraden.

Noch ein anderes Bild zeigte sich unseren Augen. Nicht weit entfernt davon erhob sich ein gewaltiger Feuerofen, in dem eine gewaltige, heiße Glut loderte. Man sah darin bunt durcheinander gewürfelt menschliche Körperteile, Füße, Beine, Arme, Hände, Köpfe. Sie alle rührten sich, kamen nach oben und verschwanden wieder in den Flammen, gleichwie Gemüse im Kochtopf. Bei genauer Betrachtung erkannten wir voll Schrecken viele unserer Schüler. Über dem Feuer war etwas wie ein gewaltiger Deckel. Darauf stand geschrieben: Das sechste und das siebente führen hierher.”

In der Nähe war ein weiter, hoher Hügel, bedeckt mit zahlreichen bunt durcheinanderstehenden Wildbäumen. Dort hielten sich viele unserer Jungen auf, die ins Wasser gefallen waren oder sich im Laufe der Fahrt von uns entfernt hatten. Ich stieg an Land, ohne auf die Gefahr zu achten, und näherte mich ihnen. Da sah ich ihre Augen, Ohren, ihr Haar und sogar ihre Herzen voller Insekten und häßlicher Würmer, die ihnen heftige Schmerzen bereiteten. Einer litt mehr als der andere. Ich wollte mich einem von ihnen nähern, doch er lief davon und verbarg sich hinter den Bäumen. Einige öffneten vor Schmerz ihre Kleider und zeigten ihren von Schlangen umwundenen Körper. Manche hatten Vipern an der Brust.

Da zeigte ich allen eine Quelle, die reichlich frisches und eisenhaltiges Wasser gab. Wer sich darin wusch, wurde im Augenblick geheilt und konnte zum Floß zurückkehren. Die meisten dieser Unglücklichen folgten meiner Weisung, einige aber weigerten sich. Darauf verließ ich die Zaudernden und wandte mich an jene, die gesund geworden waren. Sie hatten meiner Bitte entsprochen und waren sogleich in Sicherheit; denn die Scheusale hatten sich verkrochen. Kaum befanden wir uns auf dem Floß, da verließ es, vom Winde getrieben, die Meerenge nach einer anderen Seite hin und gelangte erneut in einen weiten Ozean ohne Grenzen.

Wir alle beklagten das traurige Los und das bedauernswerte Ende unserer Kameraden, die an jenem Ort zurückgeblieben waren. Dann fingen wir an, das Lob Mariens zu singen als Dank für den Schutz, den uns die Gottesmutter gewährt hatte. Wie auf Befehl Mariens hörte ganz plötzlich das Sturmesbrausen auf und das Schiff fuhr schnell und mit einer unglaublichen Leichtigkeit auf den geglätteten Wogen dahin. Und siehe, am Himmel erschien ein wunderbarer Regenbogen, der sich in ein Nordlicht verwandelte. Im Dahinfahren lasen wir darin das Wort “MEDOUM”. Seine Bedeutung wußten wir jedoch nicht. Mir schien es aber, daß jeder Buchstabe der Anfangsbuchstabe folgender Worte sei: ‚Mater et Domina Omnis Universi Maria — Maria ist die Mutter und Herrin der ganzen Welt. '

Nach einer langen Fahrt tauchte in weiter Ferne am Horizont Land auf. Während wir immer näher kamen, empfanden wir in unserem Herzen eine unaussprechliche Freude; denn dieses Land war überaus schön. Es hatte Wälder mit den verschiedensten Bäumen. Es bot einen entzückenden Anblick und war von der aufgehenden Sonne beleuchtet, die über die Hügel schien. Dieses Licht besaß einen unsagbar beruhigenden Glanz, gleichwie der Sonnenschein an einem herrlichen Sommerabend. Es strömte ein Gefühl der Ruhe und des Friedens aus. Schließlich stieß das Boot in den Sand des Strandes hinein und rutschte sogar noch ein Stück im Sand weiter hinauf. Es hielt ganz im Trockenen am Fuße eines herrlichen Weinberges. Von diesem Floß darf man wohl sagen: “Eam tu Deus pontem fecisti, quo a mundi fluctibus traicientes ad tranquillum portum tuum deveniamus — O Gott, Du hast es zu einer Brücke gemacht, auf der wir die Fluten des Meeres überqueren und so Deinen ruhigen Hafen erreichen konnten.”

Die Jungen wünschten sogleich in den Weinberg zu gehen und einige, neugieriger als die andern, waren mit einem Sprung draußen auf dem Strand. Sie hatten aber nur einige Schritte gemacht, da erinnerten sie sich an das traurige Geschick jener, die sich vorher vom Land betören ließen, das mitten im stürmischen Meer gelegen hatte, und sie kehrten eilig auf das Floß zurück.

Aller Augen waren auf mich gerichtet und man las in jedem Gesicht die Frage: “Don Bosco, ist es Zeit auszusteigen oder müssen wir noch hier bleiben?” Ich überlegte kurz und sagte dann zu ihnen: “Aussteigen. Nun ist es Zeit, wir sind jetzt sicher.”

Ein allgemeiner Freudenruf erscholl. Alle rieben sich zufrieden die Hände und betraten den Weinberg in bester Ordnung. Von den Reben hingen große Trauben herab wie im Gelobten Land, und auf den Bäumen waren Früchte aller Art von einem nie gekosteten Geschmack. Sie waren eine wahre Labung in der warmen Jahreszeit. Mitten in diesem ausgedehnten Weinberg erhob sich ein Schloß, das von einem herrlichen königlichen Garten mit starken Mauern umgeben war.

Wir lenkten unsere Schritte dorthin, um es zu besichtigen. Es wurde uns freier Eintritt gewährt. Wir waren müde und hungrig. In einem weiten mit Gold gezierten Saal stand ein für uns gedeckter Tisch. Darauf befanden sich die auserlesensten Speisen aller Art. Ein jeder durfte ganz nach Belieben davon nehmen. Als wir uns gut gestärkt hatten, trat ein edler, fein gekleideter Jüngling von unbeschreiblicher Anmut ein. Er begrüßte uns alle mit herzlich vertrauter Höflichkeit und nannte uns alle dabei mit Namen. Er bemerkte unser Erstaunen über seine Schönheit und über all das Geschaute und sagte: “Das ist noch gar nichts. Kommt und sehet!” Wir folgten ihm. Er ließ uns nun von der Säulenhalle aus die Gärten betrachten und sagte, diese ständen uns zur Erholung ganz zur Verfügung. Dann führte er uns von Saal zu Saal, von denen einer prächtiger war als der andere in Bauweise, Säulenarten und Ornamenten. Dann öffnete er die Türe zu einer Kapelle und lud uns zu einem Besuch ein. Von außen schien die Kapelle klein zu sein; aber kaum hatten wir ihre Schwelle überschritten, da gewahrten wir ihre große Ausdehnung, so daß wir von einem Ende kaum das andere sehen konnten. Der Boden, die Gewölbe und die Wände waren so reich und so kunstvoll mit Marmor, Silber, Gold und kostbaren Edelsteinen geziert, daß ich außer mir vor Verwunderung ausrief: “Das ist ja eine himmlische Pracht. Ich verpflichte mich vertraglich, immer hier zu bleiben.”

Mitten in diesem großen Dom erhob sich auf einem prächtigen Grund ein großes, herrliches Standbild Mariens, der Helferin der Christen. Nachdem wir die Jungen, die sich nach allen Richtungen hin zerstreut hatten, um die Schönheit des heiligen Raumes genauer zu betrachten, wieder gesammelt hatten, zog unsere ganze Schar zu diesem Muttergottesbilde, um der reinsten Jungfrau für so viele erwiesene Wohltaten zu danken. Da gewahrte ich erst so richtig, wie groß diese Kirche war; denn die Tausende von Jungen schienen nur eine kleine Gruppe in ihrer Mitte zu sein.

Nun standen die Jungen vor dem Marienbild und betrachteten es. Das Antlitz der Gottesmutter war himmlisch‑schön. Plötzlich schien sich das Bild zu bewegen und zu lächeln. Darauf erfolgte ein Murmeln und eine Bewegung in der Menge. Einige riefen aus: “Die Madonna bewegt die Augen!” In der Tat richtete Maria mit unaussprechlicher Güte ihre Augen auf die Jungen. Kurz darauf erscholl ein zweiter Ruf von allen: “Die Gottesmutter bewegt die Hände!” In der Tat breitete sie langsam ihre Arme aus und hob ihren Mantel, als wollte sie uns alle darunternehmen. Vor Erschütterung liefen uns die Tränen über die Wangen. Und wieder sagten einige: “Die Madonna bewegt die Lippen. ” Es wurde nun mäuschenstill. Maria öffnete den Mund und redete uns mit wohlklingender und überaus lieblicher Stimme mit den Worten an: “Wenn ihr meine lieben und treu ergebenen Kinder seid, werde ich euch eine gütige Mutter sein.”

Bei diesen Worten fielen wir alle auf die Knie und sangen das Lied: “Lobet Maria, ihr gläubigen Zungen. ” So endete die Vision. —

Seht, meine lieben Jungen! In diesem Traum erkennen wir das stürmische Meer dieser Welt. Wenn ihr folgsam seid, wenn ihr meinen Weisungen und nicht den schlechten Ratgebern folgt, wenn wir uns alle anstrengen, das Gute zu tun und das Böse zu fliehen und alle unsere schlechten Neigungen bekämpfen, dann werden wir am Ende unseres Lebens an diesen sicheren Strand gelangen. Dort wird uns ein Bote Mariens entgegenkommen und uns im Namen Gottes heimholen, damit wir uns von unseren Mühen ausruhen, und zwar in einem königlichen Garten, d. h. im Himmel, in seiner liebenswerten, göttlichen Gegenwart. Wenn ihr aber das Gegenteil von dem tut, was ich euch sage, wenn ihr nach euren eigenen Launen gehen wollt und auf mich nicht hört, dann werdet ihr elenden Schiffbruch erleiden.”

 

(Lem. VIII, 282-283)

Don Bosco gab später noch weitere Erklärungen zu diesem Traum. Er sagte: “Die Wiese ist die Welt; das Wasser, das uns zu verschlingen drohte, sind die Gefahren dieser Welt. Die so weit ausgedehnte, furchtbare Überschwemmung sind die Laster, die antireligiösen Grundsätze und die Verfolgung der Guten. Die Mühle ist ein einsamer, ruhiger Platz, der immer bedroht ist, es ist das Haus des Brotes, die katholische Kirche. Die Körbe mit Brot versinnbilden die heilige Eucharistie, die den Fahrern als Wegzehrung dient. Das Floß ist das Oratorium; der Baumstamm, der die Brücke von der Mühle zum Floß bildete, ist das Kreuz, besonders das Opfer seiner selbst für Gott in christlich ergebener Abtötung. Die Meerenge, die Katzen, Affen und die übrigen Ungetüme sind die schlechten Gelegenheiten und Versuchungen zur Sünde. Die Insekten in den Augen, auf der Zunge, im Herzen sind schlechte Blicke, gemeine Reden und ungeordnete Neigungen. Der Brunnen mit eisenhaltigem Wasser, das die Kraft hatte, alle Insekten zu töten und im Augenblick zu heilen, sind die Sakramente der heiligen Beichte und der heiligen Kommunion. Der Schlamm ist der Ort der Sünde und das Feuer der Ort der Verdammnis. Man möge jedoch wissen, daß nicht alle, die in den Schlamm fielen, die man dann nicht mehr sah und die dann in den Flammen brannten, auf ewig zur Hölle verdammt seien. Nein! Gott bewahre uns davor, so etwas zu sagen. Es bedeutet aber, daß sich diese in jenem Augenblick in der Ungnade Gottes befanden, und wären sie in diesem Zustande gestorben, dann wären sie auf ewig verlorengegangen.”

 

(Lem. VIII, 284)

Einem Jungen, der den Heiligen nach der heiligen Beichte fragte, wie er ihn in jenem geheimnisvollen Traum gesehen habe, antwortete Don Bosco: “Du warst auf dem Floß und gingst weg um zu fischen, und dabei fielst du mehrere Male ins Wasser. Ich habe dich aber herausgeholt und auf das Floß zurückgebracht. ” Auf die weitere Frage: “Erinnern Sie sich auch noch, mich gesehen zu haben, als wir in den Dom einzogen?” antwortete Don Bosco lächelnd: “Ja, ja.”

 

(Lem. VIII, 284)

Einem Kleriker aus Vercelli, der den Heiligen im Hof fragte, sagte er: “Du störtest die anderen und hindertest sie so beim Fischen.”

Einem Priester, der ihn über seine Rolle in jener Szene fragte, antwortete Don Bosco: “Dich habe ich, von den andern getrennt, ganz allein und ernst in einer Ecke des Floßes gesehen. Du warst vertieft in der Arbeit, Angeln und Stricke herzustellen. Dann kamen die andern und holten sich dieselben zum Fischen. ” Er fügte noch einige andere Worte hinzu, die zwanzig Jahre später wunderbar in Erfüllung gingen.

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DIE KATZEN AUF DEN BETTEN  

(Lem. VIII, 314-315)

August Semeria, ein ehemaliger Schüler des Oratoriums, schrieb im Jahre 1883 in einem Brief an Don Rua:

“Er (Don Bosco) wollte die Wunden unserer Seelen kennenlernen, um sie mit den entsprechenden Arzneien zu heilen. Dazu bediente er sich auch der Träume, die er erzählte und womit er gewöhnlich einen guten Rat verband. Bevor er sie uns erzählte, sagte er, es gäbe drei Arten von Träumen: Solche, die von Gott kommen, um uns zum Guten zu bewegen; solche, die vom Teufel kommen und Anreiz zum Bösen geben, und solche, die von der Lage des Schlafenden herrühren. Ich glaube, daß die Träume Don Boscos von Gott kamen.

Es war im Jahre 1866, etwa 14 Tage vor dem Fest des heiligen Josef, da erzählte uns Don Bosco folgendes:

“Ich träumte, ich läge im Bett. Da kam jemand — oder es war eine Phantasiegestalt — mit einer brennenden Laterne in der Hand und sagte zu mir: “Don Bosco, steh auf und folge mir”.

Ohne die geringste Furcht stand ich auf, kleidete mich an und ging hinter der Gestalt her. Ich konnte aber nicht ihr Gesicht sehen. Wir gingen durch verschiedene Säle, und zwar durch den Mittelgang zwischen den beiden Bettenreihen, in denen schlafende Jungen lagen. Beim Vorbeigehen bemerkte ich Katzen auf den Betten. Mit den Hinterfüßen krallten sie sich fest in die Betten und waren im Begriff, mit den Vorderfüßen den schlafenden Jungen ins Gesicht zu fahren.

Ich ging immer hinter jener Gestalt her. Schließlich hielt sie an und ging um das Bett eines schlafenden Jungen herum. Ich blieb stehen und fragte nach dem Grund. Sie antwortete: “Zum Fest des heiligen Josef muß dieser mit mir kommen. ” Daraus entnahm ich, daß er sterben müsse.

Eindringlich fragte ich dann: “Ich will wissen, wer du bist und in wessen Namen du sprichst. ” Da sagte die Gestalt: “Wenn du wissen willst, wer ich bin, da hast du es. ” Damit verschwand sie und mit ihr die Laterne, so daß ich im Dunkel zurückblieb. Da schickte ich mich an, wieder zu Bett zu gehen; aber unterwegs stieß ich an einen Koffer oder an ein Bett und stolperte über etwas anderes und erwachte.”

Nachdem er uns das erzählt hatte, machte er uns klar, daß jene Katzen, welche die schlafenden Jungen angegriffen hatten, die Feinde unserer Seelen versinnbildeten. Sie sind immer um uns herum, um uns zu Fall zu bringen, wenn wir in der Gnade Gottes sind. Sie bringen uns um, wenn wir nicht in der Gnade Gottes sind, falls Gott es ihnen erlaubt, daß er unserer müde geworden ist.

“Ich erkannte jenen Jungen”, so fuhr Don Bosco fort, “von dem mir die Erscheinung sagte, daß er am Josefsfest sterben müßte. Ich sage aber keinem, wer es sei, um nicht zuviel Schrecken zu bereiten. Wir wollen sehen, ob dieser Traum in Erfüllung geht. Indessen halten wir uns alle bereit, um gut sterben zu können. Denen, die zu mir zum Beichten kommen, werde ich noch einen besonders guten Rat geben.”

Als dann das Josefsfest vorbei war, sagte er uns, daß gerade am Feste dieses Heiligen ein Junge aus dem Oratorium zu Hause gestorben sei.

Im Nachruf des Oratoriums liest man: “Am 19. März 1866 starb Lupotto Simone im Alter von 18 Jahren . . . Gemäß der Vorhersage Don Boscos feierte er das Fest des heiligen Josef, den er sehr verehrt hatte, im Himmel.”

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DIE ZIEGENBÖCKLEIN

(Lem. VIII, 315)

Der Brief Semerias fährt fort:

“An einem anderen Tage erzählte Don Bosco: Ich träumte, ich wäre in der Sakristei. Sie war mit Jungen gefüllt, die alle beichten wollten. Siehe da, ein Ziegenböcklein kam durch die Sakristei und lief zwischen meinen Jungen herum. Es fing mit dem einen und dem andern an zu spielen; diese verloren dadurch den guten Willen zum Beichten und schließlich ging einer nach dem andern hinaus. Zuletzt näherte sich das Böcklein auch mir und hatte die Dreistigkeit, mit seinen verführerischen Liebkosungen den Jungen von mir zu entfernen, dessen Beichte ich gerade hörte und dicht an meiner Brust hielt. Zornig gab ich dem Tier einen Faustschlag auf den Kopf, brach ihm ein Horn ab und zwang es zur Flucht. Dem Sakristan wollte ich noch einen Vorwurf machen, weil er das Böcklein hereingelassen hatte.

Indessen erhob ich mich, legte die heiligen Gewänder an und ging hinaus, die heilige Messe zu feiern. Bei der heiligen Kommunion kam durch den Haupteingang der Kirche nicht nur ein, sondern eine ganze Menge Böcklein; sie zwängten sich hier und da in die Bänke und nahmen den Jungen, die zum Tisch des Herrn gehen wollten, die Lust dazu. Einige Jungen hatten sich schon erhoben, um zum Altar zu gehen; aber angelockt von den bösen Spielen, nahmen sie ihren Platz wieder ein. Andere waren schon an der Ballustrade, manche hatten sich schon am Altar niedergekniet, gingen aber wieder zurück ohne zu kommunizieren.

Diese Ziegenböcklein sind die Feinde der Seele, die mit Zerstreuungen und ungeordneten Neigungen die Jungen vom Sakramentenempfang abhalten.”

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DER HIRT UND SEINE HERDE

(Lem. VIII, 840-845)

Am 13. Juni 1867 hatte Don Bosco seinen Jungen angekündigt, er würde ihnen bald einen großen Traum erzählen, den er vor kurzem gehabt hatte. Drei Tage später, am 16. Juni abends, löste er sein Versprechen ein und berichtete:

“In einer der letzten Nächte des Maimonats, am 29. oder 30. Mai, war ich zu Bett gegangen und konnte nicht einschlafen. Ich dachte an meine lieben Jungen und sagte zu mir: “Wenn ich doch etwas zu ihrem Heile träumen könnte. ” Nachdem ich noch eine Weile darüber nachgedacht hatte, beschloß ich: “Ja, jetzt will ich einen Traum für die Jungen tun. ” Dann schlief ich ein. Kaum aber war ich eingeschlafen, begann ich zu träumen. Mir war, als sei ich auf einer weiten Ebene, auf der sich zahlreiche kräftige Schafe befanden. Diese waren in verschiedene Herden eingeteilt und weideten auf Wiesen, die sich ausdehnten, so weit das Auge reichte. Ich wollte mich ihnen nähern und versuchte, den Hirten zu suchen. Dabei wunderte ich mich, daß jemand auf der Welt so viele Schafe haben konnte. Schon nach kurzem Suchen fand ich den Hirten. Er stand da auf seinen Stab gelehnt. Sogleich fragte ich ihn: “Wem gehören diese vielen, vielen Schafe?”

Da der Hirt nicht antwortete, wiederholte ich meine Frage. Endlich sagte er: “Was geht das dich an?” “Warum antwortest du mir in dieser Weise?”, fragte ich. “Nun gut, diese Herde gehört ihrem Herrn. ” Ihrem Herrn? Das wußte ich auch, sagte ich zu mir selbst. Aber dann fuhr ich laut fort: “Wer ist dieser Herr?” Und der Hirt antwortete: “Mache dir keine Mühe, du wirst es noch erfahren.”

Dann ging ich mit ihm durch das Tal, prüfte die Schafe und jene Gegend, in der sie herumgingen. Das Tal war an einigen Stellen mit reichem Grün bedeckt und mit Bäumen, die ihre Zweige weit ausbreiteten und angenehmen Schatten spendeten. Dort wuchs sehr frisches Gras, und es weideten dort schöne, kräftige Schafe. An anderen Stellen war die Ebene unfruchtbar, sandig und voller Steine. Dort wuchsen Dornsträucher, ohne Blätter, mit gelblichen Kletten; aber nicht ein einziges frisches Gräslein wuchs dort. Und doch weideten auch hier viele Schafe; aber sie sahen elend aus. Verschiedene Male fragte ich den Hirten um Auskunft über die Herde. Er aber sagte mir, ohne auf meine Fragen zu antworten: “Du bist nicht für sie bestimmt. An diese Schafe darfst du nicht denken. Ich werde dir die Herde zeigen, für die du sorgen sollst.”

“Wer bist du denn eigentlich?”

“Ich bin der Herr. Komm mit und sieh dort nach jener Seite.”

Er führte mich zu einem anderen Teil der Ebene. Dort befanden sich Tausende und Abertausende Lämmlein, ja so viele, daß ich sie nicht zählen konnte. Sie waren sehr mager und vermochten nur mit Mühe zu gehen. Die Weide war trocken, dürr und sandig. Kein frisches Gras und auch kein Bach war zu sehen, nur ausgedürrtes Gestrüpp und vertrocknete Sträucher. Jeder Weidefleck war von den Lämmlein selbst vollständig verwüstet. Schon auf den ersten Blick sah man, daß diese armen Tiere mit Wunden bedeckt waren und schon viel durchgemacht hatten. Sie litten auch jetzt noch. Merkwürdig! Jedes hatte zwei dicke Hörner auf der Stirn, wie alte Tiere, und an der Spitze der Hörner war ein Auswuchs in der Form eines “S”. Ich stand da und war ganz verwundert und verdutzt über den seltenen und neuartigen Auswuchs. Ich konnte mich gar nicht beruhigen, daß die Lämmlein schon so lange, dicke Hörner besaßen und so schnell ihre ganze Weide verwüstet hatten. So fragte ich den Hirten. “Wie geht denn das zu, daß diese Lämmlein schon so große Hörner haben, obwohl sie noch so klein sind?”

