DIE
SCHLINGEN DES TEUFELS
(Lem.
IX, 593-596)
Am
4. April 1869 erzählte Don Bosco folgenden Traum, den
er einige Nächte vorher gehabt hatte:
“Ich
stand an der Türe meines Zimmers und ging hinaus. Auf
einmal schaute ich herum und befand mich in der Kirche,
inmitten einer solchen Menge von Jungen, daß die Kirche
gedrängt voll von ihnen war. Es waren die Jungen aus
dem Turiner Oratorium, die von Lanzo und die von
Mirabello, sowie viele andere, die ich nicht kannte. Sie
hielten keine gemeinsame Andacht, sondern schienen sich
auf die heilige Beichte vorzubereiten. Eine ungeheure
Menge drängte sich wartend um meinen Beichtstuhl unter
der Kanzel. Nachdem ich mich ein wenig umgeschaut hatte,
wie ich es schaffen könnte, die Beichte aller zu hören,
setzte ich mich in den Beichtstuhl. Bald fürchtete ich
aber, eingeschlafen zu sein und zu träumen. Um mich zu
versichern, daß ich nicht schlief, klatschte ich in die
Hände und vernahm das Geräusch davon. Um mich noch
mehr davon zu, vergewissern, streckte ich den Arm aus
und faßte die Wand an, die sich hinter meinem kleinen
Beichtstuhl befindet. So war ich sicher, wach zu sein
und sagte: “Ich bin da, also beichten wir”, und ich
fing an Beichte zu hören. Gleich darauf aber, als ich
so viele Jungen sah, erhob ich mich wieder, um
auszuschauen, ob noch andere Beichtväter da seien, die
mir helfen könnten. Aber ich sah keinen. Da wollte ich
zur Sakristei gehen und irgendeinen Priester rufen, der
auch Beichte hören sollte. Siehe da, ich erblickte hier
und da Jungen, die einen Strick um den Hals hatten, der
ihnen die Kehle zuschnürte. “Warum dieser Strick?”
fragte ich. “Nehmt ihn euch fort!” Sie antworteten
mir nicht und sahen mich unentwegt an.
“Nun”,
sagte ich einem, “geh, nimm das Seil fort!” Der
angesprochene Junge ging, antwortete mir aber: “Ích
kann es nicht fortnehmen, hinter mir ist jemand, der es
festhält. Kommen Sie und sehen Sie zu.” Ich richtete
meinen Blick mit größter Aufmerksamkeit auf die Jungen
und mir schien, als sähe ich hinter den Schultern
vieler zwei sehr lange Hörner hervorragen. Ich trat ein
wenig näher hinzu, um besser sehen zu können. Als ich
um den mir Zunächststehenden herumging, sah ich hinter
ihm eine häßliche Bestie mit einer schrecklichen
Schnauze. Sie sah aus wie eine große Katze mit langen Hörnern,
und diese zog die Schlinge zu. Das Scheusal senkte seine
häßliche Fratze und verdeckte sie mit seinen Pfoten
und duckte sich, um nicht gesehen zu werden.
Ich
fragte diesen und andere Jungen nach ihren Namen, aber
sie antworteten mir nicht. Da fragte ich das häßliche
Tier. Es versteckte sich aber nur noch mehr. Dann befahl
ich einem Jungen: “Auf, geh in die Sakristei und sage
Don Merlone, dem Direktor der Sakristei, er möge dir
das Eimerchen mit Weihwasser geben.” Und bald kehrte
der Junge mit dem Eimerdien zurück. Unterdessen
entdeckte ich, daß jeder Junge hinter seinen Schultern
einen ebenso unangenehmen Diener hatte, wie Richtungen
davon. Von dem Getöse erwachte ich und fand mich im
Bett. —
Oh,
liebe Jungen, ich hätte nie geglaubt, daß so viele von
euch die Schlinge um den Hals und die Katze hinter sich
hätten. Sehen wir uns daher diese drei Schlingen und
ihre Bedeutung einmal an.
Die
erste Schlinge fesselt die Jungen, daß sie in der
Beichte etwas verschweigen. Diese Schlinge schließt den
Mund so, daß man aus Scham nicht alles beichtet. Zum
Beispiel, anstatt zu beichten, daß man gewisse Sünden
viermal begangen hat, sagt man drei‑ oder viermal,
während es genau viermal war. Einem solchen fehlt es
ebenso an Aufrichtigkeit wie dem, der etwas verschweigt.
Die
zweite Schlinge ist das Fehlen der Reue und die dritte
das Fehlen des Vorsatzes. Wenn wir daher diese Schlingen
zerreißen und sie dem Teufel aus der Hand nehmen
wollen, so laßt uns alle Sünden beichten. Sorgen wir für
eine echte Reue und fassen wir einen festen Vorsatz, dem
Beichtvater zu gehorchen. Ehe das Ungetüm so wütend
wurde, sagte es mir noch: “Sieh den Nutzen an, den die
Jungen aus ihren Beichten schöpfen. Die Frucht der
Beichten muß die Besserung sein. Wenn du erkennen
willst, ob ich die Jungen in der Schlinge habe, achte
darauf, ob sie sich bessern.”
Ich
muß auch noch bemerken, daß ich mir vom Dämon sagen
ließ, warum er hinter dem Rücken der Jungen stünde,
und er antwortete: “Damit sie mich nicht sehen und ich
sie leichter herunter in mein Reich ziehen kann.” Ich
sah, daß es viele waren, die diese Scheusale im Rücken
hatten; mehr als ich glaubte.
Legt
diesem Traum soviel an Bedeutung bei, wie ihr wollt.
Aber die Tatsache bleibt bestehen. Ich wollte genau
sehen, ob es wahr sei, was ich träumte und fand, daß
sich die Sache wirklich so verhält. Nehmen wir indes
die Gelegenheit wahr, die sich uns in diesen Tagen
bietet, einen vollkommenen Ablaß zu gewinnen durch eine
gute Beichte und heilige Kommunion. Tun wir das mögliche,
um uns aus diesen Schlingen des Teufels zu befreien. Der
Heilige Vater gewährt all jenen einen vollkommenen Ablaß,
die am Tage seines 50jährigen Priesterjubiläums, das
ist am nächsten Sonntag, dem 11. April, beichten,
kommunizieren und in der Meinung der heiligen Kirche
beten.”
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AUS
EINEM RÖMISCHEN BRIEF DON BOSCOS
(Lem.
IX, 806-807)
Februar
1870
Liebster
Don Rual
Obwohl
ich mich hier in Rom nicht einzig und allein mit unseren
Angelegenheiten und unseren Jungen befasse, so fliegen
meine Gedanken doch immer wieder dorthin, wo ich meinen
Schatz in Jesus Christus habe, nämlich zu meinen lieben
Söhnen im Oratorium. Mehrere Male an jedem Tag mache
ich ihnen einen Besuch. Jetzt gerade sehe ich Don
Cagliero, umgeben von einer Schar beichtender Jungen.
Andere gehen zur heiligen Kommunion, wieder andere beten
mit Eifer. Einige denken an Don Bosco, andere spielen
mit ihren Kameraden. Ich sehe eine ganze Reihe von
Jungen, die während des Tages dem Heiligsten
Altarssakrament einen Besuch abstatten und das bereitet
mir große Freude.
Aber
zur großen Betrübnis meiner Seele habe ich auch Dinge
gesehen, die jedem Schrecken einflößen würden, wenn
man sie dem Papier anvertrauen würde. Ich sage nur, daß
ich unter so vielen guten Jungen einige in der Gestalt
von Schweinen sah. Auf ihrer Stirn stand geschrieben:
‚Jumentis inspicientibus comparatus est. — Er ist
dem glotzenden Vieh vergleichbar. ' jeder von ihnen
handelte diesen Inschriften entsprechend. Aber was mich
besonders beeindruckte, waren manche, auf deren Zunge,
wie eingepfropft, eine wohlriechende Rose oder eine
schneeweiße Lilie blühte. Die Zahl dieser Jungen war
groß. Aber o weh! Inmitten solch erquickender Bilder
beobachtete ich eines Tages unter den Studenten und auch
bei den Handwerkern nicht nur einen, sondern viele, die
im Mund eine dicke Schlange hielten, die schmutzigen
Geifer und tödliches Gift von sich gab. Ich schalt mit
diesen, aber sie liefen davon und hörten mich nicht an.
Soll ich sie nennen? Ich beschränke mich darauf, für
Don Rua einige Namen aufzuschreiben, um zu sehen, ob bei
ihnen eine Ermahnung noch genügt. Die hatten auf ihrer
Stirn geschrieben: “Corrumpunt bonos moros colloquia
mala. — Schlechte Reden verderben gute Sitten.” Aber
lassen wir diese traurigen Dinge und kommen wir zu etwas
anderem”
(Don
Bosco erzählt dann, wie er dem Erzherzog von Toscana im
Tode beigestanden sei und anderes.)
Zum
Schlusse des Briefes heißt es dann jedoch wieder: “M
, M , B , P , M . . . und einige andere gehören zu
denen, die venenum aspictis super linguas corum habent
— die Schlangengift auf ihren Zungen haben.”
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SPÄTBERUFE
(Lem.
XI, 32-33)
Diese
Vision hatte Don Bosco am Anfange des Jahres 1875. Er
erzählte dieselbe den Obern, worauf sie sofort
aufgeschrieben wurde. An einem Samstag abend befand ich
mich in der Sakristei und hörte Beichte. Ich war
zerstreut und dachte über den Mangel an Priestern und
Priesterberufen nach sowie über die Art und Weise, wie
man ihre Zahl vermehren könnte. Vor mir sah ich viele
Jungen, die zur heiligen Beichte kamen; es waren gute
und unschuldige Jungen. Aber ich sagte mir: Wer weiß,
wie vielen es nicht gelingt, Priester zu werden, und wie
lange es noch dauert bei denen, die durchhalten. Das
Anliegen der Kirche ist aber dringend.
So
war ich durch diese Gedanken sehr zerstreut; fuhr aber
noch fort, Beichte zu hören. Dann kam es mir vor, als säße
ich an meinem Tisch in meinem Zimmer, wo ich für gewöhnlich
arbeite. In den Händen hielt ich das Verzeichnis der
Hausinsassen. Ich sagte mir: “Wie geht denn das zu?
Ich bin hier in der Sakristei am Beichthören und
zugleich sitze ich in meinem Zimmer am Tisch. Träume
ich? Nein; dies ist wirklich das Verzeichnis der Jungen
und das der Tisch, an dem ich für gewöhnlich arbeite.
Da hörte ich hinter mir eine Stimme, die sprach:
“Willst du den Weg wissen, auf dem man schnell die
Zahl guter Priester vermehren kann? Sieh dir genau das
Verzeichnis an, und du wirst entdecken, was zu tun
ist.”
Ich
sah genau hin, sagte aber dann: “Dies ist das
Verzeichnis der Jungen von diesem und vom vorigen Jahre
und sonst nichts weiter.” Ich war sehr nachdenklich
geworden, las die Namen, dachte, sah unten und oben hin,
ob ich noch etwas anderes fände, aber nichts war zu
sehen. Da sagte ich mir: Träume ich oder bin ich wach?
Sitze ich wirklich hier am Tisch? Die Stimme, die ich hörte,
war aber eine wirkliche Stimme.
Plötzlich
wollte ich aufstehen, um zu sehen, wer diejenige wäre,
die zu mir gesprochen hatte. Dabei erhob ich mich
wirklich. Als die Beichtkinder sahen, daß ich mich so
eilig und erregt erhob, meinten sie, es wäre mir übel
geworden. Sie kamen und stützten mich. Ich versicherte
ihnen aber, daß nichts Besonderes sei und fuhr fort,
Beichte zu hören.
Als
ich die Beichten gehört hatte und wieder in meinem
Zimmer war, schaute ich auf meinen Tisch. Da lag
wirklich das Namensverzeichnis aller, die im Hause sind;
etwas anderes jedoch fand ich nicht. Ich prüfte das
Verzeichnis; aber ich konnte daraus den Weg nicht
entdecken, auf dem man Priester bekäme, viele Priester
und zwar schnell. Ich sah andere Verzeichnisse durch,
die ich im Zimmer hatte, ob ich aus ihnen etwas ersehen
könnte; aber zunächst schöpfte ich daraus keinerlei
Nutzen.
Darauf
erbat ich mir von Don Ghivarello weitere Listen; jedoch
alles war umsonst. Als ich noch immer weiter darüber
nachdachte und die alten Verzeichnisse durchging, um dem
Auftrag jener geheimnisvollen Stimme zu gehorchen, fand
ich, daß von so vielen Jungen, die in unseren Kollegien
das Studium begannen, um später Theologie zu studieren,
kaum 15 von 100, das sind noch nicht einmal 2 von 10,
dazu kamen, den schwarzen Rock anzuziehen. Sie werden
vom Heiligtum zurückgehalten durch
Familienangelegenheiten, von den notwendigen Prüfungen
oder von einer WiIlensänderung, die oft im Jahre der
Rhetorik eintritt. Dagegen nahmen die, die schon als
Erwachsene zu uns kamen, fast alle, d. h. 8 von 10, das
kirchliche Kleid und sie erreichten das Ziel mit weniger
Zeit und Mühe.
Da
sagte ich schließlich: Dieser bin ich viel sicherer und
sie können viel schneller vorwärtskommen. Das ist es,
was ich suchte, ich muß mich mehr und in ganz
besonderer Weise um sie kümmern. Ich muß eigens für
sie Kollegien eröffnen und suchen, sie auf besondere
Weise zu fördern. — Nun wird noch der Erfolg erkennen
lassen, ob das mir Geschehene Traum oder Wirklichkeit
war.” —
Don
Bosco besprach die Dinge mit Pius IX. und daraufhin
wurde trotz vieler Mühen und sich entgegenstellender
Schwierigkeiten und Kämpfe von seiten zweier Bischöfe
(auch des Erzbischofs von Turin) das ‚Opera di Maria
Ausiliatrice per le vocazioni allo stato ecclesiastico‘
(= Maria‑Hilf‑Werk für Priesterberufe) gegründet.
In
einer ergänzenden Vision wurde ihm kundgetan, daß er
Priester auszubilden hätte für die Bischöfe, für
sich selbst und für die amerikanische Mission, und zwar
viel mehr als er anfangs vorhatte. Dabei fiel ein dicker
Hagel, mit Steinen untermischt, auf seine Schultern.
Im
Jahre 1876 wagte Don Giuseppe Vespignani, der im
Oratorium noch neu war, Don Bosco nach seinen Träumen
zu fragen. Er wollte in kindlichem Vertrauen wissen, was
man davon halten sollte. Don Bosco gab ihm eine
allgemeine, aber ausreichende Antwort. Er sagte, es wäre
ihm in seinen Verhältnissen, da er keine Geldmittel,
keine Helfer hatte, unmöglich gewesen, zum Heil der
Jugend zu arbeiten, wenn Maria, unsere Helferin, ihn
nicht mit “besonderen Erleuchtungen und zahlreichen
Hilfen, nicht nur materieller sondern auch geistiger
Art, unterstützt hätte” (Lern. B. XI/256‑257).
Don
Bosco nannte seine Träume also selbst besondere
Erleuchtungen und geistliche Hilfen.”
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DIE
SCHLACHT MIT DEN HEUGABELN
(Lem.
XI, 257-264)
Den
folgenden Traum hatte Don Bosco in der Nacht vom 25. zum
26. April 1875. Er versprach seinen Jungen, ihnen
denselben zu erzählen, was er am Abend des 4. Mai auch
tat. Er sagte:
“Als
sich die Exerzitien näherten, dachte ich darüber nach,
wie meine Jungen sie wohl mitmachen würden, und was ich
ihnen sagen sollte; damit sie Nutzen davon hätten. Mit
diesen Gedanken ging ich nach der Sonntagsandacht, am
25. April, schlafen. Es war am Vorabend der Exerzitien.
Kaum lag ich zu Bett, da fing ich auch schon an zu träumen
und mir schien, ich befände mich ganz alleine in einem
sehr weiten Tale. Hier und dort war eine Anhöhe. Weit
hinten im Tal stieg das Gelände nach einer Seite empor
und dort leuchtete ein klares Licht. Nach der anderen
Seite hin lag der Horizont im Halbdunkel. Ich stand da
und betrachtete die Ebene. Da sah ich Buzzetti und
Gastini auf mich zukommen. Sie riefen: “Don Bosco,
steigen Sie aufs Pferd, aber schnell, schnell!” Ich
antwortete: “Ihr wollt mich wohl foppen. Ihr wißt
doch, daß ich schon lange nicht mehr geritten bin.”
Die
beiden Jungen drängten. Ich aber weigerte mich: “Ich
will nicht aufs Pferd. Ich bin früher schon einmal
geritten und dabei zu Fall gekommen.” Buzzetti und
Gastini drängten mit immer größerem Eifer. “Aufs
Pferd, schnell, wir haben keine Zeit zu verlieren!”
“Aber
was soll das, wohin wollt ihr mich bringen, wenn ich nun
auf dem Pferde sitze?” — Das werden Sie schon sehen!
Schnell, steigen Sie auf!” — “Aber wo ist das
Pferd denn? Ich sehe hier keines!”
“Da
vorne!” rief Gastini und zeigte nach einer Seite des
Tales. Ich wandte mich dorthin und sah in der Tat ein
sehr schönes, munteres Pferd. Es hatte hohe und kräftige
Beine, eine dicke Mähne und ein sehr glänzendes Fell.
“Nun gut”, sagte ich, “ich steige auf, weil ihr es
wollt. Aber paßt auf! Wenn ich herunterfalle...” —
“Keine Sorge!” antworteten sie. Wir sind für alle Fälle
bei Ihnen.”
“Und
wenn ich mir den Hals breche”, sagte ich zu Buzzetti,
“mußt du mir den Kopf wieder aufsetzen.” Buzzetti
fing an zu lachen.
“Wir
haben keine Zeit zum Lachen”, brummte Gastini. So
gingen wir zum Pferd. Ich stieg mit vieler Mühe auf
seine Kruppe. Sie halfen mir dabei und schließlich saß
ich im Sattel. Wie hoch mir das Pferd jetzt so vorkam!
Es schien mir, als befände ich mich auf einer Höhe,
von der ich das ganze Tal bis zu seinen äußersten
Enden beherrschte.
Da
setzte sich mein Pferd in Bewegung. Wie seltsam, es
schien mir auf einmal, ich wäre in meinem Zimmer und
ich fragte mich selbst. “Wo sind wir? Ich sah
Priester, Kleriker und andere Leute eintreten. Sie alle
wollten mit mir sprechen und waren erschreckt und
traurig. Nach einem guten Stück Wegs hielt das Pferd
an. Nun sah ich alle Priester aus dem Oratorium und
viele Kleriker bei mir um mein Pferd versammelt. Unter
ihnen bemerkte ich Don Rua, Don Cagliero und Don
Bologna. Sie standen und betrachteten das Pferd, auf dem
ich saß. Keiner sprach ein Wort. Ich sah sie alle mit
einem so traurigen Gesichtsausdruck, so verstört, wie
noch nie. Ich rief Don Bologna zu mir und fragte ihn:
“Don Bologna, du bist unser Pförtner, kannst du mir
sagen, was für Neuigkeiten es in unserem Hause gibt?
Warum sehe ich euch alle so traurig?” Und er
antwortete: “Ich weiß nicht, wo ich bin, noch was ich
tue. Ich bin ganz verwirrt. Es kamen Leute, sie sprachen
und gingen wieder. An der Pforte ist ein Durcheinander
von Kommen und Gehen, daß ich überhaupt nichts mehr
verstehe.” — “Oh, ist es möglich”, dachte ich
mir, “daß heute etwas Außergewöhnliches
stattfindet?” Da brachte mir jemand eine Trompete und
sagte, ich solle sie behalten. Sie würde mir gute
Dienste leisten. Ich fragte. “Wo sind wir hier?” —
“Blas in die Trompete!” Ich blies in die Trompete
und herauskam die Antwort. “Wir sind im Lande der Prüfung.”
Darauf
sah man von einer Anhöhe eine Menge Jungen
heruntersteigen. Es waren so viele, daß ich glaube, es
waren mehrere hunderttausend. Niemand von ihnen sprach.
Alle waren mit einer Heugabel bewaffnet. Sie kamen mit
großen Schritten ins Tal. Unter diesen sah ich alle
Jungen aus dem Oratorium und auch aus unseren anderen
Kollegien. Sehr viele von ihnen kannte ich nicht. Da
fing der Himmel an, von der einen Seite des Tales sich
derart zu verdunkeln, daß man meinen konnte, es wäre
Nacht. Es erschien eine ungeheure Anzahl von Tieren, die
wie Löwen und Tiger aussahen. Diese wilden Ungeheuer
hatten einen gewaltigen Körper, starke Beine und einen
langen Hals. Jedoch war der Kopf einigermaßen klein.
Ihre Schnauze war furchterregend. Mit roten Augen, die
aus den Höhlen hervorquollen, stürzten sie gegen die
Jungen an. Diese sahen sich von den Tieren angegriffen
und setzten sich zur Wehr. Sie hielten ihre Heugabel mit
zwei Zinken den Ungeheuern entgegen, hoben und senkten
sie, je nachdem sie angegriffen wurden. Die Scheusale
konnten beim ersten Angriff nicht siegen. Sie bissen in
das Eisen der Gabeln, brachen sich die Zähne aus und
verschwanden. Einige Jungen aber hatten nur eine Gabel
mit einer Zinke. Die waren verwundet. Bei anderen war
der Stiel der Forke zerbrochen oder wurmstichig. Ja,
manche warfen sich den Tieren in ihrer Einbildung ohne
Waffen entgegen. Sie waren bald ihre Opfer und wurden
getötet. Das waren nicht einmal wenige. Viele hatten
eine Gabel mit einem neuen Stiel und zwei Zinken.
Unterdessen
wurde mein Pferd von einer zahllosen Menge von Schlangen
umringt. Aber mit Sprüngen und Fußtritten nach rechts
und links zerquetschte und entfernte es sie. Dabei nahm
es an Größe und Kraft zu und wuchs immer weiter. Da
habe ich jemanden gefragt, was diese Heugabeln mit den
zwei Zinken bedeuten sollten. Man reichte mir eine Gabel
und ich sah auf der einen Zinke geschrieben: Beichte,
und auf der anderen: Kommunion.
“Was
sollen diese beiden Zinken bedeuten?” — “Blas in
die Trompete!” Ich blies von neuem und es erscholl:
“Zerbrochener Stiel: schlechte Beichten und schlechte
Kommunionen. Wurmstichiger Stiel. Mangelhaftes
Beichten.”
Nach
diesem ersten Angriff ritt ich rings um das ganze
Schlachtfeld. Da sah ich viele Verwundete und Tote.
Einige sah ich auf der Erde liegen, erdrosselt, mit
geschwollenem, mißgestaltetem Halse. Andere hatten das
Gesicht schrecklich verunstaltet. Wieder andere waren
vor Hunger gestorben, obwohl sie neben sich noch einen
Teller mit gutem Gebäck liegen hatten. Die Erdrosselten
sind die, welche das Unglück hatten, schon als Kind
irgendeine Sünde zu begehen, die sie niemals gebeichtet
haben. Die im Gesicht so Verunstalteten waren die Naschsüchtigen
und Leckermäuler. Die Verhungerten waren die, welche
zwar beichten gingen, aber nicht nach den Ratschlägen
und Ermahnungen des Beichtvaters handelten.
Bei
jedem, der einen wurmstichigen Stiel in seiner Gabel
hatte, stand ein Wort geschrieben; bei einem stand
‚Stolz', bei einem ‚Trägheit', bei einem anderen
‚Unkeuschheit' usw.
Zu
beachten ist noch, daß die Jungen auf einem Wege von
Rosen herankamen und Freude daran hatten. Aber nachdem
sie einige Schritte gemacht hatten, stießen einige
einen Schrei aus und fielen tot nieder oder waren
verwundet; denn unter dem Rosen befanden sich Dornen.
Andere jedoch traten mutig darauf, schritten darüber
hinweg, ermutigten sich gegenseitig und blieben Sieger.
Dann
verdunkelte sich der Himmel von neuem und augenblicklich
erschien eine Menge von Tieren und Ungeheuern, die noch
größer waren als die vorhergehenden. Alles geschah in
weniger als drei bis vier Sekunden und auch mein Pferd
wurde umringt. Die Ungetüme wuchsen so ins Übermaß,
daß auch ich Angst bekam. Ich glaubte mich schon von
ihren Tatzen umkrallt, da reichte man mir noch
rechtzeitig eine Gabel. Nun fing auch ich an zu kämpfen
und die Ungeheuer wurden in die Flucht geschlagen. Alle
verschwanden, wie sie auch vorher verschwunden waren,
nachdem sie im ersten Angriff besiegt worden waren.
Da
blies ich in die Trompete und es hallte eine Stimme
durch das Tal: “Sieg, Sieg!” — “Wie?” fragte
ich, “wir sollen gesiegt haben? Da sind doch so viele
Verwundete und Tote!” Da blies ich wieder in die
Trompete und man hörte: “Zeit den Besiegten.”
Dann
wurde der Himmel, so dunkel er auch gewesen war, hell
und licht. Man sah einen Regenbogen, ein so schönes
Licht, in so vielen Farben, daß man es nicht
beschreiben kann. Es war so breit, als ob es sich auf
Superga stützte, einen Bogen machte und sich dann auf
Mencenisio lehnte. Ich muß noch bemerken, daß die
Sieger Kronen auf ihrem Haupt trugen. Diese leuchteten
so sehr und in einer solchen Farbenpracht, daß es
wundervoll war, sie zu betrachten. Auch ihr Antlitz
erstrahlte in einer wunderbaren Schönheit. Im
Hintergrund, an der einen Seite des Tales, mitten unter
dem Regenbogen, sah man eine Art Tribüne. Darauf
befanden sich Leute, die voller Jubel waren. Sie waren
von unvorstellbarer Schönheit. Eine sehr edle Herrin,
die königlich gekleidet war, trat an den Rand des
Balkons und rief: “Meine Söhne, kommt, bergt euch
unter meinem Mantel.” Da breitete sich ein sehr weiter
Mantel aus und alle Jungen fingen an, darunterzulaufen.
Einige flogen sogar. Auf ihrer Stirne stand geschrieben:
Unschuld. Andere gingen und wieder andere schleppten
sich dorthin. Auch ich fing an zu laufen. In dieser
augenblicklichen Bewegung, die nicht länger als eine
halbe Sekunde dauerte, sagte ich mir: “Nun Schluß
damit! Wenn das noch ein bißchen so weitergeht, werden
wir alle sterben.” Als ich das gesagt hatte, während
ich noch lief, erwachte ich.” —
Am
6. Mai, am Himmelfahrtstage, knüpfte Don Bosco wieder
an seine Erzählung an. Er sagte:
“Vorgestern
abend konnte ich nicht alles sagen, weil ein Fremder
zugegen war. Diese Dinge bleiben aber unter uns. Wir
schreiben sie auch nicht an die Eltern oder Freunde.
Euch sage ich ja alles, sogar meine Sünden. Jenes Tal,
das Land der Prüfung, ist diese Welt. Das Halbdunkel
ist der Ort der Verdammnis. Die beiden Anhöhen sind die
Gebote Gottes und die der Kirche. Die Schlangen sind
Teufel und die Ungeheuer sind schlechte Versuchungen.
Das Pferd schien mir jenes Pferd zu bedeuten, das den
Eliodor niederschlug; es ist das Vertrauen auf Gott. Die
über die Rosen gingen und tot hinfielen, sind jene, die
sich dem Vergnügen dieser Welt überlassen, das zum Tod
der Seelen führt. Die, welche die Rosen zertraten, sind
jene, die die Vergnügungen dieser Welt verachten und
Sieger bleiben. Die, welche unter den Mantel flogen,
sind die Unschuldigen.
Allen,
die über ihre Waffe Bescheid wissen wollen, ob sie
Sieger waren oder nicht, tot oder verwundet, sage ich
gelegentlich etwas darüber. Obgleich ich nicht alle
Jungen kannte, so kannte ich doch die, welche sich jetzt
im Oratorium befinden. Und die anderen, die vielleicht
noch kommen werden, würde ich gut wiedererkennen, wenn
ich sie sähe.”
Don
Barberis fragte Don Bosco nach diesem Traum. Don Bosco
antwortete ihm ganz ernst: “Das ist schon etwas mehr
als ein Traum.” Dann brach er ab und ging auf etwas
anderes über. (Lem. XI, 261). —
Don
Berto, der Berichterstatter, fragte Don Bosco nach
seinem Zustand in der Vision. Er berichtet: “Ich
erhielt eine so genaue Antwort, daß ich weinte und
sagte. “Wenn ein Engel vom Himmel gekommen wäre, hätte
er es nicht besser treffen können.” (Lem. XI, 261).
—
Am
4. Juni 1875 fragte Don Barberis wiederum nach dem
Traum: “Gegen Schluß des Traumes erzählten Sie, daß
einige unter den Mantel Mariens flogen, viele liefen,
andere langsam gingen und wieder andere durch den
Schmutz wateten, so daß sie ganz besudelt wurden und
meistens nicht bis unter den Mantel gelangten. Sie haben
uns schon gesagt, daß die Unschuldigen flogen. Da kann
man sich denken, wer die sind, welche in Eile
herankamen. Aber die im Sumpf stecken blieben, wen
stellen sie dar?” Don Bosco antwortete: “Die stecken
blieben, daß sie meist nicht mehr unter den Mantel der
Gottesmutter ankamen, sind die, welche den Gütern
dieser Welt verhaftet sind. Sie haben ein egoistisches
Herz und denken nur an sich selbst. Sie beschmutzen sich
selbst und sind nicht mehr fähig, sich zu höheren
Dingen aufzuschwingen. Sie sehen, daß die Jungfrau
Maria sie ruft, möchten auch gehen, machen sogar einige
Schritte; aber der Schmutz zieht sie hinab. So geht es
immer wieder. Der Herr sagt: ‚Wo dein Schatz ist, da
ist auch dein Herz'. Die, welche sich nicht erheben zu
den Schätzen der Gnade, stecken ihr Herz in die Dinge
der Erde. Sie denken nur daran, irdische Freuden zu
genießen, reich zu werden, ihre Geschäfte
voranzubringen und Ansehen zu gewinnen. Und für das
Paradies — nichts”
Don
Barberis: “Sahen Sie, Don Bosco, in dem berühmten
Traum nur die Vergangenheit der Jungen oder auch die
Zukunft, das was jeder tun wird, was jeder erreichen
wird?”
Don
Bosco antwortete: “Ich sah nicht nur das Vergangene,
sondern auch die Zukunft, die den Jungen im Gesicht
geschrieben stand. jeder Junge hatte mehrere Straßen
vor sich, auch enge und dornige, einige waren sogar mit
scharfen Nagelspitzen bedeckt. Aber diese Straßen waren
auch mit den Gnaden des Herrn bedeckt und endeten in
einem sehr prächtigen Garten, wo es Wonne aller Art
gibt.”
Don
Barberis: “Das heißt also, daß Sie wissen, welchen
Weg jeder gehen wird, welches der Beruf eines jeden von
uns ist, wie wir gehen und wie wir enden werden.”
Don
Bosco: “Es hat keinen Sinn, zu sagen, welchen Weg
jeder gehen und wie er enden wird. Wenn man einem Jungen
sagen würde: ‚Du wirst den Weg der Gottlosigkeit
gehen', so wirkt das nichts Gutes, sondern erfüllt ihn
nur mit Schrecken. Was ich sagen kann ist: wenn einer
jenem Wege folgt, so ist er sicher, auf dem Wege zum
Himmel zu sein. Das ist der Weg, auf dem zu gehen er
gerufen ist. Wer den Weg nicht geht, ist nicht auf dem
richtigen Wege. Einige Wege sind schmal, steinig und
dornig. Aber Mut, meine lieben Söhne! Bei den Dornen
ist auch die Gnade Gottes. Und am Ende des Weges
erwartet uns so viel Gutes, daß wir schnell die
Schmerzen vergessen.
Ich
möchte aber, daß ihr festhaltet, daß dies ein Traum
war, an den niemand zu glauben braucht. Zwar mache ich
die Beobachtung, daß alle, die mich um Erklärung
bitten, den Hinweis gut aufnehmen. Immerhin handelt nach
den Worten des heiligen Paulus: ‚Prüfet den Geist,
und was gut ist, behaltet.‘” (Lem. XI,
262‑263).
Inhaltsübersicht
DIE
HÜHNER
(Lem.
XII, 41-45)
In
der zweiten Januarhälfte des Jahres 1876 hatte Don
Bosco einen symbolischen Traum, den er in kurzen
Umrissen einigen Salesianern erzählte. Auf allgemeines
Drängen hin teilte er ihn am 23. Januar allen mit. Er
sagte:
“Ich
glaubte, weit weg von hier, in meiner Heimat, in
Castelnuovo d'Asti zu sein. Vor mir erstreckte sich ein
weit ausgedehntes Land in einer großen, schönen Ebene.
