Glück
lebt von der Schau einer grösseren Welt. Kaum irgend
etwas auf dieser Welt lebt durch sich allein: Kohle
braucht Sauerstoff, um zu verbrennen. Fische
brauchen Wasser zum Schwimmen, Vögel Luft für das
Fliegen. Pflanzen leben in Verbindung mit der Sonne,
die ungefähr 150 Millionen Kilometer weit von der
Erde entfernt ist. Jeder tierische Organismus
braucht die Gesamtheit der Natur zu seiner
Ergänzung. Es ist zu offensichtlich und bedarf
keiner weitern Begründung: auch der Mensch kann
einzig und allein aus sich selbst nicht leben. Wir
sind nicht Schöpfer, bloss Umformer von Energie. Es
ist ein einfacher Lehrsatz der Dynamik, dass die
Kraft, die wir verbrauchen, die Kraft ist, die wir
von aussen aufnehmen. Nobelpreisträger Alexis Carrel
sagte: «Alle Lebewesen suchen die endliche Kraft zu
vermehren, indem sie unendliche Kraftreserven
erschliessen.» Diese Verbindung wird durch das Gebet
erreicht. Die Natur ist für den Körper, was GOTT für
die Seele ist.
Seidene Schnüre am Himmel
Wie taube Menschen tot sind für das
Lachen eines Kindes oder den Seufzer eines
Wasserfalles, wie Blinde tot sind für erste
Frühlingsblumen und den strahlenden Glanz eines
Sonnenuntergangs - so gibt es Menschen, die
gottblind sind. In diesen Zustand haben sie sich
selbst versetzt; sie haben sich gleichsam die
eigenen Augen ausgestochen. Einige unter ihnen
nennen sich Humanisten und prahlen, sie könnten sich
an ihrem eigenen Haarschopf hochziehen oder gesund
sein, wenn sie dieselbe Luft einatmen, die sie
ausatmen. Die menschliche Natur schätzt oft gering,
was sie nicht kennt.
Die Verbindung der niederen
Schöpfung mit der Natur unterscheidet sich stark von
der Verbindung der Seele mit GOTT: Die erste ist
automatisch, und die zweite ist frei. Atmung,
Verdauung, Zirkulation und Sehvermögen sind
Reflexhandlungen. Es ist schwerer, den Atem
anzuhalten, als zu atmen.
Ständig umfluten uns Tonwellen,
welche Musik, Komödien, politische Diskussionen und
andere Radio- oder TV-Programme tragen. In derselben
Art flutet göttliche Energie des Friedens und der
Freude durch diese Welt. Aber viele empfangen sie
nicht, sie stellen die Verbindung nicht her durch
eine klare Willensäusserung. Millionen und Millionen
Vorteile hängen an seidenen Schnüren am Himmel und
das Gebet ist das Schwert, das sie abschneidet.
Ein Gemälde von Holman Hunt zeigt
unseren HERRN Jesus, wie er mit einer Laterne in der
Hand an eine efeubedeckte Tür klopft. Der Maler wird
kritisiert, weil die Klinke auf der Aussenseite der
Tür fehlt. Seine Antwort: «Natürlich nicht. Die
Klinke ist innen.
Nur
wir können öffnen.» Freie Menschen können die
Vorzüge und Segnungen GOTTES annehmen oder
zurückweisen. Der Mensch muss empfangen wollen. Das
Gebet ist eine Möglichkeit, das hereinzulassen, was
sonst draussenbleiben würde. Die Luft ist da, wenn
wir atmen, das Licht ist da, wenn wir unsere Augen
öffnen und die Geschenke, die wir vom Himmel
empfangen, hängen von unserem Vertrauen ab. Das
Gebet eröffnet die Möglichkeiten. Pflanzen können
nicht ohne Wasser sein; die Blumen schenken uns ihre
Blüten nur, wenn wir ihnen Wasser geben. Die Fenster
lassen das Licht ein, wenn wir sie sauber halten.
Unsere Herzen werden GOTT einlassen, wenn wir sie
reinigen. Segen wird jenen, die sich in einer
Atmosphäre der Liebe aufhalten.
GOTT hat zwei Arten
von Geschenken
Oft
sehen wir ein eltern- und heimatloses Kind auf der
Strasse. Ein anderes Mädchen hingegen lebt in einem
Zuhause mit allem, was es für sein Glück braucht:
Essen, Kleidung, Obdach, Liebe. Das heimatlose Kind
hat keine dieser Wohltaten, denn es fehlt ihm die
Umgebung der Liebe. Wer sich nun nicht durch das
Gebet in die Umgebung der göttlichen Liebe und Macht
stellt, verzichtet auf den Segen und das Glück, das
andere erfreut!
Manche Eltern wollen keine Familie
auferziehen, weil sie sich sagen: «Ich kann mein
Kind doch nicht auf die Hochschule schicken.»
Offensichtlich ist ihr einziges Glück das Bankkonto.