“Schau her”, sagte er, “beobachte!”

Ich sah genauer hin und entdeckte, daß die Lämmer am ganzen Körper, auf dem Rücken, auf dem Kopf, an der Schnauze, den Ohren und der Nase, auf den Beinen und Klauen die Zahl “3” als Ziffer aufgedruckt trugen. Was soll das bedeuten fragte ich, ich verstehe es nicht.”

“Weshalb verstehst du es nicht?” fragte der Hirte. Hör zu, und du wirst alles begreifen. Diese weite Ebene ist die große Welt. Die grasreichen Stellen sind das Wort Gottes und die Gnade. Die unfruchtbaren und dürren Stellen sind jene Orte, wo man das Wort Gottes nicht anhört und nur der Welt zu gefallen sucht. Die Schafe sind die Erwachsenen, die Lämmer sind die Jungen, und für diese hat Gott Don Bosco gesandt. Dieser Teil der Ebene ist das Oratorium und die Lämmer da sind deine Kinder. Dieser dürre Ort stellt den Zustand der Sünde dar. Die Hörner bedeuten Unehre, Schande.

Der Buchstabe ‚S' heißt ‚scandalo', Ärgernis. Sie gaben schlechtes Beispiel und gehen zugrunde. Unter diesen Lämmern sind einige, welche die Hörner abgebrochen haben. Sie gaben Ärgernis, haben nun aber davon abgelassen. Die Zahl 3 bedeutet, daß sie die Strafe für ihre Schuld erleiden, und zwar einen dreifachen Mangel: einen geistlichen, einen moralischen und einen materiellen. 1. Einen Mangel an geistlichen Hilfen; sie werden nach geistlicher Hilfe verlangen, aber nicht erhalten. 2. Mangel am Wort Gottes. 3. Mangel an Brot und Nahrung. Dieses Bild stellt auch die wirklichen Leiden vieler Jungen in der Welt dar. Im Oratorium fehlt auch den Unmündigen das Brot und die Nahrung nicht.”

Während ich in Gedanken verloren alles hörte und beobachtete, siehe da, ein neues Wunder! Die Lämmer verwandelten alle ihr Aussehen. Sie stellten sich auf die Hinterbeine, wuchsen und nahmen die Gestalt von Jungen an. Ich trat näher hinzu um zu sehen, ob ich einen von ihnen erkennen würde. Es waren alles Jungen vom Oratorium. Viele von ihnen hatte ich aber niemals gesehen, jedoch sie alle erklärten, sie seien aus unserem Oratorium. Unter denen, die mir nicht bekannt waren, waren auch einige, die sich jetzt zur Zeit im Oratorium befinden. Es sind die, die niemals zu Don Bosco kommen, sich keinen Rat von ihm holen, die ihn fliehen, mit einem Wort, die Don Bosco nicht kennt. Die große Mehrheit der Unbekannten aber waren solche, die noch nicht im Oratorium waren oder sind.

Während ich voller Sorge die Schar betrachtete, nahm mich mein Begleiter bei der Hand und sagte: “Komm mit, und du wirst noch etwas ganz anderes sehen!” Und er führte mich in einen abgelegenen Winkel des Tales. Dieser war von kleinen Hügeln umgeben und mit einer Hecke üppiger Pflanzen eingezäunt. Dort war eine grüne Wiese, wie man sie sich nicht schöner vorstellen kann. Sie war voll von duftenden Kräutern, Feldblumen, frischen Büschen und klaren Bächen. Dort fand ich eine große Anzahl anderer Jungen vor, die alle sehr fröhlich waren. Sie wanden sich aus den Wiesenblumen ein sehr schönes und herrliches Gewand. “Wenigstens machen dir diese Freude”, sagte mein Begleiter. “Wer sind sie denn?” fragte ich. “Es sind die, die sich in der Gnade Gottes befinden. ” Ja, ich habe nie so schöne, strahlende Dinge und Menschen gesehen und hätte mir niemals diesen Glanz vorstellen können. Es wäre verlorene Mühe, all dies zu beschreiben; denn es läßt sich nicht ausdrücken, was ich alles sah.

Aber noch ein anderes überraschendes Bild war mir vorbehalten. Während ich dort stand und die Jungen, von denen ich viele nicht kannte, mit großer Freude beobachtete, sagte mein Führer: “Komm, komm nur mit, ich zeige dir noch etwas, was dir noch größere Freude und Zufriedenheit bereiten wird. ” Er führte mich zu einer anderen Wiese, die über und über mit Blumen prangte. Sie war größer und duftender als die, die ich vorher gesehen hatte. Sie sah aus wie ein fürstlicher Garten. Hier befanden sich zwar nicht so viele Jungen, aber sie waren dafür von außerordentlicher Schönheit und verbreiteten einen solchen Glanz, daß die vorher geschauten Jungen dagegen verschwanden. Einige von ihnen befinden sich bereits im Oratorium und andere werden später noch kommen.

“Diese”, sagte der Hirte, “haben die Lilie der Reinheit bewahrt, sie sind noch mit dem Gewande der Unschuld bekleidet. ” Ich betrachtete sie mit Entzücken. Fast alle hatten auf dem Haupte einen aus Blumen geflochtenen Kranz, der unbeschreiblich schön war. Die Blumen selbst setzten sich aus sehr kleinen Blüten von überraschender Lieblichkeit zusammen, und ihre Farben entzückten durch ihre Leuchtkraft und Verschiedenheit. Mehr als tausend Farben gewahrte man an einer einzigen Blume, und an dieser wieder mehr als tausend Blüten. Den Jungen reichten leuchtendweiße Gewänder bis zu den Füßen. Die Kleider waren ganz mit Blumengirlanden durchwirkt, die den Kränzen auf ihrem Haupte glichen. Ein bezauberndes Licht, das von den Blumen ausging, umgab die ganze Person und in ihm strahlte die ganze Freude wider. Die Blumen spiegelten sich ineinander, die Blumen aus dem Kranz in denen der Girlanden, und jede warf die Strahlen zurück, die von den anderen ausgingen. Der Strahl einer Farbe bildete, wenn er auf einen anderen traf, neue, verschiedenartig glitzernde Strahlen, und so entstanden von jedem Strahl neue Strahlen. Nie hätte ich geglaubt, daß im Paradies ein so vielfältiges Entzücken sei. Das war aber noch längst nicht alles. Die Strahlen und Blumen aus den Kränzen der einen spiegelten sich in den Blüten und Strahlen aller anderen. Ebenso war es mit der Pracht der Girlanden und der Kleider. Der Glanz, der von dem Antlitz eines Jungen kam, spiegelte sich und verschmolz mit dem, der aus dem Angesicht der Gefährten ausstrahlte. Und da er hundertfach auf all den unschuldigen, klaren Gesichtern widerstrahlte, entstand ein solch starkes Licht, daß es einen blendete und man den Blick abwenden mußte. Schließlich strömten in einem einzigen Strahl alle anderen zusammen und bildeten eine Harmonie von unaussprechlichem Licht.

Das war die derzeitige Herrlichkeit der Heiligen. Es gibt kein menschliches Bild, um auch nur schwach anzudeuten, wie schön jeder dieser Jungen in diesem Meer von strahlendem Licht war. Unter ihnen achtete ich besonders auf einige, die jetzt im Oratorium sind, und ich bin sicher, wenn sie auch nur den zehnten Teil deren augenblicklichen Herrlichkeit sehen könnten, wären sie sofort bereit, ins Feuer zu gehen, sich in Stücke reißen zu lassen, überhaupt jedes, auch noch so entsetzliche Martyrium auf sich zu nehmen, als diesen Glanz zu verlieren.

Als ich nach diesem himmlischen Anblick wieder etwas zu mir kam, wandte ich mich an meinen Führer und fragte: “Aber sind unter meinen vielen Jungen nur so wenig Unschuldige? Sind es nur so wenige, die der Gnade Gottes entsprochen haben?” Und der Hirt entgegnete: “Wie, dir scheint diese Zahl nicht groß genug? Übrigens können die anderen, die die schöne Lilie der Reinheit und damit die Taufunschuld verloren haben, ihren Gefährten durch die Buße folgen. Siehst du dort? Dort auf der Wiese befinden sich noch viele Blumen. Nun wohl, daraus können sie sich einen Kranz flechten und ein schönes Gewand weben und den Unschuldigen in der Herrlichkeit folgen.”

Da bat ich meinen Begleiter: “Gib mir noch einige Ratschläge, die ich meinen Jungen geben kann. ” Und er antwortete: “Wiederhole deinen Jungen immer wieder, daß sie zu jedem Opfer bereit sein würden, wenn sie wüßten, wie schön und kostbar die Tugend der Reinheit in den Augen Gottes ist. Sage ihnen, sie sollten mutig diese leuchtende Tugend üben, welche die übrigen an Glanz und Schönheit übertrifft; denn die Keuschen wachsen wie die Lilien vor dem Angesichte des Herrn (crescunt tamquam lilia in conspectu Domini).”

Nun wollte ich zu denen gehen, die ich so sehr liebte, die so reich bekränzt waren; aber ich stolperte über etwas am Boden. Darüber erwachte ich und ich befand mich im Bett. —

Meine lieben Jungen, seid ihr alle unschuldig? Vielleicht gibt es noch einige unter euch und an diese richte ich meine Worte. Um des Himmels willen, verliert mir nicht dieses so unschätzbare Gut. Es ist ein Reichtum, der soviel gilt wie das Paradies, ja, wie Gott selbst! Wenn ihr gesehen hättet, wie schön diese Jungen waren! Das Geschaute war in seiner Gesamtheit so schön, daß ich alles auf der Welt hergegeben hätte, um mich weiter dieses Anblickes zu erfreuen. Wenn ich Maler gewesen wäre, hätte ich es für eine große Gnade gehalten, all das wiedergeben zu können, was ich gesehen habe. Wenn ihr die Schönheit eines unschuldigen Menschen kennen würdet, würdet ihr alle auch noch so unangenehme Entbehrung und Mühe, ja selbst den Tod auf euch nehmen, um den Schatz der Unschuld zu bewahren. Die Zahl derer, die die Gnade zurückgewonnen hatten, bereitete mir großen Trost. Ich hatte allerdings gehofft, daß sie noch größer wäre. Erstaunt war ich aber auch darüber, daß einer, der hier ein guter Junge zu sein scheint, dort lange und dicke Hörner hatte . . .”

Don Bosco schloß mit einer warmen Ermahnung an diejenigen, welche die Unschuld verloren hatten, damit sie sich bereitwillig bemühen, die verlorene Gnade durch die Buße zurückzugewinnen.

Zwei Tage später, am 18. Juni, stieg Don Bosco wieder auf das Podium und erläuterte den Traum. Er sagte: “Eigentlich wären keine Erklärungen des Traumes notwendig; doch ich wiederhole noch einmal, was ich bereits gesagt habe. Die große Ebene bedeutet die Welt, also auch die Orte und der Zustand, aus denen alle Jungen hierher gerufen wurden. Die Stelle, an der die Lämmer waren, ist das Oratorium. Die Lämmer sind alle Jungen, die im Oratorium waren, jetzt noch sind und hier sein werden. Die drei Wiesen, die dürre, die grüne und die blühende, bezeichnen jeweils den Stand der Sünde, den der Gnade und den der Unschuld. Die Hörner der Lämmer sind die Ärgernisse, die bisher gegeben wurden.

Einige waren da mit abgebrochenen Hörnern. Diese waren Verführer, haben aber jetzt aufgehört Ärgernis zu geben. Die Zahl “3”, die auf jedes Lamm gedruckt war, bedeutet, wie ich vom Hirten erfuhr, drei Strafen, die Gott über die Jungen schickt: 1. Mangel an geistlichen Hilfen, 2. Mangel an moralischer Hilfe oder Entbehrung religiöser Unterweisung und des Wortes Gottes, 3. Entbehrungen materieller Art oder Mangel am Lebensunterhalt. Die leuchtenden Jungen sind die, welche noch die Taufunschuld und die schöne Tugend der Reinheit bewahrt haben. Welche Herrlichkeit erwartet sie!

Liebe Jungen! Machen wir uns alle mutig daran, die Tugend zu üben. Wer nicht in der Gnade Gottes ist, der sorge mit gutem Willen dafür, daß er sie wieder erlangt, und dann beharre er in der Gnade mit aller Kraft und mit der Hilfe Gottes bis zum Tode. Wenn wir nicht alle bei den Unschuldigen und um das Unbefleckte Lamm herum sein können, dann können wir ihm doch wenigstens folgen. Einer erkundigte sich bei mir, ob er auch bei den Unschuldigen gewesen sei. Ich antwortete ihm: “Nein, denn du hattest Hörner, allerdings abgebrochene”. Dann fragte er, ob er Wunden hätte, und ich entgegnete: “Ja. ” Dann wollte er wissen, was diese Wunden bedeuten, und ich sagte ihm: “Habe keine Furcht. Sie sind vernarbt und werden verschwinden. Diese Wunden sind jetzt nicht mehr entehrend, wie auch die Narben eines Soldaten nicht entehrend sind, der trotz so vieler Verwundungen und, obwohl der Feind mit aller Kraft gegen ihn anstürmte, die Angriffe zu überwinden wußte und den Sieg davontrug. Es sind also ehrenvolle Wunden! Aber noch ehrenvoller ist es, wenn einer inmitten der Feinde tapfer kämpft und ohne jede Verwundung durchkommt. Seine Unversehrtheit erregt die Bewunderung aller.”

Als Don Bosco diesen Traum erklärte, sagte er auch, es würde nicht mehr lange dauern, bis man die drei Übel: Pest, Hunger und die Nachlässigkeit im Guten bemerken würde.

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DAS FEGFEUER

(Lem. VIII, 853-858)

Am 25. Juni 1867, nach dem gemeinsamen Abendgebet, erzählte Don Bosco seiner ganzen Jungenschar folgenden Traum. “Gestern abend, meine lieben Buben, hatte ich mich hingelegt. Da ich nicht recht einschlafen konnte, dachte ich über die Seele nach: über ihre Natur, ihre Art zu existieren, wie sie wohl beschaffen ist, wie sie im anderen Leben vom Körper getrennt sein und sprechen werde, wie sie es anstelle, sich von einem Ort zum andern zu bewegen, wie wir uns beim Wiedersehen erkennen werden, da wir nach dem Tode doch nichts anderes als reine Geister sind. Je mehr ich darüber nachdachte, um so undurchdringlicher schien mir das Geheimnis.

Während ich mich in diesen und ähnlichen Vorstellungen erging, schlief ich ein, und es schien mir, ich ginge den Weg nach . . . (und er nannte die Stadt). Ich wanderte eine kurze Zeit und durchstreifte mir unbekannte Landschaften. Auf einmal hörte ich mich beim Namen gerufen. Es war die Stimme einer Person, die am Wege stand. Sie sagte: “Komm mit, du kannst jetzt sehen, was du sehen möchtest.”

Ich gehorchte sofort. Jene Person eilte mit Gedankengeschwindigkeit vorwärts; und ich ebenso schnell. Wir gingen, ohne mit den Füßen den Boden zu berühren. Als wir in eine bestimmte Gegend gekommen waren — ich weiß nicht, wo das war —, da hielt mein Führer an. Hoch oben erhob sich ein prächtiger Palast, der herrlich gebaut war. Ich weiß nicht wo, oder auf welcher Anhöhe er sich befand. Ich erinnere mich auch nicht mehr, ob er auf einem Berge oder in der Luft auf den Wolken war. Er war unzugänglich. Man sah keine Straße, die zu ihm hinaufführte. Seine Tore waren in beträchtlicher Höhe.

“Schau! Steig hinauf in den Palast!” sagte der Führer zu mir. “Wie soll ich das anfangen?” erwiderte ich. “Wie kann ich dorthin gelangen? Hier unten ist kein Eingang und Flügel habe ich nicht. ” “Geh nur hinein!” wiederholte der andere gebieterisch. Als er aber sah, daß ich mich nicht bewegte, sagte er: “Mach es wie ich. Hebe die Arme und wolle entschieden, und du wirst emporsteigen. Komm mit mir!” Bei diesen Worten hob er die Arme zum Himmel empor. Auch ich streckte meine Arme aus und fühlte mich sofort in die Luft emporsteigen, einer leichten Wolke gleich. Bald befand ich mich auf der Schwelle des großen Palastes. Der Führer war bei mir.

Da fragte ich ihn: “Was befindet sich da drinnen?”

“Geh nur hinein und sieh es dir an! Hinten, in einem Saal wirst du jemanden finden, der dir Bescheid sagt.”

Der Führer verschwand und ich blieb allein, mir selbst überlassen. Ich trat in die Säulenhalle ein, stieg die Treppen empor und befand mich in einem wahrhaft königlichen Raum. Ich durcheilte viele Säle, Gemächer mit prächtigen Ornamenten und lange Gänge. So kam ich mit übernatürlicher Schnelligkeit vorwärts. Jeder Saal glänzte von überraschenden Prunkstücken und Schätzen. Es war mir aber nicht möglich, mir alle zu merken, so schnell durchstreifte ich die vielen Räume. Doch das Erstaunlichste war folgendes: um mit Windeseile voranzukommen, brauchte ich meine Füße nicht zu bewegen. Ich schwebte in der Luft und hielt die Füße beisammen. Mühelos fuhr ich dahin, wie auf einem Kristall, ohne jedoch das Pflaster zu berühren. So kam ich von einem Raum in den anderen und sah schließlich hinten, am Ende eines Ganges, eine Türe. Ich trat durch sie ein und befand mich in einem großen Saal, der noch prächtiger war als alle anderen. An seinem äußersten Ende gewahrte ich einen Bischof, majestätisch auf einem Thronsessel sitzend, gleichsam als erwarte er jemanden zur Audienz. Ich näherte mich ihm mit Ehrfurcht und war höchst verwundert, als ich in jenem Prälaten einen lieben Freund erkannte. Es war der Bischof von X. , Monsignore N. (er nannte den Namen), der vor zwei Jahren gestorben war. Er sah in keiner Weise leidend aus, er war blühend frisch, freundlich und unbeschreiblich schön.

“Oh, Monsignore, sind Sie hier?” rief ich sehr erfreut aus. “Wie Sie sehen”, antwortete der Bischof. “Aber wie geht denn das zu? Leben Sie noch? Sind Sie nicht gestorben?”

“ Sicher, ich bin gestorben. ” — “Ja, wenn Sie doch gestorben lind, wie sitzen Sie denn hier so blühend und wohlbehalten? Wenn Sie noch leben, dann sagen Sie es nur um des Himmels willen, sonst gibt es eine ganz verwickelte Angelegenheit. In X. ist nämlich schon ein anderer Bischof, Monsignore Y. , und wie wollen Sie denn diese Geschichte in Ordnung bringen?” — “Seien Sie nur ruhig, machen Sie sich keine Sorgen darüber, daß ich wirklich gestorben bin . . .”

“Nun wohl, sonst wäre nämlich schon ein anderer an Ihrem Platze. ” — “Das weiß ich. Und Sie, Don Bosco, sind Sie auch gestorben oder leben Sie noch?” — “Ich lebe. Sehen Sie mich denn nicht hier mit Leib und Seele?” — “Hierher kann man nicht mit dem Leibe kommen. ” — “Aber ich bin doch da. ” “Das kommt Ihnen nur so vor, als wären Sie da; aber es ist nicht so . . . ” Da fing ich schnell an zu reden, stellte Frage auf Frage, ohne aber eine Antwort zu erhalten.

“Wie ist es möglich”, sagte ich, “daß ich, der ich noch lebe, hier bei Ihnen sein kann, obwohl Sie schon gestorben sind?” Ich bekam Angst, der Bischof möchte verschwinden. Deshalb bat ich ihn: “Monsignore, um des Himmels willen, entfliehen Sie mir nicht. Ich muß so vieles von Ihnen wissen.”

Als der Bischof mich so erregt sah, bemerkte er: “Seien Sie ganz ruhig, ich werde nicht fortgehen, fragen Sie nur. ” — “Monsignore, sagen Sie mir, sind Sie gerettet?” — “Sehen Sie mich an, wie ich rüstig, frisch und strahlend bin. ” Sein Aussehen gab mir wirklich Hoffnung, daß er gerettet war. Aber das genügte mir noch nicht und ich fing wieder an: “Aber sagen Sie mir doch, sind Sie gerettet oder nicht?” — “Ja, ich bin am Orte der Rettung. ” — “Aber sind Sie denn im Paradies beim Herrn oder im Fegfeuer?” — “Ich bin am Orte der Rettung; aber Gott habe ich noch nicht gesehen. Ich habe nötig, daß ihr für mich betet. ” “Wie lange werden Sie noch im Fegfeuer bleiben müssen?” “Sehen Sie hier!” Er reichte mir ein Stück Papier und fügte hinzu: “Lesen Sie!” Ich nahm das Papier und sah es genau an; aber ich bemerkte nichts Geschriebenes und sagte: “Ich sehe nichts darauf. ” — “Sehen Sie zu, was da geschrieben steht. Lesen Sie!” — “Ich habe schon nachgesehen und tue es noch; aber lesen kann ich nicht, denn es steht hier nichts geschrieben. ” — “Sehen Sie genauer hin!” — “Ich sehe ein Papier mit roten, hellblauen, grünen und violetten Blumenmustern, aber von Buchstaben keine Spur. ” — “Es sind Ziffern dort. ” — “Ich sehe weder Ziffern noch Zahlen. ” Der Bischof blickte auf das Papier, das ich in den Händen hielt und sagte dann: “Nun weiß ich, warum Sie nicht verstehen. Nehmen Sie das Papier von der anderen Seite. ” Ich untersuchte das Blatt mit größter Aufmerksamkeit, drehte es nach allen Seiten, aber weder oben noch unten konnte ich etwas lesen. Nur schien es mir, als erblickte ich beim Drehen und Wenden in den Blumenzeichnungen die Zahl 2”.

Der Bischof fuhr fort: “Wissen Sie, warum man von der anderen Seite lesen muß? Weil die Urteile des Herrn andere sind als die der Welt. Das, was man bei den Menschen für Weisheit hält, ist Torheit bei Gott.”

Ich wagte nicht, auf einer deutlicheren Erklärung zu bestehen und sagte: “Monsignore, trachten Sie nicht darnach, mir zu entweichen. Ich möchte noch andere Fragen an Sie stellen.”

“Fragen Sie nur, ich höre zu.”