Aber das Feld war nicht das unsrige und ich weiß nicht,
wem es gehörte. Darauf sah ich viele Menschen mit
Hacken, Spaten, Harken und anderen Geräten arbeiten.
Einer pflügte, ein anderer säte das Korn, und wieder
ein anderer ebnete die Erde. So hatte einer diese, der
andere jene Arbeit.
Hier
und da standen auch Verwalter, welche die Arbeiten
leiteten; und es kam mir vor, als wäre ich auch einer
unter ihnen. Gruppen von Landleuten standen anderwärts
und sangen. Ich betrachtete das alles ganz erstaunt und
konnte mir über die Örtlichkeiten nicht ganz
klarwerden. Ich fragte mich: Warum arbeiten diese so tüchtig?
Die Antwort gab ich mir auch selbst: Um meine Jungen mit
Brot zu versorgen.
Wirklich
wunderbar war es zu sehen, wie diese guten Feldarbeiter
keinen Augenblick ihre Tätigkeiten unterbrachen und ihr
Werk mit immerwährender Freudigkeit und anhaltendem
Eifer fortsetzten. Nur wenige standen lachend und
scherzend daneben. Während ich dieses schöne Bild
betrachtete und umherblickte, gewahrte ich um mich
einige Priester und viele von meinen Klerikern. Manche
von ihnen standen nahe bei mir, andere in einer gewissen
Entfernung. Ich sagte mir: Ich träume, meine Kleriker
sind in Turin, hier sind wir aber in Castelnuovo. Wie
kann das denn sein? Ich stecke von Kopf bis Fuß in
Winterkleidern, erst gestern habe ich noch gefroren und
nun sät man das Korn.
Ich
klatschte in die Hände, ging herum und sagte: “Ich träume
doch nicht! Dies ist ein richtiges Feld. Dies ist der
Kleriker A. . . leibhaftig. Der da ist der Kleriker B. .
. Und wie soll ich im Traum dies und jenes sehen können?”
Unterdessen
sah ich neben mir, und doch etwas abseits, einen alten
Mann. Er sah sehr gütig und klug aus. Er stand da und
beobachtete mich und alle anderen.
Ich
wandte mich an ihn mit der Frage: “Sagen Sie, guter
Mann, was ist das, was ich hier sehe? Ich verstehe
nichts davon. Wo sind wir hier? Wem gehören diese
Arbeiter? Wem das Feld?” — “Oh!”, antwortete er,
das sind aber schöne Fragen. Sie sind ein Priester und
wissen diese Dinge nicht?”
“Sagen
Sie mir mal, ob ich träume oder wach bin? Mir kommt das
alles nämlich wie im Traum vor, und die Dinge, die ich
sehe, scheinen mir unmöglich.”
“Sie
sind trotzdem möglich, sogar wirklich, und mir scheint,
daß Sie ganz wach sind. Merken Sie nichts davon? Sie
sprechen, lachen, scherzen.” — “Nun”, sagte ich,
“es gibt Leute, denen kommt es im Traum so vor, als ob
sie sprächen, zuhörten, handelten, als wenn sie wach wären.”
“Aber
nein; lassen Sie dies alles beiseite. Sie sind hier mit
Leib und Seele.” — “Meinetwegen. Wenn ich also
wach bin, dann sagen Sie mir, wem dieses Feld gehört.”
— “Sie haben Latein studiert, welches ist das zweite
Wort der zweiten Deklination, wie Sie es im Donatus
gelernt haben? Wissen Sie es noch?” — “Und ob!
Aber was hat das mit der Frage von eben zu tun?”
“Sehr
viel. Sagen Sie mir, welches ist das erste Wort, das man
bei der zweiten Deklination lernt?” — “Das ist ‚Dominus'
(= Herr).” — “Und wie heißt der Genitiv davon?”
— “Domini.” — “Bravo, gut! Domini; dieses Feld
ist also das Feld des Domini, das Feld des Herrn.”
“Ah!
Nun fange ich an zu verstehen!” rief ich aus. Ich war
erstaunt über die Wichtigkeit, mit der der gute Alte
sprach.
Indessen
sah ich einige Leute mit Säcken voll Korn und Weizen
herankommen. Sie wollten säen. Eine Gruppe von
Landleuten sang: Exit, qui seminat, seminare semen suum
(= Ein Sämann ging aus, seinen Samen zu säen). Es
schien mir eine Sünde, dieses Saatgut fortzuwerfen und
es unter der Erde faulen zu lassen. Es war so schöner
Weizen. Ich fragte mich, ob es nicht besser wäre, ihn
zu mahlen und Brot und Kuchen daraus zu backen. Aber
dann dachte ich: Wer nicht sät, der erntet auch nicht.
Und was soll man ernten, wenn man die Saat nicht
auswirft und diese nicht faul wird. Darauf sah ich von
allen Seiten eine Menge Hühner herankommen. Sie gingen
in die Saat und pickten all den Weizen auf, den andere
als Samen ausgesät hatten.
Die
Gruppe der Sänger fuhr fort: Venerunt aves caeli,
sustulerunt frumentum et reliquerunt zizaniam. (= Die Vögel
des Himmels kamen, fraßen den Weizen auf und ließen
das Unkraut liegen.)
Ich
warf einen Blick auf die Kleriker bei mir. Einer stand
da mit zusammengelegten Händen und schaute mit kalter
Gleichgültigkeit zu. Ein anderer schwätzte mit einem
Kameraden. Andere standen mit den Schultern dicht
beisammen. Manche betrachteten den Himmel. Andere
lachten dazu. Wieder andere fuhren ruhig mit ihrer Erzählung
und in ihren Spielen fort. Manche brachen zwar ihre
Beschäftigung ab; aber keiner jagte die Hühner fort.
Ich fuhr sie unwillig an, rief jeden beim Namen und
sagte: “Was tut ihr da? Seht ihr nicht, wie die Hühner
den Weizen auffressen? Seht ihr nicht, daß sie das gute
Saatgut zerstören und die Hoffnung dieser Feldarbeiter
zunichte machen? Was sollen wir später ernten? Warum
schreit ihr nicht und jagt die Hühner nicht fort?”
Aber
die Kleriker rückten nur zusammen, sahen mich an und
sagten nichts. Einige wandten sich nicht einmal um. Sie
kümmerten sich weder um das Feld, noch um mein Rufen.
“Ihr
Toren”, fuhr ich fort. “Die Hühner haben schon
ihren ganzen Hals voll. Könnt ihr nicht in die Hände
klatschen und es so machen?” Dabei klatschte ich mit
den Händen. Ich steckte in einer wirklichen
Verlegenheit; denn niemand hörte auf meine Worte.
Schließlich fingen einige an, die Hühner fortzujagen.
Aber ich dachte mir: Ja, ja, wenn der Weizen
aufgefressen ist, fangen sie an, die Hühner
fortzujagen.
Da
tönte mir das Lied der Landleute wieder in die Ohren.
Sie sangen: Canes muti nescientes latrare (= stumme
Hunde können nicht bellen). Nun wandte ich mich wieder
zu dem guten alten Herrn und unter Staunen und Unwillen
sagte ich zu ihm: “Jetzt erklären Sie mir bitte
alles, was ich sehe. Ich begreife nichts davon. Was
bedeutet der Samen, den man auf die Erde wirft?” —
“Oh, gern! Semen est verbum Dei — der Same ist das
Wort Gottes.”
“Aber
was soll das heißen, daß ich Hühner sehe, die ihn
auffressen?”
Der
Alte änderte seinen Tonfall und fuhr fort: “Oh, wenn
Sie eine vollständige Erklärung wünschen, so gebe ich
sie Ihnen. Das Feld ist der Weinberg des Herrn, von dem
im Evangelium gesprochen wird. Man kann auch das
Menschenherz darunter verstehen. Die Landarbeiter sind
Arbeiter im Dienste des Evangeliums, die besonders durch
die Predigt das Wort Gottes aussäen. Dieses würde in
einem guten Herzen reiche Frucht bringen wie in einem
wohlbereiteten Erdreich. Aber was geschieht nun? Die Vögel
des Himmels kommen und tragen es hinweg.” — “Was
sollen die Vögel des Himmels bedeuten?” — “Soll
ich es Ihnen sagen? Sie bedeuten die üblen Nachreden.
Kaum hat man irgendeine Predigt gehört, die Wirkung
haben könnte, so geht man zu den Kameraden. Jemand
macht seine Glossen über eine Geste des Predigers, über
seine Stimme, über einen Ausdruck, und schon ist die
ganze Frucht der Predigt dahin. Ein anderer stellt beim
Prediger selbst ein körperliches oder geistiges
Gebrechen fest, ein dritter lacht über sein
Italienisch, und die ganze Frucht der Predigt ist fort.
Dasselbe
läßt sich von einer guten Lesung sagen. Alles, was sie
Gutes wirken könnte, wird von einer üblen Nachrede
verhindert. Diese Redereien sind um so schlimmer, als
sie im allgemeinen im Geheimen und Verborgenen
stattfinden und dort leben und wachsen, wo wir sie am
wenigsten vermuten.
Auf
einem nicht sehr gut bearbeiteten Felde geht der Weizen
immerhin auf, wächst, kommt einigermaßen hoch und
bringt Frucht. Wenn ein Feld mit Junger Saat von einem
Gewitter heimgesucht wird, so bleibt es verwüstet, es
bringt nicht mehr soviel Frucht, aber es bringt noch
einigen Ertrag. Auch wenn das Saatkorn nicht so gut war,
wird es wachsen. Es wird zwar wenig Frucht bringen, aber
es bringt noch etwas. Wenn aber die Hühner oder die Vögel
das Saatgut aufpicken, dann gibt es keine Möglichkeiten
mehr: das Feld bringt überhaupt nichts ein, es bringt
keinerlei Frucht.
So
geht es auch, wenn auf die Predigten, Ermahnungen, guten
Vorsätze irgend etwas anderes folgt, z. B. eine
Ablenkung oder Versuchung usw., sie bringen dann weniger
Frucht. Aber wenn schlechte Kritik, üble Nachrede oder
dergleichen folgt, so hält ihnen kaum etwas stand und
ihr Wert ist sofort dahin.
Wer
muß aber in die Hände klatschen, energisch sein,
rufen, wachen, damit derartiges Kritisieren und solche
üblen Redereien unterbleiben? Das wissen Sie!” —
“Was taten denn eigentlich diese Kleriker dabei?”
fragte ich ihn. “Konnten sie ein solches Übel nicht
verhindern?”
“Sie
verhinderten gar nichts”, sagte er. “Einige standen
da und sahen zu wie stumme Statuen. Andere achteten
nicht darauf, dachten nicht daran, sahen es nicht, sie
standen dabei mit verschränkten Armen. Manche hatten
auch nicht den Mut, das Übel zu verhindern. Einige, es
waren jedoch nur wenige, schlossen sich selbst den
Kritikastern an und machten deren üble Redereien mit
und wirkten so als Zerstörer des Wortes Gottes. Du als
Priester weise darauf hin. Predige, ermahne, sprich. Man
braucht keine Angst zu haben, in dieser Beziehung jemals
zuviel zu sagen. Und alle sollen wissen, daß das
Glossenmachen über den, der predigt, ermahnt und gute
Ratschläge erteilt, den größten Schaden anrichtet.
Aber schweigen, wenn man eine Unordnung sieht und diese
nicht verhindern, heißt sich zum Mitschuldigen am Bösen
anderer machen, besonders gilt es für die, die ihm
entgegentreten könnten und müßten.”
Ganz
erschüttert von diesen Worten wollte ich noch dieses
und jenes fragen und aufmerksam betrachten, den
Klerikern Vorwürfe machen, sie anfeuern, ihre Pflicht
zu erfüllen. Da bewegten sie sich aber schon und
suchten die Hühner zu vertreiben. Ich aber machte
einige Schritte vorwärts, stolperte dabei über eine
Harke, mit der die Erde geebnet werden sollte und die
auf dem Felde liegen geblieben war, und erwachte. —
Lassen
wir alles andere beiseite und kommen wir zu der Moral.
Don Barberis, was hältst du von diesem Traum?”
“Ich
denke”, antwortete Don Barberis, “daß er eine gute
Abreibung und ein Stich für den ist, auf den er paßt.”
“Ganz
gewiß”, antwortete Don Bosco, “es ist eine Lektion,
die uns gut tut. Achtet darauf, meine lieben Jungen,
unter euch auf jede Weise, die üble Nachrede
abzuschaffen als etwas außer gewöhnlich Schlimmes.
Flieht sie wie die Pest. Ihr sollt sie nicht nur meiden,
sondern sie auch bei anderen mit aller Kraft unterdrücken.
Manchmal bewirken heilige Ratschläge und sehr gute
Werke nicht viel Gutes, weil man eine üble Nachrede
oder ein schadendes Wort nicht verhindert. Wappnen wir
uns mit Mut und bekämpfen wir solches Tun mit Freimut.
Es gibt kein größeres Unglück, als dazu beitragen, daß
Gottes Wort verlorengeht. Dazu genügt ein Witz, ja
sogar nur ein Scherz.” —
In
einer der folgenden Nächte hatte Don Bosco wiederum
einen Traum, in welchem er den Tod von dreien seiner Zöglinge
voraussah. Er erzählte diesen Traum ebenfalls am 23.
Januar im Anschluß an den Traum von den Hühnern. Es
scheint, in diesem zweiten Traum sollte der erste, den
man vielleicht für harmlos halten könnte, unterstützt
und bekräftigt werden. Er sollte aufweisen, was es mit
den Träumen Don Boscos auf sich hat. Weil dieser Traum
eine einfache Vorherschau ohne besondere pädagogische
Erkenntnisse ist, wird er hier nicht gebracht. —
Don
Ceria sagt zu den Visionen Don Boscos:
“Der
lebendige Eindruck (einer solchen Erzählung) hielt
Wochen und Monate an und dadurch entstanden gründliche
Lebensänderungen bei manchen Bösewichtern. Man drängte
sich um den Beichtstuhl Don Boscos. Es fiel keinem ein,
anzunehmen, Don Bosco erfände jene Erzählungen, um
seine Jungen zu erschrecken und ihr Leben zu bessern;
denn wenn er von einem bevorstehenden Todesfall sprach,
so traf dieser stets ein und die Gewissenszustände, die
er in Träumen sah, entsprachen der Wirklichkeit” (Lem.
XII, 48). —
Zu
Don Barberis sagte Don Bosco am Abend des 23. Januar
nach der öffentlichen Erzählung: “Ich habe im Traum
alles gesehen. Ich sah den Zustand jedes einzelnen. Ich
sah, ob er ein Huhn oder ein stummer Hund war, ob er zu
denen gehörte, die sich, nach dem Anruf, ans Werk
machten oder zu denen, die sich nicht rührten. Diese
Kenntnisse werde ich im Beichtstuhl verwerten sowie in
öffentlichen und privaten Ermahnungen, solange ich
sehe, daß sie Gutes bewirken. Anfangs machte ich nicht
viel Aufhebens um diese Träume; aber ich beobachtete,
daß sie meistens so viel Frucht bringen, wie mehrere
Predigten. Für einige sind sie sogar wirksamer als ein
ganzer Exerzitienkurs. Darum bediene ich mich ihrer.
Warum auch nicht? In der Heiligen Schrift liest man:
“Probate spiritus; quod bonum est tenete — Prüfer
alles, und was gut ist, behaltet!” (Lem. XII, 50). —
Don
Barberis sagte zu Don Bosco: “Man könnte eine
Sammlung (dieser Träume) machen Sie würden begehrt und
von Kleinen und Großen, Jungen und Alten zum Heil ihrer
Seelen gelesen werden.” — “Ja, ja, sie würden
Gutes bewirken, davon bin ich zutiefst überzeugt.” (Lem.
XII, 51).
Inhaltsübersicht
DER
SCHILD DES GLAUBENS
(Lem.
XII, 348-356)
Am
Fronleichnamsfest — 30. Juni 1876 — erzählte Don
Bosco seinen Jungen den folgenden Traum, den er zwei
Wochen früher, als die Jungen ihre Exerzitien
beendeten, gehabt hatte. Er sagte:
“Schon
lange betete ich zum Herrn, daß er mich den
Seelenzustand meiner herzlieben Jungen erkennen ließe
und mir zeige, was man tun könnte, um sie möglichst
weit in der Tugend voranzubringen und ihnen gewisse
Laster aus dem Herzen zu reißen. Besonders während der
Exerzitien dachte ich viel über diese Dinge nach. Gott
sei Dank, die Exerzitien waren wirklich gut, sowohl bei
den Studenten als auch bei den Handwerkern. Aber der
Herr ging in seiner Barmherzigkeit noch viel weiter. Er
wollte mir seine Liebe dadurch zeigen, daß ich in den
Gewissen der Jungen wie in einem Buch lesen konnte. Noch
wunderbarer aber war es, daß ich nicht nur den gegenwärtigen
Zustand jedes einzelnen sah, sondern auch die Dinge, die
ihm in Zukunft passieren werden. Das geschah in
einzigartiger und auch für mich außergewöhnlicher
Weise. Auch ihr zukünftiges Verhalten sah ich auf ähnliche
Art deutlich und offen dargelegt. Auch das Gewissen der
Jungen erkannte ich sehr klar. Es war dies das erste
Mal.
Ich
hatte die allerseligste Jungfrau Maria sehr gebeten, sie
möchte mir die Gnade gewähren, daß niemand von euch
den Satan im Herzen trage. Ich glaube auch, dies wurde
mir gewährt; denn ich habe Gründe anzunehmen, daß ihr
mir alle euer Gewissen vollständig eröffnet habt.
Ich
beschäftigte mich also mit diesen Gedanken und bat den
Herrn, er möchte mich erkennen lassen, was dem
Seelenzustand meiner lieben Jungen nützen oder schaden
könnte. So ging ich zu Bett und träumte, was ich euch
nun erzählen werde. Es schien mir, ich befände mich im
Oratorium bei meinen Jungen, die meine Ehre und meine
Krone sind. Es war am Abend zur Dämmerstunde. Man
konnte wohl noch sehen, aber nicht mehr so klar. Ich kam
hier aus den Säulenhallen heraus und ging zur Pforte.
Eine große Schar umgab mich, wie ihr zu tun gewohnt
seid; denn wir sind ja Freunde. Die einen waren
gekommen, mich zu begrüßen, die anderen, um mir etwas
zu sagen. Ich wechselte ein Wort mit diesem und mit
jenem. So war ich allmählich mitten im Hof angekommen.
Da hörte ich ein klagendes und langgezogenes ‚Ahi,
Ahi'‑Rufen, einen sehr großen Lärm, dazwischen
schrille Schreie der Jungen und wildes Heulen. Alles kam
von der Seite der Pforte her. Die Studenten liefen zu
diesem ungewöhnlichen Tumult hin, um zu sehen, was loß
wäre. Ich sah sie aber sogleich wieder mit den
erschreckten Handwerkern die Flucht ergreifen. Schreiend
kamen sie auf uns zugelaufen. Viele Handwerker hatten
sich von der Pforte in den Hof zurückgezogen. Da aber
das Geschrei von Schmerz und Verzweiflung immer größer
wurde, fragte ich angstvoll alle, was passiert sei. Ich
versuchte auch, voranzugehen, um zu helfen, wo es nottäte.
Aber die Jungen, die sich um mich herumdrängten,
hielten mich zurück. Da sagte ich: “Laßt mich doch
gehen und sehen, was es da Schreckliches gibt.”
“Nein,
nein, um Gottes willen”, riefen sie mir alle zu,
“gehen Sie nicht voran, kommen Sie, kommen Sie zurück!
Dort ist ein Ungeheuer, das Sie verschlingt. Fliehen
Sie, fliehen Sie mit uns! Gehen Sie nicht da
hinunter!”
Ich
wollte aber auf jeden Fall sehen, was es dort gäbe. Ich
machte mich von den Jungen los und ging ein Stück in
den Hof der Handwerker hinein, während alle Jungen
riefen: “Sehen Sie, sehen Sie!”
“Was
denn?” — “Sehen Sie dahinten!”
Ich
wandte mich dorthin und sah ein Ungeheuer, das mir
zuerst wie ein Löwe vorkam. Es gab sicher nicht
seinesgleichen auf der Welt. Ich betrachtete es
aufmerksam. Es war scheußlich und sah fast wie ein Bär
aus, nur noch viel wilder und schrecklicher. Das
Hinterteil und die Verhältnisse der Glieder zueinander
waren etwas klein, aber vorne, die Schultern waren
gewaltig groß, ebenso auch sein Magen. Ungewöhnlich
dick war der Kopf, und sein Rachen war so maßlos weit
geöffnet, daß er einen Menschen mit einem Mal
verschlingen konnte. Aus der Schnauze kamen gleich
schneidenden Schwertern zwei dicke, scharfe und sehr
lange Zähne hervor.
Sofort
ging ich zu meinen Jungen zurück. Diese fragten mich
bange um Rat. Ich war aber auch nicht frei von Furcht
und befand mich in einer nicht geringen Verlegenheit.
Inzwischen sagte ich: “Gern möchte ich euch raten,
was ihr tun sollt; aber ich weiß es nicht. Kommt mal
erst unter die Säulenhallen.”
Während
ich so sprach, trat der Bär in den zweiten Hof ein. Er
näherte sich uns mit bedächtigen, langsamen Schritten,
gleich als wäre er sich seiner Beute sicher. Wir zogen
uns erschreckt weiter hier unter die Säulenhallen zurück.
Die Jungen standen dicht gedrängt um mich herum. Aller
Augen richteten sich auf mich. Sie fragten: “Don Bosco,
was sollen wir tun?” Ich sah wiederum auf die Jungen;
aber schweigend, weil ich nicht wußte, wie ich mich
verhalten sollte. Schließlich rief ich aus: “Gehen
wir hinten unter die Säulenhallen zum Bilde der
Madonna. Knien wir dort nieder und beten wir eifrig und
noch andächtiger als sonst. Die Gottesmutter möge uns
sagen, was wir jetzt tun sollen. Sie möge uns erkennen
lassen, wer dieses Ungeheuer ist, und sie möge uns zu
Hilfe kommen und uns befreien. Wenn es ein wildes Tier
ist, werden wir alle zusammen versuchen, es auf
irgendeine Art zu töten. Wenn es aber ein Dämon ist,
wird Maria uns helfen. Fürchtet euch nicht! Die
himmlische Mutter wird für unser Heil sorgen!”
Unterdessen
kam der Bär langsam auf uns zu. Fast schlich er auf der
Erde dahin, um zum Sturme anzusetzen und sich auf uns zu
stürzen. Wir knieten nieder und begannen zu beten.
Einige Minuten großer Angst vergingen. Die Bestie war
so nahe gekommen, daß sie sich mit einem Satz auf uns hätte
werfen können. Aber siehe da, auf einmal, ich weiß
nicht wie und wann, sah ich uns dort von der Mauer
weggetragen und wir fanden uns alle im Refektorium
wieder zusammen. In der Mitte befand sich die Madonna.
Ich weiß nicht, welchem Bild sie glich: der Statue hier
unter den Säulenhallen oder der im Refektorium; der
Statue, die auf der Kuppel der Maria‑Hilf-Kirche
steht oder jener in der Kirche selbst. Wie dem auch sei,
Tatsache ist, daß sie ganz in feurigem Lichterglanz
erstrahlte und das ganze Refektorium erleuchtete. Sie
schien wohl hundertmal so hell wie die Sonne zur
Mittagszeit. Sie war von Seligen und Engeln umgeben, so
daß der Saal einem Paradiese glich. Ihre Lippen
bewegten sich, als ob sie sprechen und uns etwas sagen
wollte.
Wir
waren sehr zahlreich in jenem Refektorium. Der Schrecken
unserer Herzen vermischte sich mit dem Staunen. Aller
Augen waren auf die Madonna gerichtet, die uns mit einer
zärtlichen Stimme beruhigte: “Fürchtet euch nicht!
Habt Glauben. Dies ist nur eine Prüfung, die euch mein
göttlicher Sohn schickt!”
Ich
betrachtete aufmerksam alle, die blitzend von
Herrlichkeit die heilige Jungfrau umgaben, und erkannte
Don Alasonatti, Don Ruffino, einen gewissen Bruder
Michael von den Christlichen Schulbrüdern, den einige
von euch noch gekannt haben, meinen Bruder Josef und
noch andere, die ganz früher im Oratorium waren, zu
unserer Kongregation gehörten und jetzt im Paradiese
sind. Unter ihnen sah ich auch einige, die jetzt noch
leben.
Auf
einmal rief einer aus dem Gefolge der allerseligsten
Jungfrau mit erhobener Stimme: “Surgamus!” —
Erheben wir uns! Wir standen und wußten nicht, was
jener Auftrag bedeuten sollte und fragten. “Warum,
surgamus? Stehen wir nicht schon alle?” — “Surgamus!”
wiederholte die Stimme noch lauter. Die Jungen blieben
ruhig, wandten sich erstaunt zu mir und harrten auf
einen Wink. Sie wußten nicht, was sie tun sollten. Ich
wandte mich an den Sprecher und fragte: “Aber wie? Was
soll das heißen, surgamus? Wir sind doch alle auf den
Beinen!” Die Stimme antwortete mir noch eindringIicher:
“Ich konnte mir diesen für mich unverständlichen
Befehl nicht erklären. Da wandte sich ein anderer
Begleiter der allerseligsten Jungfrau an mich. Ich stand
auf einem Tische, um die ganze Schar zu beherrschen. Er
sagte mit erstaunlich starker Stimme, während die
Jungen still dastanden: “Du als Priester müßtest
dieses ‚surgamus' verstehen. Sagst du nicht täglich
bei der heiligen Messe ‚sursum corda'? Meinst du
vielleicht damit, dich körperlich zu erheben oder nicht
vielmehr das Gemüt und Herz zum Himmel, zu Gott, zu
erheben?”
Da
rief ich den Jungen zu: “Auf, auf, meine lieben
Jungen, wir wollen unseren Glauben wieder beleben und
stark machen. Erheben wir unsere Herzen zu Gott.
Erwecken wir einen Akt der Liebe und der Reue. Wir
wollen uns anstrengen und mit lebendigem Eifer beten und
auf Gott vertrauen!”
Darauf
gab ich ein Zeichen und wir knieten alle nieder. Kurz
darauf, als wir voller Vertrauen und demütig beteten,
ließ sich von neuem eine Stimme vernehmen: “Surgite
— Erhebet euch!” Wir standen alle auf und fühlten
uns von einer übernatürlichen Kraft merklich von der
Erde emporgehoben. Wieviel wir stiegen, kann ich nicht
sagen; aber ich weiß genau, daß wir alle sehr hoch
waren. Ich könnte euch nicht sagen, worauf wir unsere Füße
stützten. Ich erinnere mich, daß ich mich dicht am
Rahmen oder an der Umfassung eines Fensters hielt. Dann
stiegen alle Jungen oben an die Fenster und auf die Türen.
Einer hielt sich hier, ein anderer dort, einer an einem
Eisenbalken, ein anderer an starken Nägeln oder am
Gesims der Gewölbe fest. Alle waren in die Luft gehoben
und ich staunte, daß wir nicht auf die Erde fielen. Und
siehe, das Ungeheuer, das wir im Hof gesehen hatten,
trat in den Saal, gefolgt von einer zahllosen Menge
anderer Bestien. Sie standen überall im Refektorium,
stießen ein schreckliches Geheul aus und schienen ganz
versessen auf den Kampf zu sein. Jeden Augenblick war
es, als wollten sie uns mit einem Sprung erreichen. Aber
noch versuchten sie es nicht. Sie reckten die Schnauze
hoch und blickten uns mit blutroten Augen an. Wir
betrachteten sie von oben herab, und ich hielt mich an
dem Fenster ganz fest. Ich sagte mir: Wenn ich
herunterfiele, wie schrecklich würden sie mich
zerfleischen!
Während
wir uns in dieser seltsamen Lage befanden, ertönte die
Stimme der Madonna, welche die Worte des heiligen Paulus
sang: “Sumite ergo scutum fidei inexpugnabile —
Nehmet den unüberwindlichen Schild des Glaubens.” Es
war ein wohlklingender Gesang von melodischer
Geschlossenheit und Feinheit, so daß wir gleichsam in
Verzückung gerieten. Man hörte zugleich sehr tiefe und
sehr hohe Töne. Es schien, als klängen hundert Stimmen
in einer einzigen auf.
Wir
lauschten dem himmlischen Gesang. Unterdessen sahen wir
sehr viele anmutige Knaben. Sie erschienen zu beiden
Seiten der Gottesmutter, trugen Flügel und waren vom
Himmel herabgestiegen. Sie näherten sich uns mit
Schilden in den Händen. Einen davon legten sie über
das Herz eines jeden Jungen. Alle Schilde waren groß,
schön und glänzend. In ihnen spiegelte sich das Licht
wider, das von der Madonna ausging. Es schien wirklich
etwas Himmlisches zu sein. Jeder Schild war scheinbar in
der Mitte aus Eisen. Dann folgte ein großer Kreis von
Diamanten und außen war ein Kranz aus reinstem Gold.
Dieser Schild stellte den Glauben dar.
Als
alle so gewappnet waren, stimmten die Begleiter der
allerseligsten Jungfrau einen zweistimmigen Gesang an.
Sie sangen in so schöner Harmonie, daß ich keine Worte
finde, und die Lieblichkeit irgendwie zu beschreiben. Es
war das Schönste, das Lieblichste an prächtigen
Melodien, das man sich nur vorstellen kann. Während ich
jenes Bild betrachtete und ganz in die Musik versunken
war, wurde ich von einer mächtigen Stimme aufgerüttelt.
Sie rief: “Ad pugnam! — Zum Kampfe!”
All
die wilden Tiere gerieten in aufgeregte, wütende
Bewegung. Plötzlich fielen wir alle herunter. Wir
standen mit den Füßen auf dem Boden, ein jeder im
Kampf mit den wilden Tieren; aber beschützt von dem göttlichen
Schild. Ich kann nicht sagen, ob wir die Schlacht im
Refektorium oder im Hof anfingen. Der himmlische Chor
sang seine Weisen weiter. Die Ungeheuer schleuderten uns
mit dem Gifthauch ihres Rachens Bleikugeln, Lanzen,
Pfeile und anderes Geschoß entgegen.
Aber
die Geschosse verfehlten ihr Ziel oder aber sie schlugen
gegen unsere Schilde und prallten zurück. Die Feinde
wollten uns jedoch um jeden Preis verwunden und töten.
Sie machten einen Sturmangriff; doch sie konnten uns
keine Wunden beibringen. Alle ihre Schläge trafen mit
Heftigkeit nur auf die Schilde. Sie selbst aber brachen
sich die Zähne aus und ergriffen die Flucht. Wie Wellen
sprangen uns die schrecklichen, wilden Tiere in Scharen
immer wieder an und eines nach dem anderen. Aber alle
ereilte dasselbe Schicksal. Lange dauerte der Kampf.
Schließlich vernahm man die Stimme der lieben
Himmelsmutter: “Haec est victoria vestra, quae vincit
munduni, fides vestra — Dies ist euer Sieg, der die
Welt überwindet, euer Glaube.” Beim Klang dieser
Stimme floh die Schar der wilden Tiere in überstürzter
Flucht davon und verschwand. Wir waren frei und
gerettet. Wir waren Sieger geblieben in dem gewaltigen
großen Saal des Refektoriums, der noch immer von dem
lebendigen Licht erleuchtet wurde, das von der Madonna
ausging. Da betrachtete ich die Schildträger
aufmerksam. Es waren viele Tausende. Unter ihnen sah ich
Don Alasonatti, Don Ruffino, meinen Bruder Josef und den
christlichen Schulbruder, die auf unserer Seite gekämpft
hatten. Aller Augen konnten sich nicht abwenden von der
heiligsten Jungfrau. Sie selber stimmte ein Danklied an,
welches bei uns neue Freuden und neues,
unbeschreibliches Entzücken hervorrief. Ich weiß
nicht, ob man im Paradies einen schöneren Gesang hören
kann.
***
Unsere
Freude wurde aber ganz plötzlich durch herzzerreißende
Schreie und Seufzer gestört, die mit wildem Geheul
vermischt waren. Es war, als würden unsere Jungen von
den wilden Bestien, die einige Augenblicke vorher
geflohen waren, zerfleischt. Ich wollte sofort
hinauseilen, um zu sehen, was geschehe, und meinen
Jungen Hilfe bringen. Aber ich konnte nicht
hinauskommen, weil an der Türe Jungen waren, die mich
aufhielten und um jeden Preis verhindern wollten, daß
ich hinausging. Ich gab mir alle Mühe, loszukommen und
sagte: “Aber laßt mich doch gehen und denen Hilfe
bringen, die da schreien. Ich will meine Jungen sehen,
und wenn ihnen Unheil oder Tod bevorsteht, mit ihnen
sterben. Ich will gehen, auch wenn ich das Leben lassen
müßte.”