Würden sie sich jedoch in die Umgebung der
göttlichen Liebe stellen und dem Willen GOTTES
vertrauen, dann kämen sie zu Wohlstand, der ihnen
gegenwärtig noch verwehrt wird. Wir trauen denen
nicht, die uns nicht trauen. Aber sobald wir ihnen
trauen, öffnen sich uns ihre Herzen. So macht es
auch GOTT.
Ein kranker Mann, der in ein
Krankenhaus gebracht wurde, sagte zur Schwester:
«Ich habe seit 30 Jahren nicht gebetet. Betet für
mich!» Sie sagte: «Betet selbst. Oft ist es ja bloss
die fremde Stimme, was man zu hören wünscht!» Das
Gebet kann man kurz als Bitte, Anbetung und Handlung
auffassen. Im Bittgebet sagen wir GOTT nicht unsere
Nöte. ER kennt sie ja, bevor wir anfangen. Wir geben
IHM vielmehr die Gelegenheit, sie uns zu schenken.
Das Gebet ist Hilflosigkeit, die sich an die Macht
wendet; Schwäche, die sich an Stärke lehnt; Elend,
das nach Gnade sucht und ein Gefangener, der nach
Erlösung schreit.- GOTT hat zwei Arten von
Geschenken: die einen gibt ER uns, ob wir beten oder
nicht, und die andern gibt ER uns unter der
Bedingung, dass wir uns in den Bereich seiner Liebe
begeben. GOTT könnte uns etwas geben wollen, aber er
kann es nicht, weil unsere Hände schon voll sind von
Flitterwerk. Viele behandeln GOTT wie ein Flieger
seinen Fallschirm. Sie hoffen, ihn niemals zu
brauchen, aber wenn es so weit ist, ist ER gerade
recht.
Das Gebet verändert nicht den Willen
GOTTES, aber es kann unseren ändern, auf dass wir
für seine Gnaden empfänglich werden.
Die
Muttergottes bezahlt eine Hotelrechnung
Normalerweise
werden Priester im Alter von 24 Jahren geweiht. Ich
wurde ebenfalls mit 24 geweiht, aber noch weitere
fünf Jahre auf Universitäten geschickt. Fünf Jahre
nach meiner Priesterweihe studierte ich Philosophie
an der Universität Löwen in Belgien. Ich wollte das
5. Jubiläum meiner Priesterweihe in Lourdes feiern.
Lourdes ist fast allen, nicht nur den Gläubigen
bekannt. Ich hatte genug Geld, um nach Lourdes zu
fahren, aber nicht genug, um dort zu wohnen.
Ich
bat meinen Bruder, der an der Universität Löwen
Medizin studierte, um etwas Geld. Er war ebenfalls
ein typischer Universitätsstudent und hatte daher
keines. Ich dachte: «Nun, wenn ich genug Glauben
habe, nach Lourdes zu fahren, um dort mein 5.
Priesterjubiläum zu feiern, ist es an der Jungfrau
Maria, mich über Wasser zu halten.» Ich fuhr nach
Lourdes und kam mit leeren Taschen an. Dann
überlegte ich, wenn schon die Hl. Jungfrau meine
Hotelrechnung bezahlte, könnte sie genausogut eine
kleine wie eine grosse bezahlen. Ich ging also zum
besten Hotel in Lourdes, Kategorie IV für unsere
Begriffe. Am 5. Tag bekam ich meine Rechnung. Ich
hatte Vorstellungen von Gendarmen und Gefängnissen,
aber ich schob es hinaus, denn die Novene rief zu
neun Tagen Gebet. Am Morgen des 9. Tages ging ich
zum Reliquienschrein hinunter. Nichts geschah. Am 9.
Mittag geschah nichts. Am 9. Abend geschah nichts —
dann war es ernst. Ich beschloss, der Jungfrau
Maria noch eine Chance zu geben. Ich besuchte den
Schrein jenen Abend um ungefähr halb elf. Als ich
den Rosenkranz betete, tippte mir ein stämmiger Mann
auf die Schulter. «Sind Sie ein amerikanischer
Priester? Sprechen Sie französisch? Kennen Sie
Paris? Nun, ich bin aus New York. Dies sind mein
Sohn, meine Tochter und meine Frau.» Wir gingen
zusammen zum Hotel zurück. «Wir möchten, dass Sie
morgen mit uns nach Paris kommen und für uns
französisch sprechen.» Er sagte: «Haben Sie schon
Ihre Hotelrechnung bezahlt?» Das war die
interessanteste Frage, die ich jemals in meinem
Leben gehört habe. Ich konnte ihn bewegen, die
Rechnung zu begleichen. Wir fuhren für eine Woche
nach Paris. Dann sagte er: «Ich werde Ihnen meine
Adresse in New York geben. Macht es Ihnen etwas aus,
wenn ich sie auf den unteren Teil des Schecks
schreibe?» »Nicht besonders», sagte ich. Ich kam
nach Löwen mit mehr zurück, als ich abgefahren war.