“Werde ich mich retten?” — “Hoffen Sie es. ” — “Machen Sie meiner Qual ein Ende. Sagen Sie mir schnell, ob ich mich retten werde. ” — “Das weiß ich nicht. ” — “Dann sagen Sie mir wenigstens, ob ich in der Gnade Gottes bin oder nicht. ” — “Ich weiß es nicht. ” — “Aber ich bitte Sie, haben Sie doch die Güte und sagen Sie es mir. ” — “Sie haben Theologie studiert, und daher können Sie die Antwort wissen und sie sich selbst geben.”

“Wie, Sie sind am Orte der Rettung und wissen diese Dinge nicht?” — “Sehen Sie, der Herr läßt dies wissen, wen er will. Und wenn er will, daß dieses Wissen mitgeteilt werden soll, gibt er dazu den Befehl und die Erlaubnis. Anders kann niemand den noch Lebenden solches kundtun.”

Mich drängte eine lebhafte Sucht, in einem fort zu fragen und ich fragte in Eile, aus Furcht, der Bischof würde sich zurückziehen. “Nun sagen Sie mir doch etwas, was ich den Jungen von Ihnen erzählen soll. ” — “Sie wissen so gut wie ich, was Sie tun sollen. Sie haben die Kirche, das Evangelium und die Heilige Schrift, die Ihnen alles sagen. Sagen Sie ihnen, sie sollen ihre Seele retten; denn alles andere ist nutzlos.”

“Das wissen wir schon, daß wir die Seele retten müssen. Geben Sie mir eine besondere Anweisung, wie man sie retten kann, als Andenken an Sie. Ich werde das den Jungen in Ihrem Namen kundtun. ” — “Sagen Sie ihnen, daß sie gut werden und gehorsam sein sollen.”

“Wer weiß denn diese Dinge nicht. ” — “Sagen Sie ihnen, sie sollen sittsam sein und beten. ” — “Drücken Sie sich doch praktischer aus. ” — “Sagen Sie ihnen, daß sie oft beichten und kommunizieren müssen. ” — “Noch etwas Genaueres. ” — “Ich will es Ihnen sagen, da Sie es wollen. Sagen Sie ihnen, daß sie einen Nebel vor den Augen haben. Wenn einer dazu kommt, diesen Nebel zu sehen, ist er schon ein gutes Stück voran. Sie mögen den Nebel fortschaffen, wie man in den Psalmen liest: Nubem dissipe — Zerstreue den Nebel. ” — “Was ist denn dieser Nebel eigentlich?” — “Es sind alle Dinge der Welt, die uns daran hindern, die himmlischen Dinge zu sehen, wie sie sind. ” — “Und was müssen wir tun, um diesen Nebel fortzubringen?” — “Sie mögen die Welt so nehmen, wie sie ist: mundus totus in maligno positus est — Die ganze Welt liegt im argen. Dann werden sie die Seele retten. Sie sollen sich nicht vom Schein der Welt täuschen lassen. Die Jungen meinen, daß die Vergnügen, Freuden und Freundschaften der Welt sie glücklich machen können und warten nur auf den Augenblick, sie zu genießen. Sie mögen aber daran denken, daß alles Eitelkeit und Geistesplage ist. Sie mögen sich daran gewöhnen, die Dinge der Welt zu sehen, nicht wie sie scheinen, sondern wie sie sind.”

“Wodurch entsteht dieser Nebel hauptsächlich?”

“Wie die Tugend, die am meisten im Paradies leuchtet, die Reinheit ist, so entsteht Finsternis und Nebel hauptsächlich durch die Sünden der Unsittlichkeit und Unreinheit. Das ist wie eine schwarze, sehr dichte Wolke, welche die Sicht nimmt und die Jungen hindert, den Abgrund zu sehen, auf den sie zugehen. Sagen Sie ihnen deshalb, daß sie sorglich die Tugend der Reinheit bewahren sollen; denn die sie besitzen, florebunt sicut lilium in civitate Dei — werden wie die Lilie im Reiche Gottes blühen. ” — “Was ist nötig, um die Reinheit zu bewahren? Sagen Sie es mir, damit ich es meinen lieben Jungen in Ihrem Namen kundtue.”

“Notwendig sind: Zurückhaltung, Gehorsam, Fliehen des Müßigganges und Gebet. ” — “Und was noch?” — “Gebet, Fliehen des Müßigganges, Gehorsam und Zurückhaltung. ” — “Sonst nichts?” — “Gehorsam, Zurückhaltung, Gebet und Fliehen des Müßigganges. Empfehlen Sie ihnen diese Dinge. Sie genügen. ” Ich wollte noch soviel fragen, aber es fiel mir nichts mehr ein. Als nun der Bischof mit dem Sprechen aufgehört hatte, verließ ich eilig den Saal und lief ganz begierig zum Oratorium, um euch diese Ratschläge mitzuteilen. Ich flog mit der Schnelligkeit des Windes dahin und fand mich in einem Augenblick am Eingang des Oratoriums. Da blieb ich stehen und dachte: “Warum bin ich nicht länger beim Bischof X. geblieben? Ich hätte noch weit mehr erfahren können! Ich habe übel daran getan, mir eine so günstige Gelegenheit entfliehen zu lassen. Ich hätte noch so viele andere schöne Dinge lernen können.”

Schnell eilte ich mit der gleichen Geschwindigkeit zurück, mit der ich gekommen war, besorgt, Monsignore nicht mehr anzutreffen. Wiederum betrat ich jenen Palast und bald darauf den Saal. Aber welche Veränderung war in den wenigen Augenblicken vor sich gegangen. Der Bischof war nun sehr bleich, wie Wachs, und lag auf einem Bett. Er sah aus wie eine Leiche. In seinen Augen standen ihm die letzten Tränen. Er lag im Todeskampf. Nur an einer geringen Bewegung der Brust, in letztem Röcheln, gewahrte man, daß er noch lebte. Ich näherte mich ihm bekümmert. “Monsignore”, fragte ich ihn, “was ist geschehen?” — “Lassen Sie mich”, antwortete er mit einem Seufzer. “Monsignore, ich hätte noch viel zu fragen.”

“Lassen Sie mich allein, ich leide sehr. ” — “Aber was kann ich für Sie tun?” — “Beten Sie für mich und lassen Sie mich gehen. ” — “Wohin?” — “Dorthin, wohin mich Gott mit seiner allmächtigen Hand führt. ” — “Aber ich bitte Sie, Monsignore, sagen Sie mir wohin!” — “Ich leide zu sehr, lassen Sie mich!” — “Dann sagen Sie mir wenigstens, was ich für Sie tun kann”, wiederholte ich. — “Beten Sie!” — “Nur noch ein Wort: Haben Sie keinen Auftrag, den ich in der Welt ausführen kann? Soll ich ihrem Nachfolger nichts bestellen?” — “Gehen Sie zum jetzigen Bischof von X. und sagen Sie ihm von mir das und das. ” Was er sagte, ist nichts für euch, meine lieben Jungen, und deshalb lasse ich es weg.

Der Bischof fuhr noch fort: “Ferner sagen Sie den und den Personen diese und jene geheimen Dinge. ” (Auch über diese Aufträge schwieg Don Bosco; aber es scheint, daß das Erste wie auch das Zweite Ermahnungen und Heilmittel für gewisse Nöte jener Diözesen waren.)

“Sonst nichts?” fragte ich noch. “Sagen Sie Ihren Jungen, daß sie mein Wohlwollen immer in reichem Maße besaßen. Solange ich noch lebte, habe ich für sie gebetet und auch jetzt vergesse ich sie nicht. Nun mögen sie auch für mich beten. ” — “Dessen seien Sie sicher, ich werde das bestellen und sofort werden wir für Sie zu beten anfangen. Sie aber mögen, gleich wenn Sie im Paradiese sind, unserer gedenken.”

Der Bischof sah inzwischen noch leidender aus. Es war eine Qual, ihn anzusehen. Er litt sehr. Es war ein außerordentlich schwerer Todeskampf. “Lassen Sie mich”, sagte er noch, “lassen Sie mich gehen, wohin der Herr mich ruft. ” — “Monsignore! — Monsignore!” stammelte ich, immer wieder von neuem durch unsagbares Mitleid gedrängt. “Lassen Sie mich, lassen Sie mich!” Es schien nun mit ihm zu Ende zu gehen. Eine unsagbare Macht zog ihn von dort in ein weiter zurückgelegenes Zimmer. So verschwand er.

Erschrocken und bewegt von solchem Leiden, wandte ich mich zur Umkehr. Aber ich stieß in jenem Saal mit dem Knie gegen etwas, erwachte und befand mich in meinem Zimmer zu Bett. Wie ihr seht, ist das ein Traum wie alle anderen Träume, und das, was euch betrifft, braucht keine Erklärungen; denn es wird wohl von allen verstanden worden sein. In diesem Traum habe ich sehr viel über die Seele und das Fegefeuer gelernt. in dem Umfange, wie jetzt, habe ich diese Dinge noch nie verstanden. Ich sah alles so klar, daß ich es niemals vergessen werde.”

“So endet die Erzählung unserer Erinnerungen. Es scheint, daß dem Heiligen in zwei verschiedenen Bildern der Stand der Gnade der Seelen im Reinigungsorte und ihre Sühneleiden dargestellt wurde. ” (Lem. VIII, 859.)

“Ich, der Schreiber, fragte einige Zeit nachher Don Bosco, ob er die Aufträge, die er von jenem Bischof erhalten hatte, auch ausgeführt hätte. Im Vertrauen, mit dem er mich ehrte, antwortete er mir: “Ja, ich habe meine Aufgabe getreulich ausgeführt. ” (Lem. VIII, 859.)

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DAS NEUJAHRSGESCHENK

(Lem. IX, 11-17)

Geträumt in der Nacht vom 30. zum 31. Dezember 1867. Am Abend des 31. Dezember 1867 versammelte Don Bosco die Jungen in der Kirche. Nach dem Gebete stieg er auf die Kanzel und sprach:

“In diesen Tagen pflegen die Eltern ihren Kindern ein Neujahrsgeschenk zu geben und die Freunde beschenken sich gegenseitig. Ich bin es auch gewohnt, es jedes Jahr so zu halten, und zwar gebe ich an diesem Tage meinen lieben Jungen ein Andenken, das ihnen für das kommende Jahr als Wegweiser dienen soll.

Deshalb überlegte ich schon seit einigen Tagen, welches Neujahrsgeschenk ich euch, meinen lieben Jungen, geben sollte. Trotz aller Bemühungen fand ich keinen dafür geeigneten Gedanken. Auch letzte Nacht, als ich mich schon hingelegt hatte, dachte ich wieder und wieder darüber nach, was ich euch an diesem Abend Heilsames für das Jahr 1868 sagen sollte. Ich konnte mich aber auf nichts Bestimmtes festlegen. Schließlich war ich nach langer Zeit, als mich diese lebhafte Sorge immer noch nicht losgelassen hatte, gleichsam im Zustand zwischen Schlaf und Wachen, in jenem Zustand, in dem man sich selber noch fühlt und sich seiner bewußt ist. Es war ein Schlaf, in dem man noch weiß, was man tut, hört, was gesprochen wird, und man antwortet, wenn man gefragt wird. In diesem Zustand geriet ich in die Gewalt eines Traumes, der kein Traum war. Es schien mir immer noch, als sei ich in meinem Zimmer. Als ich es verlassen wollte, fand ich mich an der Stelle des Balkons vor einem schönen Garten. Der Garten war von einer Mauer umgeben. Über seinem Eingang stand in mächtig großen Ziffern die Zahl: 68.

Ein Pförtner geleitete mich in den Garten, und dort sah ich unsere Jungen. Sie vergnügten sich, schrien und hüpften fröhlich umher. Viele drängten sich um mich und wir besprachen mancherlei miteinander. Wir wandelten alle durch den Garten. Als wir ein Stück des Weges gegangen waren, sah ich an der Mauer in einer Ecke viele Jungen zusammengedrängt, die mit einigen Priestern und Klerikern sangen und beteten.

Ich näherte mich diesen Jungen, betrachtete sie, konnte sie aber noch nicht alle recht erkennen. Zum großen Teil waren sie mir sogar fremd. Ich hörte, sie sangen das ‚Miserere' und verrichteten die Gebete für Verstorbene. Ich trat zu ihnen und sagte: “Was tut ihr hier? Warum betet ihr das ‚Miserere'? Was ist die Ursache eurer Trauer. Ist vielleicht jemand gestorben?”

“Oh, das wissen Sie nicht?” antworteten sie. “Ich weiß von nichts. ” — “Wir beten für die Seele eines Jungen, der an dem Tage zu der und der Stunde gestorben ist. ” — “Aber wer denn?” — “Wie?” erwiderten sie, “Sie wissen nicht, wer das ist?” — “Aber nein!”

“Man hat ihm nicht Bescheid gesagt”, sagten sie zueinander. Dann wandten sie sich an mich: “Nun gut, hören Sie, der und der ist gestorben. ” Und sie nannten mir den Namen. “Wie, der ist tot?” — “Ja, er ist tot, aber er ist gut gestorben, sogar beneidenswert. Er hat mit großer Zufriedenheit und zu unserer Erbauung die Sterbesakramente empfangen. Ergeben in den Willen Gottes, zeigte er die lebhaftesten Gefühle der Frömmigkeit. Nun bei der Beerdigung beten wir für seine Seele. Aber wir hoffen, sie ist schon im Besitz des Himmels und betet für uns. Vielmehr sind wir sicher, daß sie schon im Himmel ist.”

“So ist er also eines guten Todes gestorben. Es geschehe der Wille Gottes! Ahmen wir seine Tugenden nach und bitten wir den Herrn, er möge uns die Gnade eines guten Todes gewähren. ” Als ich so gesprochen hatte, entfernte ich mich von jenen. Immer noch war eine große Schar Jungen um mich herum. Von neuem spazierten wir durch den Garten. Nachdem wir ein gutes Stück des Weges gegangen waren, kamen wir an eine sehr schöne, grünende Wiese. Ich fragte mich, wie geht denn das zu? Gestern abend legte ich mich in mein Bett, und jetzt bin ich mit den Jungen, die hier und dort herumlaufen, in diesem Garten.

Siehe da, eine andere, zahlreiche Schar von Jungen bildete einen Kreis um irgend etwas. Ich konnte aber nicht feststellen, was es war. Jedoch sah ich, daß sie knieten. Die einen beteten, andere sangen. Ich trat hinzu und sah, daß sie eine Bahre umgaben. Ich hörte sie die Gebete für die Verstorbenen beten und das ‚Miserere' singen. “Für wen betet ihr?” fragte ich sie. Sie antworteten mir traurig: “Ein anderer Junge ist gestorben. Er ist gut gestorben. Er hat die heiligen Sakramente zu unserer Erbauung empfangen und Empfindungen von großer Frömmigkeit gezeigt. Jetzt ist schon die Beerdigung. Er war acht Tage lang krank. Seine Eltern kamen auch, ihn zu besuchen.”

Ich fragte nun nach dem Namen des Toten und er wurde mir genannt. Schmerzlich ergriffen rief ich aus: “Oh, das tut mir aber leid! Das war einer, der mich so gern hatte, und ich habe ihm nicht das letzte Lebewohl sagen können . . . Auch den anderen habe ich nicht mehr gesehen, bevor er starb. — Sterben jetzt alle? Hier ein Toter, dort ein anderer! . . . Ist es möglich? Erst gestern starb einer und heute schon wieder einer . . . ” — “Was sagen Sie da?” wurde mir geantwortet, “einer starb vor kurzem und der andere jetzt. Es scheint Ihnen erst wenig Zeit verflossen zu sein und doch sind es mehr als drei Monate her, seit der erste an dem und dem Tage, zu der und der Stunde gestorben ist.”

Als ich das hörte, dachte ich: “Träume ich oder träume ich nicht? Es war mir, als träumte ich nicht und ich wußte nicht, was ich von dem Gehörten sagen sollte. Wir setzten unseren Spaziergang durch das Gebüsch fort, und als wir ein längeres Stück des Weges gegangen waren, hörte ich von neuem das ‚Miserere‘ singen. Ich blieb stehen und mit mir hielten alle an, die mich begleiteten. Ich sah eine große Schar von Jungen, die sich uns näherte. Ich fragte die, die an meiner Seite standen: “Was tun die Jungen dort? Wohin gehen sie?” Sie kamen von nicht weit her und waren alle sehr traurig. Tränen standen in ihren Augen. Ich beeilte mich, zu ihnen zu kommen und fragte sie: “Was fehlt euch?”

“Ach, wenn Sie wüßten! . . . ” — “Was ist denn?” — “Ein Junge ist gestorben. ” — “Wie? überall sehe ich Tote. Wer ist denn euer Kamerad, den man soeben beerdigt hat?” Die Jungen antworteten unter großem Erstaunen: “Wie, wissen Sie noch nichts? Wissen Sie noch nicht, daß jener soundso gestorben ist?” — “Der ist auch tot?” — “Ja, der Arme! Seine Eltern sind nicht einmal gekommen, ihn zu besuchen . . . , aber. . . ” — “Was aber? Ist er vielleicht keines guten Todes gestorben”'

“Oh nein! Ein Tod wie der seine ist keineswegs wünschenswert. ” — “Starb er denn ohne den Empfang der Sakramente?” — “Zuerst sträubte er sich gegen ihren Empfang, und dann empfing er sie; aber er hatte nicht viel Verlangen danach und zeigte keine echte Reue, so daß wir wenig erbaut von ihm waren. Wir zweifeln sogar sehr an seinem ewigen Heil und es schmerzt uns, daß ein Junge des Oratoriums so schlecht gestorben sein soll. —

Ich versuchte sie zu trösten und sagte: “Wenn er die Sterbesakramente empfangen hat, so wollen wir hoffen, daß er gerettet ist. Man darf an der göttlichen Barmherzigkeit nicht verzweifeln. Sie ist so groß!” Es gelang mir aber nicht, ihnen diese Hoffnung mitzuteilen und sie zu trösten.

Während ich noch schmerzlich berührt und verwirrt darüber nachdachte, in welcher Zeit diese Jungen gestorben wären, tauchte auf einmal jemand auf, den ich nicht kannte. Als er herangekommen war, sagte er: “Sieh, also sind es drei!” Ich unterbrach ihn: “Und wer bist du, daß du mich so vertraulich mit Du” anredest, ohne mich jemals gesehen zu haben?”

“Hör zu”, sagte er, “und ich werde dir nachher erzählen, wer ich bin. Möchtest du eine Erklärung haben von dem, was du gesehen hast?” — “Ja, was bedeuten diese Zahlen?” Er antwortete: “Über dem Garteneingang hast du die Zahl ‚68' gesehen. Sie bedeutet das Jahr 1868. In diesem Jahr müssen die drei Jungen, die dir gezeigt wurden, sterben. Wie du gesehen hast, sind die beiden ersten gut vorbereitet. Den dritten vorzubereiten ist deine Aufgabe.”

Ich dachte darüber nach, ob das wirklich wahr sein sollte, daß die drei lieben Jungen im Jahre 1868 sterben müßten und fuhr fort: “Aber wie kannst du mir dieses sagen?” — “Paß auf, und warte mal ab. Du wirst schon sehen”, antwortete er.

An der Sicherheit und Liebenswürdigkeit, mit der er so sprach, erkannte ich in dem Fremden einen Freund und setzte mit ihm gemeinsam den Weg fort; noch ganz versunken in die Worte, die ich gehört hatte.

“Aber träume ich vielleicht?” fragte ich ihn. “Dies ist doch kein Traum; denn ich bin wach! Ich sehe, ich höre, ich erkenne. ” Da sagte er zu mir: “Schon gut. Dies ist Wirklichkeit. ” Und ich: “Wirklichkeit? Ich bitte dich um einen Gefallen. Du hast mir von der Zukunft gesprochen und nun sprich von der Gegenwart. Ich habe einen Wunsch. Teile mir etwas mit, das ich meinen Jungen morgen abend sagen und als Neujahrsgeschenk mitgeben kann. ” Und er: “Sag deinen Jungen, daß die beiden ersten auf den Tod vorbereitet waren, weil sie in ihrem Leben die heilige Kommunion häufig empfingen, und zwar in der rechten Verfassung. So empfingen sie diese bei ihrem Tode zur Erbauung aller. Aber der letzte ging in seinem Leben nicht oft zur heiligen Kommunion, solange er gesund war, und deshalb empfing er sie bei seinem Tode mit wenig Freude. Sag ihnen, wenn sie gut sterben wollen, mögen sie oft zur heiligen Kommunion gehen, und zwar mit der nötigen Vorbereitung, und das erste dabei ist eine gute Beichte. Der Leitsatz für das folgende Jahr sei also dieser: Die andächtige und häufige heilige Kommunion ist das wirksamste Mittel, um gut zu sterben und so seine Seele zu retten. Und nun komm mit und paß auf!” Er bog etwas weiter in einen Gartenweg ein. Ich folgte ihm. Auf einmal sah ich an einer weiten, offenen Stelle meine Jungen versammelt. Da blieb ich stehen, um sie zu beobachten. Ich kannte sie alle und es schien mir, als wären sie alle gerade so, wie ich sie oft gesehen hatte, und nicht anders. Doch als ich sie ein wenig näher untersucht hatte, sah ich etwas, das mich mit Staunen und Schrecken erfüllte. Bei vielen kamen unterhalb der Mütze aus der Stirn zwei kleine Hörner hervor. Sie waren bei den einen länger, bei den andern kürzer. Einige hatten sie noch ganz, andere zerstört. Manche trugen nur mehr das Mal, daß sie Hörner gehabt hatten, doch waren diese bis auf die Wurzeln vollständig vernichtet. Man sah sie nicht mehr hervorstehen oder wachsen. Waren sie einmal zerstört, so traten sie noch etwas hervor und bildeten sich immer wieder von neuem. Einigen war es nicht genug, Hörner zu haben, sie teilten mit ihnen starke Stöße an ihre Gefährten aus. Es waren auch einige dabei, die nur ein einziges Horn auf der Mitte ihrer Stirne hatten. Das Horn war aber außerordentlich groß und diese Jungen waren die schrecklichsten. Schließlich waren auch andere da, deren reine Stirne niemals von derart häßlichen Dingen verunstaltet war . . .

Ich möchte hier bemerken, daß ich jedem von euch insbesondere sagen könnte, welche Rolle er im Garten spielte.

Ich entfernte mich ein wenig von den Jungen und erreichte, nur noch von meinem Führer begleitet, eine kleine Anhöhe. Von dort aus sah ich in einem weiten Gelände sehr viel Volk, das sich gegenseitig bekämpfte. Es waren Soldaten. Lange Zeit stritten sie erbittert, ohne Mitleid mit irgend jemandem. Viel Blut war geflossen. Deutlich sah ich die Erschlagenen zu Boden gleiten. Ich fragte meinen Begleiter: “Wie kommt es, daß sich diese Menschen so wütend und auf solche Art umbringen?” “Großer Krieg im Jahre 1868”, rief mein Führer, “und dieser Krieg wird erst nach großem Blutvergießen enden.”