Als
ich mich aus ihren Händen losgerissen hatte, kam ich
unter die Säulenhallen. Oh! Welch trauriger Anblick!
Der Hof war besät mit Toten, Sterbenden und
Verwundeten. Von Furcht gejagt, versuchten die Jungen
von einer Seite zur anderen zu fliehen. Alle Ungeheuer
verfolgten sie, stürzten sich auf sie, bissen die Zähne
in ihre Glieder und zerfleischten sie. Jeden Augenblick
fielen Jungen und starben unter schmerzlichem Geschrei.
Das grauenhafteste Gemetzel richtete aber der Bär an,
der zuerst bei den Handwerkern im Hof erschienen war.
Mit seinen beiden schwertähnlichen Zähnen durchschnitt
er die Brust der Jungen von rechts nach links und von
links nach rechts. Mit dieser doppelten Wunde im Herzen
sanken sie dann tot um. Ich fing energisch an zu rufen:
“Mut, meine lieben Jungen!” Da flüchteten viele
Jungen zu mir. Aber als der Bär mich gewahrte, rannte
er auf mich los. Ich machte mir Mut und trat ihm einige
Schritte entgegen. Unterdessen kamen einige Jungen aus
dem Refektorium, die schon die Bestien besiegt hatten,
in die Türe und standen mir bei. Der Fürst der Dämonen
stürzte sich auf mich; aber er konnte uns nicht
verwunden, weil die Schilde uns schützten. Er rührte
uns nicht einmal an; denn beim Anblick des Schildes wich
er erschrocken und beinahe ehrfurchtsvoll zurück.
Da
betrachtete ich seine beiden langen Schwertzähne genau.
Ich las auf ihnen zwei Worte in großen Buchstaben:
Otium = Müßiggang auf dem einen und Gula = Genußsucht
auf dem anderen. Ich staunte und sagte zu mir: “Ist
denn so etwas möglich in unserem Haus? Alle sind so
sehr beschäftigt und es gibt soviel zu tun, daß man
nicht mehr weiß, wo einem der Kopf steht. Soll es hier
noch jemanden geben, der durch Müßiggang sündigt? Und
wenn ich mir die Jungen betrachte, so scheint es mir, daß
sie zu ihrer Zeit an ihrem Platz studieren und auch in
der Erholung keine Zeit verlieren.” Ich konnte mir die
Sache nicht erklären. Es wurde mir aber geantwortet:
“Halbe Stunden verlieren sie doch!”
“Und
wie ist das mit dem Gaumen?” fragte ich. “Mir
scheint — wollte man es sogar —, man könnte bei uns
seine Gaumenlust nicht gar sehr befriedigen. Wir haben
kaum Gelegenheit, unmäßig im Essen zu sein, die
Speisen sind nicht auserlesen und die Getränke auch
nicht. Man gibt ja kaum das Notwendige. Wie kann es da
Unmäßigkeiten geben, die zur Hölle führen?”
Wiederum
wurde mir geantwortet: “O Priester! Du meinst tiefgründige
Kenntnis der Moral und reiche Erfahrung zu haben. Aber
hiervon weißt du nichts und bist erst ein rechter Anfänger.
Weißt du nicht, daß man durch Gaumenlust und ebenfalls
durch Unmäßigkeit sündigen kann, wenn man nur Wasser
trinkt?” Ich war nicht zufrieden mit der Antwort und wünschte
eine deutlichere Erklärung. Da das Refektorium immer
noch von der allerseligsten Jungfrau erleuchtet war,
ging ich ganz traurig zu Bruder Michael, damit er meine
Zweifel beheben möchte. Michael antwortete mir: Mein
Lieber, in diesen Dingen bist du noch ein Neuling. Ich
will dir erklären, was du fragst. In bezug auf die
Gaumenlust mußt du wissen, daß man durch Unmäßigkeit
sündigen kann, wenn man bei Tisch über das Notwendige
hinaus ißt oder trinkt. Man kann auch durch Unmäßigkeit
im Schlafe sündigen, oder wenn man dem Körper
irgendeine Rücksicht gewährt, die über das Bedürfnis
hinausgeht und nicht notwendig ist. In bezug auf den Müßiggang
sollst du wissen, daß man unter diesem Begriff nicht
nur das Nichtarbeiten faßt und ob einer die Zeit der
Erholung gebraucht, um sich zu zerstreuen, sondern dazu
gehört auch, wenn man in dieser Welt seiner Phantasie
freien Lauf läßt, um an Dinge zu denken, die gefährlich
sind. Müßiggang ist es, wenn einer sich während des
Studiums unterhält und damit andere stört; wenn man
etwas übriggebliebene Zeit mit leichtfertiger Lektüre
vergeudet oder wenn man untätig ist, die anderen
beobachtet und sich der Faulheit überläßt, und ganz
besonders, wenn man in der Kirche nicht betet und sich
bei religiösen Dingen langweilt. Der Müßiggang ist
der Vater, die Quelle und Ursache vieler schlechter
Versuchungen und aller Übel.
Du
als Direktor dieser Jungen mußt dafür sorgen, daß du
diese beiden Übel von ihnen fernhältst und den Glauben
in ihnen wieder lebendig machst. Wenn du bei deinen
Jungen erreichen könntest, daß sie sich in den eben
genannten kleinen Dingen beherrschen, werden sie den
Teufel immer besiegen, und mit der Mäßigkeit werden
die Demut, die Keuschheit und die anderen Tugenden zu
ihnen kommen. Und wenn sie die Zeit ausnützen, wie sie
es sollen, werden sie nie den Versuchungen des höllischen
Feindes erliegen und sie werden als heilige Christen
leben und sterben.”
Als
ich dies gehört hatte, dankte ich Bruder Michael für
seine so schöne Belehrung. Dann wollte ich mich
vergewissern, ob das, was ich sah, auch Wirklichkeit
oder nur ein einfacher Traum sei. Deshalb versuchte ich,
seine Hand zu berühren; aber ich bekam nichts zu
fassen. Ich versuchte ein zweites und drittes Mal, sie
ihm zu drücken; doch immer vergebens. Ich griff nur in
die Luft. Doch sah ich all diese Personen. Sie sprachen
und schienen lebendig zu sein. Ich näherte mich Don
Alasonatti, Don Ruffino und meinem Bruder. Aber es war
mir nicht möglich, ihre Hände zu betasten. Ganz außer
mir rief ich: “Ist das alles, was ich sehe, nun wahr
oder nicht? Sind das keine Menschen? Habe ich sie nicht
sprechen hören?” Bruder Michael antwortete mir:
“Das müßtest du eigentlich wissen. Du hast doch
gelernt, solange die Seele nicht wieder mit dem Körper
vereinigt ist, ist es zwecklos, einen Versuch zu machen,
mich zu berühren. Reine Geister kannst du nicht
anfassen. Nur, damit die Sterblichen uns sehen können,
nehmen wir unsere Gestalt wieder an. Aber wenn wir uns
zum Gericht wieder erheben werden, dann nehmen wir
unsere unsterblichen, durchgeistigten Körper wieder.”
Darauf
wollte ich mich der Madonna nähern, die mir anscheinend
etwas zu sagen hatte. Ich war schon fast bei ihr, als
von draußen neuer Lärm und erneut lautes Hilferufen an
mein Ohr drangen. Sofort wollte ich zum zweitenmal das
Refektorium verlassen; aber beim Hinausgehen erwachte
ich. —
Was
auch mit diesem sehr abwechslungsreichen Traum sein mag,
Tatsache ist, daß in ihm die Worte des heiligen Paulus
wiederholt und gedeutet wurden. Aber dieser Traum
bewirkte bei mir eine solche Müdigkeit und einen
solchen Kräfteverbrauch, daß ich den Herrn bat, nicht
zu erlauben, daß sich ein andermal meinem Geiste ein ähnlicher
Traum darböte. Aber siehe da, in der folgenden Nacht träumte
ich denselben Traum wieder und mußte dann auch das Ende
desselben miterleben, welches ich in der vorhergehenden
Nacht nicht gesehen hatte. Ich bewegte mich so sehr und
schrie, daß Don Berto den Lärm hörte und am Morgen
kam und fragte, warum ich so gerufen und ob ich die
Nacht geschlafen hätte . . . Jeder entnehme dem Traum,
was auf ihn paßt. . . Was ich euch aber sehr dringend
ans Herz lege, ist, macht euren Glauben wieder lebendig.
Man bewahrt ihn besonders durch Mäßigkeit und Meidung
des Müßigganges. Seid Freunde der ersteren und Feinde
des letzteren.”
Inhaltsübersicht
DER
WILDE STIER
(Lem.
XII, 463-470)
Zum
Schluß eines Exerzitienkurses, der vom 21. — 28.
September 1876 in Lanzo stattfand, erzählte Don Bosco
den folgenden symbolischen Traum, der einer der
lehrreichsten von allen ist, die er bis dahin gehabt
hatte. Zur größeren Klarheit wurde der Traum bei der
schriftlichen Niederlegung durch Don Lemoyne in vier
Teile aufgeteilt.
I.
Teil.
“Man
sagt, man solle nicht auf Träume achten. Ich sage euch
die Wahrheit, in den meisten Fällen bin ich auch dieser
Ansicht. Nicht alle Träume enthüllen uns zukünftige
Dinge; dennoch lassen sie uns manchmal einen Blick in
sehr verwickelte Angelegenheiten tun und lehren uns, sie
wahrhaft und weise zu lösen.
Soweit
uns die Träume also Gutes bieten, kann man sie sich
merken. Nun will ich euch einen Traum erzählen, der
mich sozusagen während der ganzen Dauer der Exerzitien
beschäftigte und besonders in der letzten Nacht quälte.
Ich erzähle ihn, wie ich ihn träumte, weil er mir
reich an Belehrungen scheint. In Kürze nur etwas davon,
damit es nicht zu lange dauert.
Es
schien mir, als wären wir alle zusammen unterwegs von
Lanzo nach Turin. Wir befanden uns alle auf irgendeinem
Fahrzeug. Aber ich kann nicht sagen, ob wir auf der
Eisenbahn oder in Omnibussen waren. Wir waren jedenfalls
nicht zu Fuß. An einer bestimmten Stelle der Straße
— ich weiß nicht mehr wo —, hielt das Fahrzeug. Ich
stieg hinunter, um zu sehen, was es da gebe. Da stellte
sich mir eine Person vor, die ich nicht richtig
bestimmen kann. Sie schien mir von hoher und niedriger
Gestalt zugleich zu sein. . . Sie war dick und dünn,
weiß, aber auch rot. Sie kam über die Erde, aber auch
durch die Luft. Ich war ganz erstaunt und konnte mir das
alles nicht erklären. Da faßte ich mir ein Herz und
fragte: “Wer bist du?” Der Fremde antwortete nur:
“Komm!”
Ich
wollte zuerst wissen, wer er wäre und was er wolle;
aber er fing wieder an: “Komm schnell. Wir wollen die
Fahrzeuge auf diesem Felde wenden lassen.” Wunderbar
war es, daß er zu gleicher Zeit leise und laut sprach
und mit verschiedener Stimme, so daß ich aus dem
Staunen nicht herauskam.
Das
Feld war sehr weit, und so weit man sehen konnte, ganz
glatt und eben festgetrampelt, ohne Wagenspuren,
gleichsam wie eine Tenne. Ich wußte mir keine Erklärung
und da ich jene Person so entschlossen sah, ließen wir
die Fahrzeuge drehen, die auf diesen sehr weiten Platz
fuhren. Dann riefen wir allen zu, sie sollten
aussteigen. Alle verließen die Fahrzeuge in sehr kurzer
Zeit und gleich darauf sah man die Fahrzeuge
verschwinden, jedoch ohne zu wissen, wohin.
“Nun,
da wir abgestiegen sind, wirst du mir sagen . . . werden
Sie mir sagen” flüsterte ich unsicher, wie ich mich
dieser Person gegenüber zu verhalten hätte, warum Sie
uns an diesem Ort halten ließen.”
Er
antwortete. “Der Anlaß ist ernst. Es geht darum, euch
aus einer sehr großen Gefahr zu retten.” — “Aus
welcher?”
“Es
ist ein wütender Stier. Wohin der kommt, läßt er
keinen am Leben. “Taurus rugiens quaerens quem devoret.
— Ein brüllender Stier sucht, wen er verschlingen
kann.” — “Langsam, mein Lieber, du beziehst auf
den Stier, was in der Hl. Schrift der heilige Petrus vom
Löwen sagt: Leo rugiens! — Ein brüllender Löwe!”
“Das
macht nichts. Da war es der leo rugiens und hier ist es
der taurus rugiens. Tatsache ist, daß ihr euch gut
vorsehen müßt. Rufe alle die Deinen zusammen. Verkünde
ihnen feierlich, und mit großem Nachdruck, sie sollen
achtgeben und sich sofort, wenn sie das ungeheure Gebrüll
des Stieres hören, auf die Erde werfen. Sie sollen so
lange auf dem Bauche mit dem Gesicht zur Erde gewandt
liegenbleiben, bis daß der Stier vorbei ist. Wehe dem,
der nicht auf deine Stimme hört. Wer sich nicht mit dem
Bauche auf den Boden wirft, wie ich es dir gesagt habe,
ist sicher verloren; denn man liest in der Hl. Schrift,
daß der Niedrige erhöht wird und der, welcher erhoben
steht, erniedrigt wird: qui se humiliat exaltabitur, et
qui se exaltat humiliabitur.”
Dann
fuhr er weiter fort: “Schnell, schnell. Der Stier
kommt. Schreie, rufe laut, daß sie sich hinlegen.”
Ich rief: “Los, los!” “Rufe noch lauter! Schreie,
schreie!”
Ich
habe so laut geschrieen, daß ich glaube, Don Lemoyne
erschreckt zu haben, der in der Kammer nebenan schlief.
Ich konnte nicht noch lauter rufen. Da hörte man plötzlich
das Brüllen des Stieres.
“Achtung,
Achtung! Mach, daß sie sich hinlegen, geradlinig!. .
Einer neben dem andern, zu beiden Seiten. In der Mitte
soll ein Weg frei bleiben, durch den der Stier
durchkann.”
So
rief mir die Person zu. Ich rief und gab Befehle. In
einem Augenblick lag alles auf der Erde und wir sahen
ganz von weitem den Stier, wie er wütend herankam.
Obwohl sich die meisten niedergeworfen hatten, wollten
doch einige stehenbleiben, um zu sehen, was für ein
Stier das wäre. Es waren jedoch nur wenige, die sich
nicht hinlegten.
Das
Wesen sagte mir: “Nun wirst du sehen, was mit jenen
geschieht. Du wirst sehen, was sie für ihren Ungehorsam
bekommen.”
Ich
wollte sie noch ermahnen, rufen, hinlaufen; der andere
aber verbot es mir. Ich bat ihn inständig, daß er mich
zu ihnen gehen lasse; er antwortete nur kurz: “Der
Gehorsam ist auch für dich. Leg dich nieder!”
Noch
lag ich nicht ganz, als ich ein gewaltiges, furchtbares,
schreckliches Brüllen hörte. Der Stier war schon nahe
bei uns. Wir zitterten alle und fragten. “Wer weiß? .
. . Wer weiß?. . .”— “Keine Angst! Nieder auf die
Erde!” rief ich.
Der
andere fuhr fort zu rufen: “Qui se humiliat,
exaltabitur, et qui se exaltat, humiliabitur . . . qui
se humiliat . . . qui se humiliat” — Wer sich verdemütigt,
wird erhöht werden, und wer sich erhöht, wird
erniedrigt werden . . . wer sich erniedrigt ...
Ein
seltsam Ding, über das auch ich staunen mußte, war
dieses: Obwohl ich den Kopf auf dem Boden hatte und
selbst ganz flach lag und mit den Augen zur Erde, sah
ich doch alles sehr gut, was um mich herum vor sich
ging. Der Stier hatte sieben Hörner, fast kreisförmig
geordnet. Zwei standen gleich unterhalb seiner Nase,
zwei an den Augen, zwei dort, wo sich gewöhnlich die Hörner
befinden und eines noch darüber. Aber seltsam! Diese Hörner
waren sehr stark und beweglich. Er wandte sie, wohin er
wollte. So brauchte er nicht umherzulaufen, um sich
hierhin und dorthin zu wenden, wenn er jemanden
niederstoßen und zu Boden werfen wollte. Länger als
die übrigen waren die Nasenhörner. Damit richtete er
ein erstaunliches Unheil an. Schon war uns der Stier
sehr nahe. Da rief der andere: Jetzt wird man die
Wirkung der Demut erfahren.” O Wunder, augenblicklich
sahen wir uns alle in die Luft erhoben, in eine beträchtliche
Höhe, so daß der Stier uns unmöglich erreichen
konnte. Die wenigen, die sich nicht niedergeworfen
hatten, wurden nicht emporgehoben. Der Stier kam und
zerfleischte sie in einem Augenblick. Nicht einer von
ihnen wurde gerettet. Wir aber, hoch in der Luft, hatten
Angst und sagten. “Wenn wir hinunterfallen, sind wir
hin und verloren! Wir Armen! Was soll aus uns werden?”
Unterdessen
sahen wir den wütenden Stier, der auch uns zu erreichen
suchte. Er machte schreckliche Sprünge, um uns mit den
Hörnern zu stoßen. Aber er konnte uns keinerlei Leid
antun. Wütender denn je tat er so, als wollte er
fortgehen und Gefährten holen, indem er gleichsam
sprach: ‚Wir müssen einer dem andern helfen, wir
werden steigen, die einen auf die andern...' und mit
einem furchtbaren Zorn ging er davon.
Danach
fanden wir uns neuerdings auf der Erde. Der andere rief.
“Wenden wir uns nach Süden!”
II.
Teil
“Siehe
da, ohne daß wir wußten, wie es geschah, verwandelte
sich das Bild vor uns vollständig. Wir hatten uns nach
Süden gewendet und sahen dort das Allerheiligste
Altarssakrament ausgesetzt. Viele Kerzen waren zu beiden
Seiten angezündet und schon sah man die Wiese nicht
mehr. Es schien, wir befänden uns in einer ungeheuer
großen, schön geschmückten Kirche. Während wir alle
in Anbetung vor dem Allerheiligsten Sakrament
verweilten, siehe, da kamen viele wütende Stiere, alle
mit schrecklichen und grauenhaften Hörnern am Kopfe.
Sie kamen zwar; aber da wir alle in Anbetung vor dem
Allerheiligsten knieten, konnten sie uns kein Leid
antun. Wir hatten unterdessen angefangen, die Litanei
zum heiligsten Herzen Jesu zu beten. Kurz darauf sahen
wir uns um und ich weiß nicht, wie es geschah, die
Stiere waren nicht mehr da. Da wandten wir uns von neuem
zum Altar und fanden, daß die Lichter gelöscht waren
und das Allerheiligste nicht mehr ausgesetzt war. Die
Kirche verschwand. Aber wo befanden wir uns? Wir waren
wieder auf dem gleichen Felde, auf dem wir vorher
gewesen waren.
Ihr
habt hinreichend verstanden, daß der Stier der Feind
der Seelen ist, der Satan, der einen großen Zorn auf
uns hat und sich fortwährend bemüht, uns Böses
anzutun. Die sieben Hörner sind die sieben Hauptsünden.
Was uns vor den Hörnern dieses Stieres, d. h. vor den
Angriffen Satans schützt, daß man nicht in die Laster
fällt, ist vor allem die Demut als Grundlage und
Fundament jeglicher Tugend.”
III.
Teil
Darauf
wurde Don Bosco die zukünftige Ausbreitung seiner
Kongregation gezeigt. Er sprach weiter:
“Ich
hätte nicht geglaubt, daß das Feld so weit wäre. Es
war mir, als wenn es die ganze Erde einnähme. Menschen
jeder Farbe, jeder Kleidung, jeder Nation waren da
versammelt. Ich sah so viele Menschen, daß ich nicht
weiß, ob die Erde überhaupt so viele trägt. Ich fing
an, die ersten, die sich unserem Blick darboten, zu
beobachten. Sie waren gekleidet wie wir Italiener. Ich
kannte die in den ersten Reihen. Es waren viele
Salesianer da, die an der Hand Scharen von Jungen und Mädchen
führten. Dann kamen andere mit neuen Scharen und wieder
andere und andere, die ich nicht mehr kannte und nicht
mehr unterscheiden konnte. Sie waren unbeschreiblich
zahlreich.”
Dann
sah Don Bosco Einzelheiten in bezug auf Rasse, Kleidung
und Nationalität der zu missionierenden Völker. Der
Unbekannte sagte ihm: “Sieh, betrachte, du verstehst
jetzt noch nicht alles, was ich dir sage; aber paß auf.
Alles was du gesehen hast, ist die gesamte Ernte, die
den Salesianern bereitet ist. Siehst du, wie ungeheuer
die Ernte ist? Dieses ungeheure Feld, in welchem die
Salesianer arbeiten müssen. Die Salesianer, die du
siehst, sind die Arbeiter in diesem Weinberg des Herrn.
Viele arbeiten, und du kennst sie. Der Horizont
erweitert sich. So weit das Auge reicht, sind Leute, die
du noch nicht kennst. Das soll heißen, daß die
Salesianer nicht nur in diesem Jahrhundert, sondern auch
im nächsten und in den künftigen Jahrhunderten auf
ihrem eigenen Felde arbeiten werden. Aber weißt du,
unter welchen Bedingungen sie das erreichen, was du
siehst? Ich will es dir sagen: Du mußt diese Worte
drucken lassen. Merke sie dir gut:
Die
Arbeit und die Mäßigkeit werden die Salesianische
Kongregation zum Blühen bringen.”
Und
siehe, wiederum erschienen die Omnibusse, um uns alle
nach Turin zu bringen. Ich sah und schaute. Es waren
ganz eigenartige Omnibusse, so seltsam wie ich sie noch
nie gesehen habe. Die Unseren stiegen auf. Die Omnibusse
hatten nirgendwo eine Lehne. Ich fürchtete, die Jungen
würden herunterfallen und wollte sie nicht fahren
lassen. Aber der andere sagte mir: “Sie sollen fahren,
sie sollen fahren. Sie haben keine Lehne notwendig. Sie
mögen sich gut an die Worte halten: Sobrii estote et
vigilate. — Seid nüchtern und wachet! Wenn man sich
gut danach richtet, fällt man nicht, auch wenn keine
Lehnen da sind und der Wagen fährt.”
IV.
Teil
Jetzt
wurden Don Bosco vier Nägel gezeigt. Es sind die vier Nägel,
die den Leib des göttlichen Erlösers so grausam
durchbohrten und folterten”, sagte der Führer. —
“Und was willst du damit sagen?” — “Es sind die
vier Nägel, die die religiösen Genossenschaften
foltern. Wenn du diese vier Nägel fortschaffst, so daß
deine Kongregation nicht von ihnen gequält wird, und
wenn ihr sie fernzuhalten wißt, dann gehen die Dinge
gut und ihr seid gerettet.”
Die
Nägel bedeuten:
1.
Genußsucht, Sinnlichkeit. Quorurn Deus venter est —
Deren Gott ihr Bauch ist.
2.
Egoismus. Quaerunt quae sua sunt, non quae Jesu Christi
— Sie sind auf ihre eigenen Vorteile bedacht und nicht
auf die Anliegen des göttlichen Heilandes.
3.
Üble Nachrede und Kritiksucht. Aspidis lingua eorum —
Ihre Zungen sind wie Nattern.
4.
Trägheit und Müßiggang. Cubiculum otiositatis —
Raum des Müßigganges.
Dann
wurde Don Bosco noch vor gewissen, undurchsichtigen
Charakteren gewarnt. Siehe, da sind gewisse Individuen,
die sich verborgen halten. Sie sprechen nicht und öffnen
den Obern niemals ihr Herz. Sie hängen in ihrem Herzen
Geheimnissen nach. Paß auf: latet anguis in herba —
Es liegt eine Schlange versteckt im Gras. Das sind
wirkliche Geißeln, eine wahre Pest für die
Kongregation. Obgleich sie schlecht sind, könnte man
sie bessern, wenn sie entdeckt würden. Aber nein, sie
bleiben verborgen. Wir bemerken nichts, und unterdessen
wird das Übel ernst, das Gift mehrt sich in ihrem
Herzen, und wenn sie dann einmal erkannt werden. . . .
ist es zu spät, den angerichteten Schaden wieder
gutzumachen. Achte also auf die Dinge, die du von deiner
Kongregation fernhalten mußt. Behalte gut, was du gehört
hast. Befiehl, daß diese Dinge immer wieder und wieder
erklärt werden. Wenn du es so machst, kannst du ruhig
sein in bezug auf deine Kongregation. Dann gedeihen die
Dinge, eines noch mehr als das andere . . .”
“Ich
habe euch diesen Traum unter besonderen Umständen erzählt,
ehe wir uns trennen. Ich bin fest davon überzeugt, euch
in voller Wahrheit sagen zu können, daß es ein würdiger
Abschluß der Exerzitien wäre, wenn wir uns vornähmen,
uns nach unserem Wappen zu richten: Arbeit und Mäßigkeit!”
—
Als
Don Bosco nach diesem Traum erwachte, wünschte er sich
noch eine weitere Erklärung. Sie wurde ihm später
zuteil. Er berichtete darüber.
“Ich
wünschte die Wirkung der Mäßigkeit und Unmäßigkeit
kennenzulernen, und mit diesem Gedanken legte ich mich
zu Bett. Und siehe, kaum war ich eingeschlafen, da
erschien die Person wieder und lud mich ein, ihr zu
folgen und die Wirkungen der Mäßigkeit kennenzulernen.
Sie führte mich in einen herrlichen Garten, voller Köstlichkeiten
und Blüten von jeder Art und Gattung. Da betrachtete
ich eine Menge festlicher Rosen, das Symbol der Liebe.
Dort eine Nelke, dort Jasmin, hier eine Lilie, dort ein
Veilchen, eine Immortelle, eine Sonnenblume, überhaupt
zahllose Blumen, von denen jede das Symbol einer Tugend
war. “Nun paß auf”, sagte der Führer zu mir. Der
Garten verschwand und ich hörte einen starken Lärm.
“Was ist das”, fragte ich, “und woher kommt das
Geräusch?”
“Dreh
dich herum und sieh!” Ich wandte mich um und hatte
einen ungeheuerlichen Anblick. Ich sah einen viereckigen
Karren. Der wurde von einem Schwein und einer gewaltig
großen Kröte gezogen.
“Tritt
näher und schau da hinein!” Ich trat heran, um den
Inhalt des Karrens zu untersuchen. Er war mit scheußlichen
Tieren gefüllt: mit Raben, Schlangen, Skorpionen,
Basilisken, Schnecken, Fledermäusen, Krokodilen,
Salamandern. Ich konnte den Anblick nicht ertragen und
wandte mich erschrocken ab. Dazu ging von diesen häßlichen
Tieren ein solcher Gestank aus, daß es mich ekelte.
Davon wurde ich wach und spürte den Geruch noch lange
danach. Mein Geist war durch die Abscheulichkeit jenes
Anblickes so verwirrt, daß ich die Dinge immer noch vor
Augen zu haben glaubte. In dieser Nacht konnte ich keine
Ruhe mehr finden.” —
So
weit G. B. Lemoyne.
Wie
Don Barberis berichtet, fügte Don Bosco noch hinzu:
“Nun
will ich euch einen besonderen Leitsatz für den Verlauf
eines Jahres geben. Wir wollen alle Mittel versuchen, um
die königliche Tugend zu bewahren, die Tugend, welche
die übrigen mit sich führt. Wir haben sie niemals
allein, sondern sie hat wie einen Hofstaat alle anderen
Tugenden bei sich. Wenn wir diese Tugend verlieren, dann
sind die anderen schon fort oder wir verlieren sie in
kurzer Zeit. Liebt diese Tugend, liebt sie sehr! Denkt
daran, wenn ihr sie behalten wollt, heißt es arbeiten
und beten. Non eicitur nisi in jejunio et oratione —
Er (der Teufel) wird nur durch Fasten und Gebet
vertrieben werden. Ja Gebet und Abtötung in den
Blicken, in der Ruhe, in der Speise und ganz besonders
im Weintrinken, für unseren Körper keine
Bequemlichkeit suchen, sondern, ich möchte fast sagen,
ihn strapazieren. Keine Rücksicht auf ihn nehmen, nur
wenn es notwendig ist, wenn die Gesundheit es erfordert,
dann ja. Im übrigen dem Körper nur das unbedingt
Notwendige geben und nicht mehr; denn der Heilige Geist
sagt: ‚Corpus hoc quod corrumpitur aggravat animam —
Dieser vergängliche Körper belastet die Seele. '
Wirklich? Was tat der heilige Paulus? ‚Castigo corpus
meum et in servitutem redigo, ut spiritui inserviat —
Ich züchtige meinen Körper und bring ihn in Botmäßigkeit,
damit er dem Geiste untertänig sei. . .”
Inhaltsübersicht
DOMINIKUS
SAVIO ERSCHEINT
(Lem.
XII, 586-596)
Am
22. Dezember 1876 erzählte Don Bosco vor der gesamten
versammelten Hausgemeinschaft des Oratoriums diesen von
allen mit größter Spannung erwarteten Traum, den er am
6. Dezember in Lanzo gehabt hatte. Unter freudigem Händeklatschen
bestieg Don Bosco die Kanzel, und es herrschte größtes
Stillschweigen, als er zu sprechen begann:
“Es
war am Abend, als ich in Lanzo war. Zur Zeit des
Schlafengehens befiel mich folgender Traum . . .
Streicht davon ab, was ihr wollt; aber quod bonum est
tenete — was gut ist, das behaltet, wie der heilige
Paulus sagt.
Wenn
ihr nun in diesem Traum etwas findet, das eurer Seele
guttun könnte, macht es euch zunutze. Wer nicht daran
glauben will, der lasse es. Das macht nichts; aber
keiner soll das, was ich sagen will, ins Lächerliche
ziehen. Ich bitte euch noch, es nicht anderen zu erzählen,
die nicht zum Hause gehören und auch nichts nach draußen
zu schreiben. . . Meistens, wenn man den Traum draußen
erzählt, kommt es zu Irrtümern und man erzählt nur
einen unverstandenen Teil aus dem Zusammenhang Dadurch
entsteht Schaden und die Welt würde mißachten, was
nicht mißachtet werden darf.
Ihr
müßt wissen, daß die Träume im Schlaf kommen. Es war
also in der Nacht vom 6. Dezember, in meinem Zimmer. Ich
wußte nicht recht, ob ich las oder auf und ab ging oder
schon zu Bett war, als ich zu träumen begann.
Es
schien mir plötzlich, ich stände auf einer kleinen Anhöhe
oder auf einem Hügel am Rande einer endlosen Ebene,
deren Ende das Auge nicht erreichen konnte. Sie verlor
sich ins Unendliche. Ganz hellblau war sie, wie ein Meer
in voller Ruhe. Aber was ich sah, war kein Wasser. Sie
glich klarem, leuchtendem Kristall. Unter meinen Füßen,
hinter mir und zu beiden Seiten, sah ich ein Gebiet wie
eine Küste am Rande eines Ozeans.
Breite
und sehr lange Wege teilten diese Ebene in weite Parke
von unbeschreiblicher Schönheit. Wäldchen wechselten
mit großen Wiesen ab. Da waren auch Beete und Blumen in
mannigfaltigen Formen und Farben. Keine unserer Pflanzen
kann uns einen Eindruck davon vermitteln, obwohl sich
gewisse Ähnlichkeiten feststellen ließen. Das Gras,
die Blumen, Bäume und Früchte boten einen sehr
lieblichen und einzigartigen Anblick. Die Blätter waren
aus Gold, die Stämme und Stiele aus Diamanten und das
übrige entsprach ähnlichem Reichtum. Man konnte die
verschiedenen Arten der Pflanzen nicht zählen und jede
Art und wiederum jede Einzelpflanze erglänzten in ihrem
eigenen Lichterschein. Inmitten dieser Gärten und so
weit die ganze Ebene reichte, sah ich viele Villen und
Schlößchen in so guter Ordnung, Lieblichkeit und
Harmonie, von solcher Pracht und Geräumigkeit, daß es
mir schien, alle Kostbarkeiten der Erde würden nicht
ausreichen, um auch nur ein solches Haus zu errichten.
Ich sagte mir: Wenn meine Jungen nur eines dieser Häuser
hätten, wie würden sie sich freuen und glücklich
sein! Wie gerne würden sie dort wohnen! So dachte ich
und konnte diese Paläste doch nur von außen
betrachten. Welche Pracht mochte erst im Innern sein!
Während
ich über diese vielen wunderbaren Dinge, die diese Gärten
schmückten, staunte, erklang auf einmal eine sehr
liebliche Musik. Ich kann solch angenehme und liebliche
Melodien nicht annähernd schildern. Daneben
verschwindet alle Musik von Don Cagliero und Don
Dogliani. Es waren viele Tausende von Instrumenten und
jedes unterschied sich von den anderen. Alle nur möglichen
Töne durchströmten die Luft in Wogen von Musik. Dazu
erklang der Gesang von Chören. Ich sah nun in den Gärten
viele Leute, die sich froh und zufrieden bewegten.