Wir sind seitdem noch zweimal zusammen nach Lourdes
gepilgert, um der Madonna dafür zu danken, dass sie
uns zusammengebracht hat.
Die Moral dieser Geschichte ist
nicht, ins grösste Hotel zu gehen und von der
Jungfrau Maria zu erwarten, dass sie die Rechnung
bezahlt. Vielmehr zeigt sie uns, dass sich die
Himmelsmutter bei ihrem göttlichen Sohn für
hartnäckige und fordernde Kinder einsetzt.
Warum will GOTT das Lob?
Neben der Bitte die Anbetung! Es
wird oft gefragt: «Warum will Gott das Lob? Ist er
ein Machthaber, auf einem Thron und sehr unglücklich
und mürrisch, wenn wir ihm nicht schmeicheln?» GOTT
bedarf des Lobes nicht; wir aber haben es nötig,
GOTT zu loben. In vielen Orten gehen im Frühling
kleine Mädchen hinaus auf die Wiese und sammeln
Löwenzahnsträusse. Sie werden feierlich der Mutter
geschenkt. Das schafft eine Schwierigkeit: Sie muss
eine Vase für den Strauss holen. Die Mutter braucht
den Löwenzahn nicht. Aber das Kind muss ihn
schenken. Indem sie den Löwenzahn annimmt, lehrt die
Mutter das Kind Liebe, Freundlichkeit und Güte. Der
Mutter nichts zu schenken, wie klein die Gabe auch
sein mag, würde bedeuten, dem Kinde fehle Zuneigung
und Gehorsam. GOTT braucht unser Lob nicht; wir nur
haben nötig, es ihm zu schenken.
Anbetung befreit die Seele von ihrer
Voreingenommenheit und ihrem Beiwerk. Sie bereitet
die Seele auf Überraschungen vor, reisst das Ich vom
Thron unseres Selbst herunter und weist das
Göttliche auf den IHM gebührenden Platz. Die
Befreiung vom eigenen Ich ist immer die Bedingung
für eine Bindung an andere. GOTT gibt vor, uns zu
brauchen, aber in Wirklichkeit brauchen wir IHN für
unsere Vervollkommnung. Auch die Anbetung ist Lob.
Unglaube ist der Feind des Lobes; ebenso die
Selbstsucht. Einige denken, einen Anderen zu loben
heisse, sich selbst herabsetzen. Im gleichen Masse
wie das Gotteslob abnimmt, nimmt auch die
Aufmunterung anderen gegenüber ab. Ebensowenig wie
ein Wahnsinniger die Sonne auslöschen kann, indem er
«Dunkelheit» an die Höhlenwand schreibt, können auch
wir GOTTES Herrlichkeit schmälern.
Wie wenig
loben wir unsere Mitmenschen! Dankt ein Mann jemals
seiner Frau für die Zubereitung der Mahlzeiten? In
18 Jahren über 19'000 Mahlzeiten! Lobt eine Frau
jemals ihren Mann, dass er für den Unterhalt sorgt?
Wo Liebe ist, ist Dank und Lob. Ein kurzes Wort über
das Gebet als Handlung. Jede Art von Arbeit Spiel,
Erholung, sowie Kummer und Widerspruch können in ein
Gebet verwandelt werden. Reklame-Fachleute,
Fernsehkameraleute, Büroangestellte, Taxifahrer,
Barkeeper, Ärzte, Hausgehilfen, Ballspieler — alle
können ihre Arbeit in ein Gebet verwandeln,
vorausgesetzt, dass sie sie im Namen GOTTES
aufopfern.
Unten, im Abfluss einer Stadtstrasse
war ein Wassertropfen, dreckig, schmutzig und
abgestanden. Oben am Himmel sah ihn ein milder
Sonnenstrahl, sprang aus dem blauen Himmel hinunter
in den Abfluss, küsste ihn, durchdrang ihn ganz und
gar mit neuem, fremdem Leben und Hoffnungen, hob ihn
höher und höher bis unter die Wolken, liess ihn
eines Tages als Flocke unberührten Schnees auf eine
Bergspitze fallen. So kann unser eigenes Einerlei,
die Routine, unser Werktagleben im Anrichteraum und
in der Schule, im Geschäft und auf dem Bauernhof und
in der Schlosserei geadelt, vergeistigt und
vergöttlicht werden, vorausgesetzt, dass wir dadurch
die Begeisterung für den EINEN hochhalten, der im
apostolischen Eifer das Salz der Erde sah;
vorausgesetzt, wir fühlen dadurch die Eingebung
jenes FELDHERRN mit den fünf Wunden in der
vordersten Front der Schlacht; vorausgesetzt, dass
wir dadurch jene unmittelbare und unduldsame Flamme
zum Aufleuchten bringen — den «Blitz», der gleich
ewig ist wie das «Licht».
Bischof Fulton J. Sheen