“Wird der Krieg sich vielleicht in unserem Lande abspielen? Welches Volk ist das? Sind es Italiener oder Feinde?”

“Sieh dir die Soldaten an. Dann wirst du ihre Kleidung erkennen und wissen, welcher Nation sie angehören.”

Darauf betrachtete ich sie aufmerksam und sah, daß sie verschiedener Nationalität waren. Der größte Teil trug nicht die Uniform unserer Soldaten, aber es waren auch Italiener dabei.

“Das heißt”, fuhr der Führer fort, “daß sich auch die Italiener an diesem Krieg beteiligen werden.”

Wir verließen nun jenes Schlachtfeld und gelangten bald in einen anderen Teil des Gartens. Da hörte ich auf einmal lautes Rufen: “Fort von hier, Flucht, laßt uns von hier fliehen, wenn wir nicht alle sterben wollen!” Und ich sah viele Leute, die schreiend flüchteten. Mitten unter ihnen waren zahlreiche gesunde und starke Menschen, die zur Erde sanken und sofort starben. “Was ist mit diesen Fliehenden?” fragte ich irgendeinen aus der Menge. “Die Cholera tötet so viele, und wenn wir nicht flüchten, sterben auch wir”, war die Antwort.

“Aber was sehe ich denn eigentlich alles?” wandte ich mich an meinen Führer. “Überall herrscht der Tod!” — “Große Cholera im Jahre 1868”, rief er aus. “Wie ist das möglich, Cholera im Winter? Und sie sterben, obwohl es so kalt ist?” — “In Reggio in Calabrien sterben daran täglich fünfzig.”

Wir gingen noch weiter und sahen eine endlose Menge von Leuten, bleich, niedergeschlagen, abgezehrt, erschöpft und mit zerfetzten Kleidern. Ich konnte die Ursache der Erschöpfung und Hagerkeit dieser Leute nicht begreifen und fragte meinen Freund: “Was haben jene? Was soll das heißen?” — “Große Teuerung im Jahre 1868”, antwortete er. “Weißt du nicht, daß diese nichts haben, um ihren Hunger zu stillen?” — “Wie, in einem solchen Zustand sind sie vor lauter Hunger?” fragte ich. — “Ja, so ist es in der Tat.”

Unterdessen betrachtete ich diese Menge. Die Leute riefen: “Hunger! Hunger!” Sie suchten Brot, um zu essen, fanden aber keines. Sie suchten etwas für den Durst, der ihnen in der Kehle brannte; aber sie fanden kein Wasser.

Da sagte ich voller Furcht zu meinem Gefährten: “Aber fallen denn in diesem Jahre alle Übel auf unsere Erde? Sollte es kein Mittel geben, um all das Unglück von den Menschen fernzuhalten?” — “Doch, es gäbe dieses Mittel, wofern alle Menschen zusammen ein übereinkommen träfen, sich der Sünde zu enthalten, das Fluchen dranzugeben, Jesus im Sakrament zu ehren und zur Allerseligsten Jungfrau zu beten, die von ihnen schmählich verlassen ist.”

“Aber dieser Hunger und diese Dürre, beziehen sie sich auf die körperliche oder geistige Nahrung?” Er antwortete: “Sie beziehen sich sowohl auf die eine wie auf die andere. Die einen entbehren sie, weil sie dieselbe nicht wollen, die anderen, weil sie diese nicht haben können.”

“Und das Oratorium, wird es auch unter diesen Übeln zu leiden haben? Werden auch meine Jungen an der Cholera sterben?” Mein Führer schaute mich vom Kopf bis zu den Füßen an. Dann sagte er: “Unter Umständen, das heißt, wenn alle deine Jungen einig sind, die Beleidigung Gottes von sich fernzuhalten und Jesus im Sakrament und die heilige Jungfrau zu verehren, werden sie gerettet sein; denn mit diesem doppelten Schutz erreicht ihr alles, ohne ihn aber nichts. Wenn sie es jedoch nicht so machen, dann müssen auch sie sterben. Aber gib acht! Ein einziger, der eine Todsünde begehen würde, kann genügen, um den Unwillen Gottes und die Cholera auf das Oratorium herabzuziehen.”

Ich fragte noch: “Werden meine Jungen auch an Mangel von Nahrungsmitteln zu leiden haben?” — “Nur zu sehr! Auch deine Jungen werden unter den Auswirkungen der Teuerung zu leiden haben. ” — “Mir scheint, daß die Teuerung nur auf Don Bosco fallen würde, weil ich überlegen und sorgen muß, um ihnen Nahrung zu verschaffen. Wenn das Brot in unserem Haus fehlt, werden die Jungen nicht daran denken.”

“Du wirst den Hunger spüren und auch deine Jungen müssen es. Ihre Eltern oder Wohltäter werden Mühe haben, um ihre Pension zu bezahlen und ihnen all die anderen Dinge zum Leben zu bieten. Viele werden nichts mehr bezahlen können. Und so werden auch sie leiden. ”'

“Aber werden sie auch unter dem Mangel an geistiger Nahrung leiden?” — “Ja, einige, weil sie diese Speise nicht mehr haben wollen; andere, weil sie dieselbe nicht erlangen können.”

Während dieses Gespräches gingen wir immer weiter in den Garten hinein. Plötzlich sah ich, wie der Himmel sich mit dunklen Wolken bedeckte. Sie zeigten den nahen Sturm an. Ein furchtbarer Wind erhob sich. Ich blickte umher und ich sah die Jungen in weiter Ferne laufen. Darauf ließ ich den Führer zurück und eilte ihnen nach, um mich mit ihnen in Sicherheit zu bringen. Aber bald verlor ich sie aus den Augen. Blitze und Donner folgten aufeinander. Es schien, als müßten wir alle in jedem Augenblick vom Blitz erschlagen werden. Obendrein fiel ein gewaltiger Platzregen. Noch nie hatte ich ein solch heftiges Gewitter gesehen. Ich lief im Garten herum und suchte meine Jungen und irgendein Obdach; aber ich fand nichts. Die ganze Gegend war verödet. Ich suchte das Tor, um hinauszukommen. Doch konnte ich es trotz meiner Eile nicht erreichen. Vielmehr entfernte ich mich immer mehr von demselben. Zuletzt fiel ein schrecklicher Hagel, der so dicht war, wie ich ihn vorher noch nie gesehen hatte. Einige Körner trafen mich mit solcher Wucht auf den Kopf, daß sie mich weckten und ich fand mich auf meinem Bette. Ich versichere euch, daß ich nun noch viel müder war, als beim Zubettgehen. —

Wie gesagt, sah ich diese Dinge im Traum, und ich möchte sie euch nicht erzählen, daß ihr sie für wahre Begebenheiten annehmt; aber, da man von ihnen etwas lernen kann, wollen wir einen Nutzen daraus ziehen. Halten wir das für einen Traum, was uns nicht paßt; aber halten wir die Dinge für wahr, die uns zu unserem Heile dienen können. Um so mehr, da schon so manches eingetroffen ist, was ein andermal gesagt wurde. Deshalb könnte es auch diesmal so kommen. Machen wir es uns zunutze, halten wir uns bereit für den Tod, beten wir zur Muttergottes und halten wir die Sünden fern von uns.

Endlich gebe ich euch den Leitsatz: Die häufige gute Beichte und Kommunion sind ein großes Mittel, unsere Seele zu retten. Gute Nacht.”

Der Berichterstatter dieser Vision ist der Theologiestudent Stefano Bourlot, dessen Aufzeichnung das Datum vom 29. 1. 1868 und seine Unterschrift trägt. Er schreibt: “Ich gebe eine einfache Nacherzählung vom Traume Don Boscos, so wie es mir scheint, daß ich ihn gehört habe, in derselben Reihenfolge, ohne jedoch alle von ihm gebrauchten Worte wiederzugeben, weil ich sie nicht mehr genau weiß. Aber ich weiß sicher, daß der Sinn des Traumes so ist, wie ich ihn aufgeschrieben habe, und das mag genügen. ” (Lem. IX, 17.)

Zusammen mit Gioachino Berto und Don Giuseppe Bologna begann Stefano Bourlot die Verwirklichung des Traumes zu beobachten und schriftlich zu fixieren, da dies der erste Traum Don Boscos war, den er selbst im Oratorium gehört und miterlebt hat.

Don Bourlot war später Missionar in Amerika. Während seines Aufenthaltes in Italien erklärte er am 12. Oktober 1889:, ich kann unter Eid versichern, daß der angekündigte Tod der drei Zöglinge Don Boscos eintraf, wie es Don Berto und Don Bologna ebenfalls bezeugen können. ” (Lem. IX, 19.)

Der erste Zögling, der nach der Vorhersage starb, war der Kleriker Giuseppe Mazzarello. Er starb im Kolleg von Lanzo am 22. Januar, wo die Jungen zum großen Teil Don Bosco noch fremd waren, wie es in der Vision angegeben war. Don Bosco hatte vorher Andeutungen gemacht: der erste sei ein Kleriker (zu Bourlot) und sein Familienname fange mit ‚M‘ an (öffentlich). (Lem. IX, 50.)

Der zweite Zögling, der nach der Vorausschau starb, war Pietro Correchio. Er starb am 24. Mai. Seine Eltern besuchten ihn in seiner achttägigen Krankheit. Don Bosco konnte ihm das letzte “Auf Wiedersehen” nicht sagen, da er von Turin abwesend war. Nur von diesem hatte Don Bosco die Bahre gesehen; denn von den dreien war er der einzige, der im Oratorium starb. (Lem. IX, 211-212.)

Der dritte Zögling war G. B. Bonenti, der im Hospital starb. Er war von aufgedunsener Gestalt und ziemlich apathisch, auch in geistlichen Dingen. Er empfing die heiligen Sakramente gleichgültig, da er die Todesgefahr nicht erkannte. Don Bosco erhielt Bescheid, ging hin, hatte Einfluß auf ihn und bereitete ihn auf den Tod vor. Er hörte auch seine Beichte. Am nächsten Tage ging Don Bosco noch einmal hin, half ihm und gab ihm noch einmal die Lossprechung. Dann starb der Junge am 22. September. Seine Eltern konnten ihn nicht besuchen, weil er Vollwaise war. (Lem. IX, 352.)

An die Schau der übrigen Dinge (Pest, Hunger und Krieg) konnte sich Don Bosco siebzehn Jahre später noch gut erinnern. Er sagte im Jahre 1884: Der Beginn der geträumten Ereignisse lag im Jahre 1868; aber sie werden sich erst im Jahre 1888 ganz verwirklicht haben. Das wird eine Zeit großer Geschehnisse für die Kirche sein, wenn diese nicht verzögert werden, was von freien Ursachen abhängt. ” (Lem. IX, 465.)

Daß Don Bosco sich dieser Visionen so genau erinnerte, ist vielleicht ein Zeichen dafür, daß er über sie nachdachte und auf ihre Erfüllung achtete. Auch sah Don Bosco das Schlachtfeld erst von einem erhöhten Teil des Gartens aus, weiter entfernt vom Eingang liegen. Das könnte bedeuten, daß die Ereignisse über den Garten, der das Jahr 1868 bedeutete, hinausragen (C. Burg).

Im Jahre 1868 und in den vier folgenden Jahren trat die Cholera nur da und dort vereinzelt auf und in geringem Ausmaße. 1873 war sie in Treviso und Venedig. Sie suchte die Provinzen Padua, Brescia und Parrna heim. Drei Monate hindurch zählte man hier durchschnittlich fast 100 Fälle am Tag. Zwei Drittel erlagen der Seuche innerhalb weniger Stunden.

Mit fürchterlicher Gewalt trat die Cholera im Jahre 1884 auf. Man zählte in der Provinz Cuneo 3334 Fälle und 1655 Tote. In der Provinz Genua 2619 Fälle und 1438 Tote. In der Provinz Spezia 1388 Fälle und 610 Tote. In der Provinz Neapel 15 977 Fälle und 7944 Tote. In der Stadt Neapel 14 233 Fälle und 7000 Tote.

Wahrscheinlich sind aber diese Zahlen noch zu niedrig angegeben. Auch in den drei folgenden Jahren forderte die Cholera in Italien noch viele Opfer. (Lem. IX, 456-467.)

Weiter hatte Don Bosco Krieg vorausgesagt. Er begann 1868 in Spanien, als revolutionäre Truppen die Königin Isabella II. entthronten, und zwar nicht ohne Blutvergießen, weil viele königstreue Regimenter sie verteidigten. Die Revolutionäre brachten keine Ordnung und gingen auch gegen die Kirche vor. 1868 und 1869 waren schwere Jahre für Spanien. Die provisorische Regierung, die sich nicht stark genug fühlte, die Ordnung aufrechtzuerhalten, setzte zur Bildung der neuen Regierung fest, daß es eine konstitutionelle Monarchie sein sollte. Daher bot man die spanische Krone verschiedenen Angehörigen der königlichen Familie an. Aber alle lehnten sie ab. Darauf versuchte man den Prinzen Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen auf den spanischen Thron zu erheben. Dieser war katholisch und ein Verwandter des Königs von Preußen, Wilhelms I. Im Einvernehmen mit diesem nahm er das Anerbieten an. Da erklärte der Kaiser Napoleon III. , er dulde keinen ausländischen Fürsten auf dem spanischen Königsthron. Deshalb verzichtete Prinz Leopold. Doch Napoleon forderte, der König von Preußen sollte erklären, daß er jetzt und auch später nicht zugeben wolle, daß ein Angehöriger seiner Familie die spanische Krone annehme. Der König weigerte sich, dieser Forderung nachzukommen. Deshalb erklärte ihm Napoleon am 19. Juli 1870 den Krieg. Die Deutschen siegten, Napoleon verlor sein Kaisertum. In Frankreich wurde die Republik ausgerufen, der Garribaldi mit seinen italienischen Freiwilligen zu Hilfe kam. Viktor Emanuel, der König von Italien, eroberte 1870 die Stadt Rom und entriß so dem Papst seine weltliche Macht. Italien erwarb in Afrika die Kolonie Massana am Roten Meer. Es versuchte von dort die Schutzgewalt über Abessinien zu gewinnen. Seine diesbezüglichen Bemühungen scheiterten aber unter starken Verlusten.

Auch die Hungersnot traf ein, wie Don Bosco vorhergesagt hatte. Die Zeitungen des Jahres 1868 sind voll davon. Besonders in Süditalien und vor allem in Sizilien war das Elend groß, so daß Scharen von Leuten durch die Felder und Schluchten zogen, um ihren Hunger mit allerlei Gras und Wurzeln zu stillen. Davon erkrankten viele und starben.

Im September und Oktober setzten in den Alpen schwere Unwetter mit Regenfällen ein. Davon wurden in Savoyen, in der Schweiz und in Norditalien zahllose Bauernhöfe, Herden und die schon eingebrachte Ernte weggeschwemmt und vernichtet.

Außerdem belegte der König durch ein Gesetz vom 7.7.1868 jeden Zentner Getreide, Mais, Roggen, Hafer, Hülsenfrüchte und Kastanien mit einer Mahlsteuer. Diese mußten von Kunden an den Müller entrichtet werden, der auf diese Art gleichsam zum Steuereinnehmer geworden war, als zum Verteiler von Getreide. Jedes Mahlen im Hause war verboten. Die Steuer machte den zehnten Teil des Preises aus und die Regierung hoffte 60 Millionen Lire aus dieser Steuer zu ziehen. Da gab es in ganz Italien Aufstände mit Erschießungen und Kerker. In diesen Jahren richteten die Flüsse Po und Ticino große Überschwemmungen an. Die Cholera hielt den Fremdenverkehr und den Handel von Italien fern. Der Ätna brach aus. Orkane und Erdbeben richteten Schaden an. 1884 war ein

Erdbeben in Ligurien, 1888 eines in Calabrien, während zugleich gewaltige Schneefälle in Oberitalien Verheerungen anrichteten. Die Vision Don Boscos reichte zweifellos über Italien hinaus. Er hatte auch Menschen gesehen, die von Durst gequält wurden und kein Wasser finden konnten. Davon findet sich im “Corrier del'Algerie” von 1868 eine Notiz: Ganz Algerien wurde durch die Ungunst des Sommers 1867 in solch einen Mangel an allernotwendigsten Mitteln gebracht, daß man im Mai 1868 ausrechnete, es seien durch Not, Mühsal, Hunger und Durst mindestens 200 000 Araber umgekommen. Der französische Bischof Levigerie suchte das Elend in Algerien zu lindern.

(Über die Voraussagen Krankheit, Krieg und Hungersnot und ihre Erfüllung: Lem. IX, 464‑472.)

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DIE JUNGEN VON LANZO

(Lem. IX, 133-136)

Don Bosco befand sich in Lanzo, war gesundheitlich nicht, gut beisammen und konnte sich darum mit den Jungen nicht befassen. Die Nächte waren unruhig und schwere Träume plagten ihn. Einer dieser Träume bezog sich auf das Kolleg von Lanzo. Don Bosco erzählte ihn am Morgen seiner Abreise, am 17. April 1868 dem Direktor des Kollegs. Das war damals Don G. B. Lemoyne. Don Bosco trug ihm auf, diesen Traum den Insassen des Kollegs mitzuteilen. Da Don Lemoyne aber ebenfalls am 17. April wegfuhr, um in Mirabello die Exerzitien zu predigen, unterrichtete er das Kolleg von Lanzo durch einen Brief von der Vision Don Boscos. Dieser Brief sei hier wiedergegeben:

 

18. April 1868

Meine lieben Jungen im Kolleg von Lanzo!

In der Eile des Abreisens konnte ich mich nicht mehr von euch verabschieden, wie ich es gewünscht hätte. Nun aber in Turin angekommen, schreibe ich euch, was ich euch hätte sagen wollen. Hört aber aufmerksam zu; denn es ist der Herr, der zu euch durch den Mund Don Boscos spricht.

In der letzten Nacht, die Don Bosco in Lanzo verbrachte, schlief er sehr unruhig. Wie Ihr wißt, liegt mein Zimmer neben dem seinen. Nun wachte ich plötzlich zweimal auf, ohne zu wissen warum. Ich meinte, ein langgezogenes, erschreckendes Geheul vernommen zu haben. Ich setzte mich im Bett auf und hörte gespannt hin. Das Geräusch kam genau aus dem Zimmer Don Boscos. Am Morgen dachte ich über das Gehörte nach und beschloß, mit Don Bosco darüber zu reden. “Es ist wahr”, sagte er, “heute Nacht habe ich Träume gehabt, die mich wirklich traurig machen. Mir war, ich stände am Ufer eines nicht breiten Flusses; aber das Wasser war schäumend und trübe. Alle Jungen aus dem Kolleg von Lanzo waren bei mir und versuchten, auf das jenseitige Ufer zu kommen. Viele nahmen den Anlauf, sprangen und erreichten gIeich das Trockene am anderen Ufer. Brave Turner, jawohl! Aber andere verfehlten es. Einer kam mit den Füßen gerade auf den Uferrand, fiel aber zurück und wurde vom Wasser mit fortgerissen. Ein anderer verschwand mitten in der Strömung. Manche schlugen mit dem Magen oder mit dem Kopf auf Felssteine, die mitten aus den Wellen herausragten. Sie spalteten sich den Kopf oder das Blut lief ihnen aus dem Munde. ” Don Bosco schaute diesem Schauspiel längere Zeit zu. Er schrie und gab Anweisungen, daß sie den Anlauf mit Klugheit nähmen. Aber vergebens! Der Strom war mit Leibern bedeckt, die von einem Wasserfall in den anderen stürzten und an einem Felsen zerschmetterten, der an der Biegung des Flusses aufragte: Dort war das Wasser tiefer und dort verschwanden sie in einem Strudel. Abyssus abyssum invocat — ein Strudel erzeugt den anderen.

Wie viele von meinen armen, lieben Jungen, die jetzt der Lesung meines Briefes zuhören, sind im Wasser in Gefahr, für immer verlorenzugehen. Aber warum bestanden Jungen, die so lebhaft und froh und tüchtig im Springen waren, diese Probe so schlecht? Weil sie, während sie sprangen, irgendeinen untüchtigen und unglückseligen Kameraden hatten, der ihnen ein Bein stellte oder sie am Mantel zurückhielt oder sie mit einem Puff kopfüber vorwärts stieß, so daß der Anlauf gestört wurde und sie den Sprung verfehlten.

Auch diese Armen, Unglücklichen — es sind jedoch nur wenige —, die die Partei des Teufels ergreifen und ihre Kameraden zu verderben suchen, hören sich gerade jetzt die Lesung meines Briefes mit an. Diesen sage ich mit Don Boscos eigenen Worten: Warum wollt ihr mit euren schlechten Reden in den Herzen der Kameraden die Flammen der Leidenschaft entfachen, die sie auf ewig verderben müssen? Warum lehrt ihr das Böse denen, die vielleicht noch unschuldig sind? Warum haltet ihr euch mit euren Kindereien und gewissen Machenschaften von den Sakramenten fern und wollt die Worte dessen, der euch den Weg zum Paradiese zeigen kann, nicht anhören? Das einzige, was ihr euch dabei zuzieht, ist der Fluch Gottes! Denkt an die scharfen Drohungen Jesu Christi, von denen ich euch so oft gesprochen habe. Meine lieben Jungen! Hört! Auch ihr, die ihr anderen Ursache zum Bösen seid, seid meine lieben Jungen. Ihr habt sogar in meinem Herzen einen besonderen Platz, weil ihr ihn nötiger habt als alle anderen.

Laßt die Sünde, rettet eure Seele. Wenn ich mir vorstellen müßte, daß ein einziger von euch verlorenginge, hätte ich in meinem Leben keine einzige ruhige Minute mehr. Denn euer Heil ist mein einziger Gedanke, der einzige Wunsch meines Herzens, die einzige Sorge meines Lebens! Gute Christen sollt ihr werden! Helfen will ich euch, das Paradies zu gewinnen. Ihr hört auf mich, nicht wahr?”

Es ist nicht nötig, daß ich euch den Traum erkläre. Ihr habt ihn schon verstanden. Das Ufer, auf dem sich Don Bosco befindet, ist das gegenwärtige Leben. Das gegenüberliegende Ufer ist die Ewigkeit, das Paradies. Das Wasser des Stromes, das die Jungen von ihrer Richtung abbringt und mitschleppt, ist die Sünde, die zur Hölle führt.