Manche spielten ein Instrument, andere sangen. Jede
Stimme und jeder Klang hatte eine Wirkung, als wenn er
von tausend Instrumenten zugleich käme und nichts davon
war dem anderen gleich. Gleichzeitig hörte man die
verschiedenen Töne der Tonleiter von den tiefsten bis
zu den höchsten, die man sich nur vorstellen kann; aber
alle in einem vollkommenen Zusammenklang. Ja, um diese
Melodie und Harmonie zu beschreiben, genügen keine
menschlichen Vergleiche.
An
den Gesichtern dieser glücklichen Leute sah man, daß
die Sänger nicht nur ein außerordentliches Vergnügen
darin fanden zu singen, sondern gleichzeitig mit
unendlicher Freude die anderen singen hörten. Je länger
ich zuhörte, um so mehr verlangte ich zu hören. Sie
sangen: “Salus honor, gloria Deo Patri Omnipotenti . .
. Auctor
saeculi, qui erat, qui est, qui venturus est iudicare
vivos et mortuos in saecula saeculorum — Ehre, Ruhm
und Herrlichkeit sei dem allmächtigen Gott . . . dem
Urheber der Welt, der war und der ist und der kommen
wird zu richten die Lebendigen und die Toten in alle
Ewigkeit.”
Noch
lauschte ich ganz entzückt auf diese himmlische
Melodie, da erschien eine ungeheure Menge von Jungen,
von denen ich sehr viele kannte, die im Oratorium oder
in einer unserer Schulen gewesen waren. Der größte
Teil war mir aber ganz unbekannt. Diese gewaltige Schar
kam auf mich zu. An ihrer Spitze schritt Dominikus Savio
und gleich hinter ihm kamen Don Alasonatti, Don Chiala,
Don Giulitto und viele, viele andere Kleriker und
Priester. Jeder von ihnen führte eine Schar Jungen.
Ich
fragte mich: Schlafe ich oder bin ich wach? Ich
klatschte in die Hände und schlug an meine Brust, um
mich zu vergewissern, ob das Wirklichkeit war, was ich
sah. Als die Menge mich erreicht hatte, blieben alle in
einer Entfernung von acht oder zehn Metern stehen. Dann
leuchtete ein noch lebhafteres Licht auf, die Musik
verstummte. Es ward eine tiefe Stille. Die Jungen aber
waren in sehr großer Freude. Ihre Augen strahlten und
auf ihrem Antlitz sah man den Frieden einer vollkommenen
Seligkeit. Sie sahen mich mit liebenswürdigem Lächeln
an. Sie schienen sprechen zu wollen, taten es aber
nicht.
Dominikus
Savio allein kam noch einige Schritte näher und blieb
dicht bei mir stehen. Wenn ich die Hand ausgestreckt hätte,
würde ich ihn sicher berührt haben. Er schwieg und sah
mich ebenfalls lächelnd an. Wie schön war er! Seine
Kleider waren ganz prächtig. Eine schimmernd weiße
Tunika, ganz mit Gold durchwirkt, reichte ihm bis auf
die Füße hinab. Sie war mit Diamanten besetzt. Er trug
einen breiten, roten Gürtel, der war mit kostbaren
Edelsteinen so dicht besetzt, daß einer fast den andern
berührte. Sie fügten sich zu einem wunderbaren
Ornament von solcher Farbenpracht, daß ich bei ihrem
Anblick vor Bewunderung schier außer mir geriet. Um den
Hals trug er ein Geschmeide aus fremden, kunstvoll
gearbeiteten Blumen. Wie es schien, waren die Blätter
aus Diamanten auf goldenen Stengeln zusammengesetzt und
so war die ganze Kette. Diese Blüten leuchteten in überirdischem
Licht, das noch lebendiger war, als das Licht der Sonne,
die in jenem Augenblicke gerade wie an einem schönen Frühlingsmorgen
strahlte. In unbeschreiblicher Weise warfen die Blüten
die Sonnenstrahlen auf sein blühendes, frisches Antlitz
zurück, und es war ein Leuchten darauf von all dem
ineinanderfließenden Licht. Auf dem Haupte trug er
einen Kranz von Rosen. Sein lockiges Haar reichte bis
auf die Schultern und machte ihn so schön, liebenswürdig
und anziehend, daß er wie ein . . . wie ein . . . Engel
aussah.”
Don
Bosco rang sichtlich nach treffenden Ausdrücken, als er
die letzten Worte sprach und er schloß mit einer
unbeschreiblichen Geste und einem Tonfall, der alle
erschütterte. Es war, als gäbe er seine Bemühungen
auf, um angemessene Ausdrücke zu finden, das Geschaute
verständlich zu machen. Nach einer kurzen Pause fuhr er
fort:
“Auch
alle anderen Gestalten strahlten. Sie waren verschieden
gekleidet. Ich mußte nur immer staunen. Einer trug
mehr, ein anderer weniger reiche Kleider auf diese oder
jene Weise. Bei dem einen herrschte diese Farbe vor, bei
dem anderen jene und diese verschiedenen Gewänder
hatten eine Bedeutung, die man nicht verstehen konnte.
Aber alle trugen dasselbe rote Cingulum.
Ich
beobachtete weiter und dachte. “Was soll das heißen?
Wie bin ich an diesen Ort geraten?”
Ich
wußte nicht, wo ich mich befand. Ich war außer mir und
Zitterte vor lauter Ehrfurcht am ganzen Leibe. Ich wagte
nicht, näher zu treten. Auch alle anderen schwiegen.
Endlich öffnete Dominikus Savio den Mund und sagte.
“Warum stehst du hier so stumm und wie vernichtet?
Bist du nicht der Mann, der sich sonst vor nichts fürchtet,
sondern unerschrocken den Verleumdungen, Verfolgungen,
den Feinden, Ängsten und Gefahren aller Art die Stirne
bietet? Wo ist dein Mut geblieben? Warum sprichst du
nicht?”
Ich
antwortete mühsam und fast stotternd: “Ich weiß
nicht, was ich sagen soll. Bist du vielleicht Dominikus
Savio?” – “Jawohl, kennst du mich nicht mehr?”
— “Wie kommt es, daß du hier bist?” fragte ich,
noch immer ganz verwirrt. Savio antwortete zärtlich:
“Ich bin gekommen, um mit dir zu sprechen. Wie oft
haben wir auf Erden miteinander gesprochen! Denkst du
nicht mehr daran, wie sehr du mich einmal geliebt hast?
Wie viele Zeichen der Freundschaft und deines
Wohlwollens hast du mir gegeben! Und habe ich deiner
herzlichen Liebe zu mir vielleicht nicht entsprochen?
Was für ein großes Vertrauen hatte ich zu dir! Warum
bist du so erschreckt? Nun kannst du mich etwas
fragen!”
Da
faßte ich Mut und sagte. “Ich zittere, weil ich nicht
weiß, wo ich bin.”
“Du
bist am Orte der Seligkeit, wo man alle Freuden, alle Köstlichkeiten
genießt”, antwortete Savio. — “Ist dies
vielleicht der Lohn für die Gerechten?” — “Oh,
nein, hier sind wir an einem Ort, wo man keine ewigen
Freuden hat, sondern nur erst zeitliche Genüsse und Güter
genießt, obwohl diese hier schon groß sind.”
“Sind
denn alle diese Dinge noch natürlich?”
“Ja,
aber von der Allmacht Gottes prächtiger gestaltet.”
“Mir
kam es so vor”, rief ich aus, “als wäre dies das
Paradies!”
“Nein,
nein, nein!” antwortete Savio. “Kein sterbliches
Auge kann die ewigen Schönheiten betrachten.” —
“Und die Musik”, fuhr ich fort, “sind das die
Weisen, woran ihr euch im Paradies erfreut?”
“Nein,
nein, keineswegs!”
“Sind
es natürliche Klänge?”
“Ja,
es sind natürliche Weisen, die von der Allmacht Gottes
vervollkommnet sind.”
“Und
dieses Licht, das noch herrlicher ist als das Licht der
Sonne, ist das vielleicht übernatürlich? Ist es das
Licht des Paradieses?”
“Es
ist natürlich, jedoch hat die göttliche Allmacht es
belebt und vervollkommnet.”
“Könnte
man nicht einmal ein wenig von dem übernatürlichen
Licht sehen?”
“Nein,
das kann keiner sehen, ehe er dazu gekommen ist, Gott zu
schauen wie er ist. Der kleinste Strahl dieses Lichtes würde
den Menschen auf der Stelle töten; denn für die
menschlichen Sinne ist er unerträglich.”
“Gibt
es auch noch ein natürliches Licht, das noch schöner
ist als dieses?”
“Oh,
wenn du wüßtest! Wenn du nur einen Strahl des natürlichen
Lichtes, das über diesem steht, sähest, würdest du außer
dich geraten.”
“Könnte
man denn nicht einmal wenigstens einen Strahl davon
sehen?”
“Schon;
du sollst eine Kostprobe haben von dem, was ich sage.
Mach die Augen auf!”
“Die
habe ich doch offen”, antwortete ich.
“Paß
auf und sieh hinten in das Kristallmeer!”
Ich
schaute hinein und sogleich erschien unversehens am
Himmel in einer unendlichen Entfernung ein
augenblicklicher Lichtstreifen dünn wie ein Faden; aber
so glänzend, so durchdringend, daß meine Augen ihn
nicht ertragen konnten. Ich schloß sie und stieß einen
solchen Schrei aus, daß ich Don Lemoyne — der hier
zugegen ist und im Zimmer nebenan schlief —,
aufweckte. Ganz erschrocken fragte er am Morgen, was mir
in der Nacht passiert sei, da ich so bewegt gewesen wäre.
Dieser Lichtstreifen war hundert millionenmal heller als
drei Sonnen, und sein Glanz würde genügt haben, um das
ganze erschaffene Universum zu erleuchten. Nach einigen
Augenblicken öffnete ich die Augen und fragte Savio.
“Was ist das? Ist das nicht vielleicht ein Strahl von
dem göttlichen Licht?” Savio antwortete: “Es ist
kein übernatürliches Licht, obwohl es viel mehr
leuchtet als das Licht der Welt. Das ist nichts anderes
als ein natürliches Licht, das durch die Allmacht
Gottes auf solche Weise lebendiger gemacht wurde. Wenn
die ganze Welt eine gewaltige Lichtzone wäre,
leuchtend, wie der Streifen, den du eben dort hinten
gesehen hast, würde sie dir noch keine Vorstellung von
dem Lichtglanz des Paradieses vermitteln.”
“Und
ihr, an was erfreut ihr euch denn im Paradiese?”
“Ja
. . . das kann ich dir nicht sagen. Die Freuden des
Paradieses kann kein Sterblicher verstehen, solange er
das Leben nicht verlassen hat und mit seinem Schöpfer
wiedervereinigt wurde. Man erfreut sich an Gott. Damit
ist alles gesagt.”
Indessen
hatte ich mich gänzlich von meiner ersten Verwirrung
erholt und war ganz vertieft, die Schönheit Dominikus
Savios zu betrachten. Ich fragte ihn frei heraus.
“Warum hast du ein solch weißes, leuchtendes
Kleid?”
Savio
schwieg und schien auch nicht sprechen zu wollen. Dann
sagte der Chor vielstimmig, begleitet vom Klang aller
Instrumente: ‚Ipsi habuerunt lumbos praecinctos et
dealbaverunt stolas suas in sanguine Agni. — Sie haben
ihre Lenden umgürtet und ihre Gewänder weiß gewaschen
im Blute des Lammes.'
Als
die Musik schwieg, fragte ich: “Und warum trägst du
den roten Gürtel um deine Lenden?”
Savio
antwortete auch dieses Mal nicht und schien nicht
sprechen zu wollen.
Da
fing Don Alasonatti allein an zu singen: ‚Virgines
enim sunt et sequuntur Agnum quocumque ierit — Sie
sind unschuldig und folgen dem Lamme wo immer es
geht.‘
Da
verstand ich, daß der rote Gürtel in der Farbe des
Blutes ein Symbol für die großen Opfer, für die
gewaltigen, fast ans Martyrium grenzenden Anstrengungen
waren, die jener auf sich genommen hatte, um die Tugend
der Reinheit zu bewahren. Um keusch zu bleiben vor dem
Angesichte Gottes, wäre er auch bereit gewesen, sein
Leben hinzugeben, wenn die Umstände es erfordert hätten.
Der Gürtel war auch ein Symbol der Buße, die die Seele
von Schuld reinigt. Das weiße, leuchtende Kleid
bedeutete die unversehrt bewahrte Taufunschuld. Der
Gesang zog mich an und während ich all die Reihen und
Scharen betrachtete, die hinter Dominikus Savio waren,
fragte ich ihn. “Wen hast du alles in deiner
Begleitung?” Und die anderen fragte ich. “Wie kommt
es, daß ihr alle so glänzt?” Savio schwieg weiter
und die Jungen sangen: ‚Hi sunt sicut Angeli Dei in
coelo. — Sie sind wie die Engel Gottes im Himmel.‘
Indessen
bemerkte ich, daß Savio einen Vorrang vor der Menge
hatte, die ihm in ehrfurchtsvoller Entfernung von etwa
zehn Schritten folgte.
“Sag
mir, Savio, du bist der jüngste von den vielen, die dir
folgen und von denen, die in unseren Häusern starben.
Warum gehst du also vor ihnen her und führst sie an?
Warum sprichst du und die übrigen schweigen?”
“Ich
bin älter als sie alle.”
“Aber
nein”, erwiderte ich, “viele andere sind weit älter
an Jahren als du!”
“Ich
bin der Älteste aus dem Oratorium”, sagte Dominikus
Savio noch einmal; “denn ich bin der erste gewesen,
der die Welt verlassen hat und in das andere Leben
eingegangen ist. Im übrigen legatione Dei fungor!”
(Ich fungiere als Gesandter Gottes!)
Diese
Antwort deutete mir den Sinn jener Erscheinung an. Er
kam als der Gesandte Gottes. “Nun gut”, sagte ich,
“sprechen wir von den Dingen, die für uns jetzt die
wichtigsten sind.”
“Ja
frag mich schnell, was du wissen willst. Die Stunden
verrinnen und die Zeit, die mir gewährt ist, um mit dir
zu sprechen, könnte enden und dann sähest du mich
nicht mehr.”
“Ich
glaube, daß du mir etwas von höchster Wichtigkeit
mitzuteilen hast.”
“Was
soll ich armes Geschöpf dir sagen”, antwortete Savio
in höchster Demut. “Von Gott bin ich gesandt, um mit
dir zu sprechen. Darum bin ich gekommen.”
“Dann”,
rief ich aus, “sprich mit mir über die Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft unseres Oratoriums. Sag mir etwas
über meine herzlieben Jungen. Sprich mit mir über
meine Kongregation!”
“Über
letztere könnte ich dir viel sagen.”
“Offenbare
mir also, was du weißt. Sag mir etwas über die
Vergangenheit!”
Er
sagte: “Die Vergangenheit ist ganz deine Sache.”
Und
ich: “Habe ich wohl auch das Meine getan?”
Savio.
“Was die Vergangenheit angeht, sage ich dir, daß
deine Kongregation schon viel Gutes erreicht hat. Siehst
du dort unten die zahllosen Jungen?”
“Ich
sehe sie”, antwortete ich. “Oh, wie viele und wie glücklich
sind sie!”
Und
er: “Sieh, was steht über dem Eingang zu jenem Garten
geschrieben?” “Ich sehe, es steht dort geschrieben:
“Salesianischer Garten.”
“Nun
gut”, fuhr Savio fort, “das waren alles Salesianer,
oder sie wurden bei dir erzogen oder hatten irgendeine
Beziehung zu dir. Sie sind durch dich gerettet oder von
deinen Priestern und Klerikern oder von anderen
Menschen, die ihnen von dir auf dem Weg ihrer Berufung
gestellt worden sind. Zähl sie, wenn du kannst! Aber
sie wären hundert Millionen zahlreicher gewesen, wenn
du größeren Glauben und mehr Vertrauen auf den Herrn
gehabt hättest.”
Da
seufzte ich schmerzlich auf. Ich wußte nicht, was ich
auf diesen Vorwurf antworten sollte und nahm mir vor:
von jetzt ab werde ich mich bemühen, diesen Glauben und
dieses Vertrauen zu haben. Dann fragte ich: “Und was
ist mit der Gegenwart?”
Savio
zeigte mir einen prächtigen Blumenstrauß, den er in
den Händen hielt. Es waren Rosen, Veilchen,
Sonnenblurnen; es gab Enzian, Lilien, Efeu oder
Immortellen und mitten in den Blumen waren Weizenähren.
Savio hielt mir den Strauß hin und sagte: “Sieh genau
her!”
Ich
antwortete: “Ich sehe . . . aber begreife nichts.”
“Gib
den Strauß deinen Söhnen, damit sie ihn dem Herrn überreichen
können, wenn die Zeit gekommen ist. Sorge dafür, daß
alle diese Blumen haben, die keinem genommen sind, die
niemandem genommen werden. Wenn sie aber diesen
Blumenstrauß besitzen, so genügt das, um glücklich zu
sein.”
“Aber
was soll dieser Strauß bedeuten?”
“Nimm
die Theologie zu Hilfe!” antwortete er. “Sie wird es
dir sagen und erklären!”
Und
ich: “Theologie habe ich studiert, aber ich wüßte
nicht, wie ich daraus entnehmen könnte, was du mir
zeigst.”
Savio:
“Du bist streng verpflichtet, diese Dinge zu
wissen!”
“Nun,
dann hilf mir aus der Verlegenheit. Gib mir die Erklärung!”
Savio:
“Siehst du diese Blumen? Sie stellen die Tugenden dar,
die dem Herrn am meisten gefallen.”
“Und
welche sind es?”
Savio:
“Die Rose bedeutet die Liebe, das Veilchen die Demut,
die Sonnenblume den Gehorsam, der Enzian die Buße und
Abtötung, die Ähren die häufige Kommunion; die Lilie
ist das Symbol der Tugend, von welcher geschrieben
steht: Erunt sicut Angeli Dei in caelo — Sie werden
wie die Engel Gottes im Himmel sein: die Keuschheit. Und
der Efeu oder die Immortellen wollen sagen, daß alle
diese Tugenden immer da sein müssen. Sie bezeichnen die
Beharrlichkeit.”
“Nun
gut, mein lieber Savio!” sagte ich. “Nun sag mir
einmal, du hast diese Tugenden in deinem Leben geübt.
Was tröstete dich bei deinem Sterben am meisten?”
“Was
meinst du, was das gewesen sein könnte?” erwiderte
er.
“Vielleicht
die schöneTugend der Reinheit bewahrt zu haben?”
“Oh
nein, das nicht allein.”
“Vielleicht
die Freude eines ruhigen Gewissens?”
“Das
ist schon etwas Gutes; aber es gibt noch Besseres.”
“Half
dir vielleicht die Hoffnung auf das Paradies?”
“Auch
nicht.”
“Dann
wird es wohl der Schatz deiner vielen guten Werke
sein?”
“Nein,
nein.”
“Ja,
was gab dir denn in deiner letzten Stunde die Kraft?”
so fragte und bat ich ihn, ganz verlegen, weil ich seine
Gedanken nicht erraten konnte.
Und
Savio: “Sieh das, was mich im Sterben am meisten stärkte,
war die Hilfe der machtvollen Mutter des Erlösers! Sag
das nur all deinen Söhnen. Sie sollen nicht vergessen
zu ihr zu beten, solange sie leben. Aber mach schnell,
wenn du willst, daß ich dir noch etwas beantworten
soll!”
“Und
was sagst du von der Zukunft?”
“In
der Zukunft, im kommenden Jahr 1877 wirst du einen großen
Schmerz zu ertragen haben. Sechs und noch zwei von
denen, die dir die Liebsten sind, werden von Gott in die
Ewigkeit abberufen werden. Aber tröste dich: sie werden
aus dem Feld dieser Welt umgepflanzt werden in die Gärten
des Paradieses. Sie werden gekrönt. Mach dir keine
Sorgen; der Herr wird dir helfen und dir andere gute Söhne
geben!”
“Geduld!
Und was wird mit der Kongregation?”
“Was
die Kongregation angeht, so mögest du wissen, daß Gott
dir große Dinge vorbereitet. Für sie wird im kommenden
Jahre eine Morgenröte des Ruhmes aufgehen, und zwar so
glänzend, daß sie wie ein Blitz die vier
Himmelsrichtungen der Welt erleuchten wird vom Osten bis
zum Westen, vom Süden bis zum Norden. Große Ehre ist für
sie bereitet. Aber sorge du, daß der Wagen, auf dem der
Herr steht, nicht von den Deinen aus dem Geleise und vom
Wege abgezogen wird. Wenn deine Priester ihn aber gut führen
und ihrer hohen Berufung würdig sind, wird die Zukunft
stets glänzend sein und einer Unmenge Menschen Heil
bringen; jedoch unter einer Bedingung: daß deine Söhne
treue Marienverehrer sind und die Tugend der Keuschheit,
die in den Augen Gottes soviel wert ist, zu bewahren
wissen, auch im ganzen Hause.”
“Nun
möchte ich noch”, fragte ich weiter, “daß du mir
etwas über die Kirche im allgemeinen sagst.”
“Das
Schicksal der Kirche liegt in der Hand Gottes, in der
Hand des Schöpfers. Was in seinen unendlichen Plänen
bechlossen ist, kann ich dir nicht enthüllen. Kein
erschaffener Geist kann an solchen Geheimnissen
teilhaben, die Gott sich allein vorbehält.”
“Und
was wird mit Pius IX.?”
“Was
ich dir sagen kann, ist, daß der Hirt nicht mehr lange
auf Erden zu kämpfen haben wird. Er braucht nur noch
wenige Schlachten zu gewinnen. Binnen kurzem wird er von
seinem Thron hinweggenommen, und der Herr wird ihm den
verdienten Lohn geben. Das übrige ist bekannt. Die
Kirche wird nicht untergehen. Hast du noch etwas zu
fragen?”
“Und
was wird mit mir?” fragte ich ihn.
“Oh,
wenn du wüßtest, durch welche Dinge du noch hindurch
mußt. Aber beeile dich, ich darf nicht mehr lange mit
dir sprechen.”
Da
streckte ich voller Verlangen die Hände aus, um den
heiligen Jungen festzuhalten; aber seine Hände schienen
aus Luft zu sein und ich bekam nichts zu fassen.
“Na,
was machst du denn jetzt?” sagte Savio lächelnd.
“Ich
habe Angst, daß du mir entfliehst!” rief ich aus.
“Aber bist du denn nicht mit dem Leibe hier?”
“Nein,
mit dem Leibe nicht. Den nehme ich erst später wieder
an.”
“Aber
was ist denn das, was ich da vor mir habe? Ich sehe tatsächlich
in dir die Gestalt des Dominikus Savio.”
“Sieh”,
sagte er, “wenn die Seele vom Leibe getrennt ist und
sich mit Gottes Erlaubnis irgendeinem Sterblichen zeigt,
behält sie ihre Form und äußere Erscheinung mit allen
Eigenheiten desselben Leibes bei, wie sie auf Erden
lebte und so, obgleich viel schöner, bleibt sie, bis
sie am Tage des allgemeinen Gerichtes wieder mit dem
Leib vereinigt wird. Dann nimmt sie ihn mit sich ins
Paradies. Darum kommt es dir so vor, als hätte ich
Kopf, Hände und Füße; aber festhalten könntest du
mich nicht, weil ich schier Geist bin. An dieser äußeren
Form kannst du mich erkennen.”
“Ich
habe verstanden”, sagte ich. “Hör mal, noch eine
Antwort. Sind meine Jungen alle auf dem rechten Weg, daß
sie sich retten? Sag mir etwas, damit ich sie gut leiten
kann.”
“Die
Söhne, welche die göttliche Vorsehung dir anvertraut
hat, lassen sich in drei Gruppen einteilen. Siehst du
diese drei Listen?” — dabei reichte er mir eine —.
“Schau sie an!”
Ich
sah auf dem ersten Verzeichnis Invulnerati (= die
Unverwundbaren) geschrieben. Das waren die, die der Dämon
nicht verwunden konnte, die ihre Unschuld nicht befleckt
haben. Diese Unverletzten waren in großer Zahl und ich
sah sie alle. Viele von ihnen kannte ich schon. Viele
sah ich aber zum ersten Male. Diese kommen
wahrscheinlich in den nächsten Jahren zum Oratorium.
Sie gingen gerade auf ihrem steilen Wege voran, obwohl
fortwährend von allen Seiten mit Pfeilen, Schwerthieben
und Lanzen auf sie gezielt und geschlagen wurde. Diese
Waffen waren wie eine Hecke zu beiden Seiten ihres
Weges. Sie wurden davon bekämpft, behindert, aber nicht
verwundet.
Dann
gab mir Savio eine weitere Liste mit der Aufschrift:
Vulnerati (= die Verwundeten). Das sind die, welche in
Ungnade Gottes gewesen sind, aber nun wieder auf den Füßen
stehen, ihre Wunden durch Reue und Beichte geheilt
haben. Sie waren in größerer Zahl als die vorigen. Sie
hatten auf ihrem Lebenswege durch die Hecke der Feinde
Wunden davongetragen. Ich las ihre Namen und sah sie
alle. Viele gingen sehr gebückt und entmutigt.
Das
dritte Verzeichnis hielt Savio noch in der Hand. Die
Aufschrift lautete: Lassati in via iniquitatis (= die
auf dem Weg der Sünde verblieben sind). Da standen die
Namen aller geschrieben, die sich in der Ungnade Gottes
befinden. Ich war begierig, dieses Geheimnis zu erfahren
und streckte die Hand aus. Aber Savio sagte mit großer
Lebhaftigkeit: “Nein, warte einen Augenblick und höre
zu! Wenn du dieses Blatt auseinanderfaltest, wird daraus
ein solcher Gestank kommen, den weder ich noch du
vertragen können. Sogar die Engel ziehen sich davor
erschreckt zurück, und es wird ihnen übel und selbst
der Heilige Geist empfindet Ekel vor dem abscheulichen
Gestank der Sünde.”
“Wie
ist denn das möglich”, entgegnete ich, “da Gott und
die Engel doch nicht leiden können? Wie können sie so
den Geruch der Materie empfinden?”
“Ja,
das ist so; je mehr die Geschöpfe gut und rein sind, um
so mehr nähern sie sich den himmlischen Geistern; je
mehr aber einer schlecht, verdorben und schmutzig ist,
um so mehr entfernt er sich von Gott und den Engeln, die
sich von ihm zurückziehen, da der Betreffende für sie
ein Gegenstand des Ekels und Abscheus geworden ist.”
Darauf gab er mir das Verzeichnis und sagte: “Nimm
nur, öffne es und zieh Nutzen daraus für deine Jungen.
Aber denk immer an den Blumenstrauß, den ich dir
gegeben habe. Sorge dafür, daß alle ihn haben und
bewahren!”
Als
er dies gesagt und mir die Liste gegeben hatte, ging er
zu seinen Gefährten zurück. Es war fast, als ob er die
Flucht ergriffe.
Ich
öffnete das Verzeichnis. Ich sah keinen Namen, aber
augenblicklich standen mir alle die einzelnen Jungen vor
Augen, die in der Liste verzeichnet waren und zwar so
lebendig, als ständen sie wirklich vor mir. Ich sah sie
alle mit schmerzlicher Trauer. Die meisten kannte ich.
Sie gehörten zum Oratorium oder zu den übrigen
Schulen. Viele sah ich auch darunter, die inmitten ihrer
Kameraden als gut gelten; einige sogar, die zu den
besten zu gehören scheinen, aber nicht so sind. Als ich
jedoch das Papier auseinanderfaltete, strömte ein
unerträglicher Gestank daraus hervor. Sofort befielen
mich sehr heftige Kopfschmerzen und ein solcher
Brechreiz, daß ich davon zu sterben fürchtete.
Indessen wurde es dunkel und dabei verschwand die Vision
und ich sah nichts mehr von dem wunderbaren Schauspiel.
Gleichzeitig flammte ein Blitz auf und es donnerte so
stark und furchtbar, daß ich ganz erschrocken
aufwachte. –
Jener
Geruch jedoch drang in alle Wände ein und sickerte in
die Kleidungsstücke, so daß es mir war, als röche ich
viele Tage später noch den Pesthauch. So übel ist in
den Augen Gottes also schon der Name des Lasterhaften.
Auch jetzt, wo ich mir kaum jenen Gestank ins Gedächtnis
zurückrufe, überläuft es mich kalt. Ich meine, ich müßte
ersticken. Dort in Lanzo, wo ich mich befand, fing ich
an, den einen und anderen zu befragen. Einige Jungen
habe ich gewarnt und ich habe gefunden, daß dieser
Traum mich nicht getäuscht hat. Daher ist er eine Gnade
des Herrn, der mich den Seelenzustand eines jeden
erkennen ließ. Doch werde ich nichts davon in der Öffentlichkeit
verlauten lassen. Nun wäre noch vieles zu erklären.
Das hebe ich mir aber für einen anderen Abend auf.
Jetzt brauche ich euch nur noch eine gute Nacht zu wünschen.”
***
Daß
Don Bosco im Traum gewisse Jungen als schlecht gezeigt
wurden, die sonst als die besten des Hauses galten,
hatte in Don Bosco den Verdacht erweckt, daß es sich um
eine Täuschung handle. Daher hatte er sich vorher
einige zu sich kommen lassen ‚ad audiendum verbum‘
(= um sie anzuhören).
Er
wollte sich über die Natur des Traumes erst richtige
Klarheit verschaffen. Aus demselben Grund schob er die
Erzählung des Traumes um 14 Tage hinaus. Als er aber
sicher war, daß die Sache von Gott kam, dann sprach er.
“Weitere
Bestätigungen würde die Zeit noch bringen, wenn die
gehörten Vorhersagen in Erfüllung gingen.”(Lem. XII,
595).
***
Die
erste Vorhersage — und das war auch die wichtigste —
betraf die Zahl der lieben Söhne, die im Jahre 1877
sterben würden. Sie war in zwei Gruppen aufgeteilt: 6
und 2. Die Verzeichnisse des Oratoriums tragen nun ein
Kreuz, das übliche Zeichen des Todes neben den Namen
der 6 Jungen und 2 Kleriker. (Lem. XII, 596).
***
In
Borgo Dora hörte ein Polizeibeamter von dieser
Prophezeiung. Er paßte das ganze Jahr 1877 auf, ob sie
sich erfüllen würde. Schon war der letzte Tag des
Jahres angebrochen, da traf die Nachricht über den 8.
Todesfall ein. Nun sagte der Beamte der Welt
“Lebewohl” und wurde Salesianer. Es war der spätere
Don Angelo Piccono. (Lem. XII, 596).
***
Der
Ruhm der Salesianischen Gesellschaft wurde verbreitet
durch den Verein der ‚Salesianischen Mitarbeiter', der
1876 von Papst Pius IX. bestätigt war, sowie durch die
‚Salesianischen Nachrichten', die 1877 gegründet
wurden.
Papst
Pius IX. starb 14 Monate nach dieser Vision. Don Bosco
hatte noch 11 Jahre und 2 Monate zu leben und auch noch
viele Kämpfe, Mühen und Opfer auf sich zu nehmen bis
zum letzten Atemzuge.
Inhaltsübersicht
DIE
SANFTMUT DES HEILIGEN
FRANZ
VON SALES
(Lem.
XIII, 302-303)
Während
eines Exerzitienkurses für ausziehende
Amerika-Missionare, Mitte August 1877 in Lanzo, erzählte
Don Bosco seinen Mitbrüdern die folgende Vision. Er
begann:
“Ich
will hier keine Predigt halten, sondern euch nur eine
kleine Geschichte erzählen. Nennt sie, wie ihr wollt:
Fabel, Traum oder Erzählung. Legt ihr viel, wenig oder
gar keinen Wert bei. Beurteilt sie nach Belieben.
Immerhin wird uns auch diese kleine Geschichte, die ich
nun erzählen will, etwas lehren.
Es
war mir, als ginge ich durch die Alleen bei der Porta
Susa. Vor der Militärkaserne sah ich eine Frau. Ich
hielt sie für eine Verkäuferin, die geröstete
Kastanien feilhielt; denn sie drehte über dem Feuer
eine Art Zylinder, worin nach meiner Meinung Kastanien
gekocht wurden. Verwundert über eine solche neue Art,
Kastanien zu kochen, trat ich näher und sah genau, wie
der Zylinder sich drehte. Ich fragte die Frau, was sie
in dem seltsamen Geschirr koche. Sie antwortete mir:
“Ich bereite Konfekt für die Salesianer.”