Don Bosco, der bei einem solchen Geschehen von Angst überwältigt wurde, machte allerlei Anstrengungen, schrie, erwachte und dachte bei sich: “Oh, wenn ich doch einige, die ich erkannt habe, zurechtweisen könnte! Wie gerne würde ich das tun! Aber morgen muß ich abreisen!”

Während er sich das sagte, schlief er wieder ein. Da schien es ihm, als sei er auf einer großen Wiese, wo ihr alle auch wart. Ihr spieltet und spranget herum. Aber welch schrecklicher Anblick! Auf derselben Wiese gingen und liefen wilde Tiere aller Gattungen herum. Löwen mit feurigen Augen, Tiger, die ihre Krallen zeigten und den Boden aufkratzten, Wölfe, die geduckt unter den verschiedenen Gruppen der Jungen umherschlichen, Bären, die mit schrecklichem Hohnlachen auf den Hinterbeinen saßen, die Vorderbeine öffneten, um euch in die Arme zu schließen. In welch häßlicher Gesellschaft wart ihr! Aber mehr! Welch schändliche Herrschaft übten diese wilden Tiere über euch aus. Wütend stürzten sie sich auf euch. Einige von euch lagen auf der Erde hingestreckt, und diese Ungeheuer standen auf euch und zerrissen und zerfleischten euch mit ihren Krallen und ihren Bissen und töteten euch. Andere Jungen flohen verzweifelt, da sie von den Bestien verfolgt wurden. Sie zogen sich zu Don Bosco zurück und erbaten seine Hilfe. Vor Don Bosco wichen die wilden Tiere zurück. Manche Jungen suchten sich selbst zu verteidigen. Es gelang ihnen jedoch nicht, weil die Kraft der Tiere zu groß war. So wurden auch sie zerfleischt. Wieder andere — seht nur, welche Unvernunft — blieben stehen, statt zu fliehen. Sie warteten auf die Ungeheuer, lächelten ihnen zu, schmeichelten ihnen und schienen große Lust zu haben, von den Bären erdrosselt zu werden. Der arme Don Bosco lief hier‑ und dorthin, strengte sich an, die einen wie die anderen zu sich zu rufen. Er schrie, aber er konnte noch so schreien, es gehorchten ihm zwar viele, jedoch einige hörten nicht auf ihn. Die Wiese war bedeckt mit den Leichnamen der armen getöteten Jungen und mit den Leibern der Verwundeten. Das Stöhnen, das Gebrüll und Geheul der wilden Tiere und das Rufen Don Boscos mischten sich seltsam ineinander. Mitten in einer heftigen Bewegung erwachte Don Bosco zum zweiten Male. —

Das ist der Traum Don Boscos und ihr wißt, von welcher Art die Träume Don Boscos sind. Ihr könnt euch meinen Kummer vorstellen, als ich diese Erzählung hörte. Es war mir unsagbar schwer, mich von euch zu trennen; aber nachdem ich diesen Traum gehört hatte, wäre ich auf der Stelle zu euch zurückgekehrt, wenn die Pflicht des Gehorsams mich nicht zurückgehalten hätte. Wenn ich euch weniger gern hätte, wäre ich jetzt ruhiger.

Wer sind diese Löwen, Tiger und Bären? Das ist der Satan mit seinen Versuchungen. Einige besiegen ihn, weil sie sich einem Führer anvertrauen. Andere werden seine Opfer und stimmen seinen Vorspielungen zu. Manche lieben sogar die Sünde. Sie lieben den Teufel und geben sich aus freien Stücken in seine Krallen. Meine lieben Kinder! Werdet ihr tapfer sein? Denkt ihr immer daran, daß ihr eure Seeie zu retten habt?

Don Bosco sagte mir noch: “Ich habe alle diese Jungen gesehen. Ich habe gewisse Füchse erkannt. Aber ich wahre mein Geheimnis und sage es niemandem. Sobald ich nach Lanze, zurückkehren kann, will ich jedem seinen Teil sagen. Diesmal haben mich meine Zahnschmerzen daran gehindert, mit allen zu sprechen. Ein andermal, wenn ich wiederkomme, werde ich die zurechtweisen, die zurechtgewiesen werden müssen.”

Also, meine lieben Jungen, ich weiß nichts, da Don Bosco mir nichts gesagt hat. Aber wenn ich auch jetzt noch nichts weiß, so wird doch einmal der Tag kommen, an dem ich alles wissen werde, nämlich am Tage des Gerichtes. Es wird schmerzlich für mich sein, vielleicht von dem einen oder anderen die ganze Ewigkeit getrennt zu sein, obwohl ich soviel gearbeitet und meine Jugend für euch geopfert habe und euch aus ganzem Herzen liebte. Wenn ihr jetzt nicht anfangt, den Herrn zu lieben, werdet ihr es auch nicht mehr tun, wenn ihr alt geworden seid. Adolescens iuxta viam suam, etiam cum senuerit, non recedet ab ea — Wenn ein Jugendlicher einmal auf Abwege geraten ist, wird er dieselben selbst im Alter nicht verlassen.

Meine lieben Jungen, meine geliebten Kinder, verachtet meine Worte nicht, die von unserem lieben Don Bosco kommen. Gebraucht die wenigen Tage eures Lebens, um das Paradies zu gewinnen.

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DER GROSSE WEINSTOCK

(Lem. IX, 155-164)

Diese Vision erzählte Don Bosco am 30. April und am 1. Mai 1868. Er hatte sie erst für sich behalten und gar nicht erzählen wollen. Aber er kam zur Überzeugung, daß er sie erzählen müsse. Er sagte selbst:

“Ich habe euch etwas zu sagen; denn ich glaube, wenn ich es euch nicht sagen würde, müßte ich vorzeitig ins Grab.”

Er hatte keine Ruhe mehr und wurde von schrecklichen Gesichtern belästigt. So sah er in der letzten Nacht, da er in Lanzo schlief (die Nacht vom 16. zum 17. April 1868), ein grauenerregendes Scheusal in sein Zimmer eindringen. Es sah aus wie eine Kröte, war aber von der Größe eines Ochsen. Das Ungeheuer sprang auf das Bett und suchte Don Bosco zu verschlingen. Dieser schrie, heulte und schlug gegen die Wand. Davon erwachte Don Lemoyne, der im Zimmer nebenan schlief. Don Bosco bezeichnete sich mit dem Kreuzzeichen und gebrauchte Weihwasser. Als ihn das Ungetüm schließlich verließ, hörte er von oben deutlich die Worte: “Warum sprichst du nicht?” . . .

“Nun war es der Wille Gottes, daß ich euch das Geschaute erzähle. Daher will ich euch den ganzen Traum erzählen, sowohl weil ich im Gewissen dazu verpflichtet bin, als auch um mich von diesen Gesichten zu befreien. Danken wir dem Herrn für diese Barmherzigkeit. Auf welche Weise Gott uns auch seinen Willen kundtut, sorgen wir nur immer, daß wir seinen Anweisungen folgen, die uns gegeben wurden und daß wir die Mittel gebrauchen, die uns für das Heil unserer Seelen angeboten wurden. Ich habe bei dieser Gelegenheit den Gewissenszustand eines jeden von euch kennengelernt.”

“Ich träumte nun ein viertes Mal, und diesen Traum muß ich euch klarlegen. Es war in der Nacht des Gründonnerstags (9. April). Kaum umfing mich ein leichter Schlaf, so schien es mir, ich wäre in den Säulenhallen, umgeben von unseren Priestern, Klerikern, Assistenten und Jungen. Dann schien es mir, ihr wäret alle verschwunden und ich sei etwas weiter in denHof gegangen. Bei mir waren noch Don Rua, Don Cagliero, Don Francesia, Don Savio und der Knabe Preti. Ein wenig weiter abseits standen Josef Buzzetti und Don Stefan Rumi, der im Seminar in Genua und unser großer Freund ist. Auf einmal änderte das Oratorium von heutzutage sein Aussehen und war wieder unser Haus in den Anfängen, als fast nur die eben Genannten dort waren. Man beachte, daß der Hof an weite, unbegrenzte Ländereien angrenzte. Diese waren auch unbewohnt und dehnten sich bis an die Wiesen der Zitadelle aus. Die ersten Jungen liefen dort oft herum und spielten. Ich befand mich unter den Fenstern meines Zimmers, ungefähr dort, wo heute die Schreinerei ist. Der Platz war damals ein Gemüsegarten.

Während wir dasaßen und über die Angelegenheiten des Hauses sprachen, wie auch über die Fortschritte der Jungen, sahen wir hier vor dem Pfeiler (an welchem das Pult gelehnt war, von dem herab Don Bosco sprach), der die Pumpe stützt, in dessen Nähe die Türe zum Hause Pinardi war, aus der Erde einen sehr schönen Weinstock hervorkommen, und zwar denselben, der einst an dieser Stelle stand. Wir wunderten uns, daß der Weinstock nach so vielen Jahren wieder sproßte und einer fragte den anderen, was das zu bedeuten habe. Der Weinstock wuchs zusehends und wurde ungefähr mannshoch. Dann fing er an, überaus zahlreiche Sprößlinge und Triebe hierhin, dorthin und nach allen Seiten auszustrecken und seine Blätter zu entfalten. In kurzer Zeit hatte er sich über unseren ganzen Hof ausgedehnt und wuchs noch weiter darüber hinaus. Eigenartig war es, daß seine Schößlinge nicht in die Höhe trieben, sondern sich parallel zum Boden ausdehnten, wie ein überaus großes Laubdach, das frei in der Luft schwebte und ohne sichtbare Stütze war. Schön und grün waren die hervortgetriebenen Blätter und die langen Triebe waren erstaunlich gesund und kräftig. Bald kamen schöne Trauben heraus, die Beeren wurden dick und der Wein färbte sich.”

Don Bosco und alle, die bei ihm waren, sahen erstaunt zu und sagten: “Wie konnte dieser Weinstock nur so schnell wachsen? Was wird nun geschehen?” Da sagte Don Bosco zu den anderen: “Laßt uns beobachten, was nun folgt!” Ich gab genau acht, mit weit geöffneten Augen, ohne mit den Wimpern zu zucken und sah, daß auf einmal alle Beeren auf die Erde fielen und sich in ebensoviel lebhafte und fröhliche Jungen verwandelten. Von ihnen ward augenblicklich der ganze Hof des Oratoriums und der Platz ausgefüllt. Der Weinstock überschattete alles. Die Jungen sprangen, spielten, schrieen und liefen unter diesem einzigartigen Laubdach umher, so daß es ein großes Vergnügen war, sie zu sehen. Hier waren alle Jungen, die jemals im Oratorium und in den übrigen Kollegs waren, sind und sein werden. Daher kannte ich sehr viele von ihnen nicht.

Alsdann trat jemand an meine Seite und betrachtete ebenfalls die Jungen. Zuerst wußte ich nicht, wer es war. Es ist euch bekannt, daß Don Bosco in seinen Träumen einen Führer hat. Plötzlich breitete sich ein geheimnisvoller Schleier vor uns aus und vernichtete das freundliche Schauspiel.

Dieser lange Schleier war nicht höher als der Weinstock. Er schien an den Trieben desselben befestigt und hing wie ein Bühnenvorhang seiner vollen Länge nach bis auf den Boden herab. Man sah nur noch den oberen Teil des Weinstockes gleich einer breiten Wand aus Grün. Augenblicklich verstummte all die Fröhlichkeit bei den Jungen und es folgte ein bedrücktes Schweigen.

“Sieh her”, sagte der Führer zu mir und zeigte auf den Weinstock.

Ich ging näher heran und sah, daß der schöne Weinstock der mit Wein beladen war, nur Blätter hatte. Auf denen standen die Worte des Evangeliums geschrieben: “Nihil invenit in ea! — Er fand keine Frucht an ihm.” Ich wußte nicht, was das zu bedeuten hatte und fragte den Unbekannten: “Wer bist du? . . . Was soll dieser Weinstock vorstellen?”

Jener hob den Schleier von dem Weinstock in die Höhe und darunter erschien nur eine gewisse Anzahl unserer Jungen aus der Schar, die ich vorher gesehen hatte. Sie waren mir zum großen Teil unbekannt. “Diesen,” erwiderte er, “fällt das Gute sehr leicht; aber sie tun es nicht in der Absicht, um dem Herrn Freude zum machen. Es sind solche, die sich den Anschein geben, als wirkten sie Gutes, damit sie sich den Guten gegenüber nicht bloßstellen. Solche sind es, die die Hausordnung genau befolgen, aber aus Berechnung, um Vorwürfe zu vermeiden und die Achtung der Vorgesetzten nicht zu verlieren. Sie zeigen sich ihnen gegenüber zwar fügsam; aber sie bringen keine Frucht von den Belehrungen, Anregungen und den erzieherischen Bemühungen, an denen sie in diesem Hause teilhaben oder teilhaben werden. Ihr Trachten geht dahin, sich ehrenvolle und erträgliche Stellen in der Welt zu verschaffen. Sie kümmern sich nicht darum, ihren Beruf zu prüfen, sie weisen die Einladung des Herrn zurück, wenn Er sie ruft. Gleichzeitig geben sie aber Absichten vor, welche sie nicht haben, weil sie irgendeinen Schaden fürchten. Alles in allem, es sind solche, die das Gute aus eirem gewissen Zwang tun, und darum nützt es ihnen nichts für die Ewigkeit.”

So sagte er. O, wie schmerzlich war es für mich, bei diesen auch einige zu sehen, die ich für sehr gut hielt, für anhänglich und aufrichtig.

Der Freund fuhr fort: “Das ist noch nicht das ganze Übel. ” Er ließ den Vorhang fallen und es erschien wieder der obere Teil des Weinstockes in seiner ganzen Ausdehnung. “Nun sieh von neuem!” sagte er zu mir. Ich betrachtete die Zweige. Zwischen den Blättern sah man viele Trauben. Beim ersten Anblick schien es mir, sie versprächen eine reiche Ernte. Ich freute mich schon; aber als ich näher hinzutrat, sah ich, daß diese Trauben beschädigt und verdorben waren. Sie waren schimmelig. Einige waren voller Würmer und Insekten, die daran nagten; andere waren von den Vögeln und Wespen angefressen. Wieder andere waren faul und ausgetrocknet. Ich schaute sehr genau hin und überzeugte mich, daß man von diesen Trauben nichts Gutes mehr ernten könnte. Sie verpesteten nur die Luft in ihrer Umgebung mit dem häßlichen Geruch, der von ihnen ausging.

Nun hob mein Freund den Schleier von neuem und rief: “Siehe da!” Es erschienen zwar nicht die zahlreichen Jungen, die ich zu Anfang des Traumes gesehen hatte, jedoch viele, ja sehr viele von ihnen. Ihre Gesichter, die erst so schön waren, sahen nun häßlich aus, waren dunkel und voll von ekelhaftem Ausschlag. Sie gingengebeugt, körperlichbehindertund schwermütig daher. Keiner sprach. Es waren einige dabei, die schon früher hier im Hause und in unseren Kollegs gewohnt hatten, und auch solche, die jetzt darin sind. Sehr viele von ihnen kannte ich noch nicht * Alle waren sehr niedergeschlagen und wagten nicht, ihren Blick zu erheben. Ich, der Priester, und einige, die mich umringten, waren erschrocken und sprachlos. Schließlich fragte ich meinen Führer: “Wie kommt das? Warum waren diese Jungen erst so schön und froh und nun sind sie so häßlich und traurig?” Der Führer antwortete: “Das sind die Folgen der Sünde. ” Unterdessen gingen die Jungen an mir vorbei und der Führer sagte: “Beobachte sie gut!” Aufmerksam betrachtete ich sie und sah, daß alle auf den Stirnen und Händen ihre Sünden geschrieben trugen. Ich erkannte einige wieder, die mich in Erstaunen setzten. Ich hatte sie immer für Tugendblüten gehalten und nun entdeckte ich, daß sie sehr schwere Gebrechen in ihrer Seele trugen.

Während die Jungen vorbeizogen, las ich auf ihrer Stirne: “Unsittlichkeit (immodestia), — Ärgernis (scandalo), — Bosheit (malignita), — Stolz (superbia), Faulheit (ozio), — Genußsucht (gola), — Neid (invidia), Zorn (ira), — Rachsucht (spirito di vendetta), — Fluchen (bestemmia), — Unglaube (irreligione), — Ungehorsam (disubbidienza), — Sakrileg (sacrilegio), — Diebstahl (furto).”

Mein Führer erklärte dazu: “Nicht alle sind jetzt schon so, wie du sie siehst. Aber eines Tages werden sie einmal so sein, wenn sie sich nicht bessern. Viele dieser Sünden sind an und für sich noch nicht schwer; aber sie sind dennoch Ursache und Anfang des schrecklichen Versagens und ewigen Verlorenseins. Qui spernit modica paulatim decidet. — Wer auf kleine Vergehen nicht achtet, wird langsam in schwere fallen. Die Genußsucht führt zur Unzucht und Unkeuschheit, die Mißachtung der Obern bringt die Verachtung der Priester und der Kirche mit sich, usw.”

Von diesem Anblick ganz trostlos, zog ich meine Brieftasche heraus und einen Bleistift, um mir die Namen der bekannten Jungen und ihre Sünden oder wenigstens das Hauptlaster eines jeden zu notieren. Ich wollte sie zurechtweisen und bessern. Aber der Führer faßte mich am Arm und fragte: “Was tust du da?” — “Ich schreibe auf, was ich auf ihrer Stirne geschrieben finde, damit ich sie zurechtweisen kann und sie sich bessern. ” — “Das ist nicht erlaubt,” antwortete der Freund. “Warum nicht?” — “Es fehlen ihnen die Mittel nicht, um frei von diesen Gebrechen zu leben. Sie haben die Regeln. Diese sollen sie beobachten. Sie haben Vorgesetzte, ihnen mögen sie gehorchen. Sie haben die Sakramente, die sollen sie oft empfangen. Sie haben die Beichte, die sollen sie nicht entweihen, indem sie Sünden verschweigen. Sie haben die heilige Kommunion, die sollen sie nicht mit einer durch schwere Schuld beschmutzten Seele empfangen. Sie mögen ihre Augen behüten, schlechte Kameraden fliehen, keine schlechten Bücher lesen und sich von schlechten Reden fernhalten, usw. usw. Sie sind in diesem Hause und die Hausordnung kann sie retten. Wenn es läutet, sollen sie gleich bereit sein zum Gehorsam. Sie dürfen keine Ausflüchte suchen, um ihre Meister zu täuschen und müßig zu sein. Das Joch der Vorgesetzten sollen sie nicht abschütteln, ihre Obern nicht als lästige Aufseher, parteiische Ratgeber oder gar als Feinde ansehen und Siege feiern, wenn es ihnen gelingt, deren Schwächen zu entdecken oder mit ihren eigenen Fehlern ungestraft durchzukommen. Sie mögen Ehrfurcht haben, gerne in der Kirche beten und sonst zu den für das Gebet bestimmten Zeiten ohne zu stören und zu schwätzen pünktlich erscheinen. Im Studiersaal sollen sie studieren, in der Werkstatt arbeiten und sich überall sittsam betragen. Studium, Arbeit und Gebet: das läßt sie gut bleiben, usw.”

Trotz dieses abschlägigen Bescheides fuhr ich fort, meinen Führer inständig zu bitten, daß er mich jene Namen aufschreiben lasse. Der riß mir aber sehr energisch die Brieftasche aus der Hand, warf sie auf die Erde und sagte: “Ich sage dir, du schreibst diese Namen nicht auf. Die Jungen können durch die Gnade Gottes und die Stimme des Gewissens erkennen, was sie tun oder lassen müssen.”

“Also soll ich meinen lieben Jungen nichts offenbaren können? Dann sag du mir wenigstens, was ich ihnen verkünden und welche Anweisungen ich ihnen geben soll. ” — “Du kannst ihnen sagen, was du behältst, ganz nach deinem Belieben.”

Er ließ nun den Vorhang fallen und wiederum zeigte sich der Weinstock vor unseren Augen. Seine Zweige waren fast ohne Blätter und trugen schöne rote und reife Trauben. Ich trat näher hinzu und betrachtete sie genau und fand, sie waren wirklich so, wie sie von weitem aussahen. Ihr Anblick erfreute und es war ein Genuß, sie nur anzusehen. Sie strömten einen sehr süßen Duft aus. Alsbald hob der Freund den Vorhang. Unter dem weit ausgedehnten Laubdach waren viele Jungen, die bei uns sind oder waren oder bei uns noch sein werden. Sie waren sehr schön und strahlten vor Freude. “Diese,” sagte er, “entsprechen deinen Bemühungen und bringen gute Früchte. Sie üben die Tugend und werden dir viel Trost bereiten. ” Ich freute mich, war aber zugleich traurig; denn sie waren längst nicht so zahlreich, wie ich gehofft hatte. Während ich sie betrachtete, läutete es zum Mittagessen und die Jungen gingen. Auch die Kleriker gingen an ihren Bestimmungsort. Ich blickte umher und sah niemanden mehr. Auch der Weinstock mit seinen Zweigen und Trauben war verschwunden. Ich suchte meinen Bekannten und fand ihn nicht mehr. Dann erwachte ich und konnte noch ein wenig ausruhen. ” —

Am Freitag, den 1. Mai, setzte Don Bosco seine Erzählung fort:

“Wie ich euch gestern abend sagte, erwachte ich, da es mir schien, als hätte es geläutet. Aber ich schlief wieder ein, und zwar ruhig und fest. Dann erfaßte es mich wieder zum zweiten Male. Ich schien in meinem Zimmer zu sein und war mit der Erledigung der Post beschäftigt. Nun ging ich hinaus auf den Balkon und betrachtete einen Augenblick die Kuppel der neuen Kirche, die gigantisch emporwuchs. Dann stieg ich in die Säulengänge hinab. Nach und nach kamen unsere Priester und Kleriker von ihren Arbeiten zurück und umringten mich. Don Rua, Don Cagliero, Don Francesia und Don Savio befanden sich unter ihnen. Ich unterhielt mich mit meinen Freunden über verschiedene Dinge, als sich. auf einmal das Bild änderte. Die Maria‑Hilf‑Kirche verschwand. Es verschwanden auch alle übrigen Gebäude des Oratoriums, so wie sie jetzt sind, und wir standen wieder vor dem alten Haus Pinardi. Und siehe, wieder sproß aus der Erde ein Weinstock hervor, und zwar an derselben Stelle, an der der erste gestanden hatte, als wenn er aus denselben Wurzeln käme. Er wurde gerade so hoch und breitete seine Zweige in horizontaler Richtung aus und überschattete damit eine sehr weite Fläche. Die Zweige bedeckten sich mit Blättern, Trauben und schließlich sah ich die Trauben reifen. Aber dann erschienen nicht mehr die Scharen der Buben. Die Trauben waren geradezu gewaltig, wie die aus dem Gelobten Lande. Es wäre die Kraft eines Mannes nötig gewesen, um eine einzige fortzuschaffen. Die Beeren waren außerordentlich dick und von länglicher Form. Ihre Farbe war ein schönes Goldgelb. Sie schienen sehr reif zu sein. Eine einzige hätte unseren Mund gefüllt; kurz, sie sahen so schön aus, daß einem das Wasser im Munde zusammenlief und jede schien zu sprechen: “Iß mich!”