“Wie?”,
sagte ich, “Konfekt für die Salesianer?” —
“Ja”, antwortete sie. Dabei öffnete sie den
Zylinder und zeigte mir den Inhalt. Ich konnte alsdann
in dem Zylinder Konfitüren verschiedener Farben
erkennen. Sie waren mit einer Leinwand voneinander
getrennt. Ein Teil war weiß, ein anderer rot und einer
schwarz. Darüber sah ich eine Art Zucker gestreut. Er
glich Regentropfen oder frisch gefallenem Tau und war
stellenweise voll roter Flecken.
Alsdann
fragte ich die Frau: “Kann man diese Bonbons denn
essen?”
“O
ja”, sagte sie und reichte mir davon.
Da
fragte ich. “Was soll das heißen, daß ein Teil
dieses Konfekts rot, ein anderer schwarz und wieder
einer weiß ist?”
Sie
antwortete: “Die weißen kosten wenig Mühe; aber man
kann sie leicht beflecken. Die roten kosten das Blut und
die schwarzen das Leben. Wer von den schwarzen ißt,
achtet nicht auf Mühe und Tod.”
“Und
was bedeutet der Zuckerüberzug?” fragte ich.
“Er
ist das Symbol der Liebenswürdigkeit des Heiligen, den
ihr nachahmen sollt. Diese Art von Tautropfen besagt, daß
man schwitzen, ja viel schwitzen muß, um die liebenswürdige
Güte zu bewahren. Und manchmal wird man sogar sein Blut
vergießen müssen, um sie nicht zu verlieren.”
Ganz
verwundert wollte ich weitere Fragen stellen; aber die
Frau antwortete mir nicht weiter und sprach überhaupt
nicht mehr.
Über
die gehörten Dinge sehr nachdenklich geworden, setzte
ich meinen Weg fort. Aber kaum hatte ich einige Schritte
gemacht, da begegnete mir Don Picco mit noch einigen
anderen unserer Priester. Alle waren verwirrt,
niedergeschlagen und ihre Haare sträubten sich ihnen
auf dem Kopf.
“Was
ist geschehen?” fragte ich sie.
Und
Don Picco. “Wenn Sie wüßten! . . . Wenn Sie wüßten!”
Ich
bestand auf meiner Frage, was es Neues gäbe. Und er:
“Wenn Sie wüßten! . . . Haben Sie die Frau gesehen,
die Konfekt bereitet?”
“Ja!
Und was soll das?”
“Nun
gut”, fuhr er ganz erschrocken fort, “sie sagte mir,
ich sollte Ihnen empfehlen, es so zu machen, daß Ihre Söhne
arbeiten und nochmals arbeiten. Sie sagte: Sie werden
viele Dornen finden, sie finden aber auch viele Rosen.
Sag ihnen, daß das Leben kurz und die Ernte groß ist.
Das Leben, verglichen mit Gott, ist selbstverständlich
kurz; denn vor Gott ist es ein Augenblick, ein
Nichts.”
“Aber
arbeitet man nicht?” fragte ich.
Und
er: “Man arbeitet und man arbeite weiter!” Als er
das gesagt hatte, sah ich weder ihn noch die anderen
mehr und setzte erstaunter als zuvor meinen Weg zum
Oratorium fort. Dort angekommen, erwachte ich. —
Das
ist die Geschichte, die ich euch erzählen wollte. Nennt
sie Gleichnis, Parabel oder Phantasie; das macht nichts
aus. Ich möchte aber, daß man sich gut merkt, was die
Frau zu Don Picco und den übrigen gesagt hat, nämlich,
daß wir die Sanftmut unseres heiligen Franz von Sales
wirklich üben sowie viel und ständig arbeiten
sollen.”
Inhaltsübersicht
DIE
FERIEN
(Lem.
XIII, 761-764)
Nachdem
die Jungen von ihren Herbstferien in das Oratorium zurückgekehrt
waren, erzählte Don Bosco ihnen am Abend des 24.
Oktober 1878 den Traum von den Ferien. Er sagte
einleitend:
“Ich
bin froh, meine Heerschar ‚contra diabolum‘ —
gegen den Teufel — wiederzusehen . . . Vieles will ich
euch heute sagen, da ich nach den Ferien das erste Mal
zu euch spreche. Ich will euch nun einen Traum erzählen.
Ihr wißt, daß man die Träume im Schlaf hat, und ihr
braucht nicht daran zu glauben. Aber wenn es keinen
Schaden bringt, nicht daran zu glauben, so schadet es
manchmal auch nicht, wenn man daran glaubt. Sie können
uns sogar zur Belehrung gereichen, wie zum Beispiel
dieser Traum.
Ich
war während der ersten Exerzitien in Lanzo und schlief,
als ich, wie gesagt, einen Traum hatte. Ich befand mich
an einem Orte, konnte aber nicht herausfinden, in
welcher Gegend es war. Es war irgendwo, wo sich ein
Garten mit einer sehr weiten Wiese ausbreitete. Ich
befand mich in Gesellschaft einiger Freunde, die mich
einluden, in den Garten zu kommen. Ich ging hinein und
sah eine große Menge Schäfchen, die lustig
umhersprangen und Kapriolen machten, wie es ihre Art
ist. Da, auf einmal öffnete sich eine Türe zur Wiese
hin und die Schäfchen liefen hinaus, um zu weiden.
Viele
legten jedoch keinen Wert darauf, hinauszukommen,
sondern blieben im Garten. Sie gingen hierhin und
dorthin und fraßen einen Grashalm nach dem anderen und
weideten so, obwohl es hier kein Gras im Überfluß gab,
wie es draußen auf der Wiese der Fall war, wohin die
meisten gelaufen waren.
“Ich
möchte doch sehen, was die Schäfchen draußen
machen”, sagte ich. Wir gingen auf die Wiese und sahen
sie ruhig grasen. Und siehe da, plötzlich verdunkelte
sich der Himmel, es folgten Blitze und Donner und ein
Gewitter zog heran. Da fragte ich mich: ‚Was soll aus
diesen Lämmlein werden, wenn sie in das Unwetter
geraten?' und sagte: “Laßt sie uns in Sicherheit
bringen!” Ich ging und rief sie. Dann versuchten wir,
ich von der einen Seite und meine Gefährten von
verschiedenen Richtungen her, sie zum Eingang des
Gartens zu treiben. Aber sie hatten keine Lust
hineinzugehen. Wenn wir hier etwas Jagd auf sie machten,
entwischten sie uns dort wieder. Ja, die Schäfchen
hatten flinkere Beine als wir. Unterdessen fielen die
ersten Tropfen, dann strömte er Regen herab. Es gelang
mir nicht, die Herde zu sammeln. Ein oder zwei Schäfchen
kamen nun doch noch in den Garten; aber alle anderen —
und es war eine große Menge — blieben auf der Wiese.
“Gut”,
sagte ich, “wenn sie nicht kommen wollen, um so
schlimmer für sie, dann ziehen wir uns zurück.” Und
wir gingen in den Garten. Dort war ein Brunnen. Darüber
stand in großen Buchstaben geschrieben: ‚Fons
signatus — versiegelter Brunnen'. Er war verschlossen,
und wenn man ihn öffnete, sprang das Wasser hoch und
teilte sich wie ein Regenbogen; aber in der Form eines
Gewölbes, wie bei diesen Säulenhallen. Indessen sah
man die Blitze häufiger. Es donnerte lauter und es fing
auch an zu hageln. Wir fanden eine Zuflucht mit allen
Schäfchen, die im Garten unter dem wunderbaren Gewölbe,
wo wir uns dicht zusammendrängten, waren. Dort kam kein
Regen und kein Hagel durch.
“Was
ist das?” fragte ich die Freunde. “Was ist und was
wird wohl mit den Armen da draußen.”
“Das
wirst du sehen”, antworteten sie mir. “Betrachte nun
die Stirnen dieser Lämmlein. Was findest du da?” Ich
blickte hin und fand auf der Stirn eines jeden Tieres
den Namen eines Jungen aus dem Oratorium geschrieben.
“Was
soll das?” fragte ich.
“Du
wirst sehen! Du wirst sehen!”
Da
war es mir nicht mehr möglich, mich zu unterhalten. Ich
wollte hinausgehen, um zu sehen, was die armen Lämmlein
da draußen anfingen. ‚Ich werde die Toten sammeln und
zum Oratorium schicken', dachte ich. Als ich unter jenem
Gewölbe hervortrat, fiel der Regen auch auf mich. Ich
sah die armen, Jungen Tiere auf die Erde hingestreckt.
Sie bewegten die Füße, versuchten aufzustehen, konnten
es aber nicht. Ich öffnete den Eingang und rief laut.
Aber ihre Anstrengungen waren vergebens. Regen und Hagel
hatten sie übel zugerichtet und mißhandelten sie noch
weiter, so daß sie einem leid taten. Sie waren
zerschlagen am Kopf, am Kinn oder am Auge, am Fuß oder
an anderen Körperteilen. Nach einiger Zeit hörte der
Sturm auf.
“Sieh”,
sagte der, welcher mir zur Seite stand, “betrachte die
Stirn dieser Schäfchen!”
Ich
blickte hin und sah auf jeder Stirn den Namen eines
Jungen aus dem Oratorium.
“Aber”,
sagte ich. . . “ich kenne den Jungen, der diesen Namen
trägt, er kommt mir aber nicht wie ein Schäfchen
vor.”
“Du
wirst sehen, du wirst sehen”, wurde mir geantwortet.
Dann wurde uns ein goldenes Gefäß mit einem silbernen
Deckel gereicht. Dabei sagte man mir: “Tauche deine
Hand in diese Salbe und die Wunden dieser Jungen Tiere
werden sofort heilen.” Ich fing an sie zu rufen.
“Brr, brr!” Sie aber rührten sich nicht. Ich
wiederholte meine Rufe. Jedoch nichts. Ich suchte mich
einem Schäfchen zu nähern; es machte sich aber davon.
,Es will nicht? Um so schlimmer für es!” rief ich
aus. “Ich gehe zu einem anderen.”
Ich
ging, aber auch dieses entwich mir. So vielen ich mich
auch näherte, um sie zu salben und zu heilen, ebenso
viele flohen vor mir. Ich folgte ihnen und wiederholte
dieses Spiel, doch vergebens. Schließlich erreichte ich
eines. Die Augen hingen ihm aus den Höhlen und es war
übel zugerichtet, so daß es Mitleid erregte. Ich berührte
es mit der Hand und es wurde gesund und hüpfte fort in
den Garten. Nun, da sie dieses gesehen hatten, kamen
viele andere Schäfchen herbeigelaufen. Sie weigerten
sich nicht mehr, ließen sich berühren, heilen und hüpften
in den Garten. Aber es blieben auch viele draußen und
meistens die, die am schwersten verwundet waren. Es war
mir nicht möglich, mich ihnen zu nähern. “Wenn sie
nicht gesund werden wollen, um so schlimmer für sie.
Ich weiß nicht, ob ich sie in den Garten zurückbringen
kann.”
“Laß
sie nur”, sagte mir einer der Freunde, die bei mir
waren. “Sie werden schon noch kommen, sie werden
hierherkommen.”
“Wir
werden sehen”, sagte ich. Ich stellte das goldene Gefäß
wieder dorthin, wo es vorher gewesen war und kehrte zum
Garten zurück. Der hatte sich ganz verändert. Ich las
über dem Eingang: Oratorium. Kaum war ich eingetreten,
da näherten sich die Lämmlein, die nicht hatten kommen
wollen. Sie traten verstohlen ein und liefen, sich hier
und dort zu verstecken. Selbst dann konnte ich mich
keinem von ihnen nähern. Da waren auch einige, die die
Salbe nicht gerne empfingen. Für diese verwandelte sie
sich in Gift und anstatt sie zu heilen, verschlimmerte
sie ihren Zustand.
“Schau
mal, siehst du die Fahne dort?” fragte mich einer der
Freunde.
Ich
wandte mich um und sah eine große Fahne wehen. Darauf
las ich in großen Buchstaben das Wort: ‚Ferien'.
“Ja, ich sehe sie”, antwortete ich.
“Sieh,
das ist die Wirkung der Ferien”, sagte einer meiner
Begleiter und ich war außer mir vor Schmerz über
diesen Anblick.
“Deine
Jungen verlassen das Oratorium. Sie haben guten Willen,
vom Worte Gottes zu leben und gut zu bleiben. Aber dann
überrascht sie der Sturm, das sind die Versuchungen,
dann der Regen, das sind die Anfechtungen des Satans.
Dann fällt der Hagel. Das geschieht, wenn die
Bedauernswerten in Sünden fallen. Manche werden noch
durch die Beichte geheilt; aber andere benutzen dieses
Sakrament nicht gut oder überhaupt nicht. Merk es dir
und werde nicht müde, deinen Jungen zu wiederholen, daß
die Ferien einen großen Sturm für ihre Seelen
bedeuten.”
Ich
betrachtete die Schäfchen und stellte bei einigen tödliche
Wunden fest. Ich suchte Wege, sie zu heilen. Da weckte
mich Don Scappini, der im Zimmer nebenan beim Aufstehen
Lärm machte. — Dies ist der Traum und obschon es nur
ein Traum ist, hat er doch eine Bedeutung, die dem nicht
schadet, der daran glaubt. Ja, ich kann sogar sagen, daß
ich mir einige Namen unter den vielen Schäfchen merkte,
und wenn ich sie dann mit den Jungen verglich, sah ich,
daß diese sich genau so benahmen, wie es im Traume
geschah. Wie sich die Sache nun auch verhalten mag, laßt
uns in der Novene vor Allerheiligen der Güte Gottes
entsprechen, der über uns seine Barmherzigkeit walten
lassen will. Wir sollen mit einer guten Beichte die
Wunden unserer Seele heilen. Wir müssen alle
zusammenhalten, um gegen den Satan zu kämpfen. Mit
Gottes Hilfe werden wir als Sieger aus diesem Kampfe
hervorgehen und den Siegespreis im Paradiese
empfangen.”
Inhaltsübersicht
DER
HEILIGE FRANZ VON SALES UND DIE SALESIANER
(Lem.
XIV, 123-125)
Don
Bosco erzählte diese Vision am 9. Mai 1879. Er begann:
“Ich sah, wie die Jungen in einer gewaltigen, lang
anhaltenden Schlacht verwickelt waren. Ihre Gegner waren
Krieger von verschiedener Gestalt, die seltsame Waffen
trugen. Nur wenige Jungen überstanden lebend die
Schlacht.
Eine
andere, weit grimmigere und schrecklichere Schlacht
entspann sich zwischen Ungeheuern von riesiger Gestalt
und großen Menschen, die gut bewaffnet und im Kampfe
geschult waren. Sie trugen ein ziemlich hohes und
breites Banner. Mitten darauf stand: Maria auxilium
Christianorum — Maria Helferin der Christen. Lang und
blutig war der Kampf; aber alle, die dem Banner folgten,
waren wie unverwundbar und beherrschten eine sehr weite
Ebene. Mit ihnen vereinigten sich die Jungen, welche die
vorhergehende Schlacht überlebt hatten. Sie bildeten
unter allen eine besondere Abteilung des Heeres. Als
Waffe trug jeder eine kleine
Maria‑Hilf‑Fahne, die der eben beschriebenen
Form nachgebildet war. Die neuen Soldaten hielten Übungen
auf der weiten Ebene ab. Danach verhielten sie sich
folgendermaßen: Die einen gingen nach Osten, einige
wenige nach Norden und viele nach dem Süden.
Nachdern
diese Truppen verschwunden waren, wiederholten sich die
gleichen Schlachten, dieselben Manöver und das Ausrücken
nach denselben Himmelsrichtungen. Einige aus den ersten
Schlachten kannte ich. Die nachfolgenden waren mir
unbekannt. Aber sie gaben mir zu verstehen, daß sie
mich kannten und richteten viele Fragen an mich.
Kurz
darauf fiel ein Regen aus glänzenden, kleinen Flammen.
Sie schienen verschiedenartiges Feuer zu sein. Es
donnerte und dann heiterte sich der Himmel wieder auf,
und ich befand mich in einem sehr lieblichen Garten. Ein
Mann, der wie der heilige Franz von Sales aussah,
reichte mir ein Büchlein, ohne dabei etwas zu sagen.
Ich fragte ihn, wer er wäre. Er antwortete nur: “Lies
in dem Buch!”
Ich
öffnete das Buch und hatte Mühe, darin zu lesen. Doch
konnte ich ihm genau die folgenden Worte entnehmen:
“Den
Novizen: Gehorsam in allen Dingen. Mit dem Gehorsam
werden sie sich den Segen des Herrn und das Wohlwollen
der Menschen verdienen. Mit dem Fleiß werden sie die
Nachstellungen der geistigen Feinde bekämpfen und
besiegen.
Den
Professen: Sorgfältig die Tugend der Keuschheit
bewahren. Den guten Namen der Mitbrüder lieben und das
Ansehen der Kongregation fördern.
Den
Direktoren: Alle Mühe und Sorgfalt den Regeln zuwenden.
Durch sie hat sich ein jeder Gott geweiht. Der Direktor
soll die Regeln selbst beobachten und sie beobachten
lassen.
Den
Obern: Absolutes Opfer, um sich und die Untergebenen
Gott zu schenken.”
Noch
viele andere Dinge waren in dem Buch gedruckt. Aber ich
konnte nicht mehr lesen; denn das Papier schien mir
blau, wie Tinte, zu sein.
“Wer
sind Sie?” fragte ich von neuem den Mann, der mich mit
heiterem Blicke betrachtete.
“Mein
Name ist allen Guten bekannt. Ich bin gesandt, dir
einiges aus der Zukunft mitzuteilen.”
“Was?”
“Das,
was du anschneiden und fragen wirst.”
“Was
muß ich tun, um die geistlichen Berufe zu fördern?”
“Die
Salesianer werden viele Berufe haben, wenn sie sich
vorbildlich benehmen, die Zöglinge mit größter Güte
behandeln und sich für die häufige heilige Kommunion
einsetzen.”
“Was
muß man bei der Aufnahme von Novizen beachten?
“Die
Faulen und die Gefräßigen ausschließen.”
“Was
bei der Zulassung zu den Gelübden?”
“Darauf
achten, ob Garantie für die Keuschheit da ist.”
“Wie
kann man den guten Geist in unseren Häusern besser
bewahren?”
“Die
Obern sollen oft an die Häuser und die Mitbrüder
schreiben, sie besuchen, empfangen und mit Wohlwollen
behandeln.”
“Wie
sollen wir uns bezüglich der Missionare verhalten?”
“Solche
Leute ausschicken, die moralisch sicher sind. Alle zurückrufen,
die diesbezüglich ernste Zweifel aufkommen lassen.
Studieren und die eingeborenen Berufe pflegen.”
“Kommt
unsere Kongregation gut voran?”
“Qui
justus est justificetur adhuc. Non
progredi est regredi. Qui
perseveraverit, salvus erit.” —
“Wird
sie sich sehr ausdehnen?”
“Solange
die Obern ihre Pflicht tun, wird sie wachsen, und keiner
wird ihre Verbreitung aufhalten können.”
“Wird
sie lange dauern?”
“Eure
Kongregation wird so lange bestehen, als ihre Mitglieder
die Arbeit und die Mäßigkeit lieben werden. Wenn eine
dieser beiden Säulen fällt, stürzt euer Gebäude ein,
erschlägt Obere und Untergebene und ihre Anhänger.”
In
jenem Augenblick erschienen vier Leute, die eine
Totenbahre trugen. Sie kamen auf mich zu.
“Für
wen ist sie?” fragte ich.
“Für
dich!”
“Bald?”
“Das
frage nicht. Denk nur daran, daß du sterblich bist.”
“Was
wollt ihr mir mit dieser Bahre sagen?”
“Daß
du im Leben tun mußt, was du nach deinem Tode von
deinen Söhnen getan haben willst. Das ist die
Erbschaft, das Testament, welches du deinen Söhnen
hinterlassen mußt. Du mußt es bereiten und es wohl erfüllt
und gut ausgeführt hinterlassen.”
“Stehen
uns Blumen oder Dornen bevor?”
“Es
kommen viele Rosen, viele Tröstungen; aber unmittelbar
bevor stehen scharfe Dornen, die allen sehr tiefen
Verdruß und Herzeleid bringen werden. Man muß viel
beten!”
“Sollen
wir nach Rom gehen?”
“Ja,
aber mit der größten Klugheit und mit äußerster
Vorsicht.”
“Steht
das Ende meines vergänglichen Lebens unmittelbar
bevor?”
“Darum
kümmere dich nicht. Du hast die Regeln, die Bücher.
Tu, was du die anderen lehrst. Wache!”
Ich
wollte noch andere Fragen stellen, aber unter Leuchten
und Blitzen rollte ein dumpfer Donner. Im gleichen
Augenblick stürzten einige Menschen, oder besser
gesagt, schreckliche Ungeheuer auf mich los, um mich zu
zerfleischen. Dann wurde es mir schwarz vor den Augen.
Ich sah nichts mehr. Ich glaubte, ich wäre tot und fing
wie wahnsinnig an zu schreien. Ich erwachte und fand
mich noch am Leben. Es war morgens 1/4 vor 5 Uhr. —
Wenn
uns etwas (aus dieser Erzählung) nützen kann, so
nehmen wir es an. In allem aber sei Gott Ehre und Ruhm
von Ewigkeit zu Ewigkeit.”
***
Die
Dornen können wir darauf deuten, daß Don Bosco seine
Schulen schließen mußte. Die Verfügung trägt das
Datum 16. Mai und wurde am 23. Juni, dem Tage vor seinem
Namenstage überbracht. Weitere Unannehmlichkeiten waren
Schwierigkeiten mit dem Erzbischof von Turin und um die
Maria‑Hilf-Schwestern.
Inhaltsübersicht
LILIEN
UND ROSEN
(Lem.
XIV, 552-555)
Geträumt
in der Nacht vom 8. zum 9. August 1880 in San Benigno
Canavese, wo Don Barberis seit 1879 Direktor war. Don
Bosco erzählte diesen Traum am 10. August abends, während
der Exerzitien der Novizen. Diese machten in San Benigno
ihr Probejahr.
“Zuvor
müßt ihr wissen, daß man im Schlafe träumt. Ich war
im Traum hier in San Benigno. Das ist seltsam; denn man
träumt meistens, sich an Orten und unter Verhältnissen
zu befinden, die von der jeweiligen Wirklichkeit
verschieden sind.
Ich
träumte, ich befände mich in einem sehr großen Saal,
etwa in unserem Refektorium hier. Nur war er noch viel
größer. Dieser gewaltig große Saal war ganz hell
erleuchtet und ich dachte bei mir: Don Barberis sollte
einen solchen Plan gehabt haben? Woher hat er soviel
Geld nehmen können?
Dort
saßen viele Jungen an Tischen zum Mittagessen. Aber sie
aßen nicht. Als ich mit einem anderen eintrat, nahmen
sie Brot, als wenn sie gerade ihre Mahlzeit anfangen
wollten.
Der
Saal war elegant beleuchtet; aber man sah nicht, woher
das Licht kam. Die Gedecke, die Tischtücher und
Servietten waren so weiß und sauber, daß unsere weißen
dagegen schmutzig aussehen würden. Die Bestecke, Gläser,
Flaschen, Schüsseln und Platten waren so glänzend und
schön, daß mir der Verdacht kam, ob ich wohl nicht träumte.
Ich sagte mir: “Aber ich träume ja! Solche Reichtümer
sind in San Benigno ganz ausgeschlossen und doch bin ich
wirklich hier und träume nicht.‘
Unterdessen
beobachtete ich jene Jungen, die dort waren, aber nicht
aßen. Ich fragte: “Was tun sie da? Sie essen ja
nicht!” Während ich dies sagte, begannen alle zu
essen. Ich sah zu und erblickte viele Jungen aus unseren
Häusern und viele von denen, die jetzt hier sind, um
Exerzitien zu machen. Ich wußte mir alles nicht zu erklären
und fragte meinen Begleiter, was dies alles zu bedeuten
habe. Er antwortete: “Paß auf, nur noch einen
Augenblick, und du wirst das ganze Geheimnis
verstehen.” Während er diese Worte sprach, änderte
sich das Licht. Ein noch glänzenderes leuchtete auf. Während
ich nun näher hinzutreten wollte, um besser zu sehen,
erschien eine Schar sehr anmutiger Jünglinge, Engeln
gleich. In der Hand hielten sie Lilien. Sie gingen über
den Tisch, ohne ihn mit Füßen zu berühren. Die
Tischgenossen erhoben sich und betrachteten sie mit
einem Lächeln auf den Lippen. Die Engel teilten nun
hierhin und dorthin Lilien aus, und diejenigen, welche
sie empfingen, erhoben sich ebenfalls von der Erde, als
seien sie Geister. Ich sah zu, welche Jungen die Lilien
erhielten. Ich kannte sie. Aber sie sahen so schön und
strahlend aus, daß ich mir nicht vorstellen könnte, im
Himmel noch etwas Besseres zu finden. Ich fragte, was
die Jungen mit den Lilien bedeuten sollten. Mir wurde
geantwortet: “Hast du nicht so oft über die schöne
Tugend der Herzensreinheit gesprochen?” – “Ja”,
antwortete ich, “ich habe darüber gepredigt und sie
tief in die Herzen meiner Jungen eingepflanzt.” —
“Gut”, erwiderte mein Begleiter, “die, bei denen
du die Lilie in der Hand siehst, sind die, welche sie
bewahren und sie zu bewahren wußten.”
Ich
wußte nicht, was ich dazu sagen sollte. Als ich noch
ganz verwundert dastand, sah ich eine neue Schar von Jünglingen
erscheinen. Wiederum gingen sie über den Tisch, ohne
ihn zu berühren. In den Händen hielten sie Rosen, die
sie austeilten. Wer eine davon bekam dessen Antlitz
begann augenblicklich sehr schön zu leuchten und dieser
Glanz verweilte bei ihnen.
Da
fragte ich meinen Begleiter, was diese andere Schar mit
den Rosen bedeuten solle. Er antwortete mir: “Es sind
die, welche in der Liebe zu Gott entbrannt sind.”
Ich
sah nur, daß alle ihre Namen in Goldschrift auf der
Stirne trugen und ich ging näher heran, um sie besser
sehen zu können. Ich wollte mir auch ihre Namen
aufschreiben; aber da verschwanden sie plötzlich.
Zugleich
mit ihnen verschwand auch das Licht, so daß ich im
Dunkel zurückblieb. Es war aber eine Dunkelheit, in der
man doch noch etwas erkennen konnte. Ich sah rote
Gesichter, fast, als wären sie aus Feuer gewesen. Sie
gehörten jenen, die weder eine Lilie noch eine Rose
erhalten hatten. Ich sah auch einige, die sich mit einem
glitschigen Seil abplagten, das von oben herunterhing.
Sie strengten sich an, daran emporzuklettern und in die
Höhe zu kommen. Aber das Tau gab immer wieder etwas
nach und kam immer weiter herunter, so daß die Armen
immer auf der Erde blieben, schmutzig an ihren Händen
und ihrer ganzen Person.
Eigentümlich
berührt, in jenem Saale ein solches Spiel zu sehen,
fragte ich meinen Begleiter sehr eindringlich, was das
Gesicht bedeuten solle. Er antwortete mir: “Das Seil
ist, wie du ja gepredigt hast, die Beichte. Wer sich gut
daran anzuklammern weiß, kommt ganz gewiß in den
Himmel. Dieses sind gerade jene Jungen, die noch oft zur
Beichte kommen und sich an das Tau anklammern, um in die
Höhe zu gelangen. Jedoch, obwohl sie sich an das Seil
klammern, d. h. obwohl sie beichten gehen, tun sie es
ohne die notwendigen Voraussetzungen, sie beichten mit
nur wenig Reue und auch nur schwachem Vorsatz. Deshalb können
sie nicht emporklettern. Das Seil reißt immer wieder
ab, und sie gelangen niemals in die Höhe, sondern
rutschen unten herum und bleiben immer auf demselben
Fleck. Auch die Namen dieser wollte ich mir notieren;
aber ich hatte kaum zwei oder drei aufgeschrieben da
verschwanden sie vor meinen Augen. Mit ihnen verschwand
der letzte Rest des Lichtes und ich blieb in einer
vollständigen Finsternis zurück.
Mitten
in dieser Finsternis sah ich nun ein noch traurigeres
Schauspiel. Gewisse Jungen von finsterem Aussehen hatten
eine große Schlange um ihren Hals geschlungen. Ihr
Schwanz ging zum Herzen. Den Kopf streckte sie vor und
legte ihn neben den Mund des Beklagenswerten, wie, um
ihn in die Zunge zu beißen, wenn er je die Lippen öffnen
würde. Die Gesichter dieser Jungen waren so
abscheulich, daß ich Angst vor ihnen bekam. Ihre Augen
waren verdreht, der Mund verzogen. Sie waren in einer
Situation, vor der einem graute. Am ganzen Leibe
zitternd, fragte ich wiederum, was das bedeuten solle.
Es wurde mir geantwortet: “Siehst du das nicht? Die
alte Schlange schnürt den Unglücklichen den Hals zu,
damit sie in der Beichte nicht sprechen, und mit ihrem
Giftrachen paßt sie auf, um sie sofort zu beißen,
sobald sie den Mund öffnen. Die Armen! Wenn sie nur sprächen
und eine gute Beichte ablegten! Dann vermöchte der Dämon
nichts mehr gegen sie; aber aus Menschenfurcht sprechen
sie nicht. Sie behalten ihre Sünden auf dem Gewissen.
Sie kommen immer wieder zur Beichte, wagen aber niemals,
das Gift auszuspeien, das sie in ihrem Herzen verschließen.”
Da
sagte ich zu meinem Begleiter: “Gib mir die Namen all
dieser, damit ich sie nicht vergesse.”
“Na,
dann schreibe nur”, antwortete er mir.
“Aber
dazu fehlt die Zeit”, sagte ich.
“Schreib
nur!”
Ich
fing an, sie aufzuschreiben; aber ich schrieb nur
wenige; denn sie verschwanden alle vor meinen Augen.
Mein Begleiter sagte zu mir: “Geh, sag deinen Jungen,
daß sie auf der Hut seien und erzähle ihnen, was du
gesehen hast.” — “Gib mir ein Zeichen”, bat ich
meinen Begleiter, damit ich. erkennen kann, ob dies nur
ein einfacher Traum ist oder vielmehr eine Warnung, die
der Herr mir für meine Jungen geben will.”
“Gut”,
sagte er, “paß auf!”
Es
erschien wieder das Licht und es wurde immer heller.
Auch die Jungen mit Lilien und Rosen kamen wieder. Das
Licht wurde von Augenblick zu Augenblick stärker, so daß
ich genau erkennen konnte, wie jene Jungen glücklich
waren. Eine engelhafte Freude strahlte auf ihrem
Angesicht.
Ich
betrachtete sie mit unbeschreiblichem Entzücken, indes
die Lichtfülle noch immer wuchs. Sie wuchs so sehr, daß
sie nachher zu einer schrecklichen Detonation führte.
Von dem Lärm erwachte ich und fand mich in meinem Bett.
Ich war so müde, daß ich diese Müdigkeit jetzt noch
spüre. —
Nun
legt diesem Traum jenen Glauben bei, wie man ihn Träumen
schenken kann. Was mich anbelangt, so sage ich
allerdings, daß auch er viel Wahrheit zu enthalten
scheint. Gestern abend und heute wollte ich Versuche
damit machen. Als ich nachforschte, habe ich gefunden,
daß mein Traum nicht ganz ein Traum war, und daß nur
ein Akt außergewöhnlicher Barmherzigkeit des Herrn
gewisse Unselige retten kann.”
Inhaltsübersicht
UNTER
DEM SCHUTZMANTEL MARIENS
(Lem.
XIV, 605-610)
In
Frankreich wurden im Jahre 1880 die religiösen Orden
aufgelöst. Da befürchteten die Salesianer dort
dasselbe Schicksal. Man schrieb an Don Bosco. Dieser
antwortete: “Sie werden euch belästigen, beschwerlich
fallen; aber das sind nur Störungen. Wenn sie euch
fortjagen wollen, dann bittet um ein wenig Aufschub,
damit ihr die Jungen an ihre Eltern zurückgeben könntet
und unterdessen wird Gott das übrige tun.”
Am
1. November 1880 erhielten die Salesianer den Befehl,
binnen 24 Stunden zu räumen, sonst würden sie mit
Gewalt vertrieben. Sie hörten von weitem, wie das
Dominikanerkloster mit Gewalt geräumt wurde. Don Bosco
war seiner Sache wirklich sicher, das sieht man an einer
sehr bedeutsamen Begebenheit.