Auch Don Cagliero betrachtete mit Don Bosco und den übrigen Priestern dieses Schauspiel. Don Bosco rief aus: “Welch erstaunliche Weintrauben!”

Don Cagliero machte nicht erst solche Komplimente, sondern ging zum Weinstock und brach einige Beeren ab. Eine davon steckte er in den Mund und biß hinein; aber angeekelt und mit weit geöffnetem Mund spie er sie wieder aus, und zwar so heftig, als wollte er sich übergeben. Die Traube hatte einen verdorbenen Geschmack, als wenn sie faul gewesen wäre. “Pfui!” rief Don Cagliero, nachdem er mehrere Male ausgespuckt hatte. Das ist Gift. Mit dem Zweig kann man einen Christenmenschen umbringen!”

Alle sahen hin, aber keiner sprach. Da trat jemand aus der Sakristeitüre der alten Kapelle ernst und entschlossen heraus. Er näherte sich uns und blieb an der Seite Don Boscos stehen. Don Bosco fragte ihn: “Wie kommt es, daß so schöne Trauben so schlecht schmecken?” Der Mann antwortete nicht, sondern ging, holte ein Rutenbündel, ein besonders knotiges, stellte sich vor Don Savio und bot es ihm an mit den Worten: “Nimm und schlag auf diesen Rebzweig. ” Don Savio weigerte sich und trat einen Schritt zurück. Da wandte sich der Mann an Don Francesia, bot ihm die Rute an und sagte: “Nimm und schlag zu!” Dabei zeigte er ihm ebenso wie Don Savio die Stelle, wohin er zu schlagen hätte. Don Francesia zuckte die Achseln, streckte sein Kinn vor und schüttelte ein wenig den Kopf. Das sollte nein' heißen.

Der Mann stellte sich nun vor Don Cagliero, faßte ihn beim Arm und hielt ihm die Rute hin mit den Worten: “Nimm und schlag zu, triff ihn und schlag ihn nieder!” Dabei zeigte er ihm, wohin er schlagen sollte. Don Cagliero sprang aber erschreckt einen Schritt zurück und legte seine Hände auf dem Rücken übereinander und rief: “Das fehlt uns gerade noch!” Der Führer hielt ihm die Rute zum zweiten Male hin und wiederholte: “Nimm und schlag zu!” Don Cagliero stieß hervor: “Mir nicht, mir nicht! Ich nicht, ich nicht!” und lief voll Furcht weg, um sich hinter meinem Rücken zu verbergen.

Als jener das sah, stellte er sich, ohne eine Miene zu verziehen, geradeso vor Don Rua hin: “Nimm und schlag zu!” Don Rua kam wie Don Cagliero, um sich hinter meinem Rücken zu schützen. Nun befand ich mich diesem eigenartigen Manne gegenüber. Er blieb vor mir stehen und sagte: “Nimm und schlag du auf diese Zweige!” Ich machte große Anstrengungen, um zu sehen, ob ich träumte oder bei klarem Verstande wäre, doch es schien mir, daß all die Dinge wahr seien. Dann fragte ich den Mann: “Wer bist du, daß du so zu mir sprichst? Sag mir, warum soll ich diese Zweige schlagen? Warum soll ich sie abschlagen? Ist es ein Traum oder eine Täuschung? Was ist das? In wessen Namen sprichst du? Sprichst du vielleicht in Gottes Namen zu mir?”

“Geh zum Weinstock”, antwortete er, “und lies, was auf seinen Blättern steht!” Ich trat hinzu und besah mir die Blätter mit Aufmerksamkeit und las darauf geschrieben: “Ut quid terram occupat (= Warum nimmt er noch einen Platz auf der Erde ein?)” “Das steht im Evangelium”, sagte mein Führer.

Ich hatte genügend verstanden, aber ich wandte ein: “Ehe zugeschlagen wird, denk daran, daß man im Evangelium auch liest, wie der Herr auf die Bitten des Winzers wartete, bis man den nutzlosen Baum an den Wurzeln düngte und ihn pflegte und wie er ihn nur dann ausreißen wollte, nachdem man alles versucht hätte, damit er gute Frucht brächte.”

“Sicherlich, man wird einem Aufschub der Strafe zustimmen können; aber unterdessen paß auf und du wirst sehen. ” Dabei zeigte er auf den Weinstock. Ich sah hin, verstand aber nichts.

“Komm und sieh her”, wiederholte er. “Lies, was steht auf den Beeren geschrieben?” Don Bosco trat näher und sah, daß alle Beeren eine Aufschrift trugen und zwar den Namen eines Schülers und die Bezeichnung seiner Schuld. Ich las die vielen Aufzeichnungen und bei den folgenden erschrak ich besonders: Stolz — wortbrüchig — unmäßig — heuchlerisch — nachlässig in der Erfüllung aller seiner Pflichten — Verleumder — rachsüchtig — herzlos — Gottesraub — verachtet die Autorität der Vorgesetzten — Stein des Anstoßes — Anhänger von Irrlehren. Ich sah die Namen jener, ‚quorum Deus venter est' (= deren Gott der Bauch ist), die Namen derer, die die ‚scientia inflat‘ (= die das Wissen aufbläht), und jener, die, ‚quaerunt quae sua sunt, non quae Jesu Christi' (= die den eigenen Vorteil suchen, aber nicht die Sache Jesu Christi), solche, die gegen die Vorgesetzten und gegen die Hausordnung hetzten. Da standen die Namen gewisser Unglücklicher, die bei uns waren, oder jetzt noch bei uns sind. Auch eine Zahl neuer Namen war da von solchen, die in Zukunft zu uns kommen werden.

“Sieh die Früchte des Weinstockes”, sagte immer noch ernst der Mann. Sie sind bitter, schlecht, untauglich für das ewige Heil.”

Ohne weiteres zog ich die Brieftasche heraus, nahm den Bleistift und wollte einige Namen aufschreiben. Aber der Führer faßte meinen Arm, wie beim ersten Male, und sagte: “Was tust du?” — “Laß mich die bekannten Namen aufschreiben, damit ich diese Jungen unter vier Augen ermahne und sie bessere.”

Ich bat aber vergebens. Der Führer gestattete es mir nicht. Ich sagte ihm noch: “Wenn ich ihnen sage, wie die Dinge sich verhalten, in welch schlechtem Zustand sie sind, werden sie sich bessern.”

Er antwortete aber: “Wenn sie dem Evangelium nicht glauben, werden sie dir auch nicht glauben. ” Ich fuhr fort zu bitten, etwas aufschreiben zu dürfen, um Anhaltspunkte für die Zukunft zu haben. Aber jener Mann antwortete mir nichts weiter, sondern ging mit dem Rutenbündel zu Don Rua und forderte ihn auf, einen der Stöcke herauszunehmen. “Nimm und schlag zu!” Don Rua verschränkte die Arme, senkte den Kopf und murmelte: “Geduld!” Dann warf er einen Blick auf Don Bosco. Dieser nickte zustimmend. Da nahm Don Rua den Stock in seine Hände, ging zu dem Weinstock und schlug auf die bezeichnete Stelle ein. Kaum hatte er aber die ersten Schläge getan, da winkte der Führer ihm, aufzuhören und wir sahen die Beeren aufschwellen und dicker werden. Sie wurden ekelhaft. Sie sahen aus wie Schnecken, ohne jedoch solche zu sein. Sie waren immer noch gelb und verloren die Form der Trauben nicht. Der Führer rief sodann: “Paßt auf! Laßt den Herrn seinen Zorn entflammen!”

Und siehe, der Himmel bewölkte sich und ein Nebel, so dicht, daß man auch in geringer Entfernung nichts mehr sehen konnte, bedeckte den ganzen Weinstock. Alles wurde dunkel. Blitze zuckten, Donner rollten. Die Blitze fielen so oft überall in unseren Hof, daß sie erschreckten. Die Zweige bogen sich von wütenden Winden gezerrt. Blätter flogen umher. Schließlich kam ein heftiger Sturm über den Weinstock. Ich wollte davonlaufen, aber mein Führer hielt mich zurück und sagte: “Siehe diesen Hagel!” Ich schaute hin und sah den Hagel mit Körnern, die so dick waren, wie ein Hühnerei. Zum Teil war er schwarz, zum andern rot. Jedes Hagelkorn war an einem Ende spitz und am anderen stumpf, ähnlich einem Hammer oder einer Keule. Der schwarze Hagel schlug auf den Boden in meiner Nähe ein und etwas entfernter sah man den roten fallen.

“Wie ist das denn?” fragte ich den Führer. “Ich habe niemals solchen Hagel gesehen. ” “Geh mal heran”, antwortete mir der unbekannte Freund. “Dann wirst du sehen. ” Ich trat ein wenig näher zu dem schwarzen Hagel; aber es ging ein so schlechter Geruch von diesem aus, daß ich davon zurückgehalten wurde. Der andere bestand immer mehr darauf, daß ich näher hinzutrete. Deswegen hob ich ein Korn vom schwarzen Hagel auf, um es genauer zu untersuchen; aber ich mußte es sofort wieder auf die Erde werfen, so sehr widerte mich der Pestgeruch an. Ich sagte: “Ich kann nichts entdecken. ” Und der andere: “Schau gut hin und du wirst sehen!” Ich tat mir Gewalt an und da sah ich auf jedem dieser schwarzen Eisstücke geschrieben: Immodestia (= Unsittlichkeit).

Nun ging ich zum roten Hagel. Obwohl er kalt war, brannte doch alles an den Stellen, wohin er fiel. Ich las ein Korn auf. Es roch ähnlich schlecht. Aber ich erkannte etwas leichter darauf geschrieben: Superbia (= Hochmut). Als ich das sah, schämte auch ich mich und rief aus: “So sind das die Hauptlaster, die diesem Hause drohen?”

“Dies sind die beiden Hauptlaster, die nicht nur diesem Hause drohen, sondern vielmehr noch auf der ganzen Welt eine große Zahl von Seelen zugrunde richten. Zu seiner Zeit wirst du sehen, wie viele Menschen von diesen beiden Lastern in die Hölle gestürzt werden.”

“Was soll ich also meinen lieben Jungen sagen, damit sie Abscheu davor bekommen?” — “Das wirst du bald wissen”, sagte er und ging fort. Indessen stürmte der Hagel unter Blitz und Donner weiter auf den Weinstock ein. Die Trauben waren zerdrückt und zerquetscht, als wenn sie in der Kufe unter den Füßen des Keltertreters gewesen wären. Der Saft träufelte heraus. Ein schrecklicher Geruch verbreitete sich und schien einem den Atem zu nehmen.

Von jeder Beere ging ein verschiedenartiger Geruch aus, aber der eine war noch widerlicher als der andere, je nach Art und Zahl der Sünden. Ich konnte es nicht mehr aushalten und hielt mir das Taschentuch vor die Nase. Schnell wandte ich mich um, um in mein Zimmer zu gehen; aber ich sah keinen meiner Gefährten mehr; weder Don Francesia, noch Don Rua, noch Don Cagliero. Sie hatten mich allein gelassen und waren geflohen. Alles war wüst und still. Ich wurde von einem solchen Grauen gepackt, daß ich mich auf die Flucht begab, und im Forteilen erwachte ich. —

Wie ihr seht, ist dieser Traum ziemlich häßlich; aber das, was am Abend und in der Nacht nach der Erscheinung des Kröten‑Ungeheuers geschah, werden wir übermorgen, am Sonntag, den 3. Mai, erzählen, und das ist noch viel schrecklicher. Jetzt könnt ihr die Folgerungen daraus noch nicht erkennen, aber ich beschränke mich darauf, sie bei anderer Gelegenheit kundzutun, da wir heute keine Zeit mehr haben. Ich lasse euch nun schlafengehen, um euch nicht die Nachtruhe zu rauben. ” —

Der Berichterstatter ist wohl Don Lemoyne selbst, da er es nicht für notwendig erachtet, sich auf andere zu berufen. Auch die Art seines Berichtes in seiner Genauigkeit, Anschaulichkeit und Ausführlichkeit scheint darauf hinzuweisen. Auch hatte Don Bosco diesen Traum in Lanzo, wo Don Lemoyne damals Direktor war.

Über den unbekannten Führer sagt Don Lemoyne folgendes: “Don Bosco pflegte ihm manchmal den ‚Unbekannten' zu nennen, um den großartigsten Teil dessen, was er geschaut hatte, zu verbergen, oder wir können auch sagen, um das zu verdecken, was zu klar das Hineinragen des Übernatürlichen anzeigte.

Wir gebrauchten das intime Vertrauen, mit dem er uns ehrte, auch in bezug auf diesen ‚Unbekannten', und fragten ihn öfters danach. Don Boscos Antworten waren nicht immer ganz klar; aber wir konnten uns auch an anderen Anzeichen überzeugen, daß der Führer nicht immer derselbe war, und so war er vielleicht das eine Mal ein Engel des Herrn, ein andermal irgendein verstorbener Schüler, nun der heilige Franz von Sales, dann wieder der heilige Josef oder andere Heilige. Zu anderen Malen sagte Don Bosco ausdrücklich, er sei von Luigi Comollo oder Dominikus Savio oder von Ludwig Collo begleitet gewesen.”

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DIE HÖLLE

(Lem. IX, 167-182)

Berichterstatter ist Don Lemoyne selbst. Er schreibt:

“Wir haben hier getreulich aufgeschrieben, was wir ausführlich vom Ehrwürdigen gehört haben und was uns mündlich oder schriftlich von zahlreichen priesterlichen Zeugen mitgeteilt wurde. Wir haben alles in einem einzigen Berichte zusammengeordnet. Dies war eine schwierige Arbeit, weil wir mit mathematischer Genauigkeit jedes Wort, jede Verbindung, und den Zusammenhang zwischen den einzelnen Szenen, die Aufeinanderfolge der verschiedenen Tatsachen, Unterweisungen, Vorwürfe und aller dargelegten, aber nicht erklärten Ideen, darunter vielleicht etwas Unverstandenes, wiedergeben wollten. Ist es gelungen? Wir können dem Leser versichern, daß wir mit größtem Fleiß nur das eine suchten: so getreu wie möglich die lange Ansprache Don Boscos wiederzugeben.”

Am 3. Mai 1868 erzählte Don Bosco:

“Ich habe euch von dem schrecklichen Krötenungeheuer gesprochen, das mich in der Nacht des 17. April zu verschlingen drohte und wie mir bei seinem Verschwinden eine Stimme sagte: “Warum sprichst du nicht?” Ich wandte mich nach der Seite, woher die Stimme gekommen war und sah neben meinem Bette deutlich eine menschliche Gestalt. Da ich nun verstanden hatte, warum mir der Vorwurf gemacht wurde, fragte ich: “Was muß ich unseren Jungen sagen?” — “Das, was du gesehen hast und was dir in den letzten Träumen gesagt wurde. Was du noch weiter zu wissen gewünscht hast, wird dir in der kommenden Nacht geoffenbart werden!” Damit verschwand die Erscheinung.

Ich dachte daher den ganzen folgenden Tag an die böse Nacht, die mir bevorstände, und als der Abend kam, konnte ich mich nicht entschließen, schlafen zu gehen. Ich blieb am Tisch sitzen und las bis Mitternacht. Der Gedanke erfüllte mich mit Schrecken, daß ich noch andere, furchterregendere Bilder sehen müßte. Schließlich tat ich mir Gewalt an und ging zu Bett. Um nicht so schnell einzuschlafen und aus Angst, daß mir meine Phantasie die bewußten Träume brächte, legte ich das Kopfkissen an die Wand und auf die Bettstelle, so daß ich fast im Bett saß. Aber schnell überfiel mich der Schlaf, ohne daß ich es merkte. Ich war zu müde. Siehe, da stand plötzlich in meinem Zimmer, nahe bei meinem Bett, der Mann von der vorhergehenden Nacht. (Don Bosco nannte ihn öfter den Mann mit der Mütze.) Er sagte zu mir: “Steh auf und folge mir!”

Ich antwortete: “Um der Liebe willen, ich bitte dich, laß mich hierbleiben, ich bin wirklich zu müde. Sieh, schon seit einigen Tagen bin ich sehr von Zahnschmerzen gequält. Laß mich ausruhen. Ich habe schreckliche Träume gehabt. Ich bin ganz erschöpft. ” Ich sagte ihm das; denn das Erscheinen dieses Mannes ist immer ein Vorzeichen für große Aufregung, Ermüdung und Schrecken. Doch jener antwortete mir: “Steh auf, wir haben keine Zeit zu verlieren!” Da stand ich auf und folgte ihm. Unterwegs fragte ich ihn: “Wohin willst du mich jetzt führen?” — “Komm nur, das wirst du schon sehen”, antwortete er.

Er führte mich an einen Ort, von dem aus sich eine weite Ebene ausbreitete. Ich schaute umher, aber ich sah nirgends die Grenzen dieses Geländes, so weit dehnte es sich aus. Es war wirklich eine Wüste. Nichts Lebendiges befand sich dort. Man sah keine einzige Pflanze, keinen Fluß. Das gelbe, verdorrte Gras bot einen traurigen Anblick. Ich wußte weder, wo ich mich befand, noch was ich tun sollte. Da sah ich auf kurze Zeit meinen Führer nicht mehr. Ich fürchtete, mich verirrt zu haben. Don Rua war nicht da, auch Don Francesia nicht, noch jemand anders. Da entdeckte ich den Freund wieder. Er kam mir entgegen. Ich atmete auf und fragte: “Wo bin ich?”

“Komm mit mir und du wirst sehen!”

“Gut! Ich werde mit dir gehen!”

Er ging voran, ich hinterher. Wir sprachen kein Wort. Nach einem langen und traurigen Weg dachte Don Bosco, daß er durch die so weite Ebene gehen müßte und er sagte sich:, Meine armen Zähne! Ich Armer, mit meinen geschwollenen Beinen . . .”

Auf einmal öffnete sich vor mir eine Straße. Da brach ich das Schweigen und fragte den Führer: “Wohin müssen wir jetzt gehen?” “Hierher”, antwortete er.

Wir gingen auf der Straße weiter. Sie war schön, breit, geräumig und gut gepflastert.

(Via peccantium complanata lapidibus, et in fine illorum inferi, et tenebrae, et poenac. Ecclesiasticus XXI, 11 — Der Weg der Sünder ist mit Steinen gepflastert, ihr Ende ist die Hölle, Finsternis und Strafe.)

Zu beiden Seiten, hinter einem Graben, waren prächtige, grüne Hecken, die mit lieblichen Blumen bedeckt waren. Besonders die Rosen kamen überall zwischen den Blättern hervor. Auf den ersten Blick schien dieser Weg eben und bequem und ich schlug ihn ein, ohne irgendwie Verdacht zu schöpfen. Als ich aber weiterging, nahm ich wahr, daß er fast unmerklich nach unten führte. Obwohl ich unschlüssig war, ging ich auf ihm mit solcher Leichtigkeit, daß es mir schien, als würde ich durch die Luft getragen. Ich merkte sogar, daß ich vorankam, fast ohne meine Füße zu bewegen. Wir liefen schnell. Ich überlegte, daß ein so langer Weg später beim Heimkehren viel Mühe und Anstrengung kosten würde und sagte zu meinem Freund: “Wie sollen wir denn zum Oratorium zurückkommen?”

“Das braucht dich nicht zu bekümmern”, antwortete er mir. “Der Herr ist allmächtig und will, daß du gehst. Er, der dich führt und der dich heißt, voranzugehen, wird auch Mittel wissen, wie er dich zurückbringt.”

Die Straße ging immerzu abwärts. Wir hielten diesen Weg zwischen Blumen und Rosen weiter ein. Da sah ich hinter mir auf der gleichen Straße alle Jungen des Oratoriums. Sehr viele waren dabei, die ich noch niemals gesehen hatte. Ich fand mich mitten unter ihnen. Während ich sie beobachtete, gewahrte ich plötzlich, daß der eine oder andere hinfiel. Sie waren dann im gleichen Augenblick zu einem schrecklichen Abhang gezogen, den man in einiger Entfernung gewahrte, und von dem ich nachher sah, daß er in einen Hochofen mündete. Ich fragte meinen Begleiter. “Was ist es, das die Jungen hinfallend macht?”

Junes extenderunt in Iaqueum; juxta iter scandalum posuerunt. Ps. 139, 6 — Sie spannten Schlingen, an den Weg legten sie Verderben.

“Komm etwas näher heran!” sagte er mir. Ich trat näher hinzu und sah, daß die Jungen zwischen vielen Schlingen hindurchgingen. Einige waren dicht über den Boden gespannt, andere in Kopfhöhe. Man sah sie nicht. Es wurden viele Jungen beim Gehen von diesen Schlingen gefaßt, ohne daß sie die Gefahr merkten. Im Augenblick, da sie gefesselt wurden, machten sie einen Sprung, dann lagen sie auf der Erde mit den Beinen in der Luft. Wenn sie hernach wieder aufgestanden waren, fingen sie an, ganz überstürzt auf den Abgrund zuzulaufen. Einer hatte den Kopf in der Schlinge, ein anderer den Hals, einer die Hände, wieder einer einen Arm oder ein Bein, einer war um die Lenden gefesselt. Alle wurden sie sofort hinuntergezogen. Die Schlingen auf der Erde schienen aus Werg zu sein. Sie waren kaum sichtbar, Spinngeweben ähnlich und sahen nicht aus, als könnten sie großes Unheil anrichten. Und doch bemerkte ich, daß auch Jungen, die in diese Schlingen, gerieten, fast alle auf die Erde fielen. Ich war erstaunt und der Führer sagte mir. “Weißt du, was das ist?”

“Nur ein wenig Werg”, antwortete ich.

“Es ist sozusagen nichts”, sagte er, “es ist nichts anderes als Menschenfurcht, das Bedachtsein auf die Achtung bei den Menschen.”

Wie ich nun sah, daß immer noch viele in die Schlinge gerieten, fragte ich. “Wie geht das nur zu, daß sie von diesen Fäden gefesselt werden? Und wer zieht sie so?”

Und er: “Geh näher hinzu und paß auf, dann wirst du es schon sehen.”

Ich gab etwas acht und sagte dann: “Aber ich sehe nichts.”

“Du mußt besser aufpassen”, sagte er wieder. Da nahm ich nun selbst eine von diesen Schlingen und zog sie an mich und fand, daß das Ende des Fadens nicht kam. Ich zog noch weiter und sah kein Aufhören des Fadens; dagegen fühlte ich, daß ich selbst gezogen wurde. Ich folgte dem Faden und kam an den Eingang einer schrecklichen Höhle. Dort blieb ich stehen; denn ich wollte nicht in das dunkle Loch hinein. Ich zog den Faden an mich und bemerkte, daß es mir wirklich gelang; aber es kostete gewaltige Anstrengung.

Und siehe da, als ich viel gezogen hatte, kam nach und nach ein schmutziges, großes Ungetüm heraus, das Schauder einflößte. Es hielt mit großer Kraft das eine Ende eines Seiles in seinen Krallen, an welchem alle jene Schlingen zusammen befestigt waren. Wenn einer in die Schlingen geriet, war es also dieses Ungeheuer, das ihn sofort an sich zog. Ich sagte mir: “Es ist verlorene Mühe, mit diesem häßlichen Ungeheuer seine Kraft messen zu wollen; denn das besiege ich doch nicht. Es ist besser, man bekämpft es mit dem heiligen Kreuzzeichen und mit Stoßgebeten. ” Daher kehrte ich zu meinem Führer zurück. Der fragte mich. “Weißt du nun, wer es ist?” — “Oh, und ob ich das weiß! Der Satan ist es, der diese Schlingen legt, um meine Jungen in die Hölle zu ziehen.”

Ich betrachtete die vielen Schlingen sehr aufmerksam. An jeder stand ihr Name geschrieben: die Schlinge des Stolzes, des Ungehorsams, des Neides, des 6. Gebotes, des Diebstahls, der Unmäßigkeit, der Trägheit, des Zornes usw. Dann ging ich etwas zurück, um zu sehen, in welchen Schlingen sich die meisten Jungen verfingen. Und ich sah, es waren Unwahrhaftigkeit, Ungehorsam und Stolz. An die Schlinge des Stolzes waren die anderen beiden Schlingen angebunden. Danach sah ich noch viele andere Schlingen, die eine große Verheerung anrichteten; aber nicht so groß, wie die ersten Schlingen. Ich beobachtete weiter und sah viele Jungen, die viel schneller liefen als die anderen und fragte. “Warum diese Eile?”

“Weil sie von den Schlingen der Menschenfurcht gezogen werden”, antwortete er. Ich sah noch aufmerksamer hin und gewahrte, daß zwischen diesen Schlingen hier und da von weiser Hand viele Messer angebracht waren, um die Schlingen durchschneiden und zerreißen zu können. Das größte Messer war für die Schlinge des Stolzes und stellte die Betrachtung dar. Ein anderes, ziemlich großes Messer, jedoch kleiner als das erste, bedeutete die geistliche Lesung, wenn sie gut gemacht wird. Es waren da auch noch zwei Schwerter. Das eine bezeichnete die Andacht zum Allerheiligsten Altarsakrament, besonders die häufige heilige Kommunion; das andere Schwert bedeutete die Andacht zur Mutter Gottes. Es war da auch ein Hammer oder die heilige Beichte und auch noch andere Messer als Symbol der verschiedenen Andachten zum heiligen Josef, zum heiligen Aloysius usw. usw. Mit diesen Waffen befreiten sich viele von ihren Schlingen, wenn sie hineingeraten waren, oder sie verteidigten sich damit, um nicht gefangen zu werden.

In der Tat sah ich Jungen, die so zwischen diesen Schlingen hindurchgingen, daß sie niemals hineingerieten. Sie gingen daher, ehe die Schlinge fiel, oder wenn sie gingen, als die Schlinge gerade fiel, wußten sie sich zu wenden, so daß die Schlinge auf ihre Schulter fiel oder den Rücken oder hierhin und dorthin, aber ohne sie zu fangen.

Als der Führer sah, daß ich alles genügend betrachtet hatte, ließ er mich den Weg weitergehen, der an beiden Seiten mit Rosen begrenzt war. Jedoch nach und nach, je weiter ich fortschritt, wurden die Rosen an den Hecken seltener, und lange Dornen wurden sichtbar. Schließlich konnte ich gar keine Rose mehr entdecken, soviel ich auch danach ausschaute. Zuletzt wurde die Hecke ganz dornig, von Hitze ausgedörrt und ohne Blätter. Es kamen aus dem wuchernden, trockenen Gestrüpp Ranken hervor, die am Boden dahinkrochen, ihn ganz dicht bedeckten und dermaßen mit Dornen übersät hatten, daß man nur mehr mit großer Mühe einhergehen konnte. Wir waren in einer Talsenkung angekommen, deren Wände alles Umliegende verdeckten. Die Straße, die immer weiter abwärts führte, wurde schrecklich: aufgerissenes Pflaster, Gräben, Stufen, Geröll und runde Felsblöcke. Ich hatte alle meine Jungen aus den Augen verloren. Viele von ihnen hatten diesen gefährlichen Weg verlassen und sich anderswohin gewandt.

Ich ging weiter, und je weiter ich vorankam, desto rauher und abschüssiger wurde der Weg. Ein paarmal rutschte ich aus und stürzte zu Boden. Dann blieb ich etwas sitzen, um ruhig zu atmen. Zuweilen stützte mich mein Führer und half mir wieder auf die Beine. Bei jedem Schritt knickten meine Gelenke ein und es kam mir vor, als lösten sie die Schienbeine. Ich sagte keuchend zu meinem Führer: “Aber mein Lieber! Meine Beine können mich nicht mehr halten. So erschöpft wie ich bin, kann ich den Weg nicht weiter fortsetzen. ” Der Führer ging jedoch nicht auf meine Worte ein. Er machte mir Mut und ging weiter. Als er aber schließlich sah, daß ich todmüde und in Schweiß gebadet war, führte er mich auf einen kleinen Treppenabsatz, den die Straße bildete. Hier setzte ich mich hin, holte tief Atem und ruhte etwas aus. Dabei sah ich über mir den Weg, den wir schon zurückgelegt hatten. Er schien mir schreckhaft steil aufwärts zu gehen und war voller Felsspitzen und losgelöster Steine. Ich blickte auch nach unten, auf den Weg, den ich noch gehen sollte und schloß die Augen vor Schauder.

Schließlich rief ich: “Laß uns umkehren, um derLiebe willen! Wenn wir weitergehen, wie können wir jemals ins Oratorium zurückkommen? Es ist unmöglich, hinterher diesen Steilhang wieder hinaufzuklettern!” Der Führer antwortete mir sehr energisch: “Nun, wo wir schon so weit sind, willst du nicht mehr mitgehen und allein bleiben?”

Bei dieser Drohung sagte ich mit kläglicher Stimme: “Wie könnte ich ohne dich zurück‑ oder weitergehen?”

“Nun gut, also folge mir”, sagte der Führer. Darauf erhob ich mich und wir stiegen den Weg weiter hinab. Die Straße wurde immer schrecklicher und war schließlich so abschüssig, daß man kaum noch aufrecht stehen konnte. Und siehe da, in diesem Abgrund, der in ein dunkles Tal auslief, tauchte ein gewaltiges Gebäude auf, das zu unserem Weg hin ein sehr hohes, geschlossenes Tor hatte. Endlich gelangten wir unten im Abgrund an. Eine beklemmende Hitze drohte mich zu ersticken. Dicker, fast grüner Rauch erhob sich über jenen Mauern. Dazwischen sprangen blutrote Flammen auf. Ich schaute an den Mauern hinauf, sie waren höher als ein Berg. Don Bosco fragte den Führer: “Wo sind wir? Was ist das?”

Er antwortete: “Lies die Inschrift über dem Tor und du wirst daraus erkennen, wo wir uns befinden.”

Ich schaute hin. Über dem Tor stand geschrieben: Ubi non est redemptio — (wo es keine Erlösung gibt). Ich erkannte, daß wir vor den Toren der Hölle standen. Der Führer ging mit mir um die Mauern dieser schrecklichen Stadt herum. Von Zeit zu Zeit, in regelmäßigen Abständen, sah man so ein eisernes Tor wie das erste. Zu Füßen eines halsbrecherischen Abstiegs und über allen Toren war eine Inschrift, die jedes Mal verschieden lautete: Discedite a me maledicti, in ignem aeternum, qui paratus est diabolo et angelis eius . . . (= hinweg von mir, ihr Verfluchten, ins ewige Feuer, das dem Satan und seinem Anhange bereitet ist) Matth. 25, 41. Omnis ergo arbor, quae non facit fructum bonum excidetur et in ignem mittetur (= jeder Baum, der keine gute Frucht hervorbringt, wird umgehauen und ins Feuer geworfen) Matth. 3, 10.

Ich nahm meinen Notizblock, um diese Inschriften abzuschreiben; aber der Führer sagte: “Halt! Was machst du da?” — “Ich schreibe mir die Inschriften ab. ” — “Das ist nicht nötig; sie stehen alle in der Heiligen Schrift und einige hast du ja selbst unter deinen Säulenhallen anbringen lassen. ” Bei diesem Anblick wollte ich gern zum Oratorium zurückkehren, und ich machte schon einige Schritte dazu. Der Führer wandte sich aber nicht um. So gingen wir weiter. Er führte mich durch eine ungeheure tiefe Schlucht, und schließlich fanden wir uns neuerdings unten an dem abschüssigen Weg, den wir heruntergekommen waren, und zwar vor dem ersten Tor. Da auf einmal wandte sich der Führer um. Sein Gesicht war düster und er runzelte die Brauen. Er gab mir ein Zeichen mit der Hand, etwas zurückzutreten, und sagte: “Paß auf!”

Ich zitterte, blickte auf und sah in einer großen Entfernung auf dem steilen Weg jemanden, der ganz überstürzt heruntersauste. Wie er immer näher kam, versuchte ich sein Gesicht zu beobachten und schließlich erkannte ich in ihm einen meiner Jungen. Seine zerzausten Haare sträubten sich auf seinem Haupte und zum Teil flogen sie rückwärts durch die Luft. Die Arme streckte er nach vorn, wie einer, der sich vor dem Ertrinken retten will. Er wollte anhalten, konnte es aber nicht. Er schlug mit den Füßen gegen die vorspringenden Steine und durch dieses Stolpern stürzte er noch schneller herab. Ich schrie: “Laufen wir hin, wir wollen ihn festhalten und ihm helfen!” Dabei streckte ich meine Hände nach ihm aus. Der Führer aber sagte: “Laß das!” — “Warum soll ich ihn nicht aufhalten?” — “Weißt du nicht, wie schrecklich die Rache Gottes ist? Glaubst du, du könntest einen anhalten, der vor dem brennenden Zorn des Herrn flieht?”

Da wandte der Junge den Kopf zurück und schaute mit fiebernden Augen, ob der Zorn Gottes ihn noch immer verfolgte. Unterdessen sauste er bis unten hin und schlug gegen das eherne Tor, als wenn er auf seiner Flucht keine bessere Bleibe gefunden hätte. Da fragte ich: “Warum schaute der Junge sich so entsetzt um?” — “Weil der Zorn Gottes durch alle Tore der Hölle hindurchgeht und ihn selbst noch mitten im Feuer quält.”

In der Tat, von dem Aufschlag sprang das Tor auf. Es dröhnte, seine Riegel gingen auseinander und hinter ihm öffneten sich gleichzeitig mit einem ohrenbetäubenden Donner zwei, zehn, hundert, tausend andere Tore, die von dem Aufschlagen des Jungen aufgestoßen wurden, der von einem unsichtbaren, unwiderstehlichen, sehr schnellen Sturmwind fortgetragen wurde. Alle diese ehernen Tore, von denen eines immer dem anderen gegenüberlag, wenn sie auch weit voneinander entfernt waren, blieben einen Augenblick offen. Da sah ich weit hinten etwas, das wie die Öffnung eines Hochofens aussah. Und als der Junge dort hineinstürzte, sprangen Feuermassen auf. Die Tore fielen wieder zu, genau so schnell, wie sie aufgegangen waren. Ich nahm meine Brieftasche, um mir den Vor‑ und Zunamen jenes Unglücklichen aufzuschreiben; aber der Führer faßte meinen Arm und gebot mir: “Halt, passe weiter aufl” Da gewahrte ich etwas Neues. Ich sah drei andere Jungen aus unseren Häusern jenen Abstieg herunterstürzen. Es war, als kollerten drei Steine, einer hinter dem andern sehr schnell herunter. Die Jungen streckten die Arme von sich und schrieen laut vor Entsetzen. Sie kamen unten an und schlugen gegen das erste Tor. In diesem Augenblick erkannte sie Don Bosco alle drei. Das Tor öffnete sich hinter ihnen, und die anderen tausend Tore ebenfalls. Die Jungen wurden durch den sehr langen Gang hindurchgetrieben. Man hörte einen langgezogenen, höllischen Lärm, der sich immer mehr entfernte. Die Jungen verschwanden und die Tore schlossen sich wieder. Viele andere gerieten so nach und nach dorthin. Einen armen Jungen sah ich hinabstürzen, der von einem schlechten Kameraden mit Püffen getrieben wurde. Manche sausten allein hinab, andere mit Gefährten. Manche kamen Arm in Arm, andere, wenn sie sich auch nicht eingehakt hatten, waren Seite an Seite. Alle hatten ihre Sünde auf der Stirne geschrieben. Ich rief sie voll Kummer an, während sie hinabstürzten. Die Jungen hörten mich aber nicht. Sie schlugen gegen die Höllentore, diese öffneten sich und schlossen sich wieder und es folgte eine Grabesstille.

“Da hast du die Hauptursachen der Verdammnis”, sagte der Führer zu mir. Es sind die schlechten Kameraden und Bücher und die perversen Gewohnheiten. Die Schlingen, die du vorher gesehen hast, zogen sie in den Abgrund. ” Als ich so viele stürzen sah, sagte ich verzweifelt: “Aber so arbeiten wir ja umsonst in unseren Häusern, wenn doch so viele Jungen ein solches Ende haben.” Der Führer antwortete mir: “Das ist ihr augenblicklicher Zustand. Wenn sie nun stürben, kämen sie ohne weiteres hierher.”

“Oh, dann will ich mir ihre Namen aufschreiben, um sie zurechtzuweisen und sie auf den Weg zum Paradiese zu bringen.”

“Ja, glaubst du denn, daß gewisse von diesen sich bessern würden? Für den Augenblick würden sie erschrecken; aber dann würden sie darüber hinweggehen und sagen: das ist ja nur ein Traum und sie würden es noch schlimmer treiben als zuvor. Andere würden, da sie sich entdeckt sehen, zu den Sakramenten gehen; aber dies käme dann doch nicht von Herzen und wäre nicht verdienstvoll, weil es nicht gut gemacht wird. Manche würden aus einer augenblicklichen Furcht vor der Hölle beichten; aber sie würden ihr Herz doch nicht frei machen von der Anhänglichkeit an die Sünde. ” — “Also gibt es für diese Unseligen keine Rettung mehr? Gib mir einen besonderen Rat, damit sie nicht verlorengehen.”

“Nun, sie haben die Obern; ihnen sollen sie gehorchen. Sie haben die Regeln; die sollen sie beachten. Sie haben die Sakramente; die sollen sie empfangen.”

Da stürzte wieder eine Schar Jungen hinab und die Tore standen einen Augenblick offen. Der Führer sagte: “Komm, geh du auch hinein!”

Ich wich entsetzt zurück. Ich war ganz versessen darauf, ins Oratorium zurückzukommen, um die Jungen zu ermahnen und aufzuhalten, damit keine weiteren verlorengingen. Aber der Führer bestand auf seinem Willen. “Komm, hier kannst du allerhand lernen. Willst du lieber allein gehen oder soll ich bei dir bleiben?” Das sagte er, damit ich meine Schwäche einsehe und zugleich die Notwendigkeit seines gütigen Beistandes erkannte. Ich antwortete ihm: “Hier, allein, an diesem Ort des Schreckens? Ohne deine wohlwollende Hilfe? Wer soll mir denn den Rückweg zeigen?”

Plötzlich wurde ich ganz mutig bei der Erwägung: ehe man in die Hölle kommt, muß man gerichtet sein und das bin ich noch nicht. Daher sagte ich ganz entschlossen: “Gehen wir nur hinein!”

Wir kamen in einen nicht breiten, schrecklichen Gang. Es ging voran, schnell wie der Blitz. Über jedem der inneren Tore leuchtete in mattem Glanz eine drohende Inschrift: Ibunt impii in ignem aeternum — die Gottlosen werden in das ewige Feuer kommen. Die Mauern rundherum waren mit Inschriften bedeckt. Ich bat meinen Führer, sie lesen zu dürfen, und er sagte: “Lies nur, soviel, wie du Lust hast. ” Ich sah nun alles an. Irgendwo sah ich geschrieben: “Dabo ignem in carnes corum ut comburantur in sempiternum” — (= ich werde ihren Leibern Feuer geben, damit sie ewig brennen). — “Cruciabuntur die ac nocte in saecula saeculorum” (= sie werden gequält, Tag und Nacht, in alle Ewigkeit). An einer anderen Stelle stand geschrieben: Hic universitas malorum per omnia saecula saeculorum” (= hier ist die Gesamtheit der Bösen durch ewige Zeiten) — “Nullus est hic ordo, sed sempiternus horror inhabitat” (= hier wohnt keine Ordnung, sondern ewiger Schrecken) Job 10, 22. — “Fumus tormentorum suorum in aeternum ascendit” (= der Durst ihrer Qualen erhebt sich auf ewig). — “Non est pax impiis” (= für die Gottlosen gibt es keinen Frieden). — “Clamor et stridor dentium” (Heulen und Zähneknirschen) Matth. 8, 12.

Während ich herumging und die Inschriften las, kam der Führer, der mitten im Hof geblieben war, zu mir und sagte:

“Von hier an kann keiner mehr einen Kameraden haben, der ihm beisteht, oder einen Freund, der ihn tröstet, noch ein Herz, das ihn liebt. Hier gibt es keinen mitleidigen Blick mehr, kein wohlwollendes Wort. Wir haben die Grenze überschritten. Und du, willst du nur sehen, oder auch etwas probieren?”

“Ich will nur sehen,” sagte ich.

“Nun, dann komm mit”, fuhr der Freund fort. Er nahm mich bei der Hand und führte mich zu der Pforte, die er öffnete. Sie führte in einen Gang. In diesem befand sich hinten ein großes Fenster. Es war mit einem großen Kristallglas vom Fußboden bis oben zum Gewölbe hin verschlossen; man konnte aber hindurchsehen. Ich ging einen Schritt vor und blieb plötzlich stehen, weil mich ein unbeschreiblicher Schrecken packte. Meinen Augen bot sich etwas, wie ein ungeheurer, kesselartiger Abgrund, der in Schluchten auslief, die bis in das Innere der Berge vordrangen. Diese Untiefe, die Schluchten, alles war voll Feuer; aber nicht wie wir es auf Erden sehen, sondern da drinnen glühte alles wegen der großen Hitze in weißer Glut. Das Gemäuer, die Gewölbe, das Pflaster, Eisen, Steine, Holz, Kohlen, alles war weiß und glänzend. Sicherlich war dieses Feuer heißer als 1000 und aber 1000 Grad. Nichts wurde aber eingeäschert oder vom Feuer verzehrt. Ich kann diese Höhle überhaupt nicht so beschreiben, wie sie in ihrer ganzen schrecklichen Wirklichkeit war. (Praeparata est enim ab heri Thopheth, a rege praeparata, profunda, et dilatata. Nutrimenta eius, ignis et ligna multa: fletus Domini sicut torrens sulphuris succendens eam. Isaias XXX, 33 — Bereitet ist vom König längst eine Feuerstätte tief und weit. Da brennt Feuer und viel Holz. Der Hauch des Herrn steckt es in Brand gleich einem Schwefelregen). Als ich da stand und ganz erstaunt schaute, eilte aus einem Gang in äußerster Geschwindigkeit ein Junge. Erst schien er nichts zu merken; dann aber stieß er einen sehr schrillen Schrei aus, als wenn er in einen See von flüssigem Erz fiele. Er stürzte mitten hinein, wurde weiß wie das übrige und verharrte dann unbeweglich. Einen Augenblick hörte man noch das Echo seiner brechenden Stimme. Voll Grauen betrachtete ich den Jungen noch eine Weile und mir schien, es war einer von meinen Jungen aus dem Oratorium.

“Aber ist es nicht einer von meinen Jungen?” fragte ich den Führer. Ist es nicht der und der?” — “Ja, sicher”, antwortete er mir.

“Aber warum ändert er seine einmal angenommene Lage nicht? Warum ist er so glühend weiß und verbrennt nicht?”

Und er: “Du wolltest sehen, darum laß jetzt das Reden. Schau hin und du wirst sehen. übrigens “Omnis enim igne salietur et omnis victima sale salietur — (= jeder wird mit Feuer gesalzen und jedes Opfer mit Salz gewürzt) Mark. 9, 48.

Kaum sehe ich wieder hin, da kommt ein anderer Junge mit verzweifelter Heftigkeit und größter Geschwindigkeit und stürzt in den gleichen Abgrund. Es war auch einer vom Oratorium. Kaum war er hineingefallen, da rührte er sich nicht mehr. Auch er hatte einen einzigen, herzzerreißenden Schrei ausgestoßen, der sich mit dem letzten Nachhall desjenigen vermischte, den der Junge von sich gab, der vorher hineingestürzt war. Danach kamen geradeso noch andere Jungen hinein. Ihre Zahl wurde immer größer. Alle stießen denselben Schrei aus und wurden unbeweglich und glühend, wie die vorhergehenden.

Ich sah, daß der erste steif geworden war, indem er eine Hand und einen Fuß in die Luft streckte, wie wenn er daran aufgehängt wäre. Der zweite war bis zum Boden gebeugt. Einer hatte die Füße in der Luft, ein anderer das Gesicht nach unten. Manche waren wie aufgehängt und hielten sich nur mit einem Fuß und einer Hand. Manche saßen oder lagen. Einige waren an einer Seite angelehnt, standen oder knieten und hatten die Hände in ihren Haaren verkrampft. So waren nun viele Jungen beieinander wie Statuen, in Stellungen, von denen eine schmerzvoller war als die andere. Es kamen immer noch mehr Jungen in den Glutofen; zum Teil kannte ich sie, manche aber waren mir unbekannt. Da fiel mir ein, was in der Bibel steht, daß man so die ganze Ewigkeit hindurch bleiben wird, wie man in die Hölle stürzt. Lignum in quocut, que loco ceciderit, ibi erit” wohin der Baum fällt, da bleibt er liegen).