Don
Bologna, der Direktor des Hauses von Marseille, war von
der bevorstehenden Ausweisung in Kenntnis gesetzt
worden. Daraufhin hatte er an den Direktor von Alassio
(Italien) telegraphiert, er solle für die Salesianer
und für die Waisen, die keine Angehörigen mehr hatten,
an die 40 Betten besorgen “Heute abend sind wir alle
bei euch”, schloß das Telegramm Don Cerruti schrieb
all das sogleich an Don Rua, damit diese die Nachricht
Don Bosco mitteile. Don Cerruti hielt es für sicher, daß
bei seiner Ankunft die Gäste in seinem Hause sein würden,
und kündigte in seinem Schreiben ohne weiteres an, daß
die aus Marseille vertriebenen Salesianer in Alassio
angekommen seien. Don Rua eilte zu Don Bosco um ihm die
aufregende Neuigkeit zu erzählen. “Was sagst du?”
antwortete ihm der Heilige. “Es ist unmöglich. Sie
brauchen nicht vertrieben werden. Ich habe es Don
Bologna doch geschrieben.”
“Und
doch schreibt uns Cerruti, daß sie schon in Alassio
sind.”
“Aber
nein, es ist unmöglich!”
“Entschuldigen
Sie bitte, Don Bosco, der Brief sagt es ganz
deutlich.”
“Aber
wenn ich dir sage, daß sie nicht ausgewiesen werden müssen!
. . . Gib mir den Brief.”
Er
nahm den Brief, las ihn und sagte dann: “Da muß ein
Versehen, ein Irrtum unterlaufen sein . . . Laß mir den
Brief. Ich will an Don Bologna schreiben. Du wirst
sehen, es ist, wie ich sage.”
Er
zog sich darauf auf sein Zimmer zurück und schrieb an
Don Bologna um Auskunft; aber obgleich Don Rua dabei
blieb, daß Don Bologna sich in Alassio befände,
richtete Don Bosco den Brief an die Marseiller Adresse
und schickte ihn ab, ohne sich im geringsten aufzuregen.
“Dieselbe
Sicherheit zeigte er Don Lemoyne gegenüber. Der war von
Nizza Monferato nach Turin gekommen und konnte es nicht
unterlassen zu fragen, warum er Don Bologna geschrieben
hätte: “Fürchtet euch nicht. Ihr werdet Belästigungen,
Scherereien, Störungen haben; aber herauswerfen werden
sie euch nicht.” Weiter konnte er nicht verstehen,
warum sich Don Bosco weigerte, den Versicherungen Don
Ruas Glauben zu schenken. Der Heilige zeigte seinen Söhnen
ein großes, väterliches Vertrauen und verhehlte ihm
(Don Lemoyne) nicht, worauf sich seine Sicherheit stützte.
Er deutete es ihm schon einmal ganz kurz an. Vollständig
erklärte er sich indessen in San Benigno am Abend des
1. Dezember. Er war dort seit einigen Tagen mit dem
Oberkapitel beisammen, um letzte Hand an die Entschlüsse
zu legen, die im Generalkapitel gefaßt worden waren ...
An
jenem Abend kündigte er den Konferenzteilnehmern lächelnd
an, daß er einen Traum erzählen wolle, und er erzählte
ihn, wie folgt:
“Pius
IX. sagte mir schon seit 1858, als ich das erstemal in
Rom war, und später auch noch bei anderen
Gelegenheiten, ich sollte all das erzählen oder
aufschreiben, was auch nur von weitem übernatürlich
aussähe. Deswegen schreibe ich manche Dinge auf, andere
erzähle ich; aber ich bin damit zufrieden, daß man sie
weiß; denn sie gereichen allemal zur größeren Ehre
Gottes und zum Heil der Seelen.
Diesen
Traum hatte ich um das Fest Mariä Geburt (1880). Aber
ich habe ihn nicht eher erzählt, weil ich ihm keine
Bedeutung beilegte und erst ein wenig abwarten wollte.
Aber ob ich will oder nicht, die Sache gewinnt an
Bedeutung und deswegen erzähle ich euch den Traum.
Es
war, als man in Frankreich sehr für die religiösen
Genossenschaften zu fürchten begann. Die Jesuiten waren
schon vertrieben und man glaubte so weit zu sein, daß
auch alle anderen verjagt würden. Ich fürchtete um
unsere Häuser in Frankreich, da habe ich gebetet und
ließ beten. Und siehe, ich befand mich eines Nachts im
Traum vor der Allerseligsten Jungfrau. Sie stand hoch,
genau, wie die Maria‑Hilfe‑der-Christen‑Statue
auf der Kuppel. Sie trug einen Mantel, der sich weit um
sie herum ausbreitete und darunter sah ich alle unsere Häuser
in Frankreich. Die Madonna sah lächelnd auf die
einzelnen Häuser herab. Plötzlich brach ein solches
Gewitter los, besser ein Erdbeben mit Blitzen, Hagel und
schrecklichen Tieren ringsum, daß alle von großer
Furcht erfüllt wurden.
Alle
diese Bestien, Blitze und Geschosse richteten sich gegen
unsere Häuser, die unter dem Mantel Mariens waren. Aber
nichts schadete jenen, die sich unter dem Mantel einer
solch mächtigen Schutzherrin befanden. Alle Pfeile
prallten daran ab und fielen ins Leere. Die
Allerseligste Jungfrau stand in einem Meer von Licht,
ihr Antlitz strahlte und mit himmlischem Lächeln sagte
sie unterdessen viele Male: ‚Ego diligentes me diligo
— ich liebe, die mich lieben.' Nach und nach legte
sich der Sturm und wir hatten keine Opfer dieses
Gewitters, Erdbebens oder Unwetters zu beklagen.
Ich
wollte nicht viel Aufhebens um diesen Traum machen; aber
von da an schrieb ich allen Häusern in Frankreich, sie
sollten unbesorgt bleiben. Man fragte mich: “Wie kommt
es, daß alle so erregt sind und nur Sie sind ruhig
inmitten dieser Umwälzungen und Gefahren?” Ich
antwortete nur, sie sollten auf den Schutz der
Allerseligsten Jungfrau vertrauen; aber man legte dem
keine Bedeutung bei. Ich schrieb an Abbè Gujol, dem
Pfarrer von St. Josef, er solle sich keine Sorgen
machen, die Sachen würden gut ausgehen. Aber er
antwortete, wie einer, der nicht versteht. Und wirklich,
wenn man die Angelegenheit nun betrachtet, da der Sturm
fast vorüber ist, erkennt man, daß das Ganze tatsächlich
etwas Außergewöhnliches an sich hat. Wenn man alle
französischen Kongregationen, die schon lange Gutes in
Frankreich wirkten, ausgewiesen sieht und dann unsere
fremde Kongregation betrachtet, die von den Almosen der
Franzosen lebt , mit der Presse, die laut gegen die
Regierung hetzt, weil sie uns nicht wegschickt, — und
wir bleiben friedlich da. Das ist eine Ermutigung für
uns, unser Vertrauen immer wieder auf die liebe Jungfrau
Maria zu setzen. Wir wollen jedoch nicht stolz werden;
denn es würde ein Akt von Ruhmsucht genügen, daß die
Madonna nicht mehr zufrieden wäre mit uns und zuließe,
daß die Schlechten siegen.”
Don
Rua entgegnete: “Aber andere Kongregationen werden die
Madonna auch sehr verehrt haben. Wie kommt es, daß . .
?”
Don
Bosco: “Die Madonna tut, was sie will. Im übrigen
begannen unsere Dinge in dieser außerordentlichen Weise
schon, als ich noch nicht ganz zehn Jahre alt war. Es
kam mir vor, ich sähe in der Tenne des Hauses viele,
viele Jungen. Da sagte mir jemand. “Warum
unterrichtest du sie nicht?” — “Weil ich es nicht
kann.” — “Geh nur, geh nur, ich schicke dich.”
Danach war ich so zufrieden, daß sie alle es
merkten.” —
Geschichtlich
gesprochen nahmen die Dinge auf sehr einfache Weise
ihren Verlauf. Der Kommissär, der mit der Ausführung
des Dekretes beauftragt war, hatte bis 10 Uhr abends zu
kämpfen, um in dem Dominikanerkloster in der
Monteaux-Straße die Türen einzuschlagen und die
Barrikaden niederzulegen, so daß ihn die späte
Abendstunde hinderte, San Leone in Marseille
anzugreifen. Das war das letzte Kloster, das noch
geschlossen werden mußte. Da kam in der Nacht ein
Befehl des Ministeriums, der Präfekt habe die Ausführung
einzustellen, denn Motive der Ministerial‑Politik
rieten zu einer Mäßigung.”
Don
Bosco überließ seine Verteidigung aber nicht der göttlichen
Vorsehung allein, sondern er tat selbst alles menschenmögliche
dazu. Er schrieb dem italienischen Konsul in Marseille.
Gegen die Zeitungsanklagen wurde ein
Rechtfertigungsschreiben aufgesetzt, so daß die Polizei‑Präfekten
die Hetzartikel verboten. Maria‑Hilf‑Schwestern
schickte er in weltlicher Kleidung nach Marseille. Er
bat den italienischen Ministerpräsidenten und
Außenminister um Hilfe. Da bekam er sogar Zuschüsse für
das Haus in Marseille und die mit ihm verbundenen
Anstalten. Und schließlich schrieb der italienische
Konsul von Marseille, die Gefahr schiene vorüber zu
sein, und man beginne das Oratorium von St. Leo als eine
Einrichtung von hohem moralischem und sozialem Nutzen zu
schätzen.
Don
Bosco spornte seine Marsiglianer zur Dankbarkeit und zum
Vertrauen auf die göttliche Vorsehung an.
Inhaltsübersicht
LUDWIG
FLORIN ANTON COLLE
(Lem.
XV, 80-92)
Ludwig
Florin Anton Colle war der einzige Sohn sehr reicher und
angesehener Eltern in Toulon. Der Vater war
Rechtsanwalt. Als er 17 Jahre alt war, wurde er
sterbenskrank. Don Bosco, der sich gerade auf einer
Reise durch Frankreich befand, kam nahe an Toulon vorbei
und wurde zu dem Kranken gerufen. Er besuchte ihn und
bereitete ihn auf den Tod vor; denn er sah, daß dieser
heiligmäßige Junge reif war für den Himmel. Ludwig
starb am 3. April 1881 und Don Bosco sah ihn hinterher
oftmals in kurzen oder längeren Visionen. Es handelt
sich hier also nicht um einen längeren, zusammenhängenden
“Traum”. Don Bosco teilte den Eltern das Geschaute
mit, was diese in ihrer Trauer um den Verlust ihres
Sohnes sehr tröstete. Auch durch die Erscheinungen
Colles wurden Don Bosco wertvolle Erkenntnisse und
Einsichten vermittelt.
Zum
ersten Male sah Don Bosco eine Erscheinung Colles an
dessen Todestag. Am 3. April kam ihm, wie er sagte, beim
Beichthören eine Zerstreuung. Er sah Ludwig in einem
Garten, wo er sich mit einigen Kameraden erfreute und glücklich
zu sein schien. Diese Vision dauerte nur einen
Augenblick. Ludwig sprach nicht. Doch war dann Don Bosco
durch das Gesehene überzeugt, daß Ludwig schon im
Himmel sei. Immerhin betete er weiter für ihn und bat
Gott, ihn noch Weiteres erkennen zu lassen, damit er
Ludwigs Eltern trösten könne. (Lem. XV, 80).
“Es
war am 27. Mai, am Morgen des Himmelfahrtstages. Don
Bosco zelebrierte in der Maria‑Hilf‑Kirche
und brachte das heilige Opfer nach der Intention der
Eltern Ludwigs dar, die seiner Messe beiwohnten. Da sah
er Ludwig im Augenblick der heiligen Wandlung in einem
Meer von Licht. Der Verstorbene sah sehr schön aus, war
sehr fröhlich und hatte gesunde, rote Pausbacken. Er
trug weiße und rosarote Kleidung, die auf der Brust mit
goldener Stickerei verziert war. Don Bosco fragte ihn.
“Warum kommst du, lieber Ludwig?”
Dieser
antwortete: “Es ist nicht notwendig, daß ich komme.
So, wie ich bin, habe ich nicht nötig zu gehen.”
“Lieber
Ludwig, bist du glücklich?”
“Ich
bin überaus glücklich.”
“Fehlt
dir gar nichts?”
“Mir
fehlt nur die Gesellschaft von Vater und Mutter.”
“Warum
läßt du dich nicht von ihnen sehen?”
“Das
würde ihnen zu großen Kummer bereiten.”
Nach
diesen Worten verschwand er. Aber bei den letzten
Gebeten ließ er sich wieder sehen und danach noch
einmal in der Sakristei. Diesmal war er von einigen
Jungen des Oratoriums begleitet, die während der
Abwesenheit Don Boscos gestorben waren. Das war ein großer
Trost für Don Bosco.
“Luigi”,
fragte Don Bosco, “was soll ich deinen Eltern erzählen,
um ihre Trauer zu mildern?”
“Sie
sollen dem Lichte nachgehen und sich Freunde im Himmel
verschaffen.”
Dies
erzählte Don Bosco Ludwigs Eltern, als diese nach Turin
kamen. (Lem. XV, 80‑81)
Kurze
Zeit darauf sah ihn Don Bosco abermals. Er schrieb darüber
am 3. Juli 1881 an Ludwigs Mutter: “Letzthin, am 21.
Juni, sah ich ihn bei der heiligen Messe kurz vor der
heiligen Wandlung. Sein Gesicht war wie immer, wunderschön,
rosig angehaucht und leuchtete wie die Sonne. Sofort
fragte ich ihn, ob er uns etwas zu sagen habe. Er
antwortete ganz einfach: “ Der heilige Aloysius hat
mich sehr beschützt und mir viel Gutes getan.” Ich
wiederholte noch einmal meine Frage: “Sollen wir
irgendetwas tun?” Er gab dieselbe Antwort und
verschwand.” (Lem. XV, 81).
Später
hatte Don Bosco abermals eine Erscheinung und schrieb
darüber an Frau Colle am 30. August. “Während der
Oktav von Maria Himmelfahrt und mehr noch am 25. dieses
Monats habe ich für unseren lieben Ludwig gebetet und
beten lassen. Gerade am 25., während der Konsekration
der heiligen Hostie, hatte ich die große Freude, ihn zu
sehen. Er trug sehr kostbare Kleider und war anscheinend
in einem Garten, in dem er mit einigen Gefährten
spazierenging. Sie sangen gemeinsam: “Jesu corona
Virginum — Jesus, du Krone der Jungfräulichen”;
aber in einem solchen Zusammenklang der Stimmen, daß
man dies weder beschreiben noch ausdrücken kann. Mitten
unter ihnen stand etwas, wie ein hoher PavilIon oder ein
Zelt. Ich wollte weiter sehen und die wunderbare
Harmonie hören; aber ein sehr helles Licht, wie ein
Blitz, zwang mich, die Augen zu schließen. Dann fand
ich mich am Altar bei der heiligen Messe.
Ludwigs
Anblick war sehr schön. Er schien sehr glücklich oder
besser, voller Glück zu sein. In jener heiligen Messe
wollte ich für Sie beten, damit Gott uns die ganz große
Gnade gewähre, daß wir einmal vereint im Himmel sein
werden.”
Wie
Don Bosco später in Toulon erzählte, ist dieser Brief
in San Benigno geschrieben worden, wo Don Bosco Ludwig
wiedersah.
Eines
Tages war Don Bosco in seinem Zimmer mit der
Vorbereitung seiner Predigt beschäftigt. Da kam es ihm
so vor, als hätte er jemanden neben sich. Da wandte er
sich zur Seite, aber in dem Moment ging die Person auf
die andere Seite. Das war die Sache eines Augenblicks.
Als sich Don Bosco nun fragte, was das sein könne, hörte
er: “Kennen Sie mich nicht?” — “Oh, Ludwig!”
rief er aus. Wie kommst du nur nach San Benigno?”
“Für
mich ist es nicht leichter in San Benigno zu sein als in
Falède (Landhaus der Familie Colle) oder in Turin oder
wo ich sonst sein will.”
“Warum
läßt du dich nicht von deinen Eltern sehen, die dich
sehr lieben?”
“Ja,
ich weiß, daß sie mich lieben; aber um mich zu sehen,
braucht es die Erlaubnis Gottes. Wenn ich zu ihnen spräche,
hätten meine Worte nicht dieselbe Wirkung. Sie müssen
durch Sie hindurchgehen.” (Lem. XV, 82).
Auch
im Jahre 1882 ist in den Briefen Don Boscos zweimal die
Rede von Erscheinungen Ludwigs. Einmal sah ihn Don Bosco
in einem Garten spielen, wo er auch Blumen pflückte,
die er in einen großen Saal trug und auf eine prächtige
Tafel stellte. Dabei sagte er zu Don Bosco: “Ich soll
diese Blumen pflücken und daraus eine Krone für meinen
Vater und meine Mutter machen, die sich sehr um meine
Seligkeit bemüht haben.”
Am
30. April sah Don Bosco den Verstorbenen in Rom. Er
stand in der Sakristei der Kapelle, nahe bei der
Herz‑Jesu-Kirche. Da sah er Ludwig, der Wasser aus
einem Brunnen schöpfte. “Warum”, fragte Don Bosco,
“ziehst du soviel Wasser herauf?”
“Ich
schöpfe für mich und meine Eltern.”
“Warum
denn in solcher Menge?”
“Verstehen
Sie das nicht? Sehen Sie nicht, daß es das Heiligste
Herz unseres Herrn Jesu Christi ist? Je mehr Schätze
und Gnaden und Barmherzigkeit daraus hervorkommen, desto
mehr bleiben darin zurück.”
Im
März 1883 sagte Don Bosco über Colle bei einem Besuch
in Toulon (5. – 14. März): “Wenn ich über diese
Erscheinungen nachdenke und ihren Charakter untersuche,
komme ich zu der Überzeugung, daß es sich weder um Täuschung
noch um Einbildung handelt, sondern daß sie
Wirklichkeit sind . . .
In
bezug auf die Häufigkeit solcher Visionen kenne ich die
verborgene Absicht der göttlichen Vorsehung nicht. Ich
erkenne vor allem, daß Ludwig kommt, um mich zu
unterrichten. Er lehrt mich so viele Dinge aus der
Wissenschaft und Theologie, die mir gänzlich unbekannt
waren.”
Ein
anderes Mal war Don Bosco in Hyères zu einem großen
Mittagessen eingeladen. Da sah er sich plötzlich nicht
mehr bei Tisch, sondern in einer Art von weitem Gang.
Ludwig kam ihm da entgegen und sagte ihm: “Sehen Sie,
welcher Luxus bei diesem Festessen, welch köstliche
Speisen! Es ist zuviel! So viele Leute sterben vor
Hunger! Zu viele Ausgaben! Man muß diesen gewaltigen Überfluß
des Mahles bekämpfen.” Unterdessen richteten die
Leute das Wort an Don Bosco. Sie glaubten, er sei
zerstreut und riefen: “Don Bosco! Don Bosco!” (Lem.
XV, 85).
Einmal
hat sich zwischen Don Bosco und Ludwig folgendes
seltsame Zwiegespräch entwickelt: “Lieber Ludwig,
bist du glücklich?”
“Sehr
glücklich.”
“Bist
du tot oder lebendig?”
“Ich
lebe.”
“Du
bist aber doch gestorben!”
“Mein
Leib ist begraben, aber ich lebe.”
“Ist
das denn nicht dein Leib, was ich sehe?”
“Es
ist nicht mein Leib.”
“Ist
es dein Geist?”
“Nein,
mein Geist ist es auch nicht.”
“Ist
es deine Seele?”
“Es
ist auch nicht meine Seele.”
“Was
ist denn das, was ich sehe?”
“Es
ist mein Schatten.”
“Aber,
wie kann denn ein Schatten sprechen?”
“Dank
der Erlaubnis Gottes.”
“Und
wo befindet sich deine Seele?”
“Meine
Seele ist bei Gott, sie ist in Gott und diese können
Sie nicht sehen.”
“Und
du, wie siehst du uns?”
“In
Gott sieht man alle Dinge, das Vergangene, das Gegenwärtige
und das Zukünftige sieht man dort wie in einem
Spiegel.”
“Was
tust du im Himmel?”
“Im
Himmel sage ich immer: Ehre sei Gott! Dort wird Gott
Dank dargebracht. Dank dem, der uns erschaffen hat, dem,
der Herr über Leben und Tod ist, dem, durch den alles
seinen Anfang genommen hat. Dank! Lob! Alleluja,
Alleluja.”
“Und
die Eltern? Was sagst du mir für sie?”
“Ich
bete andauernd für sie und so belohne ich sie. Ich
erwarte sie hier im Paradiese.” (Lemoyne XV, 85 und
86).
“Am
Sonntag Laetare, den 4. März 1883, — es war auf der
Fahrt von Cannes nach Toulon — begleitete Ludwig ihn
im Zuge von der ersten bis zur letzten Station, von 4
— 7 Uhr nachmittags. Er sprach in Latein zu ihm und
pries die Größe der Werke Gottes.
Unter
anderem lenkte er seine Aufmerksamkeit auf die
Nebelflecken (Spiralnebel) und vermittelte Don Bosco
astronomische Kenntnisse, die diesem völlig neu waren.
Er sagte, wenn man mit dem Zuge direkt von der Erde zur
Sonne führe, bräuchte man nicht weniger als 360 Jahre.
Wenn man dann zum anderen Ende der Sonne gelangen
wollte, sei eine ebenso große Entfernung zu überwinden.
Das würde 700 Jahre ausmachen. Jeder Nebelfleck ist 50
millionenmal größer als die Sonne, und sein Licht
braucht, um auf Erden anzukommen, 10 Millionen Jahre.
Das Licht der Sonne legt in der Sekunde 350 000 km zurück.
An
dieser Stelle rief Don Bosco, der sah, daß Ludwig mit
ähnlichen astronomischen Berechnungen fortfuhr:
“Genug, genug! Mein Geist kann dir nicht mehr folgen.
Mich überfällt eine derartige Müdigkeit, daß ich ihr
nicht mehr widerstehen kann.”
“Und
doch ist das nur der Anfang der Größe der Werke
Gottes.”
“Wie
geht das zu, daß du im Himmel bist und auch hier?”
“Schneller
als das Licht, mit der Geschwindigkeit eines Gedankens
komme ich hierher, in das Haus meiner Eltern und
anderswohin.” (Lem. XV, 87).
Einige
Tage später erschien Ludwig Don Bosco in Hyères bei
der heiligen Messe. “Was gibt es zu tun, Ludwig?”
fragte ihn Don Bosco. Ludwig wies auf eine Gegend in Südamerika
hin, wohin Missionare geschickt werden müßten. Und er
zeigte Don Bosco die Quellen des Chubut in den
Kordilleren.
“Nun
laß mich Messe lesen”, sagte Don Bosco. Du störst
mich.”
“Es
ist notwendig”, begann Ludwig wieder, “daß die
Kinder oft zur heiligen Kommunion gehen. Man führe sie
früh zur heiligen Kommunion. Gott will, daß sie sich
von der hl. Eucharistie nähren.”
“Aber
wie soll man sie kommunizieren lassen, wenn sie noch zu
klein sind?”
“Wenn
sie 4 — 5 Jahre alt sind, zeige man ihnen die heilige
Hostie, und sie mögen sie ansehen und dabei zu Jesus
beten. Das wird eine Vereinigung (Kommunion) sein. Die
Kinder müssen von drei Dingen wohl durchdrungen sein:
Von der Liebe zu Gott, von der häufigen hl. Kommunion
und von der Liebe zum Heiligsten Herzen Jesu. Aber die
Liebe zum Heiligsten Herzen Jesu schließt die anderen
beiden ein.” (Lem. XV, 87‑88).
In
einer vorher endenden Vision hatte Ludwig ihm einen
Brunnen gezeigt inmitten des Meeres. Dabei sagte er:
“Sehen Sie diesen Brunnen? Die Wasser des Meeres
treten beständig in ihn ein und das Meer wird doch
niemals weniger. So ist es mit den Gnaden, die im
Heiligsten Herzen Jesu enthalten sind. Es ist leicht,
sie zu erlangen. Man braucht nur zu beten.”
In
der Nacht zum 30. August 1883 zeigte Ludwig in einem großen
Traum Don Bosco das geistliche Erbe, das den Salesianern
in Amerika bevorstehe und vorbehalten sei, den Schweiß
und das Blut, mit denen sie es fruchtbar machen würden
und das zukünftige materielle Aufblühen jener
Landstriche.”
Von
diesem Traum erbat Don Bosco am 15. Oktober 1883 eine
Abschrift von Don Lemoyne, dem Berichterstatter, um sie
nach Toulon zu schicken.
In
einem zweiten Traum in der Nacht zum 1. Februar 1885 sah
Don Bosco die Zukunft seiner Missionare. Er kam so auch
von Amerika nach Afrika und China. Ludwig war sein Führer
bei dieser Reise. Don Bosco erwähnt diesen Traum in
einem Brief vom 10. August 1885 an Herrn Colle.
Die
letzte Erscheinung, die uns zur Kenntnis gekommen ist,
war in der Nacht vom 10. März 1885. Der Heilige drängte
Ludwig, ihm irgendetwas zu sagen. Ludwig antwortete:
“In der Sakristei der Kathedrale von Toulon beteten
Sie, daß ich gesund würde.”
“Ja,
ich bat dringend um deine Heilung.”
“Nun
wohl, es war besser, daß ich nicht wieder gesund
wurde.”
“Wieso?
Du hättest gute Werke getan, deinen Eltern viele Freude
bereitet, du hättest viel getan, um Gott zu
verherrlichen. Gott ...”
“Sind
Sie dessen ganz sicher? Sie taten selbst den Ausspruch,
der bitter für mich und auch bitter für meine Eltern
war (was Don Bosco wörtlich gesagt hat, ist nicht angeführt!);
aber dennoch war es zu meinem Besten. Als Sie meine
Genesung verlangten, sagte die Allerseligste Jungfrau zu
unserem Herrn Jesus Christus: “Jetzt ist er mein Sohn;
ich will ihn nehmen, da er mein ist.”
“Wann
müssen wir uns bereit machen, um in den Himmel zu
kommen?”
“Es
nähert sich der Zeitpunkt, in dem ich Ihnen den gewünschten
Aufschluß geben werde.”
Don
Bosco erzählte diese Dinge dem gräflichen Paar auf dem
Balkon an seinem Zimmer am 9. Juni 1885. Zum Schluß
sagte er: “Die Schönheit und Pracht, mit der die
Person unseres lieben Ludwig bekleidet war, ist
unbeschreiblich. Allein für das Diadem auf seiner
Stirne hätte man nicht Tage oder Monate, sondern Jahre
gebraucht, um es zu beobachten, solch reiche Abwechslung
bot es dem Blick. Es wurde immer herrlicher und weiter,
je länger man es betrachtete.”
Inhaltsübersicht
DIE
SALESIANISCHE GESELLSCHAFT
(Lem.
XV, 183-187)
Im
September 1881 hatte Don Bosco einen seiner
bedeutendsten Träume, der die Salesianische
Gesellschaft betraf. Der Heilige war selber davon so
tief beeindruckt, daß er sich nicht damit zufrieden
gab, ihn nur zu erzählen, sondern er legte ihn auch
schriftlich nieder. Er schrieb:
“Am
10. September dieses Jahres (1881), am Tage, den die
heilige Kirche dem glorreichen Namen Mariens gewidmet
hat, hielten die Salesianer in San Benigno Canavese ihre
Exerzitien.
In
der Nacht vom 10. zum 11. befand sich mein Geist, während
ich schlief, in einem großen prächtigen Saal. Es war
mir, als ginge ich mit den Direktoren unserer Häuser
auf und ab. Da erschien unter uns ein Mann von so majestätischem
Aussehen, daß wir seinen Anblick nicht ertragen
konnten. Er sah uns an, sagte aber kein Wort. Dann näherte
er sich uns bis auf wenige Schritte. Er war folgendermaßen
gekleidet: Ein reicher Mantel verhüllte in Art eines
Umhanges seine Person. Am Hals hatte er eine
Krageneinfassung, die man vorn zubinden konnte, und ein
Band hing ihm auf der Brust herab. Am Kragen stand in
leuchtenden Buchstaben geschrieben: “Pia Salesianorum
Societas anno 1881 — Die Fromme Gesellschaft der
Salesianer im Jahre 1881” und das Band trug die
Aufschrift: “Qualis esse debet — wie sie sein
soll.”
Zehn
große Diamanten von außerordentlichem Glanz machten es
uns sehr schwer, unseren Blick auf jene hoheitsvolle
Person zu richten. Drei dieser Diamanten befanden sich
auf seiner Brust. Auf einem stand geschrieben: “Fides
— Glaube”, auf dem anderen: “Spes — Hoffnung”,
und auf dem dritten, der über dem Herzen hing, stand
das Wort: “Caritas — Liebe” geschrieben. Ein
Diamant, der auf der rechten Schulter des Mannes war,
trug die Aufschrift: “Labor — Arbeit”. Auf dem fünften
Diamanten seiner linken Schulter las man: “Temperantia
— Mäßigkeit”. Die übrigen fünf Diamanten schmückten
die Rückseite des Mantels und waren folgendermaßen
angeordnet: Ein größerer Diamant mit besonders starkem
Glanz befand sich als Mittelpunkt in einem Viereck und
trug die Aufschrift: “Obedientia — Gehorsam”. Auf
dem ersten Diamanten rechts las man: “Votum
Paupertatis — Das Gelübde der Armut”. Auf dem
zweiten weiter unten: “Praemium — Belohnung”. Auf
dem oberen der linken Seite stand geschrieben: “Votum
Castitatis — Das Gelübde der Keuschheit”. Dieser
Diamant strahlte besonders schön, und wenn man ihn
ansah, zog er den Blick auf sich, wie der Magnet das
Eisen anzieht. Auf dem zweiten links, weiter unten,
stand das Wort: “Jejunium — Fasten”. Diese vier
warfen alle ihre Strahlen auf den mittleren Diamanten
zurück. Aus diesem Brillanten kamen Lichtstrahlen
hervor, die sich wie kleine Flammen emporhoben und hier
und dort verschiedene Sätze in Leuchtschrift erstrahlen
ließen. Über den Strahlen des Glaubens standen die
Worte: “Sumite scutum Fidei, ut adversus insidias
diaboli certare possitis — Ergreifet den Schild des
Glaubens, damit ihr gegen die Nachstellungen des Teufels
kämpfen könnt.” Ein anderer Strahl trug die
Inschrift: “Fides sine operibus mortua est. Non
auditores, sed factores legis regnum Dei possidebunt —
Der Glaube ohne Werke ist tot. Nicht diejenigen werden
das Reich Gottes besitzen, die das Gesetz hören,
sondern die es in die Tat umsetzen.”
Auf
den Strahlen der Hoffnung stand geschrieben: “Sperate
in Domino, non in hominibus. Semper vestra fixa sint
corda, ubi vera sunt gaudia — Bauet auf den Herrn und
nicht auf Menschen. Eure Herzen mögen immer auf die
wahren Freuden hin gerichtet sein.”
Auf
den Strahlen der Liebe stand: “Alter alterius onera
portate, si vultis adimplere legem meam. Diligite
et diligemini. Sed diligite animas vestras et vestrorum.
Devote divinum officium persolvatur; missa attente
celebretur; Sanctum Sanctorum permanenter visitetur —
Einer trage des anderen Last, wenn ihr mein Gesetz erfüllen
wollt. Liebet
und ihr werdet geliebt werden. Liebet besonders eure
Seelen und auch die Seelen eurer Angehörigen. Der
Gottesdienst möge andächtig verrichtet werden; die
heilige Messe soll aufmerksam gelesen werden; das
Allerheiligste möge man oft besuchen.”
Auf
dem Wort der Arbeit konnte man lesen: “Remedium
concupiscentiae, arma potens contra omnes insidias
diaboli — Ein Mittel gegen die Begierlichkeit, eine mächtige
Waffe gegen alle Nachstellungen des Teufels.”
Auf
dem der Mäßigkeit stand: “Si lignum tollis, ignis
extinguitur. Pactum constitue cum oculis tuis, cum gula,
cum somno, ne huiusmodi inimici depraedentur animas
vestras. Intemperantia et castitas non possunt simul
cohabitare — Nimmt man das Holz weg, so erlischt das
Feuer. Hüte deine Augen, mäßige die Genußsucht und
den Schlaf, damit diese Feinde nicht eure Seelen rauben.
Unmäßigkeit und Reinheit können nicht zusammen
wohnen.”
Auf
den Strahlen des Gehorsams war geschrieben: “Totius
aedificii fundamentum et sanctitatis compendium — Der
Grundstein des ganzen Gebäudes und der Schirm der
Heiligkeit.”
Auf
den Strahlen der Armut konnte man lesen: “Ipsorum est
Regnum coelorum. Divitiae spinae. Paupertas non verbis,
sed opere et corde conficitur. Ipsa coeli ianuam aperiet
et introibit — Ihrer ist das Himmelreich. Reichtümer
sind wie Dornen. Die Armut wird nicht durch Worte,
sondern durch die Tat und die Gesinnung bewirkt. Sie öffnet
die Pforte des Himmels.”
Auf
den Strahlen der Keuschheit stand geschrieben: “Omnes
virtutes veniunt pariter cum illa. Qui mundo sunt corde,
Dei arcana vident, et Deum ipsum videbunt — Mit ihr
kommen gleichzeitig alle anderen Tugenden. Die reinen
Herzens sind, werden Gottes Geheimnisse erkennen und
Gott selbst sehen.”
Auf
den Strahlen des Lohnes stand: “Si delectat magnitudo
praemiorum, non deterreat multitudo laborum. Qui mecum
patitur, mecum gaudebit. Momentaneum est quod patimur in
terra, aeternum est, quod delectabit in coelo amicos
meos — Wer sich einer großen Belohnung erfreuen will,
der schrecke vor zahlreichen Mühen nicht zurück. Wer
mit mir leidet, der wird sich auch mit mir freuen.
Unsere Leiden auf Erden sind nur vorübergehend, jedoch
die Freuden, die meine Freunde im Himmel genießen
werden, währen ewiglich.”
Die
Strahlen des Fastens enthielten die Worte: “Arma
potentissima adversus insidias inimici. Omnium virtutum
Custos. Omne genus daemoniorum per ipsum eiicitur —
Eine überaus mächtige Waffe gegen die Nachstellungen
des Feindes. Sie ist die Wächterin aller Tugenden. Jede
Art von Teufeln wird durch sie ausgetrieben.”
Der
Mantel war unten mit einem breiten Band als Saum
besetzt. Darauf stand geschrieben: “Argumentum
praedicationis. Mane,
meridie et vespere. Colligite fragmenta virtutum et
magnurn sanctitatis aedificium vobis constituetis. Vae
vobis qui modica spernitis, paulatim decidetis —
Predigtthema, morgens, mittags und abends. Übet die
Tugenden auch in kleinen Dingen, und ihr werdet ein großes
Gebäude der Heiligkeit errichten. Wehe euch, wenn ihr
Kleines vernachlässigt, denn dann werdet ihr langsam in
Größeres fallen.”
Bis
jetzt standen einige der Direktoren, andere knieten aber
alle waren höchst erstaunt und keiner von ihnen hatte
ein Wort gesagt. In diesem Augenblick aber rief Don Rua
ganz außer sich: “Man muß all das aufschreiben,
damit es nicht vergessen wird.” Er suchte nach einer
Feder, fand aber keine. Dann zog er seine Brieftasche
hervor, suchte auch darin und fand jedoch auch keinen
Bleistift. Da sagte Don Durando: “Ich werde es mir
merken.” Und Don Fagnano fügte hinzu: “Ich will es
aufschreiben”, und er begann tatsächlich mit dem
Stiel einer Rose zu schreiben. Alle schauten die Schrift
an und sie konnten sie auch lesen. Als Don Fagnano zu
schreiben aufgehört hatte, diktierte Don Costamagna
weiter: “Die Liebe versteht alles, erträgt alles, überwindet
alles. Predigen wir sie in Wort und in der Tat.”
Während
Don Fagnano schrieb, erlosch das Licht und wir befanden
uns alle in dichter Finsternis. “Ruhe”, rief da Don
Ghivarello, “laßt uns niederknien und beten! Dann
wird das Licht wiederkommen.” Don Lasagna begann das
‚VeniCreator' und das ‚De Profundis' und ‚Maria
Auxilium Christianorum' zu beten und wir alle
antworteten. Als wir sagten: “Ora pro nobis — bitte
für uns”, erschien das Licht wieder. Es beleuchtete
ein Plakat, auf dem zu lesen stand: “Pia Salesianorum
Societas qualis esse periclitatur anno salutis 1900 —
Die Gefahren, von denen die Salesianische Gesellschaft
im Jahre 1900 gefährdet wird.” Einen Augenblick später
wurde das Licht etwas stärker, so daß wir uns
gegenseitig wieder sehen und erkennen konnten. In diesem
Lichtschimmer erschien von neuem die Persönlichkeit,
die wir anfangs gesehen hatten. Sie sah aber sehr
traurig aus, gleichsam als ob ihr das Weinen sehr nahe
stände. Ihr Mantel war verschossen und von Motten
zerfressen und zerrissen. An den Stellen, auf denen die
Diamanten gesessen hatten, waren jetzt verdorbene
Stellen, die von Motten und anderen Insekten zerfressen
waren.
Da
sagte er uns: “Respicite et intelligite! — Schauet
und erkennet!” Ich sah, daß die zehn Diamanten zu
ebenso vielen Würmern geworden waren und diese nagten
gierig am Mantel. Auch die Inschriften hatten sich geändert.
An Stelle des Diamanten des Glaubens stand jetzt:
“Somnus et accidia — Schlaf und Schwäche”.
An
Stelle der Hoffnung: “Risus et scurrilitas — Gelächter
und Possenreißerei”.
An
Stelle der Liebe: “Negligentia in divinis perficiendis
— Nachlässigkeit in den kirchlichen Funktionen”.
“Amant et quaerunt quae sua sunt, non quae Jesu
Christi — Sie lieben und suchen ihre eigenen Anliegen
und nicht die des Heilandes.” An Stelle der Mäßigkeit:
“Gula, et quorum Deus venter est — Genußsucht, ihr
Gott ist ihr Bauch.”
An
Stelle der Arbeit: “Somnus, Curtum, et otiositas —
Schlaf, Diebstahl und Nachlässigkeit.”
An
Stelle des Gehorsams war nichts anderes als eine weite,
sehr schadhafte Stelle ohne Inschrift.
An
Stelle der Keuschheit: “Concupiscentia oculorum et
superbia vitae — Begierlichkeit der Augen und
Lebensstolz.” Die Armut war ersetzt durch: “Lectus,
habitus, potus et pecunia — Ruhestätte, Kleidung,
Getränke und Geld.”
An
Stelle der Belohnung: “Pars nostra erunt quae sunt
super terram — Unser Anteil sind die Dinge dieser
Erde.”
An
Stelle des Fastens war eine schadhafte Stelle ohne
jegliche Aufschrift.
Bei
jenem Anblick waren wir alle sehr erschrocken. Don
Lasagna fiel in Ohnmacht, Don Cagliero wurde bleich wie
ein Hemd, er lehnte sich an einen Stuhl und rief aus.
“Was, kann es schon so weit gekommen sein?” Don
Lazzero und Don Guidazio waren außer sich; sie faßten
sich bei der Hand, um nicht umzusinken. Don Francesia,
Graf Cays, Don Barberis und Don Leveratto sanken in die
Knie und beteten den Rosenkranz.
Da
ließ sich eine tiefe Stimme hören: “Quomodo mutatus
est color optimus! — Wie sehr sich der wunderschöne
Anblick geändert hat!”
In
der Dunkelheit hatten wir aber eine einzigartige
Erscheinung. Plötzlich umgab uns tiefe Finsternis und
aus der Dunkelheit heraus erschien auf einmal ein sehr
helles Licht in der Form einer menschlichen Gestalt.
Zwar konnten wir unseren Blick nicht auf die strahlende
Erscheinung gerichtet halten; aber soviel konnten wir
doch feststellen, daß es ein anmutiger Jüngling war,
angetan mit einem weißen, mit Gold‑ und Silberfäden
verarbeiteten Gewand. Rings um den Saum herum lief ein
Streifen mit blitzenden Diamanten. Hoheitsvoll, aber
auch liebreich und freundlich kam er einige Schritte auf
uns zu und sagte wörtlich folgendes: “Servi et
instrumenta Dei Omnipotentis, attendite et intelligite. Confortamini et estote robusti. Quod vidistis et
audistis, est coelestis admonitio, quae nunc vobis et
fratribus vestris facta est; animadvertite et
intelligite sermonem. Iacula praevisa minus feriunt, et
praeveniri possunt. Quot sunt verba signata, tot sint
argumenta praedicationis. Indesinenter praedicate
opportune et importune. Sed
quae praedicatis, constanter facite, adeo ut opera
vestra sint velut lux, quae sicuti tuta traditio ad
fratres et filios vestros pertranseat de generatione in
generationem. Attendite
et intelligite. Estote oculati in tironibus acceptandis,
fortes in colendis, prudentes in admittendis. Omnes
probate, sed tantum quod bonum est tenete. Leves et
mobiles dimittite. Attendite et intelligente. Meditatio
matutina et vespertina sit indesinenter de observantia
constitutionum. Si id feceritis, numquam vobis deficiet
Omnipotentis auxilium. Spectaculum facti eritis mundo et
Angelis, et tunc gloria vestra erit gloria Dei. Qui
videbunt saeculum hoc exiens et alterum incipiens, ipsi
dicent de vobis: A Domino factum est istud et est
mirabile in oculis nostris. Tunc omnes fratres vestri et
filii vestri una voce cantabunt: Non nobis, Domine, non
nobis, sed Nomini tuo da gloriam — Diener und
Werkzeuge des allmächtigen Gottes, höret und
verstehet! Seid
stark und tapfer. Was ihr gesehen und gehört habt, ist
eine Mahnung des Himmels, die man jetzt an euch und an
eure Brüder ergehen ließ. Seid aufmerksam und gebet
gut acht auf das, was man euch verkündet. Die
vorausgesehenen Schläge verursachen nur geringere
Wunden und man kann ihnen auch vorbeugen. Die
angegebenen Worte seien ebenso viele Predigtthemen.
Predigt immer, in und außer der Zeit. Aber handelt auch
immer nach euren Worten, so daß eure Taten wie eine
Leuchte seien, die als sichere Tradition Strahlen
aussende auf eure Brüder und Söhne von Geschlecht zu
Geschlecht. Höret wohl und seid aufmerksam. Gebt gut
Obacht bei der Aufnahme von Novizen, seid eifrig und
stark in ihrer Pflege und klug bei ihrer Zulassung. Prüfet
alle, aber behaltet nur was gut ist. Entlasset die
Leichtfertigen und Unbeständigen. Höret und verstehet.
Die Betrachtung am Morgen und am Abend halte man ständig
in Regeltreue. Wenn ihr das tut, wird euch nie die Hilfe
des allmächtigen Gottes fehlen. Ihr werdet ein Schaustück
sein für die Welt und für die Engel und sodann wird
eure Ehre die Ehre Gottes sein. Wer das Ende dieses
Jahrhunderts und den Beginn des nächsten erleben wird,
der wird von euch sagen: All dieses ist vom Herrn
gemacht und es ist wunderbar in unseren Augen. Dann
werden alle eure Brüder und Söhne singen. — Nicht
uns, o Herr, nicht uns, sondern deinem Namen gib die
Ehre.
Diese
letzten Worte wurden gesungen. Der Stimme des Sprechers
gesellte sich eine Menge anderer so harmonischer und
klangreicher Stimmen bei, daß wir fast unserer Sinne
beraubt wurden und, um nicht in Ohnmacht zu fallen, uns
mit den anderen vereinigten und mitsangen.
Kaum
war der Gesang vorüber, da verdunkelte sich das Licht.
Ich erwachte und sah, daß es Tag wurde. —
Pro
memoria. Dieser Traum dauerte fast die ganze Nacht und
am Morgen war ich sehr erschöpft. Trotzdem erhob ich
mich, weil ich Angst hatte, etwas zu vergessen. Ich
machte mir Notizen, die mir als Gedächtnisstütze bei
dieser Aufzeichnung dienten, die ich hier am Tage der
Darstellung Mariä im Tempel angefertigt habe.
Es
war mir nicht möglich, alles zu behalten. Aus den
vielen Dingen konnte ich jedoch mit Sicherheit erkennen,
daß Gott uns große Barmherzigkeit erweist. Unsere
Genossenschaft ist vom Himmel gesegnet; aber Gott will,
daß wir das Unsere dazutun. Den drohenden Übeln können
wir zuvorkommen, indem wir über die Tugenden und die
dort erwähnten Laster predigen, und wenn wir das, was
wir predigen, auch selber tun. So hinterlassen wir es
unseren Mitbrüdern als praktische Überlieferung
dessen, was getan worden ist und was wir noch tun
werden.
Ich
habe euch offenbaren können, daß uns zahlreiche
Beschwerden und Mühen bevorstehen; aber sie werden große
Erfolge nach sich ziehen. Um das Jahr 1890 wird große
Furcht, und um 1895 ein großer Triumph sein. Maria
Auxilium Christianorum, ora pro nobis — Maria,
Helferin der Christen, bitte für uns!”
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DIE
KASTANIEN
(Lem.
XV, 364-366)
Das
Jahr 1881 schloß mit einem schönen Geschenk des
Himmels für die Maria‑Hilf‑Schwestern. Don
Bosco hatte in der letzten Nacht des Jahres einen Traum
über ihre Genossenschaft, den er Don Lemoyne erzählte.
Dieser Bericht folgt den Aufzeichnungen Don Lemoynes.
Es
schien Don Bosco, als sammle er Kastanien in einem
Kastanienwäldchen bei Castelnuovo. Da lagen viele schöne
und dicke Früchte auf dem grasigen Boden ausgestreut. Während
Don Bosco nur auf die Kastanien achtete, tauchte eine
Frau auf, die näher kam und ebenfalls Kastanien zu
sammeln anfing. Don Bosco nahm ihr das übel, als er
sah, daß sie sich erlaubte, auf anderer Leute Grund und
Boden Früchte zu sammeln. Er redete sie an und fragte.
“Wer hat Ihnen erlaubt hierher zu kommen? Ich verstehe
nicht, wie Sie es wagen können, auf meinem Grundstück
Kastanien zu sammeln!”
“Ach
was”, antwortete sie, habe ich dazu kein Recht?” –
“Mir scheint, ich bin hier der Herr und dies ist mein
Eigentum.” — “Mag sein; aber ich sammle die
Kastanien auch für dich.”
Die
Frau sprach in solch einem resoluten Ton und ohne das
Sammeln im geringsten einzustellen, daß Don Bosco es
nicht für gut hielt, ihr noch weiter zuzusetzen.
Deshalb fuhr er auch mit dem Sammeln fort. Als beide
ihre Körbe reichlich gefüllt hatten, rief die Frau Don
Bosco und fragte. “Weißt du, wieviel Kastanien hier
drinnen sind?”
“Eine
merkwürdige Frage!”
“Antworte
auf meine Frage. Weißt du, wie viele es sind?”
“Ich,
nein, ganz bestimmt nicht. Ich bin ja kein Hellseher.”
“Dann
will ich es dir sagen.”
“Nun,
wie viele?”
“Fünfhundertvier.”
“Fünfhundertvier?”
“Und
weißt du, was diese Kastanien darstellen?”
“Was
denn?”
“Die
Häuser der Maria‑Hilf‑Schwestern. So viele
Häuser werden von deinen Töchtern gegründet
werden.”
Während
wir dies miteinander redeten, erhob sich ein wütend
drohendes Geschrei. Es waren Stimmen, wie von
Betrunkenen. Man hörte die Radauschläger unter den Bäumen
herankommen. Erschrocken floh Don Bosco und die Frau
lief hinter ihm her, bis sie an einem Flußufer
haltmachten. Weiter vorgehen konnte man nicht. An eine Rückkehr
war nicht im geringsten zu denken. Don Bosco stand, wie
auf glühenden Kohlen. Unterdessen kam die Bande näher,
schrie und zertrat ehrfurchtslos die Kastanien, die noch
auf der Erde lagen.
Don
Bosco erwachte von dem Lärm. Aber kurz darauf schlief
er wieder ein und träumte weiter. Es schien ihm, als säße
er wieder an dem Ufer. Nicht weit davon saß auch die
Frau mit ihrem Korb voll Kastanien. Aus der Ferne hörte
man noch das Geheul der Betrunkenen. Anscheinend gingen
sie fort. Sie waren hinter einem Hügel. Das dauerte nur
wenige Augenblicke.
Don
Bosco sah auf die Kastanien, die wirklich schön und
dick waren. Als er aber genau hinblickte, bemerkte er in
einigen ein Wurmloch.
“Oh,
gehen Sie!” sagte er zu der Frau. “Was machen wir
mit diesen, die einen Wurm haben?”
“Sie
müssen fort, damit sie die gesunden nicht anstecken und
verderben. Solche Schwestern muß man wegschicken. Sie
sind nicht gut und haben nicht den Geist des Hauses,
weil der Wurm des Stolzes oder anderer Laster an ihnen
nagt. Das muß man besonders bei den Postulantinnen
beachten.”
Don
Bosco fuhr fort, die Kastanien zu betrachten. Er nahm
einige heraus und fand, daß es doch nicht so viele
verdorbene waren. Er wollte die Frau damit trösten.
Doch diese entgegnete: “Glaubst du, die übrigen wären
alle gut? Sollten wohl keine darunter sein mit einem
Wurm im Innern, den man nicht sieht?”
“Wie
soll man diese aber herausfinden?”
“Ah,
das ist schwierig. Manche wissen sich, gut zu
verstellen, daß es unmöglich erscheint, sie wirklich
kennenzulernen.”
“Und
dann?”
“Sieh,
da gibt es nur ein einziges Mittel. Unterstell sie der
Probe durch die Ordensregeln und halte sie im Auge. Dann
wirst du erkennen, wer den Geist Gottes hat und wer
nicht. Dies ist eine Probe, bei der ein aufmerksamer
Beobachter nur schwerlich getäuscht wird.”
Don
Bosco dachte darüber nach und schaute dabei die
Kastanien an, bis er plötzlich erwachte. Es wurde schon
Morgen. —
Er
sagte zu Don Lemoyne, daß sich der Traum eine ganze
Woche lang jede Nacht wiederholte. Es genügte, daß er
einschlief, und sofort hatte er die Szene mit der Frau
und den Kastanien vor sich.
Einmal
sagte die Frau zu ihm: “Achte auf die faulen und
hohlen Kastanien! Mach die Probe und steck sie in einen
Topf voll Wasser. Die Probe ist der Gehorsam . . . Laß
sie kochen. Wenn man die Faulen mit den Fingern drückt,
spritzen sie sofort die häßliche Flüssigkeit, die sie
in sich haben, heraus. Diese wirf fort. Die eitlen, d.
h. die hohlen, kommen nach oben. Sie können nicht bei
den anderen unten bleiben, sondern wollen in irgendeiner
Weise hervortreten. Nimm sie mit dem Schaumlöffel
heraus und wirf sie fort. Auch auf die Guten mußt du
noch achten. Wenn sie auch gekocht sind, so sind sie
doch nicht sofort saubergemacht. Zuerst muß man die
Schale abnehmen und dann noch die Haut. Dann kommt sie
dir rein, ganz rein vor. Und dennoch, sieh genau zu.
Manche sind doppelt. Öffne sie und dann entdeckst du in
der Mitte noch eine weitere Haut und da ist noch etwas
Bitteres verborgen.”
Maria
Mazzarello starb am 14. Mai
1881 im Alter von 44 Jahren. War sie die Frau, die Don
Bosco in dieser Vision Anweisungen zur Festigung ihrer
Genossenschaft gab? Ich sammle auch für dich.” Ihre ländliche,
einfache Art spricht dafür, ebenso, daß Don Bosco sie
erst nicht mitsammeln lassen wollte.
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DIE
ENTWICKLUNG DER KONGREGATION
(Lem.
XVI, 15-17)
Mitte
Januar 1883 erhielt Don Bosco im Traum von Don
Alasonatti wichtige Hinweise für die gute Entwicklung
der Kongregation. Don Bosco berichtete darüber wie
folgt:
“In
der Nacht vom 17. zum 18. Januar 1883 träumte ich, ich
käme in Begleitung von anderen Priestern der
Kongregation aus dem Refektorium heraus. Als ich mich an
der Türe befand, bemerkte ich, daß ein mir fremder
Priester an meiner Seite den Speisesaal verließ. Bei näherem
Hinblicken erkannte ich ihn jedoch. Es war unser alter
Mitbruder Don Provera. Seine Gestalt war etwas größer
als zu seinen Lebzeiten. Er war neu gekleidet und hatte
ein blühendes, lächelndes Antlitz. Ein glänzender
Schein ging von ihm aus und er schien weitergehen zu
wollen.
Da
sagte ich zu ihm: “Don Provera, bist du wirklich Don
Provera?”
“Oh
ja, ich bin Don Provera”, antwortete er. Nun wurde
sein Antlitz so schön und glänzend, daß ich ihn nur
mit größter Mühe anblicken konnte.
“Wenn
du wirklich Don Provera bist, dann laufe nicht weg.
Warte einenAugenblick. Tue mir denGefallen und
verschwinde nicht, während du nur einen Schatten zurückläßt.
Laß mich mit dir sprechen!”
“Ja,
ja! Sprechen Sie nur, ich werde zuhören.”
“Bist
du gerettet?”
“Ja,
ich bin gerettet, und zwar dank der Barmherzigkeit
Gottes bin ich gerettet.”
“Welche
Freuden genießest du im anderen Leben?”
“All
das, was sich das Herz nur denken, der Geist wahrnehmen,
das Auge sehen und die Sprache ausdrücken kann.”
Nachdem
er dies gesagt hatte, schien er fortgehen zu wollen und
seine Hand, die ich in der meinen hielt, schien fast
unwahrnehmbar.
“Geh
noch nicht fort”, sagte ich, “laß uns noch
weitersprechen. Erzähle mir etwas über mich selber!”
“Fahren
Sie mit Ihrer Arbeit fort. Vieles erwartet Sie!”
“Noch
für lange Zeit?”
“Nicht
zu lange. Arbeiten Sie jedoch mit allen Kräften, so,
als wenn Sie immer leben würden, aber immer gut
vorbereitet!”
“Und
was betrifft die Mitbrüder der Kongregation?”
“Den
Mitbrüdern unserer Kongregation befehlen und empfehlen
Sie Eifer.”
“Wie
kann man das erlangen?”
“Das
sagt uns der oberste Lehrmeister. Nehmen Sie eine gut
geschliffene Sichel und seien Sie ein tüchtiger Winzer.
Schneiden Sie die trockenen und für die Rebe nutzlosen
Schößlinge ab. So wird sie kräftig und bringt viele
Früchte hervor und — was von größter Bedeutung ist
— sie wird für lange Zeit Früchte bringen.”
“Was
soll ich aber unseren Mitbrüdern sagen?”
“Meinen
Freunden”, sagte er mit hoher Stimme, “meinen Mitbrüdern
sagen Sie, daß für sie eine große Belohnung
bereitgestellt ist. Gott gibt sie jedoch nur denen, die
im Kampfe für den Herrn ausharren.”
“Und
was empfiehlst du unseren Jungen?”
“Bei
unseren Jungen ist Arbeit und Wachsamkeit notwendig.”
“Und
was sonst noch?”
“Sonst
noch? Wachsamkeit und Arbeit, Arbeit und Wachsamkeit.”
“Was
müssen unsere Jungen tun, um das ewige Leben zu
erlangen?”
“Sie
mögen sich oft mit dem Brot der Starken nähren und bei
der Beichte feste Vorsätze fassen.”
“Sag
mir noch, was sie besonders in dieser Welt tun
sollen.”
In
diesem Augenblick wurde seine ganze Gestalt von einem
sehr hellen Glanz erfüllt, so daß ich meine Augen
senken mußte, genau so wie einer, der direkt in das
elektrische Licht schaut. Sein Glanz jedoch war von viel
größerer Helligkeit als wir es hier sehen können. In
diesem Augenblick schickte er sich an, mit einer Stimme
zu sprechen, die einem Gesang ähnlich war: “Ehre sei
Gott dem Vater, Ehre sei Gott dem Sohne, Ehre sei Gott
dem Heiligen Geiste. Dem Gott, der war, ist und sein
wird Richter der Lebenden und der Verstorbenen!”
Ich
wollte noch sprechen, aber der andere begann mit einer
viel schöneren Stimme, als man sich nur vorstellen
kann, feierlich anzustimmen: “Laudate Dominum omnes
gentes . . . .” Ein Chor von tausend Stimmen, der von
den Gängen und von den Treppen antwortete, vereinte
sich mit seinem Gesang: “Quoniam confirmata est, . .
.” bis zum “Gloria” einschließlich.
Mehrere
Male versuchte ich gewaltsam meine Augen zu öffnen, um
sehen zu können, wer da sang; aber immer vergebens,
denn die ungeheure Helligkeit des Lichtes machte alles
Sehvermögen zunichte.
Endlich
sang man: “Amen”.
Als
der Gesang beendet war, kehrte alles wieder zum normalen
Zustand zurück. Von Don Provera sah ich nichts weiter
als seinen Schatten, der auch langsam verschwand.
Ich
begab mich sodann zu den Gängen, wo sich die Priester,
Kleriker und Jungen befanden. Auf meine Frage, ob sie
Don Provera gesehen hätten, antworteten alle mit:
“Nein.” Da fragte ich, ob sie singen gehört hätten,
doch auch das verneinten sie. Diese Antworten machten
mich sehr bedrückt und ich sagte: “Das, was ich von
Don Provera gehört habe und der Gesang, der ertönte,
ist nur ein Traum gewesen. Kommt aber, ich will ihn euch
erklären.”
Dann
habe ich ihnen den Traum wie oben erzählt. Don Rua, Don
Cagliero und andere Priester stellten viele Fragen an
mich, denen ich eine gebührende Antwort erteilte.
Ich
fühlte mich jedoch so schwach und müde, daß ich nur mühsam
atmen konnte und ich erwachte. In diesem Augenblick
schlug es ein Viertel und dann zwei Stunden nach
Mitternacht.”
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GROSSER
MISSIONSTRAUM VON SÜDAMERIKA
(Lem.
XVI, 385-394)
Am
4. September 1883 erzählte Don Bosco auf einer Sitzung
des General‑Kapitels folgenden bedeutenden
Missionstraum. Er sagte:
“In
der Nacht vor dem Feste der hl. Rosa
von Lima (30. August)
hatte ich folgenden Traum.
Ich
war mir bewußt, daß ich schlief und dennoch schien es
mir, als würde ich zu gleicher Zeit laufen und zwar so
schnell und so lange, daß ich mich stark ermüdet fühlte.
Ich konnte weder weiterlaufen noch sprechen, noch
schreiben oder sonst einer meiner gewöhnlichen Beschäftigungen
nachkommen. Während ich darüber nachdachte, ob das
alles nun Traum oder Wirklichkeit sei, schien ich in
einen Unterhaltungsraum zu gehen, in dem sich viele
Personen befanden. Sie sprachen über alles mögliche.
So
unterhielten sie sich lange über die vielen Wilden, die
in Australien, Indien, China, Afrika und ganz besonders
in Amerika ausgerottet werden und der völligen
Vernichtung entgegengehen.
“Europa”,
so sagte einer der Redner ernst, “das christliche
Europa, die große Lehrmeisterin der Zivilisation und
des Katholizismus, scheint den Auslandsmissionen gegenüber
gleichgültig geworden zu sein. Nur noch wenige sind
bereit, weite Seereisen auf sich zu nehmen, um in
unbekannten Ländern die Seelen von Millionen Menschen
zu retten, die auch vom Sohne Gottes, Jesus Christus,
erlöst worden sind.”
Ein
anderer sagte. “Welch große Anzahl von Götzendienern
lebt noch unglücklich außerhalb der Kirche und in
Unkenntnis des Evangeliums, allein in Amerika! Die
Menschen denken — und die Geographen täuschen sich
—, daß die Kordilleren von Amerika wie eine Mauer
seien, die jenen Erdteil von der übrigen Welt abschließen.
Aber das stimmt nicht. Jene langen Gebirgsketten sind
tausend und mehr Kilometer lang. Auf ihnen befinden sich
Wälder, die noch niemand betreten hat.
Dort
sind Pflanzen, Tiere und mannigfaches Gestein. In diesen
Gebirgen sind Steinkohle, Petroleum, Blei, Kupfer,
Eisen, Silber und Gold verborgen und zwar dort, wohin
sie von der Hand des allmächtigen Schöpfers gelegt
worden sind. O Kordilleren, Kordilleren, wie reich ist
doch eure Ostseite!”
Nun
war ich sehr begierig, Erläuterungen darüber zu hören
und auch zu fragen, wer denn eigentlich diese hier
versammelten Personen seien, und wo ich mich überhaupt
befände. Doch ich sagte zu mir selber: ‚Bevor ich
spreche, muß ich erst beobachten, was das eigentlich für
Leute sind!'
So
schaute ich mich neugierig um; doch alle waren mir
unbekannt. Die Herren jedoch taten, als ob sie mich erst
jetzt gesehen hätten. Sie luden mich ein,
hervorzutreten und nahmen mich freundlich auf.
Dann
fragte ich sie: “Sagen Sie mir doch bitte, befinden
wir uns in Turin, oder in London, Madrid oder Paris?
Oder wo sind wir eigentlich? Und wer sind Sie? Mit wem
habe ich die Ehre zu sprechen?”
Alle
jene Herren antworteten jedoch nur ausweichend und
sprachen immer aufs neue von den Missionen.
Da
näherte sich mir ein junger Mann von ungefähr 16
Jahren. Er war sehr liebenswürdig und von überirdischer
Schönheit. Er strahlte in einem Glanze, der heller war
als die Sonne. Sein Gewand war von himmlischen Reichtümern
durchwoben und auf seinem Haupte trug er eine Krone, die
mit den schönsten Edelsteinen geschmückt war. Er
blickte mich freundlich an und bekundete ein besonderes
Interesse für mich. Sein Lächeln hatte eine
unwiderstehliche Anziehungskraft. Er nannte mich beim
Namen, nahm mich bei der Hand und begann über die
Salesianische Kongregation zu sprechen.
Der
Klang seiner Stimme bezauberte mich. An einer gewissen
Stelle unterbrach ich ihn und fragte: “Mit wem habe
ich die Ehre zu sprechen? Sagen Sie mir doch bitte Ihren
Namen!” Der junge Mann antwortete: “Seien Sie
unbesorgt! Sprechen Sie ruhig mit vollem Vertrauen; denn
Sie sind bei einem Freunde.”
“Aber
wie ist Ihr Name?”
“Ich
würde Ihnen meinen Namen nennen, wenn es nottäte. Aber
es ist nicht notwendig, denn Sie müssen mich kennen.”
Bei diesen Worten lächelte er.
Da
betrachtete ich sein strahlendes Gesicht genauer. Oh,
wie schön es war! Und da erkannte ich ihn! Es war der
Sohn des Grafen Fiorito Colle von Toulon, des
bedeutenden Wohltäters unseres Hauses und besonders
unserer Missionen in Amerika. Dieser junge Mann war vor
kurzem gestorben.
“Oh,
Sie sind es?” sagte ich, indem ich ihn beim Namen
nannte. “Luigi! Und wer sind all diese hier?”
“Es
sind Freunde Ihrer Salesianer, und ich als Ihr Freund
und Freund der Salesianer möchte Ihnen im Namen Gottes
etwas Arbeit geben.”
“Sehen
wir, worum es sich handelt! Was ist es für Arbeit?”
“Setzen
Sie sich an diesen Tisch und ziehen Sie diese Schnur
herunter.”
Inmitten
des großen Saales befand sich ein Tisch, auf dem eine
aufgewickelte Schnur lag. Ich sah, daß diese Schnur,
wie ein Metermaß, mit Linien und Nummern versehen war.
Später bemerkte ich noch, daß jener Saal sich in Südamerika
befand und zwar gerade auf dem Äquator, und daß die
Zahlen, die auf der Schnur aufgedruckt waren, mit den
geographischen Breitengraden übereinstimmten.
Ich
nahm ein Ende der Schnur, betrachtete es und bemerkte,
daß am Anfang die Nummer Null stand. Ich lachte.
Der
engelgleiche Jüngling aber sagte: “Es ist nun keine
Zeit zum Lachen. Geben Sie Obacht! Was steht auf der
Schnur geschrieben?”
“Nummer
Null.”
“Ziehen
Sie ein wenig!”
Ich
zog darauf etwas an der Schnur und sah die Nummer Eins.
“Ziehen
Sie noch etwas und rollen Sie die Schnur auf!”
Ich
zog weiter und es folgten die Zahlen 2, 3, 4, bis 20.
“Genügt es?” fragte ich.
“Nein,
noch höher hinauf! Noch höher hinauf! Ziehen Sie
weiter, bis Sie einen Knoten gefunden haben!” sagte
er.
Ich
zog bis zur Nummer 47, wo ich einen größeren Knoten
vorfand. Von da an ging die Schnur zwar noch weiter,
aber sie teilte sich auf in viele Fäden, die in
verschiedenen Richtungen zerflatterten, nach Osten,
Westen und nach Süden.
“Ist
es nun genug”, fragte ich wieder.
“Welche
Nummer ist es?” antwortete der junge Mann.
“Es
ist die Zahl 47'.”
“47
und 3 macht wieviel?”
“Fünfzig.”
“Und
noch fünf dazu?”
“Fünfundfünfzig.”
“Merken
Sie sich: fünfundfünfzig!”
Und
dann sagte er: “Ziehen Sie noch weiter!”
“Ich
bin nun am Ende”, antwortete ich.
“So
drehen Sie sich um und ziehen am anderen Ende der
Schnur!”