Mein Entsetzen wurde immer größer. Ich fragte den Führer: “Aber wissen denn die, welche mit solcher Geschwindigkeit heraneilen nicht, daß sie hierher kommen?”

“Oh, sicher wissen sie, daß sie ins Feuer kommen. Sie wurden tausendmal zurechtgewiesen; aber sie laufen und zwar freiwillig, weil sie die Sünde, die sie nicht verabscheuen, nicht lassen wollten, weil sie die Barmherzigkeit Gottes, die sie unaufhörlich zur Buße rief, verachteten und zurückwiesen. Dann wird die göttliche Gerechtigkeit wach; sie drängt, folgt und verfolgt sie und sie können dann nicht mehr anhalten, bis sie an diesem Orte angekommen sind.”

“Oh, was müssen diese Unglücklichen für eine Verzweiflung haben, da ihnen die Hoffnung fehlt, wieder hinauszukommen!” sagte ich.

“Willst du die innere Wut und Raserei ihrer Seelen kennelernen? Dann tritt etwas näher heran”, sagte der Führer.

Ich ging einige Schritte näher zum Fenster und sah, daß viele dieser Elenden sich gegenseitig schlugen und einander starke Verwundungen beibrachten. Sie bissen sich wie wütend, Hunde. Andere zerkratzten sich das Gesicht, sie rissen sich die Hände auf, zogen sich das Fleisch ab und schleuderten es voll Ekel in die Luft. In diesem Augenblick wurde auf einmal der obere Teil der Hölle wie aus Glas. Man sah ein Stück Himmel hindurchleuchten und die strahlenden Gestalten der Kameraden, die auf ewig gerettet waren. Da bebten die Verdarmmten in heftigem Neid und keuchten; denn diese Gerechten hatten sie vormals verspottet und ausgelacht. ‚Peccator videbit et irascetur; dentibus suis fremet et tabescet' — (= der Sünder sieht und knirscht mit den Zähnen und vergeht vor Kummer). Ich fragte den Führer: “Sag mir, warum höre ich denn keine Stimme?” — “Tritt näher heran”, antwortete er mir. Ich ging bis dicht an das Glas des Fensters und hörte, daß manche aufheulten. Sie krümmten sich vor Weinen. Manche fluchten oder beteten zu den Heiligen. Es war ein lautes und wirres Durcheinander von Rufen und Schreien. Daher fragte ich meinen Freund. “Was sagen sie? Was schreien sie?”

Er antwortete: “Sie denken an das Los ihrer guten Kameraden, und da müssen sie bekennen: nos insensati! Vitam illorum aestimabamus insaniam et finem illorum sine honore. Ecce quomodo computati sunt inter filios Dei, et inter sanctos sors illorum est: ergo erravimus a via veritatis' — (= Wir Toren! Für Unsinn hielten wir ihr Leben und ihr Ende für ehrlos. Seht, wie sie nun unter die Kinder Gottes gezählt sind und zu den Heiligen gehören). Darum rufen sie: ‚Lassati sumus in via iniquitatis et perditionis. Erravimus per vias difficiles, viam autem Domini ignoravimus. Quid nobis profuit superbia? . . . Transierunt omnia illa tamquam umbra' (= Müde sind wir geworden auf dem Weg der Sünde und des Verderbens. Wir irrten auf schlechten Straßen herum, doch den Weg des Herrn erkannten wir nicht. Was nützt uns unser Hochmut? Wie Schatten ging das alles vorüber) Weisheit 5, 4ff.

Das sind die Klagelieder, die hier die ganze Ewigkeit über erschallen werden. Aber umsonst das Schreien, umsonst die Anstrengungen, umsonst das Weinen. ‚Omnis dolor irruet super eos' (= alle Qual wird über sie hereinbrechen).

Hier gibt es keine Zeit mehr; hier ist Ewigkeit.”

Während ich voller Schrecken viele meiner Jungen in diesem Zustand betrachtete, kam mir plötzlich der Gedanke. Wie ist es nur möglich, daß diese alle hier verdammt sind? Diese Jungen waren noch gestern abend im Oratorium und zwar am Leben. Mein Freund sagte: “Die du hier siehst, sind alle tot, was die göttliche Gnade angeht, und wenn sie jetzt stürben und sich nicht änderten, wären sie verdammt. Aber verlieren wir keine Zeit. Vorwärts!”

Von dort gingen wir dann durch einen Gang, der abwärts zu einem tiefen unterirdischen Raum führte. Von da aus gelangten wir in eine andere Höhle, über deren Eingang geschrieben stand: ‚Vermis eorum non moritur, et ignis non extinguitur . . . Dabit Dominus omnipotens, ignem et vermes in carnes eorum, ut urantur et sentiant usque in sempiternum' (= ihr Wurm stirbt nicht und das Feuer erlischt nicht . . . Mark. 9, 43 u. 45, 47 . . . Der allmächtige Herr wird Feuer und Würmer ihren Leibern geben, daß sie brennen und leiden auf ewig. Judith XVI, 21).

Hier sah man die Gewissensbisse. Wie heftig waren sie bei denen, die in unseren Häusern erzogen worden waren!

Sie erinnerten sich an all die einzelnen, nicht nachgelassenen Sünden und an die gerechte Verdammnis. Es fiel ihnen ein, daß sie tausend Hilfen, sogar außerordentliche, hatten, um sich zum Herrn zu bekehren, um im Guten beharrlich zu sein und das Paradies zu erlangen. Sie erinnerten sich der vielen Gnaden, die Maria ihnen versprochen, angeboten und verliehen hatte, denen sie aber nicht entsprochen hatten. Sich leicht retten zu können und doch unwiderruflich verloren zu sein. Sie dachten an die vielen guten Vorsätze, die sie gemacht, aber nicht gehalten hatten. Ach! Mit guten, aber unwirksamen Vorsätzen ist ja der Weg zur Hölle gepflastert, sagt das Sprichwort.

Und da sah ich all die Jungen vom Oratorium wieder, die ich kurz zuvor an dem Glut­ofen gesehen hatte. Von denen einige mir jetzt zuhören, einige sind schon hier bei uns gewesen und viele kannte ich nicht. Ich trat etwas näher hinzu und sah, daß alle über und über voller Würmer und mit anderen ekelhaften Tieren behaftet waren. Diese nagten und zehrten ihnen am Herzen, in den Augen, Händen, Beinen, Armen und überall. Es war so jammervoll, daß man es mit Worten überhaupt nicht wiedergeben kann. Die Jungen blieben unbeweglich, jeder Belästigung ausgesetzt und konnten sich nicht im geringsten wehren. Ich trat noch dichter an sie heran, damit sie mich sähen. Dabei hoffte ich, mit ihnen sprechen zu können und irgend etwas von ihnen zu hören.

Aber niemand sprach von ihnen und es sah mich auch keiner an. Da fragte ich den Führer, warum das so sei, und erhielt die Antwort, daß sie in der anderen Welt keine Freiheit mehr hätten. Jeder leidet dort die ganze Strafe, die Gott ihm auferlegt hat, und das bleibt so und kann nicht geändert werden. Er fügte noch hinzu: “So, nun mußt du auch mitten ins Feuer, welches du gesehen hast!”

“Nein, o nein!” rief ich entsetzt. “Wenn man in die Hölle kommt, muß man zuerst ins Gericht. Da war ich aber noch nicht. Deshalb will ich auch nicht in die Hölle.”

“Sag mal”, gab mir der Freund zu überlegen, “willst du nicht lieber in die Hölle gehen und deine Jungen befreien als draußen bleiben und deine Jungen in solcher Qual lassen?”

Ich geriet durch diese Worte ganz außer Fassung und sagte: “Oh! Meine Jungen, die habe ich gerne und will, daß alle gerettet werden! Aber können wir es nicht so einrichten, daß weder ich noch die anderen dort hinein müssen?”

“Wohl! Du hast noch Zeit und sie auch; du mußt nur alles tun, was du kannst. ” Da wurde mir das Herz weit und ich sagte mir: “Die Arbeit macht mir nicht viel aus, wenn ich nur meine überaus lieben Jungen aus solcher Marter befreien kann.”

“Also komm mit hinein”, fuhr der Freund fort, “und betrachte die Güte und Allmacht Gottes, die liebevoll tausend Hilfen anbietet, um deine Jungen zur Buße zu bewegen und sie vor dem ewigen Tode zu retten. ” Er nahm mich bei der Hand, um mich in die Höhle zu bringen. Doch beim ersten Schritt befand ich mich unversehens in einem prächtigen Saal mit kristallenen Türen. Vor diesen hingen in regelmäßigen Abständen weite Schleier, die ebenso viele Verbindungsräume zur Hölle hin verdeckten. Der Führer zeigte auf einen dieser Vorhänge. Auf demselben stand geschrieben: Sechstes Gebot. Und er sagte: Die Übertretung dieses Gebotes ist die Ursache, daß so viele Jungen auf ewig verlorengehen.” — “Aber haben sie denn nicht gebeichtet?” fragte ich.

“Sicher haben sie gebeichtet; aber die Sünden gegen die Reinheit haben sie schlecht gebeichtet oder sogar ganz verschwiegen. Z. B. es hat einer eine solche Sünde vier‑ oder fünfmal begangen; er beichtet aber zwei‑ oder dreimal. Manche haben eine solche Sünde in ihrer Kindheit getan und haben sie aus Scham nie gebeichtet oder haben sie schlecht gebeichtet und nicht alles gesagt. Andere hatten keine Reue und keinen Vorsatz. Einige, anstatt richtig zu bekennen, überlegten sogar, wie sie den Beichtvater täuschen könnten. Wer in einer solchen Verfassung stirbt, der begibt sich selber unter die Zahl der Verdammten und zwar für die ganze Ewigkeit. Nur diejenigen, welche aus ganzem Herzen bereuen, sterben in der Hoffnung auf das ewige Heil und werden auf ewig glücklich sein.

“Willst du noch sehen, warum dich die göttliche Barmherzigkeit hierhergeführt hat?”

Er hob den Schleier und ich sah eine Gruppe Knaben aus dem Oratorium. Ich kannte sie alle. Wegen dieser Sünde wurden sie verdammt. Unter ihnen waren einige, die sich jetzt nur scheinbar gut führen.

“Wenigstens laß mich jetzt die Namen dieser Jungen aufschreiben, damit ich sie besonders ermahnen und zurechtweisen kann”, bat ich.

“Ist nicht nötig”, sagte er.

“Was soll ich ihnen denn sagen?”

“Predige überall gegen die Zuchtlosigkeit. Es genügt, wenn man sie im allgemeinen aufmerksam macht. Vergiß auch nicht, daß die Jungen, wenn du mit ihnen redest, wohl leicht versprechen, aber nicht immer mit festem Vorsatz. Dazu ist nämlich die Gnade Gottes notwendig, die aber deinen Jungen niemals fehlen wird, wenn darum gebetet wird. Der liebe Gott zeigt seine Allmacht ganz besonders im Erbarmen und Verzeihen. Du mußt also beten und opfern. Die Jungen sollen auf deine Unterweisung achten und ihr Gewissen fragen. Es wird ihnen sagen, was sie tun müssen.”

Dann sprachen wir fast eine halbe Stunde lang über die notwendigen Voraussetzungen für eine gute Beichte. Dabei sagte der Führer verschiedene Male mit eindringlicher Stimme: “Avertere! . . . Avertere!” — “Was soll das heißen?” fragte ich. “Das Leben ändern, das Leben ändern!”

Ich war ganz verwirrt von diesen Enthüllungen, senkte den Kopf und wollte mich zurückziehen. Er rief mich aber und sagte: “Du hast noch nicht alles gesehen. ” Dabei wandte er sich nach einer anderen Seite und zog wieder einen Vorhang hoch. Auf dem stand geschrieben: “Qui volunt divites fieri, incidunt in tentationem et Iaqueum diaboli” (= die reich werden wollen, geraten in Versuchung und in die Schlinge des Teufels, 1. Ti. 6, 9). Ich las es und sagte: “Das paßt nicht auf meine Jungen; denn sie sind arm, genau wie ich auch. Wir sind nicht reich und trachten auch nicht darnach, es zu werden. Daran denken wir nicht einmal. ” Der Schleier wurde gelüftet und ich sah im Hintergrund eine Anzahl Jungen, die ich alle kannte. Sie litten wie diejenigen, die wir zuvor gesehen hatten. Der Führer deutete auf sie und sagte: “Oh, die Inschrift gilt auch für deine Jungen.”

“Erkläre mir das ‚divites' (reich).”

Und er sagte: “Z. B. haben einige deiner Jungen ihr Herz an einen materiellen Gegenstand gehängt, und diese Anhänglichkeit hindert sie an der Liebe zu Gott. Sie fehlen deshalb gegen die Nächstenliebe, die Frömmigkeit und Sanftmut. Man kann das Herz nicht nur durch den Gebrauch der Reichtümer verderben, sondern auch durch die Begierde darnach, um so mehr, als dieses Trachten die Gerechtigkeit verletzt. Zwar sind deine Jungen arm; aber wisse, daß die Sucht gut zu essen und zu trinken und der Müßiggang sehr schlechte Ratgeber sind. Einige Jungen hast du, die in ihrer Heimat gestohlen haben, manchmal sogar ganz beträchtlich. Sie denken aber nicht an die Rückerstattung, obwohl sie diese leisten könnten. Manche bemühen sich, mittels eines Dietrichs die Vorratskammern zu öffnen. Es wird sogar versucht, in die Zimmer des Präfekten und Ökonoms einzudringen. Sie durchsuchen die Koffer der Kameraden, um Eßwaren, Geld oder andere Dinge zu stehlen. Sie bringen Hefte und Bücher auf die Seite . . .” Er nannte mir auch die Namen der Jungen und fuhr fort: “Einige sind hier, die haben sich aus der Innentür des Oratoriums Kleidungsstücke, Wäsche, Decken und Mäntel angeeignet, um sie nach Hause zu schicken. Manche sind hier, weil sie anderen absichtlich einen schweren Schaden zugefügt haben; wieder andere, weil sie Geliehenes nicht zurückgegeben haben. Es sind auch welche hier, weil sie das Geld, das sie dem Obern abgeben sollten, für sich zurückbehalten haben.” Dann sagte er noch: “Da diese dir nun gezeigt wurden, mache sie auf ihre Fehler aufmerksam. Sage ihnen, sie sollen die unnötigen und schädlichen Wünsche zurückweisen, dem Gesetz Gottes gehorchen und auf ihre Ehrlichkeit sehr bedacht sein, sonst wird ihre Begierlichkeit sie zu schlimmeren Ausschweifungen drängen, die sie in Leiden, Tod und Verderben stürzen.”

Ich konnte mir nicht erklären, warum für gewisse Dinge, die unsere Jungen für so gering ansehen, ihnen so schreckliche Strafen bevorstünden. Aber der Freund durchkreuzte meine Betrachtungen und sagte: “Erinnere dich an das, was dir bei den verdorbenen Trauben am Weinstock gesagt wurde! (:Viele dieser Sünden sind an und für sich noch nicht schwer, aber sie sind dennoch Anfang und Ursache schrecklichen Versagens und ewigen Verlorenseins. Qui spernit modica paulatim decidet).

Nun hob er einen anderen Schleier empor, der viele andere Jungen verdeckte. Ich kannte sie alle; sie sind im Oratorium. Auf dem Schleier stand geschrieben: ‚Radix omnium malorum' (= Die Wurzel alles Bösen)! Er fragte mich. “Was heißt das? Welche Sünde ist damit gemeint?” — “Mir scheint, nichts anderes als der Stolz.” — “Nein”, sagte er. — “Ich habe aber immer gehört, der Stolz sei die Wurzel aller Sünden.” — “Ja, im allgemeinen sagt man, daß es der Stolz sei; aber welches war denn die erste Sünde bei Adam und Eva im besonderen? Warum wurden sie aus dem Paradiese vertrieben?”

“Es war der Ungehorsam.”

“Jawohl, und der Ungehorsam ist die Wurzel aller Übel.”

“Was soll ich meinen Jungen davon sagen?”

“Paß auf. Die Jungen, die du hier siehst, sind die Ungehorsamen. Sie sind auf dem Wege, sich ein sehr beklagenswertes Ende zu bereiten. Die und die, von denen du meinst, sie wären am Schlafen, stehen nachts auf und gehen im Hof spazieren. Sie kümmern sich nicht um Verbote und gehen hin, wo es gefährlich ist. Sie klettern auf den Gerüsten von Neubauten herum und bringen dabei ihr Leben in Gefahr. Einige gehen wohl der Hausordnung entsprechend in die Kirche; aber sie tun dort nicht, was sie sollen, sondern denken etwas ganz anderes. Sie bauen in ihren Träumereien Luftschlösser und stören die anderen. Einige suchen sich einen bequemen Platz zum Anlehnen und Gemütlichmachen, um während des Gottesdienstes zu schlafen. Von manchen nimmst du an, sie gingen in die Kirche; sie gehen aber nicht hinein. Wehe dem, der das Gebet vernachlässigt! Wer nicht betet, der wird verdammt! Einige, anstatt mitzusingen oder das kleine Offizium zu beten, lesen etwas ganz anderes als Gebetbücher, und gewisse sollten sich schämen, denn sie lesen dann sogar verbotene Bücher.”

Er nannte noch andere Übertretungen des Gehorsams, die ernste Unordnungen verursachen.

Als er zu sprechen aufgehört hatte, sah ich ihn ganz erschüttert an. Er schaute auch mich an und ich fragte ihn noch. “Kann ich all dies meinen Jungen erzählen?” — “Ja, du kannst ihnen alles sagen, was dir wieder einfällt.” — “Was für einen Rat soll ich ihnen geben, damit solch schwere Unordnungen nicht wieder vorkommen?” — “Schärfe ihnen immer wieder ein, daß auch in Kleinigkeiten der Gehorsam gegen Gott, die Kirche, die Eltern und die Obern sie retten wird.”

“Und was sonst noch?”

“Sage deinen Jungen, daß sie sich sehr vor dem Müßiggang hüten sollen. Das war die Ursache zur Sünde Davids. Sag ihnen, sie sollen sich immer beschäftigen; dann hat der Teufel keine Zeit, sie zu bedrängen.” Ich senkte den Kopf und versprach, es zu berichten.

Ich war von all dem Schrecklichen, das ich gesehen hatte, ganz erschöpft und wandte mich an meinen Freund: “Ich danke dir für deine Güte, die du mir gezeigt hast und bitte dich, mich wieder hinauszulassen.” Er sagte: “Komm mit!”, machte mir Mut, nahm mich bei der Hand und stützte mich, denn ich war ganz matt. Als wir aus dem Saal heraus waren, durcheilten wir in einem Augenblick den grauenvollen Hof und den langen Gang, durch den wir hereingekommen waren. Ehe wir über die Schwelle des letzten Bronzetores gingen, wandte er sich zu mir und sagte: “Du hast die Qualen bei anderen gesehen; nun mußt du die Hölle auch etwas fühlen.”

“Nein, nur nicht!” rief ich erschreckt.

Er bestand aber darauf, doch ich weigerte mich immerzu.

“Du brauchst keine Angst zu haben; komm und probier nur etwas. Faß mal diese Mauer an.”

Ich hatte keinen Mut dazu und wollte mich davonmachen. Er hielt mich aber fest und sagte: “Und doch mußt du es spüren!” Dabei faßte er mich resolut am Arm und zog mich zur Mauer. “Berühre sie doch nur ein einziges Mal; nur damit du sagen kannst, du wärst in den Mauern der ewigen Qual gewesen und hättest sie angefaßt. Dann kannst du verstehen, wie heiß die innere Mauer sein muß, wenn die äußerste schon so schrecklich ist. Siehst du diese Mauer?” Ich betrachtete die Mauer mit größerer Aufmerksamkeit. Sie war äußerst dick. Der Führer fuhr fort: “Das ist nun die tausendste Mauer, eh man zum ewigen und eigentlichen Feuer der Hölle kommt. Tausend Mauern schließen es ein. Jede Mauer ist tausend Maßeinheiten dick und tausend Maßeinheiten von der nächsten entfernt, und jede Maßeinheit ist tausend Meilen lang. Diese Mauer ist eine Million Meilen vom wirklichen Feuer der Hölle entfernt und erst ein kleiner Anfang der wirklichen Hölle.”

Als er das gesagt hatte, zog ich mich wieder zurück, um die Wand nicht zu berühren. Da nahm er meine Hand, öffnete sie mit Gewalt und brachte sie an die Steine dieser tausendsten Mauer. In dem Augenblick fühlte ich ein so intensives und schmerzliches Brennen, daß ich zurücksprang. Ich stieß einen lauten Schrei aus und erwachte davon. Ich fand mich in meinem Bette sitzend und es war mir, als brenne meine Hand. Ich rieb sie mit der anderen, um die Empfindung zu vertreiben. Als es Morgen wurde, sah ich, daß die Hand tatsächlich geschwollen war. Der eingebildete Eindruck dieses Feuers hatte eine solche Kraft, daß sich in der Folge die Haut der Handinnenfläche abschälte und neu wurde. —

Ihr müßt wissen, daß ich euch diese Dinge nicht in der ganzen Furchtbarkeit erzählt habe, so wie ich sie sah und wie sie auf mich Eindruck gemacht haben, um euch nicht so sehr zu erschrecken. Wir wissen, daß der Herr nur in Bildern von der Hölle spricht. Wenn er sie uns beschrieben hätte, wie sie ist, dann würden wir nichts verstanden haben. Kein Sterblicher kann diese Dinge begreifen. Gott kennt sie und kann sie mitteilen, wem er will.

Mehrere Nächte darauf war ich immer noch verstört und konnte von diesem Schrecken nicht schlafen. Ich habe euch nur in kurzem erzählt, was ich in sehr langen Träumen gesehen habe. Ich habe vieles ganz kurz zusammengefaßt. Später werde ich euch noch Belehrungen halten über die Menschenfurcht, sowie über das, was das VI. und VII. Gebot betrifft und über den Stolz. Ich werde nichts anderes tun, als diese Träume erklären; denn sie sind in Übereinstimmung mit der Heiligen Schrift, ja sie sind gewissermaßen nur ein Kommentar zu dem, was man dort über diese Dinge liest.” —

Don Bosco erzählte diese Vision nicht nur in Turin, sondern auch in Mirabello und in Lanzo. Seinen Priestern und Klerikern sagte er in vertraulichen Gesprächen noch mehr davon, was er vor allen Jungen nicht erzählte.

Bei der Beschreibung der Schlingen gab er einen neuen Begriff von der Hinterlist des Teufels und von seiner Art, die Opfer in die Hölle zu ziehen. Er sprach in dem Zusammenhang von schlechten Gewohnheiten.

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