So
zog ich am entgegengesetzten Ende der Schnur, bis zu Nr.
10.
Dann
sagte der junge Mann: “Ziehen Sie noch weiter!”
“Jetzt
ist nichts mehr.”
“Wie?
Es ist nichts mehr? Schauen Sie genau! Was ist dort?”
“Dort
ist Wasser”, antwortete ich.
In
der Tat, in dem Augenblick erlebte ich ein außergewöhnliches
Phänomen, das man unmöglich beschreiben kann. Ich
befand mich in jenem Raum, zog an der Schnur und
gleichzeitig wickelte sich vor meinen Augen das Panorama
eines weiten Landes ab, das ich, wie im Fluge, überblickte
und das sich immer weiter entfaltete, je mehr die Schnur
sich ausdehnte.
Von
der ersten Null an bis zur Zahl 55 war es ein endloses
Land, das nach einer Meerenge in hundert Inseln zerfiel,
von denen eine ganz bedeutend größer war als alle
anderen. Auf diese Insel schienen die großen
Kordilleren anzuspielen, die von dem großen Knoten
ausgingen. Jeder Faden ging von einer Insel aus. Einige
von ihnen waren von zahlreichen Eingeborenen bewohnt;
andere aber waren trocken, nackt, felsig und unbewohnt.
Wieder andere waren ganz mit Schnee und Eis bedeckt.
Gegen Westen befanden sich zahlreiche Inselgruppen, die
von vielen Wilden bewohnt waren.
(Es
scheint, daß der Knoten, der sich auf der Zahl ‚47'
befand, den Ausgangspunkt darstellte, das salesianische
Zentrum, die Hauptmissionsstation, von der aus sich
unsere Missionare nach den Malvinischen Inseln, zum
Feuerland und zu den anderen Inseln jener Länder
Amerikas begaben).
Von
der entgegengesetzten Richtung her, d. h. von Null bis
10, war weiterhin das gleiche Land und endete in dem
Wasser, das ich zuvor gesehen hatte. Das Wasser scheint
der Antillen‑See zu sein. Da ich damals alles in
so erstaunlicher Weise sah, ist es unmöglich, daß ich
die Art des Sehens mit Worten ausdrücken kann.
Also
auf meine Antwort: “Das ist Wasser!” sagte der junge
Mann. “Jetzt zählen Sie zu 55 noch 10 dazu. Was macht
es?”
Ich
sagte: “Die Summe 65.”
“Nun
legen Sie alles zusammen und machen eine einzige Schnur
daraus!”
“Und
nun?”
“Was
befindet sich auf dieser Seite?” und er wies auf eine
Stelle im Panorama hin.
“Im
Westen sehe ich sehr hohe Berge und im Osten das
Meer.”
—
Ich bemerke hier, daß ich damals alles in Auszügen
sah, gleichsam in Kleinformat von dem, was ich später
in realer Größe und Ausdehnung sah. Die auf der Schnur
markierten Grade stimmten genau mit den geographischen
Breitengraden überein. Sie waren es auch, die mir
halfen, für Jahre hindurch, die sich angliedernden
Gegenden — die ich im zweiten Traum gesehen habe —
in Erinnerung zu behalten. —
Mein
junger Freund sagte dann weiter: “Nun gut. Dieses
Gebirge ist wie ein Rand, wie eine Grenze. Bis hierhin
und dorthin ist die den Salesianern angebotene Ernte.
Tausende und Millionen von Einwohnern erwarten eure
Hilfe, warten auf den Glauben.
Diese
Berge waren die Kordilleren von Südamerika und das Meer
war der Atlantische Ozean.
“Und
wie soll man es tun?” fragte ich, “wie können wir
es fertigbringen, so viele Völker zur Herde Christi zu
bringen?”
“Wie
man es tun soll? Schauen Sie!”
In
dem Augenblick kam Don Lago herbei. Er trug einen Korb
voll kleiner, grüner Feigen und sagte: “Nehmen Sie,
Don Bosco!”
“Was
bringen Sie mir?” sagte ich da, indem ich in den Korb
hineinschaute.
“Man
hat mich beauftragt, es ihnen zu bringen.”
“Diese
Feigen sind aber nicht gut zum Essen; sie sind ja noch völlig
unreif.”
Darauf
nahm mein junger Freund den Korb, der zwar sehr breit,
aber nicht tief war und bot ihn mir mit den Worten an:
“Dies ist mein Geschenk, das ich Ihnen bereite.”
“Und
was soll ich mit diesen Feigen tun?”
“Diese
Feigen sind unreif; sie gehören aber zum großen
Feigenbaum des Lebens. Sie müssen den Weg suchen, um
sie zur Reife zu bringen!”
“Aber
wie? Ja, wenn sie größer wären! . . . Dann könnten
sie im Stroh reifen, wie man es mit anderen Früchten
tut. Aber diese sind so klein . . . und so grün . . .
Es ist unmöglich!”
“Ganz
und gar nicht, Sie müssen wissen, um sie zur Reife zu
bringen, müssen alle diese Feigen wieder an die Pflanze
angebracht werden.”
“Unglaublich!
Wie soll man das machen?”
“Schauen
Sie!” Und er nahm eine Feige und tauchte sie in eine
mit Blut gefüllte Vase. Danach legte er sie in ein Gefäß,
das mit Wasser gefüllt war und sagte: “Mit Schweiß
und Blut werden die Wilden wieder mit der Pflanze
vereint und dem Herrn des Lebens angenehm werden.”
Ich
dachte, um das auszuführen, braucht man Zeit. Mit
lauter Stimme aber sagte ich: “Ich weiß nicht mehr,
was ich sagen soll.”
Der
liebe, junge Mann jedoch hatte meine Gedanken erraten
und fuhr fort: “Dieses Ereignis wird eingetreten sein,
bevor die zweite Generation vorüber ist.”
“Und
welche wird die zweite Generation sein?”
“Die
gegenwärtige zählt nicht. Es wird eine andere und dann
noch eine andere sein.”
Ich
sprach ganz verwirrt, verlegen und beinahe stotternd, da
ich von dem wunderbaren Schicksal hörte, das unserer
Kongregation bestimmt ist und fragte. “Wieviele Jahre
umfaßt jede dieser Generationen?”
“Sechzig
Jahre!”
“Und
dann?”
“Wollen
Sie sehen, was dann sein wird? Kommen Sie!”
Ohne
zu wissen, wie, befand ich mich auf einer Bahnstation.
Dort waren viele Leute. Und wir bestiegen einen Zug. Ich
fragte, wo wir seien. Der junge Mann antwortete:
“Geben Sie gut acht! Schauen Sie! Wir werden die
Kordilleren entlangfahren. Sie haben die Straße auch im
Osten offen bis zum Meer. Es ist dies ein anderes
Geschenk des Herrn.”
“Und
wann gehen wir nach Boston, wo man uns erwartet?”
“Alles
zu seiner Zeit.”
Als
er dies sagte, zog er eine Landkarte hervor, die in Großformat
die Diözese von Cartagena darstellte. (Es war dies der
Ausgangspunkt).
Während
ich diese Landkarte ansah, pfiff die Lokomotive und der
Zug setzte sich in Bewegung. Auf der Reise redete mein
Freund viel, doch ich konnte ihn wegen des Geräusches
des Zuges nicht ganz verstehen. Dennoch lernte ich viel
Schönes und Neues über die Astronomie, über die
Schiffahrt, die Meteorologie, die Mineralogie, die
Tier‑ und Pflanzenwelt und über die
Erdbeschaffenheit jener Gebiete kennen, die er mir mit
bewundernswerter Genauigkeit erklärte. Seine Worte
waren so würdevoll und zu gleicher Zeit so familiär,
daß man erkennen konnte, wie sehr er mich liebte.
Gleich am Anfang hatte er mich bei der Hand genommen und
hielt mich so affektvoll bis zum Ende des Traumes. Ich
legte meine freie Hand auf die seine, doch diese schien
unter meiner Hand zu entfliehen, gleichsam, als ginge
sie in Luft auf, und meine linke Hand drückte nur meine
eigene rechte. Der junge Mann lächelte über meinen
nutzlosen Versuch.
Inzwischen
schaute ich aus den Fenstern des Zuges. Wechselreich
flogen Landschaften an meinen Augen vorüber. Herrliche
Wälder, Berge, Ebenen, mächtige Flüsse, die ich in
der Nähe des Quellgebietes nie für so groß gehalten hätte.
Über
tausend Meilen sind wir am Rande eines Urwaldes
entlanggefahren, der heute noch unerforscht ist. Mein
Auge bekam eine wunderbare Sehfähigkeit. Es war mir
nicht schwer, die weitesten Gegenden zu überblicken.
Ich kann dieses wunderbare Phänomen, das meine Augen
befiel, nicht erklären. Ich war wie einer, der auf
einem Berge steht und zu seinen Füßen ein weites Land
ausgebreitet sieht. Wenn er nur einen kleinen
Papierstreifen nahe vor seine Augen hält, sieht er
nichts mehr oder doch nur wenig; hält er aber diesen
Streifen etwas höher oder niedriger, dann kann er bis
zum fernen Horizont sehen. So geschah es mir auch durch
jene außerordentliche Gabe der Fernsicht, doch mit dem
einen Unterschied: jedesmal, wenn ich mein Augenmerk auf
einen bestimmten Punkt richtete und dieser Punkt an mir
vorbeikam, war es mir, als ob nacheinander einzelne Vorhänge
hochgingen und ich konnte in unvorstellbare, weite
Entfernungen blicken. Ich sah die Kordilleren nicht nur
von weitem, sondern konnte die einzelnen Gebirgszüge,
die sich in den weiten Gegenden befanden, in all ihren
Einzelheiten sehr deutlich erkennen. (Es waren die von
Nuova Granata, Venezuela, die drei Guiana, die von
Brasilien und Bolivien, bis zu den äußersten Grenzen).
So
fand ich bestätigt, daß die Ausführungen, die ich zu
Beginn des Traumes im großen Saal auf dem Grade Null
gehört hatte, richtig waren. Ich sah die hohen Berge
und die weiten Ebenen. Die ungeheuren Schätze dieser Länder,
die eines Tages entdeckt werden, lagen vor meinen Augen.
Ich sah dort zahlreiche Fundgruben von kostbaren
Metallen, unerschöpflichen Höhlen von Steinkohlen und
so reichen Petroleumquellen, wie sie bisher noch
nirgendwo vorhanden sind. Es war aber noch nicht alles.
Zwischen dem 15. und 20. Grad befand sich eine sehr
lange Einbuchtung, die an einem Orte begann, an dem sich
ein See bildete. Da sagte eine Stimme wiederholt:
“Wenn man beginnt, die in diesen Bergen verborgenen
Schätze auszubeuten, dann erscheint hier das verheißene
Land, in dem Milch und Honig fließt. Es wird hier ein
unvorstellbar großer Reichtum sein.”
Doch
das war noch nicht alles. Was mich besonders überraschte,
war der Anblick der Kordilleren von verschiedenen
Seiten. Es befanden sich dort große Täler, von denen
unsere Geographen gar keine Ahnung haben; denn sie
denken, daß die dortigen Bergabhänge steil wie eine
Mauer abfallen. Diese Berge und Täler, die sich
manchmal bis zu tausend Kilometer weit erstrecken, waren
dicht von Völkern bewohnt, die noch nie mit Europäern
in Kontakt gekommen waren. Es sind noch vollständig
unbekannte Rassen.
Der
Zug fuhr inzwischen immer weiter. Nach sehr langer Fahrt
mit zahlreichen Windungen hielt er endlich an. Ein großer
Teil der Reisenden verließ den Zug. Sie gingen nach
Westen unter den Kordilleren hindurch.
(Don
Bosco erwähnte Bolivien. So war die Station vielleicht
La Paz, wo sich ein Tunnel befindet, der zur Pazifischen
Küste führt und wo eine andere Bahnlinie Brasilien mit
Lima verbindet).
Der
Zug setzte sich dann von neuem in Bewegung. Er fuhr
weiter und immer weiter. Wie im ersten Teil der Reise
ging es wieder durch Wälder, unter Tunneln hindurch und
über riesige Brücken. Wir kamen durch Bergschluchten
und an Seen und Sümpfen vorbei. Brücken überquerten
gewaltige Flüsse, und dann ging es wieder durch überaus
weite Ebenen, Wiesen und Felder. Wir sind am Ufer des
Uruguay entlanggefahren. Ich hatte immer geglaubt, es
sei ein kleiner Fluß, doch er war äußerst lang. An
einer Stelle sah ich den Paranà‑Fluß, der sich
dem Uruguay näherte, gleichsam als wolle er in ihn münden.
Nachdem er aber eine Strecke mit ihm parallel gelaufen
war, entfernte er sich wieder, indem er einen weiten
Bogen machte. Diese beiden Flüsse waren ungeheuer groß.
(Nach
diesen Angaben scheint die zukünflige Bahnlinie in La
Paz zu beginnen, wird an Santa Cruz vorbeiführen und
durch die einzige Öffnung gehen, die sich in den
Cruz‑Bergen von Sierra befindet und die von dem
Guapay Fluß durchflossen wird. Ferner wird sie
den Parapiti‑Fluß in der Provinz, Chiquitos in
Bolivien überqueren. Dann schneidet sie die äußerste
nördliche Ecke der Republik Paraguay ab, tritt in die
Provinz S. Paul in Brasilien ein und endet in Rio de
Janeiro. Von einer Zwischenstation in der Provinz S.
Paul beginnt vielleicht eine andere Bahnlinie, die über
den Rio Paranà und Rio Uruguay führt und Brasiliens
Hauptstadt mit Uruguay und Argentinien verbindet).
Und
der Zug fuhr immer weiter. Nachdem er oft nach rechts
und wieder nach links eingebogen war und viel Land
durchlaufen hatte, hielt er ein zweites Mal an. Dort
verließen wiederum viele den Zug und gingen ebenfalls
unter den Kordilleren hindurch nach Westen hin.
(Don
Bosco wies in der Argentinischen Republik auf die
Provinz Mendoza hin. So war vielleicht die Station
Mendoza und jener Tunnel führte nach Santiago, der
Hauptstadt von Chile).
Der
Zug nahm seine Fahrt erneut auf und fuhr durch die Pampa
und durch Patagonien. Hier und dort befanden sich
gepflegte Felder und Häuser und zeigten an, daß in
diesen Gegenden die Zivilisation schon eingedrungen war.
Zu
Beginn von Patagonien fuhren wir über eine Abzweigung
des Rio Colorado oder des Rio Chubut (oder vielleicht
des Rio Negro?). Ich konnte nicht erkennen, in welcher
Richtung der Strom floß, ob in Richtung der Kordilleren
oder aber dem Atlantischen Ozean zu. Ich versuchte
dieses Problem zu lösen, doch es war mir nicht möglich,
mich zu orientieren. Endlich kamen wir in der
Einbuchtung von Magellano an. Ich schaute hinaus und wir
verließen den Zug. Punta Arenas lag vor mir. Der Boden
war meilenweit bedeckt mit Ablagerungen von Steinkohle,
von Brettern, Balken, Holz und von ungeheuren
Metallmassen, die zum Teil in rohem Zustand und zum Teil
schon verarbeitet waren. Lange Reihen von Handelsgüterzügen
standen auf den Geleisen.
Man
wies auf all diese Gegenstände hin. Da fragte ich
meinen Begleiter. “Was wollen Sie mir nun mit all
diesem sagen?”
Er
antwortete: “Das was jetzt im Projekt ist, wird eines
Tages Wirklichkeit werden. Die Wilden werden in Zukunft
so lernbegierig sein, daß sie selber nach Belehrung,
nach Religion, Zivilisation und Handel fragen werden.
Was anderweitig Bewunderung erregt, wird hier um so
staunenswerter sein, je mehr es jetzt bei allen Völkern
Bewunderung verursacht.”
“Nun
habe ich genug gesehen”, sagte ich abschließend. “Führen
Sie mich jetzt dorthin, wo ich meine Salesianer in
Patagonien sehen kann.”
Wir
kehrten zur Station zurück und bestiegen erneut den
Zug, um zurückzufahren. Nachdem wir einen sehr weiten
Weg zurückgelegt hatten, hielt der Zug vor einer
bedeutenden Stadt.
(Vielleicht
war es auf dem 47. Breitengrad, wo Don Bosco zu Beginn
des Traumes den großen Knoten an der Schnur gesehen
hatte).
Niemand
erwartete mich an der Station. Ich verließ den Zug und
fand sofort die Salesianer. Es waren dort zahlreiche Häuser
mit vielen Einwohnern. Dort waren mehrere Kirchen,
Schulen, verschiedene Heime für Jungen und für
Erwachsene, für Lehrlinge und Landarbeiter und auch
eine Erziehungsanstalt für Mädchen, die mit den
verschiedensten Hausarbeiten beschäftigt waren. Unsere
Missionare leiteten die Jungen und Erwachsenen
gemeinsam.
Ich
ging mitten unter sie. Es waren ihrer viele, doch kannte
ich sie nicht. Von meinen ehemaligen Schülern war
keiner unter ihnen. Alle schauten mich erstaunt an, als
wenn ich für sie ganz fremd wäre. Da sagte ich zu
ihnen: “Kennt ihr mich nicht? Kennt ihr nicht Don
Bosco?”
“Oh,
Don Bosco! Ja,
wir kennen seinen Namen und seinen Ruf; doch haben wir
ihn nur auf Abbildungen gesehen und noch nie in
Wirklichkeit.”
“Und
wo befindet sich Don Fagnano, wo sind Don Costamagna,
Don Lasagna und Don Milanesio?”
“Wir
haben sie nicht mehr gekannt. Sie waren in vergangenen
Zeiten hierhergekommen; es waren die ersten Salesianer,
die aus Europa hierherkamen. Jetzt sind aber schon viele
Jahre seit ihrem Tode verflossen!”
Bei
dieser Antwort dachte ich verwundert: “Ja, ist dies
nun ein Traum oder ist es Wirklichkeit?” Ich klatschte
in die Hände, berührte meine Arme, schlug mich und ich
hörte wirklich den Schall des Klatschens und ich fühlte
mich und war davon überzeugt, daß ich nicht schlief.
Dieser
Besuch dauerte nur einen Augenblick. Da ich den
wunderbaren Fortschritt der Katholischen Kirche, unserer
Kongregation und der Zivilisation gesehen hatte, dankte
ich der Göttlichen Vorsehung, daß sie sich meiner als
Instrument für die Ehre Gottes und für das Heil so
vieler Seelen bedient hatte.
Der
junge Herr Colle gab mir ein Zeichen, daß es Zeit sei
zurückzukehren. So grüßte ich meine Salesianer und
wir gingen zur Bahnstation zurück, wo der Zug
abfahrbereit stand. Wir stiegen ein, die Lokomotive
pfiff und die Fahrt ging weiter, dem Norden zu.
Eine
neue Wahrnehmung erregte meine Bewunderung. Der
Landstrich von Patagonien, der der Einbuchtung von
Magellano am nächsten liegt und sich zwischen den
Kordilleren und dem Atlantischen Ozean befindet, war
weniger breit als die Geographen allgemein annehmen.
Der
Zug fuhr sehr schnell weiter, und es schien mir, als würde
er durch die Provinzen Argentiniens fahren, die jetzt
schon zivilisiert sind.
Auf
der Weiterfahrt kamen wir durch einen unendlich langen
und breiten Urwald. An einer gewissen Stelle hielt der
Zug an und vor unseren Augen spielte sich ein erschütterndes
Ereignis ab. Mitten im Walde befand sich auf einem
freien Platz eine große Anzahl Wilder. Sie waren häßlich
und hatten mißgestaltete Gesichter. Zusammengenähte
Tierfelle bedeckten ihre Körper. In ihrer Mitte befand
sich ein gefesselter Mann, der auf einem Steine saß. Er
war sehr dick, denn die Wilden hatten sich bemüht, ihn
fett zu machen. Der Unglückliche war ein Gefangener und
nach seinen sehr regelmäßigen Gesichtszügen zu
urteilen, schien er einer fremden Nation anzugehören.
Die Wilden richteten Fragen an ihn und erzählten von
seinen Reiseabenteuern.
Plötzlich
erhob sich ein Wilder, schwang ein großes Eisen, das
zwar kein Schwert, aber doch sehr scharf war, stürzte
sich auf den Gefangenen und hieb ihm mit einem einzigen
Schlage das Haupt ab.
Alle
Zugreisenden standen aufmerksam und stumm vor Schrecken
an den Türen und Fenstern. Selbst Colle sah hin und
schwieg. Das Opfer hatte im Augenblick des Schlages
einen durchdringenden Schrei ausgestoßen. Nun warfen
sich alle Kannibalen auf den Leichnam, der in einer
Blutlache lag. Sie schnitten ihn in Stücke, legten das
noch warme und zitternde Fleisch auf ein eigens dazu
angelegtes Feuer, brieten es etwas und aßen es halbroh.
Beim
Aufschrei des Unglücklichen hatte sich der Zug wieder
in Bewegung gesetzt und gewann bald wieder seine frühere
Geschwindigkeit.
Viele
Stunden hindurch ging es am Ufer eines riesigen Flusses
entlang, und zwar einmal auf der rechten und einmal auf
der linken Seite. Ich habe am Fenster aber nicht
beobachtet, auf welchen Brücken wir den Fluß so oft überquerten.
An den Ufern des Flusses erschien hin und wieder eine
Menge Eingeborener. Jedesmal, wenn wir diese Menschen
sahen, wiederholte der junge Colle: “Hier ist die
Ernte der Salesianerl Hier ist die Ernte der Salesianer!”
Dann
kamen wir in eine Gegend, die voll von wilden Tieren.
und giftigen Schlangen war. Es waren seltsame und
schreckliche Gestalten. Sie wimmelten in den
Bergschluchten und Tälern, belebten die Berge und Hügel
sowie die Ufer der Seen und Flüsse, und waren auf Abhängen
und in der Ebene. Einige von ihnen sahen aus wie Hunde
mit Flügeln und waren außerordentlich dick. (Genußsucht,
Wollust, Stolz). Andere waren dicke Kröten, die Frösche
fraßen. Man sah gewisse Schlupfwinkel voll von Tieren,
die anders geartet waren als die Tiere in unseren
Gegenden. Diese drei Tierarten lebten bunt durcheinander
und grunzten so dumpf, als wollten sie sich gegenseitig
beißen.
Dort
befanden sich auch Tiger, Hyänen, Löwen, jedoch von
anderem Aussehen, als sie in Asien und Afrika sind. Mein
Gefährte richtete hier das Wort an mich und sagte,
indem er auf die Tiere hinwies: “Die Salesianer werden
sie sanft machen.”
Indessen
näherte sich der Zug dem Ausgangsorte, ja wir waren ihm
schon sehr nahe. Da zog der junge Colle aus seiner
Tasche eine sehr schöne Landkarte hervor und fragte
mich: “Wollen Sie die Reise sehen, die wir zurückgelegt
haben? Und die Gegenden, durch die wir gefahren sind?”
“Gerne”,
antwortete ich.
Dann
erklärte er mir die Karte, auf der ganz Südamerika mit
größter Genauigkeit aufgezeichnet war. Ja, mehr noch,
denn auf ihr befand sich alles, wie es war, wie es jetzt
ist und wie es in jenen Gegenden einmal sein wird. Alles
war jedoch so, daß es durchaus keine Verwirrung
verursachte. Im Gegenteil, es war alles so klar, daß
man mit einem einzigen Blick alles deutlich erkannte.
Ich verstand alles sofort, doch der vielen Einzelheiten
wegen blieb die Klarheit nur für einen Augenblick, und
jetzt ist in meinem Gedächtnis alles durcheinander.
Während
ich nun jene Karte betrachtete und darauf wartete, daß
der junge Mann mir noch weitere Erklärungen gäbe —
weil ich wegen der Überraschung des Geschauten ganz
erregt war —, da schien mir, als wenn Quirino den
Morgen‑Angelus läutete. Als ich jedoch erwachte,
da wurde ich gewahr, daß der Schall der Glocken von der
Pfarrkirche San Benigno herkam. Der Traum hatte die
ganze Nacht gedauert.”
INHALTSVERZEICHNIS
Vorwort
Der
erste Traum — Ein himmlischer Auftrag
Die
Raben
Rebhühner
und Wachteln
Das
Gebet und die Tugend
Der
Teufel verleitet zu Zerstreuungen
Die
Prozession zum Marienaltar
Die
gefahrvolle Meerfahrt
Die
Katzen auf den Betten
Die
Ziegenböcklein
Der
Hirt und seine Herde
Das
Fegfeuer
Das
Neujahrsgeschenk
Die
Jungen von Lanzo
Der
große Weinstock
Die
Hölle
Die
Schlingen des Teufels
Aus
einem Römischen Brief Don Boscos
Spätberufe
Die
Schlacht mit den Heugabeln
Die
Hühner
Der
Schild des Glaubens
Der
wilde Stier
Dominikus
Savio erscheint
Die
Sanftmut des heiligen Franz von Sales
Die
Ferien
Der
heilige Franz von Sales und die Salesianer
Lilien
und Rosen
Unter
dem Schutzmantel Mariens
Ludwig
Florin Anton Colle
Die
Salesianische Gesellschaft
Die
Kastanien
Die
Entwicklung der Kongregation
Großer
Missionstraum von Südamerika
Erläuterung
der Quellenangaben, die den einzelnen Träumen in
Klammern beigefügt sind. Lem. und römische Ziffer =
Bandnummer der offiziellen Lebensbeschreibung des
heiligen Johannes Bosco “Memorie Biografiche di San
Giovanni Bosco” von Johann Bapt. Lemoyne — Eugenio Ceria. Arabische
Ziffer = Seitenzahl des betreffenden Bandes.
Inhaltsübersicht
PROVINZIALAT
DER SALESIANER
BENDORF/RHEIN-SAYN
Als
Manuskript gedruckt
Der Traum
von den zwei Säulen im Meer
Don
Boscos Vision über die Zukunft der Kirche
Am
26. Mai 1862 versprach Don Bosco einen Jungen, am
vorletzten oder letzten Tag des Monats “etwas Schönes”
zu erzählen. Nach dem Abendgebet des 30. Mai erfüllte
er in seiner “Gute Nacht Ansprache”
das Versprechen:
“Zu
Eurem geistlichen Vorteil will ich heute einen Traum erzählen,
den ich vor wenigen Tagen erlebt habe.
Stellt
Euch vor, wir befinden uns an der Küste des Meeres oder
besser noch auf einer einsamen Klippe und sehen kein
Land außer dem Boden unter unseren Füßen. Auf dem
weiten Meer erkennen wir eine unzählbare Menge von
Schiffen, die sich für eine Seeschlacht geordnet haben.
Sie verfügen über eiserne Schiffsschnäbel und sind
mit Kanonen, Gewehren, sonstigen Waffen jeglicher Art
und Brandsätzen ausgerüstet. Sie nähern sich einem
Schiff, das viel größer ist als das ihrige und
versuchen, dieses mit ihren spitzigen Schnäbeln zu
beschädigen, es anzuzünden und ihm jeden nur möglichen
Schaden zuzufügen. Das große Schiff wird von vielen
kleinen Booten begleitet, die von ihm Befehle empfangen
und das majestätische Schiff gegen die feindliche
Flotte verteidigen. Sie haben starken Gegenwind und das
aufgewühlte Meer scheint die Angreifer zu begünstigen.
Mitten
im weiten Meer stehen in geringem Abstand voneinander
zwei mächtige Säulen. Die eine wird von einer Statue
der Immaculata gekrönt, zu deren Füßen auf einer
Tafel die Inschrift steht:
“Auxilium christianorum”
(Helferin der Christen), auf der zweiten, viel höheren
und mächtigeren Säule, sehen wir eine übergroße
Hostie, darunter auf einem Schild die Worte:
“Salus credentium” (Heil der Gläubigen).
Der
Papst als Kommandant des großen Schiffes erkennt die
Wut der Feinde und damit die Gefahr, in der sich seine
Getreuen befinden. Er ruft deshalb die Steuermänner der
Begleitboote zur Beratung auf sein Schiff. Der Sturm
wird immer heftiger; die Kommandanten müssen auf ihre
Boote zurückkehren. Nach Beruhigung der See ruft der
Papst die Kommandeure ein zweitesmal zu sich. Plötzlich
bricht der Sturm von neuem los.
Der
Papst steht am Steuer und versucht mit aller Kraft sein
Schiff zwischen die beiden Säulen zu lenken, an denen
viele Anker und große Haken angebracht sind. Die
feindlichen Schiffe beginnen nun mit dem Angriff und
wollen das päpstliche Schiff versenken. Immer wieder
versuchen sie Brandmaterial an Bord des großen Schiffes
zu schleudern und feuern mit ihren Bordgeschützen aus
allen Rohren. Trotz des leidenschaftlichen Kampfes der
feindlichen Schiffe und des Einsatzes aller Waffen
scheitert jedoch der Angriff, und das päpstliche Schiff
durchpflügt, obwohl auf beiden Seiten bereits schwer
angeschlagen, frei und sicher das Meer, denn kaum
getroffen, schließt ein sanfter Wind, der von den
beiden Säulen ausgeht, sofort jedes Leck.
Auf
den Schiffen der Angreifer platzen jetzt die
Kanonenrohre, die Schiffsschnäbel zerbrechen, viele
Schiffe bersten auseinander und versinken im Meer. Plötzlich
wird jedoch der Papst von einer feindlichen Kugel
getroffen. Seine Helfer stützen ihn und richten ihn
wieder auf, wenig später trifft ihn erneut ein
feindliches Geschoß, und er sinkt tot zu Boden.
Bei
der feindlichen Flotte erhebt sich ein Freuden‑
und Siegesgeschrei. Die auf dem päpstlichen Schiff
versammelten Kommandeure wählen in solcher Eile einen
neuen Papst, daß die Nachricht vom Tod des Steuermanns
zugleich mit der Nachricht von der Wahl des Nachfolgers
bei den Feinden ankommt. Jetzt verlieren diese plötzlich
allen Mut, das päpstliche Schiff aber überwindet alle
Hindernisse und fährt sicher zwischen die beiden Säulen,
wo es vor Anker geht. Die Feinde flüchten, rammen sich
gegenseitig und gehen zugrunde. Die kleinen Begleitboote
des päpstlichen Schiffes rudern mit voller Kraft
ebenfalls zu den beiden Säulen und machen dort fest.
Auf dem Meer tritt eine große Stille ein.
***
An
dieser Stelle fragte Don Bosco seinen späteren
Nachfolger als Generaloberer, Don Michael Rua: “Was hältst
Du von dieser Erzählung?” Don Rua antwortete: “Mir
scheint, das Schiff des Papstes ist die Kirche, deren
Oberhaupt er ist. Die anderen Schiffe sind die Menschen,
das Meer ist die Welt. Jene, die das große Schiff
verteidigen, sind die treuen Anhänger des Papstes, die
anderen seine Feinde, die mit allen Mitteln die Kirche
zu vernichten suchen. Die beiden Säulen bedeuten, wie
mir scheint, die Verehrung Mariens und der hl.
Eucharistie.”
Don
Bosco sagte: “Du hast gut gesprochen. Nur ein Ausdruck
muß richtiggestellt werden: Die feindlichen Schiffe
bedeuten die Verfolgungen der Kirche. Sie bereiten
schwerste Qualen für die Kirche vor. Das, was bisher
war, ist beinahe nichts im Vergleich zu dem, was noch
kommen wird. Die Schiffe symbolisieren die Feinde der
Kirche, die das Hauptschiff zu versenken suchten, wenn
es ihnen gelänge. Nur zwei Mittel verbleiben uns zur
Rettung in dieser Verwirrung: Die Verehrung der
Gottesmutter und die häufige hl. Kommunion.”
Noch
viele Jahre nach dem Bericht Don Boscos über seinen
Traum von den zwei Säulen blieb das Anliegen dieser
Vision im Gespräch. Einig war man sich jedoch in der Überzeugung,
daß Don Bosco den Traum seinen Jungen und den
Salesianern nur aus einem einzigen Grund erzählt hat:
um diese zum Gebet für die Kirche und den Papst zu
ermuntern und sie auf Verehrung des Altarssakramentes
und der Maria Immaculata hinzuweisen.
Don
Boscos Anliegen behält seinen Wert und seine Bedeutung
bis in die gegenwärtige Situation der Kirche Jesu
Christi.
Bei Berichten über außerordentliche
Begebenheiten, Wunder und dergleichen bei Heiligen ist
zu bemerken, daß diese nur menschliche Glaubwürdigkeit
verdienen. Der übernatürliche Charakter solcher Vorgänge
bleibt immer dem Urteil der obersten kirchlichen Behörde
überlassen. Im Heiligsprechungsprozeß Don Boscos
wurden seine Träume positiv beurteilt. Man vertrat die
Meinung, bei ihm sei das “Übernatürliche” beinahe
“natürlich” geworden, weil Träume und Visionen
Begleiterscheinungen seines ganzen Lebens waren.
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